10. Diskussionsthread – ein kleines Jubiläum und ein großes Hurra 
Um das gebührend zu feiern, schweife ich mal von politischen, kultur- und kunstkritischen Themen ab und besinne mich wieder auf das Thema, mit dem wir vor einem halben Jahr mit der ersten Disku den Stein ins Rollen brachten – Prognosen über die Zukunft! ...und Bestandsaufnahmen der Gegenwart oder so.
Wo wir im ersten Disku-Thread noch über digitale Animes und die Auswirkungen auf den Retail-Vertrieb sprachen, mag ich diesmal den Fokus hinüber lenken zu den Mangas. Bzw. den Manhwas. Bloß über die Digitalisierung der japanischen und koreanischen Schwarzweiss-Bildergeschichten zu quatschen, wäre mir dann aber doch zu einfach und so möchte ich stattdessen über ein konkurrierendes Modell aus dem Land der Morgenstille, Korea, sprechen.
Die Rede ist von den hier titelgebenden Webtoons!! Was sich hinter dem Begriff verbirgt, wie die an die Stelle kamen, an der sie heute sind und was das im Guten und im Schlechten bedeuten könnte, mag ich im Folgenden präsentieren und anschließend gerne auch diskutieren 
Webtoons – Die Basics
[Bild: PEAK.png] Um sich dem Begriff Webtoon zu nähern, will ich zunächst kurz sagen, was ein Webcomic allgemein ist. Als solche bezeichnet man Comics, die auf Websites veröffentlicht werden. Und so grob und unspezifisch das auch klingt – das ist die einzige brauchbare Definition, die ich gefunden habe. Wenn ich den Thread hier nicht nur mit Schrift füllen, sondern mit Paint zwei Strichmännchen zaubern und die das ganze in Dialogform in Sprechblasen aufsagen lassen würde...Dann hätte ich einen Webcomic geschaffen. Es gibt private Homepages und Blogs, die Webcomics veröffentlichen, aber auch die Comics, die Zeitungen in ihren Onlineformaten führen. Von kostenlosem Amateurkram bis hin zu kommerziellem Profi-Zeichnen gibt es also eine ganze Menge an Webcomics. Und das ist auch Teil des Reizes – wirklich jede/r kann anfangen, einen Webcomic zu erstellen, weil man nicht unmittelbar auf einen Verlag angewiesen ist, um das eigene Werk an Leute zu bringen. Nun, zumindest in der Theorie...Und das führt uns zu den Webtoons. Die sind Koreas Version von Webcomics und wesentlich straffer formiert und konzentriert als anderswo in der Welt. Webtoons sind stilistisch oft sehr nah an Manga und Manwha angelehnt und orientieren sich auch inhaltlich an Elementen der Print-Vorbilder. Deswegen ist es (in meinen Augen) auch nicht so problematisch, dieselben Tags für Genres, Demographien oder Character Tropes anzuwenden. Es gibt also durchaus Shoujo-Webtoons mit Tsunderes oder so, deren Handlungen und Charaktere ebenso gut in einem traditionellen Manga auftauchen können.
Das ist auch einer der Gründe, weshalb sich vor allem zwischen Korea und dem Rest der Welt Leute daran reiben, zu sagen, ob Webtoons eine neue Erscheinungsform von Manga/Manwha sind oder aber etwas komplett Neues/Anderes alltogether (in Korea spricht man auch von der „9. Kunst“ in dem Zusammenhang).
Webtoons sind in Korea seit ca. 10 Jahren und in den letzten 5-6 Jahren auch darüber hinaus immer populärer geworden und haben zumindest im koreanischen Inland auch kräftig dazu beigetragen, dass die lokalen Print-Manhwas heftig strauchelten. Mehrere koreanische Mangakas sind sogar mittlerweile dazu übergegangen, selber Webtoons zu produzieren. Inwan Youn, international bekannt für den Manhwa Shin Angyo Onshi, arbeitet beispielsweise seit geraumer Zeit an Westwood Vibrato, einem der derzeit populärsten Webtoons in Korea.
[Bild: Westwood1.png]Aber was gibt es sonst noch zu sagen über Webtoons? Nun, was deutlich auffällt im Vergleich zu Mangas und Manhwas in Druckform ist, dass Webtoons fast immer durchgängig koloriert sind. Das hängt damit zusammen, dass sie nicht auf Papier gezeichnet und dann gescannt werden*, sondern direkt mit entsprechender Software am PC bzw. Tablet gezeichnet werden. Dieser Umstand wird sogar auf wesentlich vielfältigere Weise ausgenutzt, als nur für Kolorierung: Manche Webtoons, ursprünglich aus dem Horror-Segment, benutzen .gif-Images (oder vergleichbare Formate), um einen Mischmasch aus stiller Kunst und bewegten Bilder zu erstellen. Oft wird das für Schockmomente verwendet (schließlich weiß man beim Durchblättern im Netz nie, ob das angeschaute Panel sich nicht urplötzlich bewegen wird) oder um Action dynamischer wirken zu lassen. Außerdem gibt es Webtoons, bei denen die Künstler Musik einbetten, die ihrer Meinung nach die Stimmung einer Szene mitträgt. Oder Webtoons, die nicht mit einer reinen Zeichensoftware, sondern mit 3dimensionalen Grafikprogrammen erstellt werden und somit tatsächlich in ihrer Bildästhetik nahe an (asiatische) Computerspiele kommen. Wie in VNs kommen auch hier häufiger Fotografien als Hintergründe zum Einsatz. Und so weiter und so fort.
Wirklich interessant und für den Thread wohl auch am relevantesten ist die Art, wie koreanische Webtoons gebündelt und verbreitet werden:
Webtoons werden nämlich nicht einfach so wild auf privaten Homepages, Zeitungen usw. veröffentlicht, sondern fast immer über einige wenige populäre Websites (soziale Netzwerke + Suchmaschinen), die in Korea zu den meistgeklickten Webpräsenzen überhaupt zählen. Die bekanntesten davon dürften Daum und Naver sein, auf denen derzeit jeweils zwischen 400 und 600 Webtoons gehostet werden.
Auf diesen Portalen kann prinzipiell jeder seinen Webtoon einreichen, der dann veröffentlicht wird und über gute Bewertungen und viele Aufrufe von LerserInnen in einen nächsthöheren Room aufsteigen und auf der Website besser beworben werden kann. Ein bisschen so wie ein Liga-System oder etwas festere Charts.
Ihr mögt euch nun fragen, was es so kostet, einen Webtoon bei Naver oder Daum einzureichen und wie viel man zahlen muss, um selber dort lesen zu dürfen. Die Antwort in beiden Fällen ist der große Aufhänger der ganzen Diskussion: Nichts! Webtoons werden grundsätzlich online auf Non-Profit-Basis verbreitet. Wenn man mal davon absieht, dass die Betreiber von diesen Websites natürlich mit Klicks und geschalteter Werbung etwas verdienen. Für ZeichnerInnen und LeserInnen ist aber zunächst Geld außen vor.
Anfangs wurde das von der Print-Branche in Korea belächelt, weil niemand meinte, dass auf so einer Grundlage ernste Konkurrenz erwachsen könnte. Wenig später war dann die Rede von Anarchie (
) und heute sind Webtoons die wahrscheinlich meistkonsumierten Comics in Korea.
Soviel also zu den W-Fragen des Webtoons. Mit dem Wissen im Hinterkopf mag ich im Folgenden eine aktuelle Entwicklung ansprechen, bevor wir zu den Diskussionsfragen kommen.
Wer das auch mal aus „erster Hand“, sprich: von KoreanerInnen, hören will, dem/der habe ich mal ein Zitat der Korea Creative Content Agency zukommen lassen, die nebenbei auch in den Quellen verlinkt ist:

Zitat von
Korea Creative Content Agency
„Korea Creative Content Agency (KOCCA) presents stories of the webtoon, which is currently leading the trend in the Korean comics industry.
Digitalization is the most prominent trend in today's contents industry, and manhwa is actively responding to such a trend. The webtoon, which allows you to easily enjoy manhwa with digital devices, is a new form of manhwa which has been developed in the digital environment. In addition to the webtoon's achievements in the form of manhwa, it is developed into many different media such as films, TV dramas, and video games. Through this process, manhwa's potential as original works has been widely acknowledged, settling itself as the most spotlighted killer content leading Korea's cultural contents industry.
[...]
In Korea, almost everyday people access the Internet via PC or smartphones to easily enjoy Manhwa, which is made possible because web portal sites, news agencies, and web news sites provide manhwa for free. 120 odd titles are serialized on Naver, the web portal with the largest market share, 70 odd titles on Daum, and 30 odd titles on Nate. The webtoon (web + cartoon), which was first introduced on personal web pages in the late 90s, settled as a free service of web portals and explosively spread“ (Anm. d. Zet.: Die Zahlen beziehen sich auf die Serien, die aktuell weiterlaufen. Bereits abgeschlossene oder abgebrochene Projekte, die ebenfalls auf den Sites noch zu finden sind, tauchen dabei nicht auf.)
Aktualität des Themas
[Bild: celRhiRTT3Jt0DICE.png]
KoreanerInnen lesen also mehr und mehr die kostenlosen Webtoons und konzentrieren sich weniger auf die gedruckten Alternativen. „Und?
“ Dachten sich die Hauptmärkte für Mangas, Japan, Amerika und Europa. Webtoons werden schließlich fast ausschließlich auf koreanisch publiziert und ist damit für Menschen aus dem Ausland relativ unzugänglich.
Denkste – Denn seit Juli diesen Jahres hat eine Tochterfirma von Naver, LINE, damit begonnen, offizielle Übersetzungen von aktuellen (und wohl auch älteren) Webtoons in englischer Sprache anzufertigen. Das steckt zwar momentan noch in den Kinderschuhen, aber gegen ein stetiges Wachstum des englischen Sortiments spricht eigentlich nichts. Schon jetzt läuft die Maschine rund und arbeitet mit täglichen Schedules von jeweils 10 topaktuellen Kapiteln verschiedenster Serien. Darunter nicht nur unbekannterer Nischenkram, sondern auch viele der beliebtesten Formate wie Noblesse, Tower of God, Smile Brush oder The Gamer. LINE operiert übrigens aus Japan und ist bereits seit geraumer Zeit dabei, Webtoons auf japanisch zu übersetzen und auf den lokalen Markt loszulassen.
Der deutsche, französische usw. Markt wird derzeit wohl noch nicht direkt angepeilt - bedenkt, schon die Englisch-"Offensive" ist etwas komplett Neues für den Webtoon. Scanlationblablub mal außen vor, versteht sich.
Das alarmiert nun die großen Verlage so langsam, die ihren ohnehin gebeutelten Markt noch mehr bedroht sehen. Und führt uns hier zur Abwägung der Sachlage. Der Übersicht halber habe ich mal aufgezählt, was für und gegen diesen Trend spricht. Ihr könnt die Listen natürlich gerne um Argumente und Anregungen erweitern – die sind keineswegs in Stein gemeißelt.
Pro |
Kontra |
+ Mobil zugänglich auf Smartphone, Tablet & Co. |
- Nostalgie-Faktor fehlt, weil keine physische Kopie vorliegt |
+ Kostenlos für LeserInnen |
- Nostalgie-Faktor fehlt, weil die Ausgaben nicht schwarzweiss sind |
+ Plattform bietet kreativen Köpfen Raum, die sich nicht vorab dem Markt zu beugen haben |
- Print könnte teurer werden, wenn durch kostenlose Konkurrenz der Absatz einbricht |
+ innovative Gestaltungsformen, die im Print-Format nicht vorkommen |
- Japanische ZeichnerInnen sind bisher ziemlich außen vor (weil auf den Plattformen nur koreanisch publiziert wird) |
+ Ansprechend weil bunt |
- keine Bemühungen bisher auf Deutsch (oder Französisch, Spanisch etc.) zu veröffentlichen |
+ Benötigt kein Papier |
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Diskussion
[Bild: Anna.png]
Was ich mit euch diskutieren möchte, könnt ihr euch zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich denken:
Was haltet ihr von dieser Entwicklung?
Gefällt euch der Gedanke, dass die Zukunft von Mangas ggf. in der Digitalisierung liegen könnte?
Habt ihr Bedenken bezüglich der Auswirkungen auf den Print-Bereich?
Habt ihr bereits Webtoons gelesen und wie fandet ihr sie – speziell im Vergleich zu den traditionellen Formaten?
Weitere Fragen ergeben sich dann hoffentlich im Lauf der Gespräche 
Quellenverzeichnis:
Infos
Bilder
Weitere empfehlenswerte Webtoons:
Diskussions-Archiv:
* = Dass Webtoons später mal gedruckt auf Papier erscheinen, ist allerdings nicht unüblich. Gerade die populären Serien schaffen es eigentlich immer, mit der Zeit Printausgaben zu erhalten. Das sind dann aber auch nur Bände, in denen die digital gezeichneten Kapitel abgedruckt werden.