Im gerade noch von Stimmen belebten Raum trat augenblicklich Stille ein. Eine betretene Stille in der alle Anwesenden ihre Aufmerksamkeit auf den Bildschirm richteten, auf dem Captain Yuhki vor der Presse sprach. Ein vernichtendes Statement, gleichermaßen gespickt mit Wut, Ohnmacht und Unwahrheit. Hanna betrachtete den mahlenden Kiefer des Japaners, die im Kameralicht silbrig glänzenden Schweißperlen auf seiner Stirn und dem glattrasierten Kinn. Für die Journalisten waren die Aussagen des Polizisten ein gefundenes Fressen, für Hanna war es ein Dolchstoß in den Rücken. „Das kann doch nicht wahr sein“, hauchte sie, die Augen auf den Bildschirm geheftet. Wie konnte jemand derart dummes und kurzsichtiges in eine so hohe Position aufsteigen? Und wieso zum Teufel ließ der Commander oder gar der Executor ihn gewähren? Die Blondine fuhr sich mit der Hand durch das Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst hatte. Hanna trug einen grau-weißen Trainingsanzug, den ihr die Leute auf deren Schiff sie sich befand zum Ersatz für die Kleidung gegeben hatten, die man gerade dekontaminieren ließ. Wer wusste schon, was in diesen Tunneln an Stoffen waberte. Hanna schüttelte verweigernd den Kopf, verschränkte die Arme. Drei tote C-Sicherheit-Mitarbeiter; das bedeutete vermutlich, dass entweder Hudson oder Nix getötet worden waren. Das Gefühl von Verlust breitete sich im Herz der Blondine aus. Die beiden Internen hatten gegen sie ermittelt, doch hatten sie zusammen gekämpft – und das schweißte auf eine Art zusammen, deren Beschreibung beispiellos war. Hannas Mund öffnete sich und schloss sich wieder – der Agentin fehlten die Worte. Denn gerade hatte Captain Yuhki sie, Agent Hanna Ilias, zur Mittäterin des Kryptogramm-Killers erklärt. Hanna spürte Blicke, die auf sie gerichtet wurden. Verstohlene Blick, abschätzende Blicke, sogar den ein oder anderen skeptischen. Sie ignorierte sie. Ansonsten hätte man sie wohl tatsächlich wegen Mordes verhaften können. Schmerz breitete sich im Innern ihres Schädels aus, pochte heftig gegen ihre Schläfen als wolle sich dort mit aller Macht ein unterdrückter Gedanke freimeißeln. Wie hatte das alles so furchtbar schiefgehen können?
Kurz nach dem Eintreffen der kleinen Gruppe aus Turianern hatte Hanna eigentlich die C-Sicherheit informieren wollen. „Das können Sie auf dem Schiff machen“, hatte man ihr knapp geantwortet. „Das Schiff“ stellte sich als Basis einer Sicherheitsfirma von einem Mann namens Aelius heraus. Dieser wiederum stand in Beziehung zu Syren Vox, einem von ihren „Rettern“ und Saenia Sorax‘ Auftraggeber. Und ein Berufspolitiker. Nun waren sie auf dem Schiff, einem vermutlich nicht mehr flugtauglichen aber gut eingerichteten Ding irgendwo in den Citadel-Docks. Und statt die C-Sicherheit zu erreichen, erreichte die C-Sicherheit sie. Zumindest in einem abstrahierten Sinne. „Ist der denn bescheuert?“, fragte Hanna an niemanden bestimmtes gerichtet. Ihre Augen suchten Vhan. Sie fand ihn, stieß einen Finger in seine Richtung. „Sie, Vhan, wir werden das jetzt klären! Kommen Sie her!“
*
Nate öffnete die Flasche, ließ die bernsteinfarbene Flüssigkeit in das Glas pütschern und stellte sie dann noch immer geöffnet beiseite. Sein leerer Blick starrte an einen Punkt an der dunklen Wand während seine Finger krampfhaft das Glas umklammerten. Der Detective saß auf dem Boden, lehnte sich an sein Sofa in dem abgedunkelten Raum. Bei ihm waren nur eine Flasche Whiskey, ein Glas und sein Kater Mitch, der ihn mitleidig anschaute. Er hatte aufgehört zu trinken doch wenn es für jemals in seinem Leben einen Grund gegeben hatte wieder damit anzufangen, so war es zweifellos dieser Tag. Alkohol und das flüchtige Delirium war die einzige Hoffnung die er hatte, um die vergangenen Stunden vergessen zu lassen.
Als er das Kratzen an der Tür gehört hatte, hatte er fest mit einem weiteren Angriff des Killers gerechnet. Stattdessen erschienen Leute vom 12. Revier, erkannten ihn rasch und halfen ihm mit Gillespie. „Er muss ins Krankenhaus. Sofort!“, hatte Nate gerufen und war dann den Protest hinter sich lassend in die Tunnel gestürzt.
Es war kalt, feucht, dunkel. Es war der Schrecken, dem er gerade entkommen war. Nate zückte seine Pistole, eilte im Laufschritt voran. Gillespie kümmerte ihn nicht, Ilias kümmerte ihn nicht, der Killer kümmerte ihn nicht. „Anastasia!“ Das Echo seiner Stimme verhallte ungehört. Nate stoppte, spähte in einen dunklen Gang, die Predator mit beiden Händen umschlossen. Er durchquerte Räume von denen er überzeugt gewesen war, die gesehen zu haben und gelangte schließlich an den Punkt, wo er und seine Partnerin sich getrennt hatten. Wieder rief er und wieder bekam er keine Antwort. Also lief er weiter. Und weiter. Und weiter.
Beinahe hätte Nate die leichte Erhebung übersehen, vielleicht wäre er sogar über sie gestolpert. Einzig ein flackerndes Licht an der Wand hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Dann bemerkte er es. Das etwas dort am Boden, den Leichnam der einmal Anastasia Nix gewesen war. Die Erkenntnis traf Nate härter als alles in seinem Leben zuvor, raubte ihm den Atem. Er wollte ihren Namen sagen, doch bekam er kaum mehr als ein ersticktes Geräusch zustande. Im nächsten Moment war er bei ihr, las sie vom Boden auf. Blut klebte an seinen Händen, an seinen Unterarmen. Sie war so glitschig, dass sie ihm fast entglitten wäre. „Any“, flüstere er. Die eigenen Tränen konnte er unmöglich zurückhalten und es war auch nicht nötig. Wieso falsche Scham an den Tag legen während er den leblosen Leib in seine Umarmung hievte. „Any“, wimmerte er und wiegte das tote Fleisch wie ein Kleinkind. „Any!“, murmelte er und vergrub das Gesicht über das dicke Tränen kullerten in ihrer Schulter. So, sie wiegend und umklammert, fanden ihn die Kollegen von C-Sicherheit.
Man hatte ihn nach Hause geschickt, wo er auf den psychologischen Dienst. Und seitdem trank er. Wenn er nicht trank, dann weinte er und manchmal machte er auch beides. Die einzige Gesellschaft, die Nate zuließ war sein Kater, weshalb sein Terminal ihm auch regelmäßig neue Nachrichteneingänge meldete.
*
Schmutziges Wasser sammelte sich am Abflussgitter, wirbelte dort und verschwand lautlos. Die Dusche nach dem Auftrag gehörte für Nathan Gilles einfach dazu. Dann erinnerte er sich an die vielen Kämpfe, die er im Einsatz schlagen musste nur um danach Mal um Mal ungeduscht ins nächste Gefecht zu stürzen. Das Wasser spülte alles weg, Dreck, Schweiß, Blut wenn welche dort war und die Anspannung. Nathans Dusche war fast ein eigenes Stück Zimmer und der vermutlich größte Luxus in seinem Apartment. Nicht, dass der Rest schäbig wäre, es war aber zumeist funktional. Funktionaler Kühlschrank, funktionale Couch, funktionale Frau. „Schatz? Ein Nachrichteneingang!“ Nathan spuckte einen Strahl Wasser aus, drehte den Kopf und öffnete die Augen. „Von wem?“ „Weiß ich nicht, unterdrückt“, kam es zurück. Nathan machte eine Handbewegung und der Wasserstrahl endete sofort. Er stieg aus der Dusche, nahm sich ein Handtuch und huschte aus dem Bad. Die kühle Luft des Apartments ließ ihn leicht frösteln während er nasse Abdrücke seiner Füße auf dem Boden hinterließ. „Hier Gilles“, sagte er, als er beim Apparat angekommen und die Verbindungstaste gedrückt hatte. „Können Sie reden?“ „Einen Moment.“ Nathan stellte auf den Privatmodus. Die Stimme des anderen klang jetzt nur noch in seinen Ohren. „Ja?“ „Agent Ilias ist nicht tot.“ „Was?“ „Sie ist am Leben.“ Nathan schüttelte den Kopf, was sein Gesprächspartner nicht sehen konnte. Er rief sich ins Gedächtnis wie er sie getroffen hatte. „Ich habe es geprüft, die Frau die ich getroffen habe…“ „…war nicht Hanna Ilias!“, beharrte die Stimme. „Ich… ah“ Nathan verhaspelte sich leicht. „Unerheblich. Zumindest vorerst. Sie wird mit einer Reihe an Morden in Verbindung gebracht und ist nun auf der Fahndungsliste von C-Sicherheit. Das heißt, sie stellt für uns keine Gefahr dar.“ „Ich soll es also nicht zu Ende bringen?“ „Nein. Zumindest nicht jetzt.“ Nathan zögerte. „Und… das Geld?“ „Behalten Sie es.“ Der Killer entspannte sich sachte, obwohl er wusste, dass so etwas nicht umsonst war. „Aber wenn wir Ihre Dienste wieder benötigen, bearbeiten Sie den Auftrag mit Priorität und kostenlos.“ „Solange es keiner vom Rat sein soll, geht das für mich klar“, antwortete Gilles. „Gut. Wir kontaktieren Sie bei Bedarf.“ „Danke, Sir.“ „Und Gilles, nächstes Mal keine Fehler!“ Das Gespräch endete abrupt. „Fuck!“, zischte Nathan und deaktivierte das Tool. Dann hatte er wohl jemanden getötet, der nicht hätte sterben müssen. Nicht, dass sich Gilles nun ein Gewissen zulegen würde, dass er zu belasten gedachte aber diese Art Fehler war der Grund, warum einen später niemand mehr anheuerte.
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„Der hat sie doch nicht mehr alle!“ Die Stimme des Executors war selbst durch die starke Verzerrung der Sprachübertragung noch wutschäumend. „Ich werde umgehend Konsequenzen ansetzen! Dieser Aufruf zur Lynchjustiz… Das war nicht mit mir abgesprochen.“ „Unwichtig, Executor. Der Rat hat bereits ein Eingreifen angesetzt. Ich habe meine Befehle.“ Seevas Stimme war kalt und abgeklärt. Die Asari war hochkonzentriert, lenkte das Skycar manuell durch die Schwaden aus Flitzern. Durch die Kommanlage drang ein bedeutungsschweres Seufzen. „Commander T’Saari, meiner Meinung nach ist ein Spectre-Einsatz ein wenig überzogen.“ „Da gebe ich Ihnen sogar Recht. Ein Killer und seine Komplizen sollten für gewöhnlich ein Problem der C-Sicherheit bleiben. Aber wie ich bereits sagte: Befehl ist Befehl. Und anscheinend haben Ihre Männer nicht die Absicht die sich immer weiter zuspitzende Lage auf kurze Sicht nicht zu entspannen.“ „Ich… Wie Sie meinen. Dann bleibt mir wohl nichts anderes, als Ihnen gutes Gelingen zu wünschen.“ „Danke, Executor.“ Seeva deaktivierte den Commlink und bemühte stattdessen das Navigationssystem. Auf einem Holobildschirm an der Scheibe wurde ihr eine verbliebene Reisedauer von drei Minuten angezeigt. Genug, um sich einen Plan zu machen.
„Entschuldigung Ma’am, aber Sie können hier nicht rein.“ Seeva war vom Parkplatz durch die erste Schleuse gekommen, ohne dass sie jemand auch nur bemerkt hatte. Sie hatte die zweite Schleuse und die Rezeption passiert, ihr gerader Gang und beständiger Blick hatte keine Frage aufkommen lassen. Erst als sie den Schritt in Richtung eines Sicherheitsbereiches, der Büros, wandte, wurden zwei mit Avenger-Gewehren bewaffnete Polizisten auf sie aufmerksam. Seeva trug selbst keine schwere Waffe, sie hatte die Schrotflinte im Wagen gelassen. Seit dem Geth-Angriff wurden derart auffällige Tötungswerkzeuge misstrauisch beäugt, auch wenn der Träger eine Erlaubnis hatte. An ihrer Seite steckte ihre Phalanx und selbst wegen der fasste der Mensch der beiden Polizisten sein Gewehr fester und hob es leicht. Der andere, ein Salarianer, streckte ihr abwehrend die Hand entgegen. „Das ist ein abgesperrter Bereich.“ „Ich bin autorisiert. Spectre Angelegenheiten.“ Der Salarianer stutze einen Moment. „Ich prüfe das.“ Er scannte T’Saari, dann nickte er. „Das System erkennt Sie als Spectre. Sie können passieren.“ Seeva durchquerte die Absperrung aus elektronischem Hinweisband. „Ich suche Captain Yuhki.“ Der Salarianer erklärte, dass der Captain sich in seinem Büro eine Ebene höher befand. Er rief jemanden, der Seeva zu ihm bringen sollte, einen jungen Mann namens Niall. Der wirkte etwas aufgelöst, entschuldigte sich aber für seine Zerstreutheit. „Verzeihen Sie, Ma’am, hier ist die Hölle los. Einer unserer Kollegen, ein Freund von mir…“ Der Rotschopf brach ab und schaute betreten zu Boden. Seeva hatte schon beim Betreten des Reviers gehört, wie sich Beamte über den Tod eines „Boles“ ausgetauscht hatten, ebenso wie mehrere andere Opfer erwähnt wurden. „Schon in Ordnung. Sie müssen nichts erklären“, sagte Seeva mitfühlend. Der andere nickte und wischte sich über die Nase, dann deutete er auf ein Büro am Ende des Ganges. „Der Captain ist dort.“ Seeva bedankte sich, nahm die letzten Meter zum Gang im weiten Schritt und trat in das Büro ein ohne zuvor zu klopfen. Yuhki saß am Schreibtisch und starrte auf einen Bildschirm. Die Anwesenheit der Asari ließ ihn aufblicken. „Captain Yuhki? Ich bin Seeva T’Saari von der Abteilung Special Tactics and Reconnaissance.“ Die Asari stellte sich vor den Schreibtisch; so, dass Yuhki an ihr vorbei keinen Blick in den Gang werfen konnte. Die Hände legte sie hinter dem Rücken zusammen, begradigte sich und schaute auf den Captain hinab. „Sie berichten ab jetzt an mich.“