...oder: „Juhu, wir sind eine Nische!“
Vorwort
Der Diskussionsschuh hat nun endgültig doll genug gedrückt – der angekündigte große Disku-EP, wie er sich letztes Jahr eingebürgert hatte, ist das hier zwar nicht, aber vielleicht dient er ja als Appetithäppchen, um den Diskutanten in euch allen aus seinem Schlummer zu erwecken. Denn zu bereden gibt es reichlich!
Den späten Start ins Foren-Diskussions-Jahr möchte ich heute mit einem Thema machen, das beileibe nicht neu ist. Mitnichten sogar - „darüber“ wird mit gewisser Regelmäßigkeit schon seit etlichen Jahren gesprochen.
Man könnte also stattdessen sagen, dass es sich um ein Thema handelt, das immer aktuell ist und hier so gesehen schon lange überfällig war.
Quellen habe ich deswegen diesmal auch nicht extra herausgesucht – wer sich für das Thema interessiert, findet mit Leichtigkeit unzählige Threads, Artikel und Diskussionen dazu in den Untiefen des digitalen Äthers.
Thema
Worüber rede ich denn nun aber?
Über etwas, was ich im Folgenden „Otaku-Problem“ nennen will. Otaku ist, wie einige von euch wohl wissen, ein ziemlich problembehafteter Begriff, der in Japan anders konnotiert ist als im Westen. Hier wird der Ausdruck oft mit „Animanga-Fan“ gleichgesetzt und ist eine Art Gruppenbezeichnung, mit der sich unsereins teilweise gerne und freiwillig schmückt.
Fitti tat das noch im vergangenen Jahr, wenn ich mich recht entsinne und auch viele Conventions spielen mit dem Titel. So zum Beispiel die Otakon in Baltimore, deren Selbstverständnis so formuliert wird
Ganz so rosig ist die ursprüngliche Herkunft des Begriffs in Japan allerdings nicht. Otakus sind in Japan vor allem obsessive Fans, die so sehr ihrem Hobby – zocken, Animes schauen, Mangas lesen etc. - nachhängen, dass sie kaum noch ihr eigenes Haus (oder ihr Zimmer) verlassen. Der Otaku in diesem Sinn ist eine Figur, der folglich soziale Kompetenzen fehlen, die am Rande der Gesellschaft steht. Oft wird das auch in einen Kontext damit gesetzt, dass Otakus - Abweichler sind sie ja schon - auch Material konsumieren, das der gesunden Bürgerschaft krank und widerwärtig erscheint. Hentai, Tentakeln, Splatter, Homoerotik, pädophile Inhalte, Crossdressing. Frei nach dem Motto: „Wer außerhalb der normativen Gesellschaft steht, tut auch all das, was in der Gesellschaft nicht gern gesehen ist“. Seltener findet man auch Hinweise darauf, dass Otakus ein Hang zum Drogenkonsum oder (Internet-)Kriminalität nachgesagt wird.Zitat von Otakon Homepage
In Europa hat sich daraus eine eigenartige Dynamik entwickelt. Das Stigma gegenüber „Otakus“ im japanischen Sinne besteht weiterhin. Wer kennt nicht die „grandiosen“ investigativ-journalistischen Beiträge von RTL2 zu dem Thema? Animanga-Fan sein ist je nach Situation etwas, was man nicht unbedingt an die große Glocke hängen mag. Wohl weil damit unweigerlich die Angst verbunden ist, als „Freak“ abgestempelt zu werden.
Zugleich – und da wird es spannend – gibt es aber eben auch dieses Gruppenverständnis, in dem Otaku-Sein zelebriert wird. Riesige Convention laden die Otakus ein – Leute, die sich anscheinend (gerne) mit dem Label angesprochen, ja sogar angezogen fühlen.
„Otaku“ ist ein Paradebeispiel für einen ambivalenten Begriff. Ein Titel auf den man in der In-Group vielleicht stolz sein kann, der aber in der Außenwelt ein gehütetes Geheimnis bleiben sollte.
(Hier bieten sich unmittelbare Vergleiche zur LGBT-Szene und ihren Festivals wie dem Christopher Street Day an – das will ich aber an dieser Stelle nicht weiter vertiefen. Andernmal vielleicht)
Das Otaku-Problem ist also die Verhandlung zwischen den positiven und negativen Bedeutungen der Bezeichnung.
Diskussion
So, der Begriff und seine Bedeutungen sind erläutert. Worüber also diskutieren?
Nun zweierlei Vorgänge gilt es zu beobachten: Die Einstellung der Industrie, die „Otakus produziert“ und die sich wandelnde Einstellung der Otakus selber.
Fangen wir mit den Otakus an, denn da kann ich hauseigene Beispiele heranziehen. Immer wieder kam hier nämlich in der Vergangenheit ein und dasselbe Verlangen auf – gerade dann, wenn jemand berichtete, er/sie wolle irgendeinen Skeptiker aus dem Bekanntenkreis für Animanga begeistern.
Da lamentierten dann UserInnen hier „Mensch, bei Animanga denken hierzulande auch alle direkt an Freak-Unterhaltung und Kinderkram“, „Die meisten Leute wissen ja gar nicht, wie erwachsen Animanga sein kann“, „Animanga ist Kunst – das verstehen einfach viele Außenstehende nicht“ und „Zeig ihm/ihr Animanga XYZ – dann sehen sie, dass Animanga nicht das ist, wofür es Nörgler es halten“.
Scheinbar gibt es ein konstantes Bestreben, Animanga von seinem Standpunkt im Abseits der Gesellschaft zu befreien. Und eine verfolgte Strategie lautet, „ein Vorurteil zu falsifizieren“, also zu zeigen, dass es unwahr ist, was man sich über Animanga erzählt.
Weiter mit der japanischen Industrie. Hier wird das Bild sehr stark ausdifferenziert, je nach dem, wie genau man ins Detail geht. Im groben Sinne lassen sich aber zwei Strömungen erkennen: Auf der einen Seite gibt es ein riesiges kommerzielles Interesse am „Züchten von Otakus“. Überspitzt gesagt. Denn Otakus sind langfristige Dauerkonsumenten, die überproportional viel Geld investieren und dabei als verhältnismäßig anspruchslos gelten. Weil sie eben im Zweifelsfall „nichts anderes haben als Animanga“, kann man ihnen theoretisch auch zweitklassigen Kram en masse unterjubeln.
Und so kommt es, dass ein Großteil der Animanga-Industrie ein verfälschend positives Bild davon zeichnet, als abgegrenzter Sonderling zu leben. Man könnte nun argumentieren, dass das etwas Gutes sei. Schließlich ist die Message „Diversity – hurray! Sei wer immer du sein magst“.
Zugleich rückt aber auch immer wieder das blanke Markt-Kalkül in den Vordergrund. Fanservice und unzählige Auflagen von Kram, der ganz klar für das Alleineschauen im stillen Kämmerlein gemacht ist. Kram, der Fetische befriedigt, aber die Zuschauerschaft auch weiter marginalisiert. Wo man durch den Protagonisten ein Weltbild vermittelt kriegt, bei dem klargemacht wird „dass es nur in Animanga so geht“.
Ich hatte in der Richtung etwa Me~Teru no Kimochi negativ beäugt, weil der in meinen Augen an Hikikomoris/Otakus die Botschaft sendet: Bleibt ihr mal schön die, die ihr seid – irgendwann kommt schon wie von Zauberhand ein vollbusiger Engel und 'rettet' euch." Die Liste kann man aber willkürlich verlängern. In den Sinn kommen Wish-fulfillment-Charaktere wie Kirito aus SAO oder surreale Fetisch-Befriedigungen wie in zahlreichen Wincest- und Haremgeschichten à la KissxSis.
Und für dieses kritische Auge sprechen mittlerweile auch einige Vertreter der Animanga-Industrie. Neon Genesis Evangelion wird beispielsweise häufig als Kritik am abgeschotteten Otaku gelesen. Shinji Ikaris Werdegang als Held zeichnet sich immerhin dadurch aus, dass er sich sozial integriert und den Wert von Gesellschaft schätzen lernt. Unvergessen bleibt in dem Zuge übrigens die Dekonstruktion von Fanservice in der letzten Folge.
Das bekannteste Beispiel dürfte wohl aber Altmeister Hayao Miyazaki geliefert haben, als er im vergangenen Jahr wortwörtlich sagte, das Problem der Anime-Industrie läge darin, dass sie voll von Otakus wäre. Verständlich aus seiner Perspektive, denn in seinen Filmen weigerte er sich bis zuletzt, Fanservice oder andere unrealistische Vehikel einzubauen, um eine von der Gesellschaft abgewandte Gruppe zu beweihräuchern.
Interessanterweise wird diese Haltung aktuell auch für den Niedergang des Studios (etwa im Vergleich mit Disney) verantwortlich gemacht.
Spricht auch Bände dafür, wer die Animanga-Industrie und ihre Angebot-Nachfrage-Mechanismen mittlerweile steuert.
Wir haben also eine Industrie, die viel Geld damit verdient, diese Otakus im negativen Sinn zu züchten, indem sie ihren abgeschotteten Lifestyle zelebriert. Dem gegenüber stehen ein paar Kritiker, die das für unethisch halten.
Was uns der finanzielle Erfolg aber zeigt ist, dass es eine riesige Menge an Fans gibt, die darauf anspringen. Es werden also scheinbar erfolgreich Otakus herangezogen.
Und mittendrin steht eine gespaltene Community, die sich fragt, was denn nun Sache ist. Sind wir stolz darauf, „Freaks“ zu sein? Sind wir gar keine Freaks und das ist alles nur Nachrede? Ist unser Fan-Gegenstand nun ein erwachsenes, seriöses Medium oder Nischenprodukt für Fetischisten?
Quo vadis, Otaku?
[Bild: zetubal_1.png]
...Und jetzt seid ihr dran
Boah, das war nun doch etwas länger als eingangs beabsichtigt. Wird also Zeit, dass ihr mal übernehmt!
Ich möchte gerne eure Haltung zu den angesprochenen Themen hören:
- Seht ihr euch selber als Otakus an? Wie steht ihr zu dem Begriff? Positiv, Negativ? Lehnt ihr ihn vielleicht ganz ab? Besteht ihr auf ihn?
- Findet ihr, dass die Anime-Industrie diesen negativen Otaku-Lifestyle thematisch fördert? Wenn ja, was haltet ihr davon?
- Was haltet ihr vom derzeitigen Stellenwert von Otakus in der Öffentlichkeit? Ist der berechtigt oder nicht?
Eigentlich interessiert mich alles, was euch auf Grundlage des obigen Texts (bzw. des Themas) zur Diskussion einfällt. Meinungen, Standpunkte, Thesen, Überlegungen, Erfahrungen.
Ich würde mich riesig freuen, wenn ihr mit mir (ein wenig) hierüber reden würdet
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