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Ein langer Marsch
Nun hatte ich eine mehr als heiße Spur. Piraten also? Ich hatte ja schon das eine oder andere Mal von diesen Piraten gehört und ich erinnerte mich auch an den seltsamen Kerl mit der Augenklappe. Ich war mir ziemlich sicher, dass er einer dieser Piraten war. Auch war ich mir nun sicher, dass die Piraten die zwielichtigen Kerle gewesen waren, mit denen William gehandelt hatte. Doch waren sie für das Verschwinden der Bürger verantwortlich? Und wenn ja, welche Gründe hatten sie? Ich würde dem auf jeden Fall in zwei Tagen auf den Grund gehen. Bis dahin beschloss ich, die Sache erst einmal ruhen zu lassen.
Nun wollte ich den Hafen jedoch zunächst wieder verlassen. Es wurde bereits Abend und ich hatte vor, diesen bei Coragon zu verbringen und dort zu Abend zu essen und mich dann wieder in der Herberge schlafen zu legen. Davor blieb mir jedoch noch eine Sache zu tun.
Ich begab mich zum Marktplatz. Die Stände würden bald abgebaut werden, da es mittlerweile schon spät war, doch ich fand Zuris noch an seinem Platz. „Ah, du kehrst zurück“, grüßte er mich. „Willst du noch einen Trank kaufen, zu so später Stunde?“
Ich legte meine Hand, an der Lares’ Ring steckte, auf den Stand. Zuris’ Augen weiteten sich. „Ich hörte, du weißt mehr über diese Ringe“, sagte ich.
„Was, wenn es so wäre?“
„Dann würde ich dir erzählen, dass Lares am Hafen steht und diesen im Auge behalten soll, für Morgen aber eine Ablösung braucht, weil er die Stadt kurzzeitig verlassen muss.“
„Nun… in dem Fall würde ich mich darum kümmern, dass sich jemand darum kümmert.“
Ich nickte Zuris zu.
Den Rest des Abends verbrachte ich bei Coragon.
Am nächsten Morgen machte ich mich direkt auf den Weg zu Lares, der, wie schon am Vortag, an der Kaimauer stand.
„Ich hab mich um Ablösung für dich gekümmert“, erklärte ich ihm direkt. „Hier ist dein Ring.“
„Ach weißt du, ich denke, es ist das beste, wenn du ihn erst mal behältst. Ich komm schon ne Weile ohne ihn aus. Dir könnte er vielleicht noch ganz nützlich sein. Ich geh dann gleich los. Bist du sicher, dass du mitwillst? Wird ein langer Marsch. Wahrscheinlich brauchen wir den ganzen Tag.“
„Nun, ich hab sonst nichts zu tun.“
Lares lachte. „Na dann folge mir. Wir gehen durchs Osttor.“
Auf dem Weg zum Marktplatz erzählte ich Lares, was ich bereits in Erfahrung gebracht hatte. „Alle Achtung, du kommst ja gut voran“, meinte er. „Piraten also. Hm. Kennen tut die natürlich jeder. Kein Schiff zwischen den Khorinseln war vor ihnen sicher. So mancher Kauffahrer von den Südlichen Inseln oder dem Östlichen Archipel und so mancher Erztransport sind ihnen in die Hände gefallen. Aber ihre Glanzzeit endete mit der der Inseln und des Reiches, also mit dem Krieg. Siehst es ja selbst, heute kommen keine Schiffe mehr. Ich wusste, dass die Piraten noch mit dem einen oder anderen Händler aus der Stadt in Kontakt stehen, aber dass sie Leute entführen… Hab keine Idee, was sie davon haben könnten. Na, halt mich auf jeden Fall auf dem Laufenden.“ Wir hatten den Marktplatz erreicht und passierten nun das Stadttor.
Vor dem Osttor ragte ein hoher Berg auf, auf dem man die Wipfel eines großen Waldes erkennen konnte. Linker Hand führte ein natürlicher Pfad an der Felswand hinauf, bis hin zur großen Klippe, auf der sich der Leuchtturm von Khorinis erhob. Auf dem schmalen Streifen zwischen der Felswand und der Stadtmauer lag der Friedhof von Khorinis. Er erstreckte sich einige hundert Meter nach Norden, bis sich schließlich Felswand und Stadtmauer auf der anderen Seite der Kaserne trafen.
Wir jedoch folgten dem Weg nach rechts. Er führte zwischen dem Felsen und dem überwucherten Stadtgraben hindurch. Eine Zeit lang verlief die Stadtmauer neben uns, parallel zu unserem Weg. Schließlich jedoch machte die Mauer einen scharfen Knick und der Graben weitete sich plötzlich zu einem großen, bewaldeten Tal aus, das nach Osten hin weiter abfiel. Unser Weg machte eine scharfe Kurve nach links. Hier führte er weiter an der Felswand entlang, die nun ebenfalls einen Knick machte. So hatten wir zu unserer Rechten nun das Tal, das immer weiter abfiel. Dabei stieg der schmale Weg, dem wir folgten, immer weiter in die Höhe, sodass die Felswand zu unserer Linken langsam an Höhe verlor.
„Nun, da wir vor der Stadt sind, können wir etwas offener sprechen“, meinte Lares, während wir dem Weg weiter nach Osten und weiter in die Höhe folgten.
„Dann erzähl mir, wo genau wir dieses Ornament jetzt hinbringen.“
„Zu den übrigen Wassermagiern. Du kannst dich doch sicher noch an die Jungs erinnern?“
„Allerdings. Ich hoffe nur, dass das umgekehrt nicht auch zutrifft.“
Lares lachte. „Na ja, sie sind ja für gewöhnlich nicht allzu nachtragend. Saturas war allerdings ziemlich sauer.“
„Nun, ich werde ja sehen, wie sie reagieren. Aber wo sind sie überhaupt?“
„In einem kleinen Tal, ganz im Nordosten. Wir haben es das Pyramidental genannt, weil dort eine große Pyramide steht.“
„Was hat es damit auf sich?“
„Genau das versuchen die Wassermagier herauszufinden. Sie glauben, auf die Überreste einer alten Kultur gestoßen zu sein und diese erforschen sie nun. Das Ornament, das wir ihnen bringen, haben sie bei ihren Ausgrabungen gefunden und an Vatras in die Stadt geschickt. Scheint so, als wollten sie es jetzt wiederhaben. Vielleicht haben sie irgendwas drüber rausgefunden.“
„Wie genau haben sie diese Ruinen entdeckt?“
„Nun, in der Gegend gehen seltsame Dinge vor sich. Die Erde bebt dort in regelmäßigen Abständen. Es sind nur leichte Beben, dennoch haben sie einigen ganz schön Angst eingeflößt. Jäger und Landstreicher, die am Pyramidental vorbeigekommen sind, haben in der Stadt davon erzählt. Die Wassermagier haben sich dann der Sache angenommen. Auf der Suche nach der Ursache für die Beben haben sie diese Ruinen gefunden. Und nun erforschen sie dort die alte Kultur. Du wirst es ja bald selbst sehen.“
Wir folgten weiter dem Weg. Schließlich endete das Tal unter uns. Die Berge, die es von Süden her eingrenzten, trafen auf die Felsen zu unserer Rechten. Der Weg führte zwischen zwei Felsspitzen hindurch. Eine kleine, steinerne Brücke verband beide miteinander. Schon von weitem konnten wir etwas unter der Brücke liegen sehen. Als wir näher kamen, erkannten wir, dass es eine umgestürzte Karre mit gebrochener Achse war. Drumherum lagen verstreute Waren. Pfeile steckten in dem Holz der Karre und im Boden. Das Gras war blutgetränkt und zwei fast vollständig abgenagte Leichen lagen zwischen den Resten einer zerbrochenen Kiste.
„Banditen“, murmelte Lares. „Die Kerle sitzen oben auf der Brücke. Das ist der Verbindungsweg zwischen der Taverne und Akils Hof. Das hier müssen Händler gewesen sein. War wahrscheinlich der alte Erol. Der ist hier zwischen den kleinen Höfen und der Stadt hin und her. Wir sollten machen, dass wir weiterkommen. Die Kerle sitzen vermutlich immer noch auf der Brücke. Und ich habe im Moment keine Lust auf eine Begegnung mit ihnen.“ Ich nickte stumm.
Wir beeilten uns, unseren Weg fortzusetzen. Hinter der Brücke weitete sich das Land zu einer grasigen, von Felsen umschlossenen Ebene aus. Zahlreiche Scavenger tummelten sich auf der Wiese. Die großen Laufvögel pickten mit ihren gefährlichen Schnäbeln im Boden herum. Die Weibchen trugen ein unscheinbares, graues Gefieder, die Männchen das für sie so charakteristische prachtvolle rote Federkleid. Ihren lilanen Kopfputz hatten sie nun, außerhalb der Balz, jedoch abgelegt. An einen der Felsen auf der rechten Seite der Ebene schmiegten sich ein großes, zweistöckiges Fachwerkhaus und ein kleiner Stall, umgeben von einigen Tannen. Das ganze machte einen hübschen und einladenden Eindruck. „Die Taverne zur toten Harpyie“, erklärte Lares. „Ich fürchte aber, wenn wir da jetzt Rast machen, schaffen wir es heute nicht mehr in die Stadt zurück.“ Wir folgten dem Weg weiter auf die Taverne zu. Direkt davor spaltete er sich auf. Ein Weg führte in einer Kurve um den Felsen herum und bergauf. Über diesen Weg gelangte man auf die Brücke. Ein weiterer führte zwischen den Felsen hindurch auf eine Weidenplateau genannte Hochebene, auf der, wie ich wusste, auch der Pass ins Minental lag. Dicht daneben führte ein weiterer Weg hinab in ein größeres Tal. Dort lag der Hof des Großbauern, wie Lares mir verriet. Ein Weg führte direkt nach Norden und durch eine schmale Schlucht zum Kloster der Feuermagier. Der letzte Weg, der Weg, den wir nahmen, führte über die Ebene und zwischen den Felsen hindurch. Zu unserer Linken ragten die Berge auf, hinter denen irgendwo das Kloster liegen musste. Zu unserer Rechten befand sich ein steil abfallender, bewaldeter Hang, der in das Tal des Großbauern hinabführte.
Die Gegend wurde nun wilder. Immer weiter drangen wir nach Nordosten vor. Einen richtigen Weg gab es hier schon lange nicht mehr. In dieser Gegend gab es nichts, wie Lares mir erzählte. Hier gab es keine Bauernhöfe mehr. Die einzigen Menschen, die man hier noch antreffen konnte, waren Jäger, Landstreicher und Banditen.
Der Weg machte schließlich eine scharfe Biegung und führte uns an einen schmalen Fluss. Er trat weiter südlich aus einer großen Lücke zwischen den Bergen hervor und floss nun friedlich am Rande unseres Wegs daher. Zwischen dem Schilf sah man hie und da Lurker und auch die eine oder andere Blutfliege.
Schließlich führte uns ein breiter Pfad fünf Meter in die Höhe auf einen leicht über den Fluss aufragenden Felsen. Eine alte, schmale Hängebrücke führte über den Fluss hinweg. Dieser floss in einer schmalen, steilen Schlucht weiter nach Osten.
Wir überquerten die Brücke. Dahinter begann eine weitere schmale Schlucht, die nach Norden führte. Eine Weile folgten wir ihrem Verlauf, bis sich zu unserer Rechten schließlich – es musste der Sonne nach zu urteilen bereits Nachmittag sein – eine schmale Lücke zwischen den Felsen auftat.
„So, jetzt haben wir es gleich geschafft“, meinte Lares. „Hier beginnt nun das Pyramidental. Gleich siehst du die Ruinen. Komm, du wirst Augen machen!“
Geändert von Jünger des Xardas (09.02.2011 um 18:37 Uhr)
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Der Zorn des Wassermagiers
Lares hatte nicht übertrieben. Ich war tatsächlich beeindruckt. Es handelte sich beim Pyramidental um einen mittelgroßen Talkessel. Die Felsspalte, durch die wir ihn betreten hatten, schien der einzige Eingang zu sein.
Der vordere Teil des Tals wurde von einer Art Platz eingenommen. Der Boden war mit alten, sandfarbenen Steinen gepflastert. Im Laufe der Zeit war er jedoch stark überwuchert und die Steine selbst waren verwittert. Rings um den Platz ragten schmale Säulen auf. Viele von ihnen waren umgestürzt oder abgebrochen.
Auf der anderen Seite des Tals ragte eine große, quadratische Stufenpyramide auf. Sie war beinahe so hoch wie die Felswände, die das Tal umschlossen. Auch sie war aus sandfarbenem Stein erbaut, wobei die großen Stufen schätzungsweise einen Meter hoch und allesamt aus großen, quaderförmigen Steinblöcken erbaut waren. Vier lange, schmale Treppen, eine auf jeder Seite, führten hinauf zur Spitze der Pyramide, wo sich ein kleines, quadratisches Gebäude mit flachem Dach erhob.
Zwischen dem Platz und der großen Pyramide stand eine wesentlich kleinere Pyramide an der Felswand auf der linken Talseite. Sie ähnelte vom Baustil her der großen, war jedoch nicht völlig quadratisch, verfügte nur über drei Stufen und eine einzelne Treppe.
Überwältigt betrachtete ich die mächtigen Bauten. Plötzlich bebte die Erde und riss mich somit aus meiner Starre. Es war ein sehr leichtes Beben, eher ein kleines Rütteln. Zerstörungen konnte ein solches Beben keine anrichten, wahrscheinlich höchstens etwas Staub aufwirbeln. Auch dauerte es nicht mehr als drei Sekunden. Dennoch war ich vollkommen überrascht. „Das sind also diese Beben?“, fragte ich.
Lares nickte. „Die Wassermagier haben auch keine Ahnung, was es damit auf sich hat.“
Wir schritten über den Platz und dann über den staubigen Boden des Tals auf die große Pyramide zu. Als wir die kleine erreicht hatten, sah ich kurz davor ein großes Loch, das man in den Boden gegraben hatte. Die Erde war auf mehreren kleinen Hügeln aufgeschüttet worden, die nun von hölzernen Latten gestützt wurden. Zwei lederne Zelte und einige frei stehende Tische und Regale waren neben dem Loch aufgebaut. Andere Menschen konnte ich keine entdecken.
Gemeinsam mit Lares stieg ich in die Grube hinab. Durch das Loch war man wohl auf einen knapp unter der Erde liegenden Gang gestoßen. Die Seitenwand war eingestürzt und dank der ausgehobenen Grube konnte man sie bequem als Eingang benutzen. Da der Gang direkt auf die Pyramide zuzulaufen schien, vermutete ich den eigentlichen Eingang in ihrem Inneren. Doch konnte man dem Gang nur wenige Meter auf die Pyramide zu folgen, da er an dieser Stelle eingestürzt war. In der anderen Richtung war jedoch kein Ende abzusehen und der Gang führte weiter auf die gegenüberliegende Talseite zu.
Nun erkannte ich auch einen Mann, der dort stand, wo die Grube aufhörte und der Tunnel wieder gänzlich im Erdreich verschwand. Er trug die Rüstung des Rings, die ich auch schon an Cavalorn bewundert hatte.
Als er uns sah, legte er die Hand auf den Griff seines Schwertes. „He, ihr da, was…? Lares!“ Sofort kam der Mann auf uns zu und schüttelte Lares die Hand. „Sieht man dich auch mal wieder!“
„Hi Lance. Machst du hier immer noch den Türsteher?“
„Einer muss es ja machen“, lachte Lance.
„Dachte nur, sie hätten dir auch endlich mal ne Ablösung besorgt. Mir wär’ es jedenfalls zu dämlich, den ganzen Tag in der Pampa zu stehen.“
„Gibt schlimmeres. Wer ist der Kerl, den du da bei dir hast?“
„Ein Anwärter.“
„Du bringst einen Anwärter zu den Ausgrabungen?“ Lance beäugte mich misstrauisch.
„Das geht schon klar“, meinte Lares. „Vatras vertraut ihm und ich tu es auch. Wir kennen uns von damals.“
„Ah, verstehe.“ Lance grinste. „Alter Bekannter aus dem Tal, was?“
„Die Kolonie, Lance. Wir nennen es die Kolonie.“ Lares griff in seine Tasche, holte das Ornamentstück heraus und drückte es mir in die Hand. „Ich unterhalt mich noch kurz mit Lance. Am besten, du gehst schon mal rein. Bring das hier direkt zu Saturas. Ich komm dann nach.“ Ich nickte und schritt an den beiden Männern vorbei in den Gang.
Uralt mussten diese Ruinen sein. Der Zahn der Zeit hatte bereits stark am Stein genagt. Zwischen den Ritzen der Steine, die den Boden pflasterten, wuchs Moos und in den Ecken sprossen Pilze aus dem Boden. Die niedrige Decke wurde von schmalen Säulen in der Nähe der Wände gehalten. Die Wände selbst waren mit kunstvollen Reliefs und Hieroglyphen verziert. Sie hatten einen seltsamen, archaischen Stil, waren aber gleichzeitig sehr fein und kunstvoll gearbeitet. Der Stil kam mir merkwürdig bekannt vor. Ich wusste auch, woher ich ihn kannte: Von den Tempelruinen im Sumpf des Minentals, auf denen die Bruderschaft des Schläfers ihr Lager erbaut gehabt hatte.
Ich folgte dem Gang um eine Biegung, durchquerte einen kleineren Raum und stand schließlich in einer großen, wenngleich niedrigen Halle mit reich verzierten Wänden. Einige Fackeln erhellten den Raum etwas und tauchten ihn in spärliches Dämmerlicht. Eine Gestalt in einer weiten, blauen und mit Wellenmustern bestickten Robe und mit einem hölzernen Kampfstab auf dem Rücken stand vor einer der Wände und war offenbar dabei, die Hieroglyphen zu entziffern. Sie hatte dunkle Haut und auf ihrem Kopf spross kein Haar mehr. Stattdessen spiegelte sich das Licht der Fackeln matt auf der großen Glatze. Als sie meine auf dem steinernen Boden widerhallenden Schritte hörte, hob die Gestalt den Kopf.
„Lance?“ Sie wandte sich um. „Du bist nicht Lance. Was machst du hier unten? Hier ist es sehr gefähr… Moment… Du!“ Sofort trat ein Ausdruck des Zorns auf das runde, dunkelhäutige Gesicht. „Du… wie kannst du es wagen…? Dass du dich überhaupt traust, dich hier noch einmal blicken zu lassen! Glaube ja nicht, dass ich vergessen habe, wie du uns betrogen hast, damals im Neuen Lager!“
„Ich…“
„Schweig! Ich will keine Ausflüchte hören. Was hast du dir überhaupt dabei gedacht? Warst du denn von Sinnen?“
„Es musste sein. Ich brauchte die Energie für mein Schwert, um den Schläfer zu besiegen. Euer Plan hätte sowieso nicht…“
„Was faselst du da? Schläfer? Besiegen? Du kannst von Glück sagen, dass die Barriere noch in derselben Nacht einfach so zusammengebrochen ist.“
„Na seht Ihr, hat doch alles wunderbar geklappt. Kein Grund, sich aufzuregen.“
„Ich glaube, du bist dir gar nicht im Klaren darüber, was du da angerichtet hast. Du hast nicht nur die Arbeit von acht Jahren zerstört und unserem gesamten Lager jede Hoffnung genommen, du hast das Gefüge der Magie derart gestört, dass die magische Erschütterung noch in Khorinis zu spüren war! Was willst du nun hier? Weshalb hat Lance dich überhaupt hereingelassen?“
„Ich bin mit Lares hierher gekommen.“
„Lares?“ Saturas’ Gesichtsausdruck entspannte sich etwas. „Wo ist er?“
„Draußen, er spricht mit Lance.“
„Und er lässt dich alleine hier herumlaufen? Dieser Narr. Er selbst war damals ebenso wie wir im Neuen Lager. Er sollte es besser wissen. Was willst du nun hier? Was bei Adanos haben wir getan, dass du uns ein weiteres Mal heimsuchst?“
„Ich wollte mich dem Ring des Wassers anschließen.“
„Was?! Woher weißt du…? Lares! Ich bring ihn um!“
„Es war nicht Lares, der mir alles über den Ring erzählt hat, sondern Vatras.“
„Vatras?“ Saturas stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr sich mit der Hand durch seinen weißen Bart – das einzige Haar, das noch an seinem Kopf spross. „Von allen Wassermagiern musstest du ausgerechnet auf den einen treffen, der dich nicht kennt“, sagte er müde und schüttelte dabei den Kopf. „Nun gut, nun bist du einmal hier. Doch glaube nicht, dass ich dir verzeihe, was du getan hast oder dass ich noch einmal den schändlichen Fehler begehe, dir zu vertrauen.“
„Jetzt macht mal nicht so ein Theater wegen dem bisschen Erz.“
„Dem bisschen Erz?!“
„Hier, das Ornament wolltet Ihr doch wiederhaben. Lares hat es mitgebracht.“
„Was?!“ Saturas riss mir das Ornamentstück aus der Hand. „Und er hat es dir gegeben? Ich werde wirklich einmal ein ernstes Wort mit ihm reden müssen…“
„Was macht Ihr hier eigentlich?“
„Wir erforschen diese Ruinen.“
„Und, schon was rausgefunden?“
„Ich soll die Geheimnisse und das Wissen der Altvorderen mit dir teilen? Wozu? Damit du noch mehr im magischen Gefüge herumpfuschen kannst? Nein, für derlei Späße habe ich keine Zeit.“
„Na gut, dann werd ich mich mal weiter umsehen und mit den anderen Jungs sprechen.“
„Die Jungs? Ich rate dir, hüte deine Zunge! Noch so eine Respektlosigkeit und…“ Saturas brach ab und stieß einen weiteren Seufzer aus. „Nun gut, du wirst es dir ohnehin nicht nehmen lassen, auch die anderen von ihrer Arbeit abzuhalten. Also kannst du genauso gut etwas für mich tun: Ich möchte, dass du Riordian zu mir schickst. Er befindet sich irgendwo weiter im Innern dieser Katakomben.“
Ich nickte. „Wird gemacht.“
Geändert von Jünger des Xardas (01.10.2010 um 20:51 Uhr)
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Die versunkene Kultur der Erbauer
Nun, er war nicht so sauer, wie ich es erwartet hatte, dachte ich, während ich einem weiteren Gang folgte, der von der Halle weiter ins Innere des Berges führte. Es würde mir mit der Zeit schon gelingen, Saturas’ Vertrauen zurückzuerlangen. Zunächst war ich jedoch gespannt, wie die anderen Wassermagier auf mich reagieren würden. Vor allem der arrogante Cronos war wahrscheinlich nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen.
Der nächste Wassermagier, den ich traf, war jedoch nicht Cronos. Es war Riordian, der Alchemist unter den Wassermagiern, wie ich schon von hinten an dem zu kurzen Stoppeln geschorenem Haar erkannte. Als ich mich näherte, blickte er auf. Er trug noch immer seinen imposanten braunen Schnauzbart. „Du?“, fragte er ungläubig. „Dass du dich noch einmal hierher traust.“ Seine Stimme klang etwas kühler als ich sie in Erinnerung hatte. Noch immer lag in ihr jedoch der leichte südländische Akzent, der für die Wassermagier ebenso charakteristisch war, wie ihre leicht dunkle Haut.
„Ihr scheint ja nicht ganz so aufgebracht wie Saturas.“
„Deine Tat ist gut einen Monat vergangen und der größte Zorn ist verflogen, das ist richtig. Dennoch, dein Verhalten hat uns gelehrt, dass es ein Fehler war, dir zu vertrauen und diesen Fehler…“
„Werdet Ihr nicht wiederholen, schon klar. Hört mal, Saturas wollte Euch sprechen.“
„So? Weshalb?“
„Hat er nicht gesagt. Er meinte nur, ich soll Euch zu ihm schicken.“
„Dann werde ich mich sofort zu ihm begeben.“
„Wartet, ich dachte, Ihr könntet mir noch etwas über diese Ruinen erzählen.“
„Nein, wenn Saturas mich sprechen möchte, werde ich mich umgehend auf den Weg machen. Du kannst mit den anderen Magiern des Wassers sprechen. Du wirst sie im Becken- oder im Portalraum finden.“ Und mit diesen Worten schritt er, die Hände in den Ärmeln seiner Robe, davon.
Wieder gab es eine leichte Erschütterung, die etwas Staub von der Decke rieseln ließ, während ich dem Gang weiter folgte. Nach einer weiteren Biegung gelangte ich in einen mittelgroßen Raum. Ein großes, längliches Becken von knapp einem Meter Tiefe war in den Boden eingelassen. Kunstvolle Mosaike verzierten den Grund des Beckens. Eine Tür führte von diesem Raum in eine große Halle, noch einmal um einiges größer und vor allem auch höher als die, in der ich Saturas getroffen hatte. Auf der anderen Seite führte eine kurze, breite Treppe zu einem kreisrunden, in die Wand eingelassenen Portal, das über und über mit Reliefs verziert war.
Mein Blick fiel auf einige Tische und Regale, die man in einer Ecke aufgestellt hatte und auf denen zahlreiche steinerne Tafeln lagen. Zwei Magier standen zwischen den Tischen und unterhielten sich. Beide hatten sie braunes Haar und trugen einen Vollbart.
Als ich an sie herantrat, unterbrachen sie ihr Gespräch. „Du hier?“, fragte der eine ungläubig und mit ähnlichem Akzent wie schon Riordian. Sein Haar war dunkler, sein Bart schmaler als bei dem zweiten Magier, auch machte er einen älteren Eindruck. Es war Merdarion.
Der andere Magier lächelte verschmitzt, wie er es immer tat. Er schien etwas jünger. Etwas Aufgewecktes und Schalkhaftes lag in seinen Augen. „Ich muss zugeben, ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass du hier einfach so hereinplatzen würdest“, sagte er ruhig. Es war Myxir, der Chronist und Sprachgelehrte der Wassermagier.
„Na, wenigstens scheint Ihr nicht ganz so aufgebracht.“
„Nein, das bin ich nicht mehr. Die Barriere ist schließlich auch so gefallen. Die Wege des Herrn sind unergründlich. Wenn es sein Wille war, so musste es geschehen. Doch ich muss gestehen, auch ich war außer mir – wir alle waren es. Mit der Zeit ist unser Zorn langsam verflogen. Saturas ist von uns allen der einzige, der immer noch wütend ist – neben Cronos, versteht sich – ich habe ihn nie zuvor so zornig gesehen.“
„Was macht Ihr nun hier? Was sind das für Ruinen?“
„Es sind die Überreste einer längst vergangenen Kultur“, meldete sich Merdarion zu Wort. „Sie scheinen zur Zeit der Altvorderen hier auf der Insel gelebt zu haben. Wir nennen sie vorerst die Erbauer.“
„Und was wisst ihr so über diese Kultur?“
„Nun, auffällig ist, dass ihre Sprache eng mit der der Varanter verwandt ist“, erklärte Myxir.
„Varanter? Ihr meint Varantiner…“
Myxir schüttelte lächelnd den Kopf. „Die Varantiner sind das heutige Volk der Wüste, das unter Zuben geeint wurde und im Varantkrieg gegen Myrtana kämpfte. Sie dürfen aber nicht verwechselt werden mit den Varantern, welche vor Jahrtausenden aus den Nomaden hervorgingen und die ersten Innosgläubigen waren. Sie fielen der großen Flut zum Opfer, die Adanos über die Großen Wesen kommen ließ und heute zeugen nur noch die Ruinen ihrer Städte von ihrer Existenz. Da wir die Ruinen des Alten Volks ausgiebig studiert haben, damals, als wir noch bei unseren Brüdern lebten, und da sich ihre Sprache aus der unserer Vorfahren entwickelte, war es für uns sehr leicht, die Sprache der Erbauer zu erlernen. Nun versuchen wir, mehr über sie herauszufinden. Und sie sind eine wirklich beeindruckende Kultur. In diesen Ruinen finden wir nicht viele brauchbare Hinweise, doch die Erbauer waren zweifellos eine ebensolche Hochkultur, wie die alten Varanter. Sie waren uns in vielen Belangen weit voraus. Anscheinend verfügten sie über großes Wissen. Die Pyramide oben im Tal beispielsweise, wurde exakt nach dem Stand der Gestirne ausgerichtet, sodass die Sonne, wenn sie an den beiden Tagen der Tagundnachtgleiche aufgeht, immer genau auf die vordere Treppe und in den Eingang des Tempels auf der Pyramidenspitze scheint. Die Erbauer müssen über große Kenntnisse der Astronomie verfügt haben. Noch dazu wurde der Bau an einem sehr starken geomantischen Energiepunkt errichtet.“
„Und nicht nur das“, ergänzte Merdarion. „Auf der ganzen Insel finden sich Zeugnisse der versunkenen Kultur der Erbauer. Denke nur an die Ruinen im Minental, auf denen beispielsweise das Lager der Bruderschaft, die alte Bergfeste oder das Kloster des Waldvolks errichtet worden waren. Hier in Khorinis finden sich zahlreiche Steinkreise, dem Stonehenge im Minental nicht unähnlich, bei denen es sich anscheinend um alte Ritualplätze handelt, die ebenfalls genau nach bestimmten Konstellationen des Firmaments ausgerichtet sind.“
„Dazu“, fuhr Myxir begeistert fort, „scheint es, als haben die Erbauer ebenfalls an Adanos geglaubt. In jedem Falle ist dies eine großartige Entdeckung. Damals im Minental haben wir uns auf den Ausbruch aus der Barriere konzentriert und die Ruinen kaum beachtet, doch jetzt…“
„Ja, tatsächlich sind die Ruinen in diesem kleinen Tal allzu offensichtlich“, meinte Merdarion. Myxir nickte bekräftigend. „Es war für uns ein leichtes, diese Gewölbe zu finden und zu öffnen. Beinahe ist es verwunderlich, dass niemand vor uns diese Ruinen näher untersuchte. Doch die Menschen scheinen viel zu sehr mit ihrem täglichen Einerlei und ihren kleinen Problemen beschäftigt, um zu sehen, was sie hier vor sich haben. Es ist einfach unglaublich. Was wir hier gefunden haben, könnte unser ganzes Verständnis der Altvorderen und der Frühgeschichte verändern. Bis jetzt nahmen wir an, die frühen Hochkulturen der Altvorderen entstanden in Varant und auf den Südlichen Inseln, während in Myrtana und Nordmar zur damaligen Zeit nur kleine Eingeborenenstämme lebten. Wir waren der Ansicht, hier auf den Khorinseln hätten zur damaligen Zeit die Orks geherrscht. Die Menschen segelten nach unseren bisherigen Erkenntnissen erst viel später, zur Zeit der Völkerwanderung nach Osten und besiedelten die dortigen Inseln. Dies hier zeigt nicht nur, dass Menschen die Meere schon weit früher in Richtung Osten befahren haben müssen, es wirft auch ein völlig neues Licht auf den Niedergang des orkischen Reiches auf den Khorinseln und auf die Zeit der Altvorderen. Es bleibt jedoch die Frage, weshalb die Menschen, die während der Völkerwanderung aus Myrtana und von Varant auf die Khorinseln kamen, keine anderen Menschen vorgefunden haben. Aus irgendeinem Grund muss diese Kultur untergegangen sein.“
„Alles sehr interessant, aber mich interessiert mehr, was es mit diesen Beben auf sich hat.“
„Dies versuchen wir unter anderem zu ergründen“, meinte Merdarion.
„Und habt Ihr diesbezüglich schon was rausgefunden?“
„Etwas, ja. Es scheint, dass die Quelle der Beben hinter den Bergen liegt.“
„Hinter welchen Bergen?“
„Den nordöstlichen. Bis jetzt ging man davon aus, dass sich im Norden der Insel Khorinis ein großes, unüberwindliches Bergmassiv befindet. Wir jedoch glauben mittlerweile, dass sich hinter den Bergen ein weiteres Tal findet, in dem die Erbauer eine große Stadt errichtet hatten.“
„Eine versunkene Stadt, hier auf der Insel Khorinis?“, fragte ich überrascht.
Myxir nickte. „Diese Stadt versuchen wir, zu erreichen. Doch scheinen die Berge unüberwindlich. Das große Portal dort hinten ist unserer Meinung nach der einzige Verbindungsweg. Meister Nefarius versucht, seine Funktionsweise zu ergründen. Doch zurück zu den Beben: Irgendetwas gibt es jenseits der Berge, was sie auslöst. Es handelt sich eindeutig um magische Ursachen, doch mehr können wir noch nicht sagen.“
„Außer, dass das, was die Erdbeben auslöst, auch die Steinwächter zum Leben erweckt“, ergänzte Merdarion.
„Was für Steinwächter?“
„Seltsame Statuen, die diese Ruinen bewachen“, erklärte Myxir. „Sie sind mit einer uns unbekannten Art der Magie belegt. Sie könnte verwandt sein mit der, die bei einem Golem zur Anwendung kommt, doch funktionieren diese Steinwächter völlig anders. In einem Moment stehen sie reglos da wie gewöhnliche Statuen und sehen dekorativ aus. Im nächsten Moment stürmen sie wie besessen auf dich los.“
„Ich glaube, so einem Ding bin ich in der Klosterruine begegnet.“
„Ja, man findet sie überall bei den Ruinen der Erbauer. Anscheinend wurden sie von ihnen als Wächter eingesetzt. Meister Cronos hat die Aufgabe übernommen, mehr über sie herauszufinden. Leider mussten wir sie alle zerstören, als wir hier ankamen. Seine Aufgabe gestaltet sich dementsprechend kompliziert.“
Geändert von Jünger des Xardas (31.03.2012 um 13:28 Uhr)
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Eine besondere Art zu reisen
„Du?! Wie kannst du es wagen, uns noch einmal unter die Augen zu treten?!“
Wir wendeten die Köpfe. Vor uns standen zwei weitere Wassermagier. Der, der eben geschrieen hatte und mich nun wütend anstarrte, hatte schwarzes Haar und einen Vollbart. Der zweite Magier dagegen hatte ein schmales Gesicht und einen ebenso schmalen braunen Bart. Der südländische Akzent in seiner Stimme war kaum herauszuhören, als er den anderen Magier mit den Worten, „Meister Cronos, ich bitte Euch…“ zu beschwichtigen versuchte.
„Habt Ihr etwa vergessen, was er getan hat? Er und dieser Feuermagier haben unserem Erzhaufen alle magische Energie entzogen!“
„Das ist uns bewusst“, sagte der schmalgesichtige Magier, sein Name war Nefarius. „Doch zügelt Euren Zorn. Adanos lehrt uns, zu vergeben.“
„Wollt Ihr ihn hier etwa einfach so dulden?“
„Es ist nicht an uns, ihn zu richten“, sagte Myxir scharf.
„Er wird uns abermals hintergehen!“
„Er wird seine Gründe gehabt haben und die Barriere ist dennoch gefallen“, sagte Myxir. „Ein weiteres Mal wird so etwas nicht passieren.“
„Oh doch, das wird es, wenn wir ihn unter uns dulden.“
„Ihr seid blind, Cronos. Seht seine Augen. Wahrheit spricht aus ihnen… und noch einiges mehr.“
„Wieder Eure lächerliche Theorie? Niemals würde Adanos…“
„Genug!“, unterbrach Nefarius. „Dieses Thema haben wir eingehend besprochen. Jetzt ist nicht die Zeit, darüber zu streiten. Vor allem nicht vor den Ohren eines Fremden. Meister Myxir hat Recht, Cronos. Lasst Euch nicht von Eurem Zorn blenden. Seht in seine Augen und vergegenwärtigt Euch die Worte Adanos’. Ihn aus unserer Mitte zu verstoßen, obliegt allein Saturas, nicht Euch. Solange jedoch er ihn unter uns duldet und auch die Mehrheit der Unsrigen nicht gegen ihn spricht, werdet Ihr diese Entscheidung akzeptieren. Und seid gewiss, dass wir nicht blind vertrauen und kein zweites Mal so unvorsichtig sein werden.“ Cronos schnaubte wütend und stolzierte wortlos davon.
Nefarius wandte sich nun an mich. „Ich muss jedoch sagen, dass auch ich in höchstem Maße überrascht bin. Adanos’ Wege sind wahrhaft unergründlich.“
„Meister Myxir erwähnte, dass Ihr das Portal untersucht.“
„Das ist richtig. Wir vermuten, dass es in den Norden der Insel führt, dorthin, wo wir die alte Stadt der Erbauer vermuten. Doch leider ist es verschlossen.“
„Wisst Ihr, wie Ihr es öffnen könnt?“
„Ja, wir haben es vor wenigen Tagen herausgefunden. Neben dem Portal gibt es eine Einlassung in der Wand. Es scheint so als wäre sie für einen Ornamentring gemacht. Es gibt allen Grund zur Annahme, dass dieser Ornamentring der Schlüssel zum Portal ist. Doch die Schriften verraten uns auch, dass er in vier Teile zerbrochen wurde.“
„Lares und ich haben ein Ornamentstück von Vatras aus der Stadt mitgebracht. Ist das eines der vier Teile?“
„Ja!“, sagte Nefarius aufgeregt. „Wo ist es?“
„Ich hab es Saturas gegeben.“
„Das ist gut. Wir hatten es bei der Pyramide gefunden und es an unseren Bruder Vatras geschickt. Dann jedoch erkannten wir seine wahre Bedeutung.“
„Weshalb wurde das Portal eigentlich verschlossen? Und wieso hat man den Schlüssel zerbrochen?“
„Wir können nur Mutmaßungen anstellen. Doch scheinen die Priester der Erbauer selbst dafür verantwortlich. Und umso mehr ich von ihren Schriften lese, umso mehr gelange ich zu der Erkenntnis, dass die Priester der Erbauer wahrlich keine Dummköpfe waren. Sie müssen einen guten Grund für ihr Handeln gehabt haben.“
Myxir meldete sich nun wieder zu Wort. „Fest steht, dass irgendetwas die Kultur der Erbauer ausgelöscht hat. Ich denke, dass hier etwas Schreckliches geschehen ist, dessen ganzes Ausmaß wir noch nicht einmal erahnen können. Ich habe ein ungutes Gefühl bei alledem. Andererseits sind auch diese Erdbeben sehr beunruhigend und könnten Vorbote einer weiteren Katastrophe sein, die diese Insel heimsuchen könnte. Uns bleibt also keine Wahl.“
„Kann ich Euch irgendwie helfen?“
„Nun, wir haben bereits Leute ausgeschickt, die uns helfen.“
„Mitglieder des Rings?“
Myxir lächelte. „Wieso habe ich das erwartet? Ich sage, soll er eine Möglichkeit erhalten, sich zu beweisen.“
Nefarius nickte. „Also gut. Hinter Lobarts Hof, direkt am südlichen Stadttor von Khorinis, liegt ein Steinkreis. Wir vermuten, dass dort eines der Ornamente zu finden ist. Es könnte aber sein, dass du dort bereits auf eines unserer Kinder aus dem Ring triffst.“
„Ich werd’s ja sehen. Gibt es eigentlich einen schnelleren Weg in die Stadt? Wenn wir für den Rückweg genauso lang brauchen wie für den Hinweg, kommen wir nicht vor Mitternacht an.“
Merdarion schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, einen anderen Weg gibt es nicht. Außer… Nein, das wäre viel zu gefährlich.“
„Wovon sprecht Ihr?“
„Nichts. Ich beschäftige mich als Meister der angewandten Magie nur mit der Magie der Erbauer. Und anscheinend verfügten sie über eine uns gänzlich unbekannte Art zu reisen.“
„Wie sieht die aus?“
„Nun, sie konnten sich über gewisse Strecken teleportieren.“
„Und was ist daran so besonders? Das hab ich auch schon gemacht.“
„Ja, mit Hilfe von Teleportsteinen. Die Erbauer aber nutzten spezielle Teleportplattformen. Diese waren fest im Boden verankert. Dafür musste man sie nur betreten und wurde umgehend an einen anderen Ort teleportiert. Nach unseren derzeitigen Informationen gibt es hier in dieser Gegend drei solche Plattformen. Eine liegt in diesen Gewölben. Durch sie sollte man zu einer Plattform nahe der Stadt gelangen. Allerdings sind wir da nicht ganz sicher. Die Plattform in der Nähe der Stadt müsste dich zu einer weiteren führen, die wir unweit der Taverne zur toten Harpyie entdeckt haben und die dich wahrscheinlich wieder zu diesen Ruinen bringt.“
„Und kann man diese Dinger noch benutzen?“
„Nun, sie scheinen noch zu funktionieren. Allerdings können wir nicht genau sagen, was passiert, wenn man sie betritt.“
„Egal. Ich werde die Plattform hier unten nutzen.“
„Ausgeschlossen. Nach all den Jahren könnte sie eine Funktionsstörung haben. Sie könnte dich an einen völlig anderen Ort teleportieren. Der Teleportvorgang könnte unheimlich lange dauern. Du könntest auf irgendeiner Zwischenebene hängen bleiben. Oder du…“
„Schon gut, ich hab verstanden, dass es gefährlich ist. Aber bei den Erbauern hat es doch auch geklappt oder?“
„Das war vor schätzungsweise zwei- bis dreitausend Jahren.“
„Lasst es mich doch einfach versuchen. Es wird schon nichts passieren.“
Merdarion seufzte. „Auf deine Verantwortung.“
Ich folgte dem Wassermagier in den Beckenraum. Die Erde bebte unterdessen ein weiteres Mal. Als wir den Raum betraten, kam Lares uns entgegen. „Da bist du. Saturas war nicht allzu glücklich, dass ich dich hergebracht habe.“
Ich grinste. „Tja, wer kann’s ihm verdenken? Langsam will ich aber in die Stadt zurück.“
„Schätze, das wird heut nichts mehr. Wir müssen dann in der Taverne übernachten.“
„Wir können doch die Teleporter der Erbauer benutzen.“
„Ne lass mal. Die Wassermagier haben schon von den Dingern erzählt, aber für mich ist das nichts.“
„Ach komm, da ist doch sicher nichts bei.“
„Nichts bei? Hast du mal Merdarion gefragt, wie gefährlich die Dinger sind?“
„Ja und ich hab mich auch bereit erklärt, sie auszuprobieren.“
Lares riss die Augen auf. „Aber ohne mich. Wenn du unbedingt Selbstmord begehen willst, deine Sache. Solange mir kein Wassermagier sagt, dass die Dinger sicher sind, werd ich mich auf herkömmliche Weise fortbewegen.“
„Wie du willst. Ich teleportiere mich aber in die Stadt.“
Lares schaute skeptisch. „Ganz wie du willst. Hoffe nur, dass das gut geht.“
„Mach dir um mich keine Sorgen“, erwiderte ich abwinkend.
„Hm. Gut, dann sehen wir uns in Khorinis – hoffentlich.“
Ich nickte. „Ja, bis morgen in Khorinis. Und keine Sorge – alles wird gut.“
„Bis morgen und viel Glück.“
Merdarion war inzwischen auf die andere Seite des Raumes getreten. Erst jetzt entdeckte ich hier eine kleine Tür, welche von einer großen, reich verzierten Steinplatte verschlossen wurde. Als ich zu ihm trat, drückte Merdarion mit der Hand auf ein hervorstehendes Relief. Die Steinplatte senkte sich in den Boden. Dahinter lag ein kleiner, dunkler Raum in dessen Mitte eine kreisrunde Plattform stand. Vier nach innen gekrümmte Dornen an ihren Rändern und zahlreiche Reliefs an ihrem Boden verzierten die Plattform. Über der Plattform und zwischen den Dornen schwebte eine große Kugel aus tanzenden, blauen Funken. Ich hörte ein leises Surren, das von der Plattform ausging.
„Das ist die Teleportplattform“, erklärte Merdarion. „Bist du sicher, dass du das tun willst?“
Ich nickte. „Ja… Ich denke schon.“
„Dann tritt auf die Plattform. Möge Adanos dich behüten.“
Ein letztes Mal atmete ich tief durch, dann trat ich in die blauen Funken.
Sofort schmiegten diese sich an meinen Körper. Ich verspürte ein seltsames Kribbeln. Ein Rauschen erklang, dann blitzte ein Licht auf und ich stand inmitten eines kleinen Raums. Einen Moment glaubte ich, noch immer in den Ruinen der Erbauer zu sein, so stark glich dieser Raum dem, in dem ich mich soeben noch befunden hatte. Selbst die Teleportplattform stand am selben Platz wie zuvor. Dann jedoch merkte ich, dass ich nicht mehr in den Gewölben unter dem Pyramidental sein konnte. Die einzige Tür des Raumes führte in eine kleine Höhle. Der Eingang war von Gestrüpp nur so überwuchert. Es dauerte eine Weile, bis ich mich hindurchgeschlagen hatte. Dann erkannte ich, dass ich mich in einem großen, bewaldeten Tal, zu Füßen einer steilen Felswand, befand. Das Tal fiel steil nach Osten ab. Am oberen Ende des Hanges konnte ich in der Ferne die Stadtmauer erkennen. Nun wusste ich, wo ich war.
Eine gute Viertelstunde später betrat ich die Stadt durch das Osttor. Es war inzwischen später Nachmittag.
Geändert von Jünger des Xardas (27.04.2012 um 10:49 Uhr)
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Die Oberstadt
Ich stieg den grasbewachsenen Hügel hinter Lobarts Hof hinauf. Es war noch Vormittag. Nagur hatte erwähnt, dass der Pirat den ganzen Tag in der Bucht sein würde. Da Nagur morgens zu ihm kam, um mit ihm zu handeln, hatte ich beschlossen, die Bucht nicht vor dem Mittag aufzusuchen. Stattdessen nutzte ich die Zeit, um den Steinkreis hinter Lobarts Hof genauer unter die Lupe zu nehmen.
Schon von weitem erblickte ich eine Gestalt, die den Boden um den Steinkreis abzusuchen schien. Als ich die alte Kultstätte erreicht hatte, erkannte ich die Person.
„Was machst du denn hier, Cavalorn?“
Der Jäger blickte auf. „Das gleiche könnte ich dich fragen. Ich zumindest bin im Auftrag der Wassermagier unterwegs.“
„Ich auch. Und ich habe das dumpfe Gefühl, dass wir beide nach derselben Sache suchen. Du sollst nicht zufällig ein altes Ornament finden?“
„Oh doch. Heißt das, du gehörst jetzt auch zum Ring?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich arbeite dran.“
Cavalorns Blick ruhte auf meiner Hand. „Du trägst unser Zeichen“, stellte er fest.
„Der ist von Lares. Den hat er mir nur geliehen.“
„Verstehe. Nun, ich fürchte, wir kommen zu spät.“
„Wieso? Ist das Ornament weg?“
Cavalorn nickte. „Und ich glaube, ich weiß, wer es hat.“
„Erzähl.“
„Ich war beim Hof und hab mit den Bauern geredet. Irgend so ein besoffener Knecht war hier beim Steinkreis und hat einen alten Mechanismus betätigt. Daraufhin erschien einer dieser Steinwächter. Die Bauern riefen die Miliz, die Miliz rief die Paladine und die haben das Ding plattgemacht. Die Bauern wissen nichts von einem Ornament. Ich habe den Verdacht, dass die Paladine es mitgenommen haben.“
„Verdammt. Wie sollen wir dann da rankommen?“
„Nun, wir müssen mit ihnen reden. Es hat keinen Wert für sie, also sollten sie kein Problem damit haben, es uns zu geben. Aber wir werden mit Vatras sprechen müssen. Das Ornament ist jetzt vermutlich in der Oberstadt und da kommen wir nicht rein. Ein anderes Mitglied des Rings wird sich darum kümmern müssen.“
„Nicht nötig. Ich hab Matteo einen Gefallen getan. Im Gegenzug beschafft er mir Zugang zum Oberen Viertel. Ich werd mal mit ihm sprechen.“
„Gut, mach das. Wahrscheinlich warte ich dann am Freibierstand.“
Gemeinsam liefen wir bis zum Stadttor. Hier trennten wir uns. Während Cavalorn sich in Richtung Galgenplatz aufmachte, steuerte ich direkt auf Matteos Laden zu. Da es noch immer nicht Mittag war, hatte ich noch genügend Zeit. Wenn Matteo mir bereits Zutritt zur Oberstadt verschafft hatte, könnte ich das Ornament noch vor meinem Treffen mit dem Piraten besorgen.
Matteo erkannte mich sofort, als ich eintrat und begrüßte mich grinsend. „Willkommen! Willkommen!“
„Sei mir gegrüßt“, begann ich. „Ich denke, du weißt, warum ich hier bin.“
„Natürlich! Natürlich! Und was wäre ich für ein Geschäftsmann, wenn ich die vergäße, die mir geholfen haben und wenn ich meine Versprechen nicht einhielte. Matteo hält sein Wort! Rupert! Rupert! Wo bist du schon wieder, du Nichtsnutz?!“
Ein schüchtern wirkender junger Bursche, noch ein halbes Kind, kam angelaufen. „Was ist, Meister?“, fragte er ängstlich.
„Wieso dauert das so lange, Taugenichts? Ich will, dass du den Passierschein für unseren werten Kunden hier holst.“
„Ja, sofort, Meister.“
Matteo schüttelte den Kopf. „Nichts als Ärger hat man mit diesem Burschen.“ Rupert kehrte sofort zurück und überreichte mir eine Pergamentrolle. „Mit diesem Schreiben wirst du keine Probleme mit den Paladinen am Tor zum Oberen Viertel haben“, erklärte Matteo, die Hände am Revers seiner Weste und mich breit angrinsend. „Dieser Passierschein gewährt dir uneingeschränkten Zutritt zur Oberstadt von Khorinis. Lediglich ins Rathaus wird man dich nicht lassen.“
„Na ja, besser als nichts.“ Ich schob den Passierschein umsichtig in meine Tasche. „Danke.“
„Es war mir eine Freude, mit dir Geschäfte zu machen.“
Die Paladine am inneren Stadttor ließen mich tatsächlich passieren. Dahinter führte ein kurzer Weg weiter in die Höhe, auf einen großen, runden Platz. Ich staunte. Die Bewohner der Oberstadt mussten wahrhaft reich sein. Ein beeindruckendes Bild bot sich mir, wie ich es in noch keiner Stadt gesehen hatte: Große, vielstöckige und prachtvolle Fachwerkhäuser mit zahlreichen Erkern und Giebeln umschlossen den Platz. In der Mitte stand ein kreisrunder, steinerner Brunnen, aus dessen Mitte wiederum eine Statue aufragte. Sie stellte einen großen, hünenhaften Mann dar, der eine stolze, wenn auch etwas altertümliche Rüstung trug. Unter dem gefiederten Helm schaute ein grimmiges Gesicht hervor. In der Rechten des Mannes ruhte ein langes Schwert, dessen Spitze den Boden berührte. In der Linken hielt er einen Schild mit dem Greifen von Khorinis darauf. Eine kunstvoll gefertigte Straßenlaterne stand ein Stück hinter dem Brunnen. Und als wäre dies noch nicht genug der Pracht, war der Boden des Platzes sogar gepflastert.
Auch den Menschen auf der Straße sah man den Reichtum an. Sie alle trugen feine Gewänder. Während die Herren in edle Wamse mit Pluderärmeln gehüllt waren und schmale Degen an ihren Seiten, sowie gefiederte Hüte auf ihren Köpfen trugen, besaßen die Damen lange, wallende Kleider und zu kunstvollen Frisuren hochgestecktes Haar.
Selbst die Milizsoldaten, die zu außergewöhnlich großer Zahl durch dieses Viertel patrouillierten, trugen edlere Rüstungen, die wie die Wulfgars mit Metall verstärkt waren.
Direkt vor dem Brunnen erblickte ich eine Gestalt in einer prachtvollen Rüstung, die die Arme in die Seite gestemmt hatte und ihren scharfen, strengen Blick über den Platz schweifen ließ.
Als sie mich sah, verfinsterte sich ihr Gesichtsausdruck. „Wie bei Beliar bist du denn hier hereingekommen?“, bellte Lothar mir entgegen.
„Keine Sorge, hat alles seine Richtigkeit. Ich habe einen Passierschein.“
„Ich will gar nicht wissen, wo du den herhast“, sagte Lothar resigniert. „Doch glaube nur nicht, dass du Zugang zum Rathaus erhältst, bloß, weil du die Erlaubnis hast, dich im Oberen Viertel aufzuhalten. Ich warne dich, wenn du dir hier nur die kleinste Kleinigkeit zu Schulden kommen lässt, bist du so schnell wieder draußen, wie du hier hereingekommen bist. Du wirst dich hier oben strikt an alle Regeln und Gesetze dieser Stadt halten. Und du wirst keinen der ehrenwerten Bürger dieses Viertels belästigen, sondern ihnen allen mit Respekt begegnen. Hier wohnt die ehrbare Gesellschaft der Stadt, kein Gesindel und keine Herumtreiber.“
„Schon gut, ich werd mich ja benehmen. Hört mal, ich suche da etwas. Es hat neulich einen Vorfall bei Lobarts Hof gegeben. So ein komisches Steinwesen hat die Bauern bedroht. Ihr Paladine habt es doch getötet, nicht?“
„Das ist richtig“, sagte Lothar stolz und ließ seine Brust anschwellen. „Ich habe diese verderbte Kreatur Beliars gemeinsam mit Sir Cedric und Sir Albrecht bezwungen. In Innos’ Namen haben wir die Rechtschaffenen geschützt. Solange die heiligen Paladine sich in dieser Stadt aufhalten, gibt es keinen Grund zur Furcht. Innos schenkt uns die Kraft, alle finsteren…“
„Jaja, schon gut. Wie gesagt, ich suche etwas. Es handelt sich um ein steinernes Bruchstück eines Ornaments. Es muss irgendwo dort oben beim Steinkreis gewesen sein. Vielleicht hatte es auch diese seltsame Kreatur bei sich.“
„Ja, so etwas gab es dort tatsächlich. Und natürlich ist es unseren von Innos geschärften Sinnen nicht entgangen.“
„Kann ich es haben?“
„Meinetwegen. Hier, ich hatte es an mich genommen. Zunächst hielt ich es für eine magische Rune, doch es ist völlig wertlos.“
Umsichtig verstaute ich das Ornament in meiner Tasche. Es zu bekommen, hatte sich als leichter erwiesen, als ich erwartet hatte.
Ziellos entfernte ich mich einige Schritte von Lothar. Langsam wurde es Mittag. Doch etwas Zeit hatte ich noch und nun, wo ich schon einmal hier war, konnte ich auch mein Glück versuchen. Also lenkte ich meine Schritte auf das Rathaus zu, wenngleich ich wenig Hoffnung hatte, einfach so zu Hagen vorgelassen zu werden.
Das Rathaus war ein prächtiges, mehrstöckiges Gebäude. Auf der Vorderseite erhob sich ein niedriger Fachwerkturm mit spitzem Dach, auf dem eine Flagge mit dem Wappen Khorinis’ wehte. Umgeben wurde das Rathaus von einem kleinen Garten, der wiederum von einem niedrigen, eisernen Zaun umschlossen wurde. Stark beschnittene Rosenbüsche wuchsen direkt hinter dem Zaun, ohne dass auch nur der kleinste Zweig zwischen den Streben hervorlugte. Im Innern des Gartens erblickte ich zahlreiche Paladine. Ich schätzte ihre Zahl auf knapp zwei Dutzend. Einige stolzierten herum oder unterhielten sich, die meisten jedoch schienen sich im Schwertkampf zu üben und miteinander zu trainieren.
Ich trat durch das Eingangstor des Zaunes und blieb stehen. Die meisten Paladine schienen keine Notiz von mir zu nehmen und so versuchte ich, etwas von ihren Gesprächen aufzuschnappen. Schließlich war auch ich neugierig, was sie überhaupt hier wollten.
„Es war Innos’ Wille, also muss es geschehen.“
„Innos führt uns in den Kampf gegen die Dunkelheit und mit seiner Hilfe werden wir siegreich sein, das ist gewiss. Der ehrenwerte Kommandant Garond…“
„He, was willst du hier, du Strolch?“ Ich fuhr herum. Einer der beiden Paladine, die den Eingang des Rathauses flankierten, hatte mich angesprochen und musterte mich nun misstrauisch.
„Ich… ich wollte zu Lord Hagen.“
„Weißt du eigentlich, wie oft am Tag ich das zu hören bekomme?“
„Nicht sehr oft, schätze ich, wenn Ihr kaum einen ins Obere Viertel lasst“, konnte ich mir nicht verkneifen.
Das Gesicht des Paladins verzog sich zu einer wütenden Grimasse. „Der ehrenwerte Lord Hagen hat wichtigeres zu tun, als sich um die Belanglosigkeiten des gemeinen Volkes zu kümmern“, fauchte er. „Wo kämen wir hin, wenn jeder niedere Bürger den Großmeister des heiligen Ordens der Paladine mit seinen nichtigen Angelegenheiten belästigen würde? Deshalb ist der Lordprotektor für niemanden zu sprechen, der nicht im Dienste des Königs oder Innos’ steht.“
„Aber es ist sehr wichtig!“
„Genug! Du wagst es, einem heiligen Streiter Innos’ zu widersprechen? Verlasse nun den Rathausgarten oder ich werde dich lehren, wo dein Platz ist!“
„He, der Junge tut doch nichts.“ Wir wandten die Köpfe. Vor uns stand ein älterer Mann mit angegrautem braunen Bart, der sich schwer auf eine Hacke stützte. „Das geht schon in Ordnung. Ich werde mich um ihn kümmern.“
Der Paladin schnaubte. „Meinetwegen. Solange du ihn nur hier wegschaffst.“
„Na, dann komm mal mit, Bürschchen“, sagte der Alte und winkte mir, ihm zu folgen.
Der Mann mit der Hacke führte mich an die Seite des Rathauses, etwas abseits von den Paladinen. „Mach dir nichts draus, Junge, das sind einfach nur arrogante Wichtigtuer.“
„Und du, wer bist du?“
„Ich? Ich bin hier nur der Gärtner. Dieser Garten ist mit der Zeit mein Zuhause geworden. Ich liebe die Pflanzen, sie sind meine Freunde. Und hier hab ich meine Ruhe. Allein, so hab ich’s am liebsten.“ Er schnaubte. „Aber jetzt machen sich diese Wichtigtuer hier breit, zertrampeln mit ihren Stiefeln den Rasen und machen einem alten Mann das Leben zu Beliars Reich.“
„Was hast du gemacht, bevor du Gärtner wurdest?“
„Früher, da hab ich als Söldner im Varantkrieg unter Marschall Rigaldo gedient. Dann kam ich hierher und hab mich lange im Hafen durchgeschlagen. Einen Menschen hab ich dort getötet. Damals, da wollten sie mich in die Barriere werfen. Aber Larius brauchte noch einen Gärtner.“
„Als Gärtner bekommst du hier doch einiges mit, nicht?“
„Klar, was willst du wissen?“
„Kommt Lord Hagen manchmal auch aus dem Rathaus raus?“
Der Gärtner kratzte sich am Hinterkopf. „Ne, hab ich nichts von mitgekriegt.“
„Und kam hier sonst irgendwer rein? Also außer den Paladinen, Milizen und Feuermagiern?“
„Statthalter Larius natürlich. Aber der hat die letzten Jahre eh nichts mehr gemacht. Spätestens jetzt, wo die Paladine da sind, macht er nichts anderes mehr als sich volllaufen zu lassen. Na ja und sein Sekretär, Cornelius, kommt auch rein. Mann, ist das ein blöder Schnösel. Ständig nur am Rummeckern. Sonst kaum einer. Nur einmal, da gab es ein Bankett, da kamen diese ganzen Pinkel.“
„Du meinst die reichen Schnösel hier oben?“
„Pah, reich. Das ist doch alles nur noch Fassade. Mann, das sind fast alles Überseehändler. Wo sollen die denn Gold herbekommen, jetzt, wo keine Schiffe mehr kommen? Die waren mal reich und wie! Das kann ich dir sagen. Und geprasst haben sie! Anstatt zu sparen, für schlechte Zeiten oder den Armen was abzugeben, haben sie wie die Fleischwanzen im Speck gelebt. Tja und jetzt haben sie nicht mehr viel. Alle leben sie von ihrem wenigen Ersparten, aber viel ist das nicht. Sicher, sie sind immer noch die reichsten in der Stadt, aber auch sie müssen den Gürtel enger schnallen. Kommt halt davon, wenn man nur noch Stoffe von den Südlichen Inseln trägt, Wein vom Archolos trinkt und jeden noch so kleinen Happen mit varantinischen Gewürzen pfeffern muss. Aber glaubst du, die hören jetzt auf? Schau sie dir doch an! Die rennen immer noch in ihren feinen Gewändern rum, feiern Bankette, trinken Wein, und kaufen sich Dutzende von diesen Parfüms, Cremes und anderen Wundermittelchen. Alles, um die Fassade aufrecht zu erhalten. Aber so treiben sie sich nur noch schneller in den Ruin.“
„Hm. Schlechte Zeiten, was?“, fragte ich mit müdem Lächeln.
„Kannst du laut sagen.“
„Nun gut, ich muss dann los. Hab noch was Wichtiges zu erledigen. Machs gut.“
„Ja, du auch. War nett, mit dir zu plaudern.“
Geändert von Jünger des Xardas (09.02.2011 um 18:39 Uhr)
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Auf der Spur der Vermissten
Die Wellen rauschten und brachen sich sanft an der Kaimauer und den Klippen. Über mir kreischten die Möwen. Abermals hatte ich mir ein Fischerboot geliehen und war auf dem Weg in die Bucht vor der Stadt. In der Sache mit dem Auge kam ich vorerst nicht voran. Vielleicht würde ich mich tatsächlich der Miliz anschließen müssen, um zu Hagen zu kommen, doch das wollte ich eigentlich vermeiden. Es musste einen anderen Weg geben. Jetzt jedoch hoffte ich zunächst, mehr über die verschwundenen Leute herauszufinden. Die Spur, die ich hatte, musste mich einfach zu den Vermissten führen. Wenigstens hier wollte ich weiterkommen. Inzwischen wollte ich auch selbst herausfinden, was mit den verschwundenen Bürgern geschehen war. Doch wenn mir die Piraten keine Auskunft geben konnten oder wollten, saß ich wahrscheinlich auch hier in einer Sackgasse.
Ich spürte, wie der Bug des Bootes den Sand traf und auf das Ufer der Bucht auflief. Rasch hob ich die Ruder aus ihren Halterungen, legte sie neben mich ins Innere des Bootes, erhob mich dann und sprang über die niedrige Bootswand. Meine Füße landeten spritzend im knöcheltiefen Wasser direkt am Ufer. Während ich das Wasser verließ, zog ich noch einmal an dem Riemen, der meine Schwertscheide am Gürtel hielt. Ich konnte nicht wissen, wie die Piraten auf mich reagieren würden.
Dann blickte ich mich um. Einige Meter weiter lag ein zweites Boot, ungefähr doppelt so groß wie das meine und mit einem kleinen Masten ausgestattet. Dahinter erkannte ich die Feuerstelle, die jetzt wieder brannte und von der eine schmale Rauchsäule in den Himmel aufstieg.
Eine einzelne Person saß am Lagerfeuer. Sie trug dicke, lederne Stiefel, weite, bunte Hosen mit mehreren Flicken darauf, eine nietenbesetzte Weste aus rotem Leder und einen quer über die Brust laufenden Gürtel, in dem mehrere Messer steckten. Dazu trug sie ein rotes Tuch auf ihrem Kopf, das hinten locker zusammengeknotet war.
Vorsichtig näherte ich mich dem Mann. Er hatte mir den Rücken zugekehrt, schien jedoch meine Schritte gehört zu haben. „Da bist du ja endlich!“, hob er erbost an. „Hab schon auf dich gewartet… Moment mal, du bist nicht Baltram!“ Ich war um ihn herumgetreten, sodass er mich vollständig erkennen konnte. Nun fixierte er mich mit den Augen. Ein struppiger brauner Vollbart und eine kurze Narbe knapp unter dem linken Auge zierten sein Gesicht.
„Baltram?“ Ich horchte auf. „Wartest du auf einen Händler?“
„Das hab ich doch gerade gesagt!“ Mein Gegenüber schien sichtlich genervt. „Der Schlauste scheinst du mir ja nicht zu sein.“
„Was willst du von Baltram?“, fragte ich.
„Ihm etwas von Samuels bestem Rum verkaufen, aber scheinbar traut sich der Kerl nicht mehr her.“
„Aha und erzählst du mir, wer du eigentlich bist?“
„Ich? Ich bin Skip! Na, klingelt’s?“
„Ähm… nein. Sollte ich dich kennen?“
„Das will ich meinen!“ Skip schien fast etwas enttäuscht, dass ich noch nichts von ihm gehört hatte. „Mann, ich gehöre zu den berüchtigtsten Piraten, die je auf den vier Weltmeeren gekreuzt sind! Jahrelang haben wir die Gewässer um die fünf Khorinseln unsicher gemacht. Kein Kaufmann und kein Überseehändler war vor Käptn Gregs Crew sicher! Du musst doch von uns gehört haben.“
„Ja, doch, klar. Dann seid ihr also die Piraten, von denen hier alle reden.“
Skip lachte. „Ja, wir haben dem Handel ganz schön zugesetzt. Die reichen Säcke in der Oberstadt haben alle gewaltigen Schiss vor uns. Aber jetzt sind schlechte Zeiten. Es kommen keine Schiffe mehr.“
„Das ist mir auch schon aufgefallen. Was macht ihr solange?“
„In unserem Lager sitzen und Grog trinken. Nur ich komm ab und zu in die Stadt und treibe Handel mit einigen von den hiesigen Hehlern und Hafenbewohnern. In letzter Zeit handeln auch andere Leute mit mir, wie eben Baltram. In diesen Zeiten müssen sich viele auf krumme Geschäfte einlassen, wenn sie irgendwie über die Runden kommen wollen. Na mir soll’s recht sein, wenn schon keine Schiffe mehr kommen…“
„Und wo ist euer Lager?“
Skip lachte laut auf. „Ich werd den Beliar tun, dir das zu verraten. Da kann ich mich ja genauso gut gleich der Miliz stellen. Nur soviel: Es ist ein großer Strand hier auf der Insel. Aber davor sind ne Menge Felsen und Riffe und es gibt nur wenige Männer, die den Weg dadurch kennen. Einer sitzt hier vor dir. Aber jetzt sag mal: Du kommst hier her und versuchst, mich auszuquetschen. Was willst du eigentlich hier?“
Ich zögerte kurz, dann beschloss ich, frei heraus zu sprechen. „In der Stadt sind einige Leute verschwunden und es deutet vieles darauf hin, dass du nicht ganz unbeteiligt an ihrem Verschwinden warst.“
„Argh, verdammt.“ Skip kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ja, du hast Recht… Aber es ist nicht so, wie du denkst. Ich meine, seh’ ich etwa wie ein Menschenhändler aus? Ne, wir haben die Leute nur rübergeschippert. Weißt du, sie haben uns bezahlt. Wir haben einige von ihnen zu unserem Strand gebracht. Dahinter liegt ein Tal, das du nur auf dem Seeweg erreichen kannst, da haben sie sich eingenistet. Wir haben dann gegen Bezahlung Sachen für sie rübergeschippert. Anfangs war es ganz normaler Krempel – na gut, etwas Schmuggelware war wohl auch dabei, aber nichts weltbewegendes. Aber irgendwann haben die Schweine dann angefangen, Leute zu entführen. Die haben wir auch rübergebracht, aber das ist vorbei!“
„Wer sind „die“?“, fragte ich leicht verwirrt.
„Na die Banditen natürlich!“
„Banditen? Ich dachte, das sind nur kleine Banden, die nichts miteinander zu tun haben.“
„Stimmt auch, aber es gibt einen großen Haufen. Die Kerle haben wohl schon in der Barriere zusammengehört, keine Ahnung, weiß auch nicht so genau. Jedenfalls haben sie hier an den Klippen Kontakt zu uns aufgenommen. Sie haben uns ne Menge Erz gegeben – hatten sie wohl noch aus der Barriere. Wir haben sie dafür in unser Tal rübergeschippert. Und ab da haben wir halt für sie Sachen aus Khorinis besorgt und ab und an weitere Banditen ins Tal gebracht. Paar von den Kerlen waren nämlich am Anfang hier geblieben, als Vorposten. Diese Kerle haben irgendwann auch die Leute entführt. Wir haben sie dann rübergebracht. Keine Ahnung, was die mit denen wollten. Haben uns nie tiefer in ihr Lager reingelassen.“
„Und du sagst, jetzt arbeitet ihr nicht mehr für sie?“
„Ne, das ist vorbei. Die Kerle haben irgendwann aufgehört, uns zu bezahlen. Seit neuestem sind wir im Krieg miteinander. Jetzt müssen sie sehen, wo sie bleiben. Wir haben den Strand und die Boote und wir sind die einzigen, die den Weg durch die Klippen kennen und einen Landweg in unser Tal gibt es nich. Das heißt, die sitzen erst mal fest. Die Banditen, die hiergeblieben sind, können jetzt auch keinen Kontakt mehr zu ihren Kollegen aufnehmen. Weiß aber nicht, was die Ratten jetzt machen. Vielleicht suchen se ja nen andren Weg. Wird nicht viel bringen. Es gibt keinen anderen Weg.“
„Und du hast keine Ahnung, warum die Banditen die Bürger entführt haben?“
Skip schüttelte den Kopf. „Keine. Eine Frau haben sie entführt. Klar, die saßen Jahre im Minental fest und da gab’s nicht viele Frauen, soviel ich weiß. Nicht schwer zu erraten, was sie mit der wollen. Aber alle anderen, die sie entführt haben, sind Männer und wozu sie die brauchen…“ Er zuckte mit den Schultern.
„Was ist mit denen, die hier in Khorinis geblieben sind? Weißt du, wo ich sie finde?“
„Ne, da bin ich überfragt. Aufm Land kenn ich mich nicht aus. Aber ich glaub, die haben sich irgendwo beim Großbauern eingenistet. Ihr Anführer ist so ein schleimiger Hund namens Dexter.“
„Dexter?!“
Schon wieder Dexter. Schon mehrmals hatte ich seinen Namen in den letzten Tagen nun gehört. War er es nicht, der Steckbriefe von mir verteilte? Doch wieso wollte Dexter meinen Tod und wieso ließ er Leute entführen? Ich bezweifelte, dass er dies von sich aus tat. Es musste einen anderen Banditen geben, der ihm den Auftrag dazu gegeben hatte. Doch wer? Und warum?
„Hör mal, ich kann dir zwar nicht genau sagen, wo du die Sau findest, aber sei vorsichtig. Dem seine Bande nimmt dich auseinander, wenn sie dich sehen. Und ich weiß zwar nicht genau, wie viele es sind, aber mehr als ein Dutzend sicher.“
„Gibt es keine Möglichkeit, so zu ihm durchzukommen?“
„Na ja, mit den richtigen Freunden sicher. Wenn einer der Banditen dir helfen würde, klar. Oder vielleicht diese Söldner, die sich auf Onars Hof eingenistet haben. Die waren doch auch in der Barriere.“
„Hatten da aber kein allzu gutes Verhältnis zu Dexter und seinen Leuten.“
„Verstehe“, sagte Skip grinsend. „Dann weiß ich jetzt auch, wo du herkommst. Nun, mir fällt grad ein, einer der Banditen ist zur Diebesgilde von Khorinis übergelaufen. Keine Ahnung mehr, wie der Kerl hieß, aber vielleicht hat er ja noch Beziehungen zu seinen alten Freunden. Wenn nicht könnte die Diebesgilde dir vielleicht auch so weiterhelfen. Sie ist neben uns Piraten und den Banditen die dritte große… sagen wir inoffizielle Gruppierung auf dieser Insel. Tja, wir kontrollieren die See, sie die Stadt und dieses Banditenpack die Umgebung.“
„Gut, danke. Dann werd ich vielleicht mal mit den Dieben sprechen. Du weißt nicht zufällig, wie ich an sie rankomme?“
„Hinbringen kann ich dich nicht, aber jeder kleine Hehler und jeder kleine Halunke in der Stadt steht irgendwie in Verbindung mit ihnen.“
„Okay, dann werd ich mich einfach mal umhören.“
„Tu das. Und wenn du Dexter findest, bestell ihm nen schönen Gruß von mir und gib ihm in meinem Namen nen saftigen Tritt in den Arsch.“
„Werd ich machen“, antwortete ich grinsend.
-
Eine alte Bekannte
Hastigen Schrittes lief ich die Kaimauer entlang und hielt nach der Person Ausschau, die mir wohl am besten würde helfen können. Ich hatte mir von dem Treffen mit Skip nicht zuviel versprochen. Doch obwohl ich einiges über den Verbleib der Vermissten erfahren hatte, reichte das noch nicht aus. Ich musste wissen, wer der Drahtzieher hinter der ganzen Sache war und was er mit den Vermissten wollte und ich musste genauer wissen, wo sie waren.
Vorerst aber musste ich einen Weg zu Dexter finden und wenn dieser Weg über die Diebe führte, brauchte ich einen Dieb, der mir half.
Endlich hatte ich ihn gefunden. Gerade, als ich an der Roten Laterne vorbeilief, kam er hinausgeschlendert. „Lares!“
„He!“ Der Dieb kam freudig auf mich zu. „Hast es ja überlebt.“
„Überlebt? Was…? Ach so! Jaja, die Teleporter sind ganz harmlos.“
Lares schüttelte lachend den Kopf. „Oh Mann, du bist mir vielleicht einer!“
„Und du?“ Ich nickte zur Roten Laterne. „Hast du dich von dem langen Marsch erholt?“
„Klar.“ Lares grinste. „Mann braucht ja auch mal ne Auszeit. So ein bisschen Entspannung hat noch keinem geschadet.“
„Jaja, schon klar“, lachte ich. „Hör mal, ich brauch deine Hilfe.“
„Wobei?“
„Ich war in der Bucht vor der Stadt und hab dort einen Piraten getroffen.“
„Und, hat er geplaudert?“
„Allerdings. Die Banditen scheinen dahinter zu stecken. Sie haben die Leute entführt und die Piraten haben sie in ein entlegenes Tal gebracht. Die meisten der Banditen, die dafür verantwortlich sind, sind selber dort. Aber eine kleine Gruppe ist noch im Umland von Khorinis. Ich kenne auch den Namen ihres Anführers, es ist Dexter.“
„Dexter?“
„Ja, aus der Kolonie.“
„Ah, verstehe. Das war doch der Kerl, der mit Kraut und Tränken ausm Sektenlager gehandelt hat, nicht?“
„Genau der. Und ich muss irgendwie an ihn rankommen – wenn möglich, ohne von seinen Männern zu Fleischwanzenragout verarbeitet zu werden. Der Pirat meinte, die Diebesgilde könnte mir dabei helfen.“
„Hm.“ Lares kratzte sich am Kinn. „Gut möglich.“
„Ich dachte, du könntest mir helfen, Kontakt mit den Dieben aufzunehmen.“
„Ich bin zwar der ungekrönte König der Diebe und ich kenne auch einige der hochrangigen Mitglieder, aber…“
„Aber?“
„Nun, ich war ziemlich lang in der Barriere und es hat sich einiges verändert. Es sind viele neue Gesichter in der Stadt und viele alte sind verschwunden. Ich bin grad erst wieder dabei, neue Beziehungen zu knüpfen und wieder Fuß zu fassen.“
„Heißt das, du kannst mir nicht helfen?“, fragte ich enttäuscht.
„Vielleicht könnte ich es, aber ich kenne da eine Person, die es vermutlich wesentlich besser könnte.“
„Wen?“
„Unsere gemeinsame Freundin: Katze.“
„Ka…? Velaya?!“
„Wie viele Leute kennst du, die einen solchen Spitznamen tragen?“
Ich riss die Augen auf. „Wo ist sie?“, fragte ich aufgeregt.
„Tja, da bin ich überfragt. Sie hat die Stadt vor drei Tagen verlassen. Wo auf der Insel sie jetzt ist, weiß ich nicht, aber sie dürfte bald zurück sein. Wann genau sie wiederkommt, kann ich auch nicht sagen.“
„Heißt das, ich soll hier einfach auf sie warten?“
„Tja, da ich auch nicht weiß, wo sie hin ist, wird dir nichts anderes übrig bleiben.“
„Aber das geht nicht, solange kann ich nicht warten!“, protestierte ich. Endlich schien ich sie gefunden zu haben. Lares konnte doch nicht ernsthaft von mir verlangen, mich nun in Geduld zu üben.
„Reg dich ab. Höchstens eine Woche, würde ich schätzen, dann ist sie wieder da. Solange wird das ja wohl Zeit haben.“
„Nein. Ich muss sofort zu ihr.“
Lares kniff die Augenbrauen zusammen und musterte mich misstrauisch. „Es geht doch um mehr als um die Vermissten oder?“
„Welche Vermissten?“, fragt ich unwirsch. Hier ging es um Velaya. Was kümmerten mich irgendwelche Vermissten?
Lares’ Augenbrauen wanderten langsam nach oben. „Sag mal, du und Katze, wie gut seid ihr eigentlich genau befreundet?“
„Lares! Jetzt sag mir, wie ich sie finden kann!“
Der Dieb grinste. „Verstehe. Hast dich ein wenig in sie verguckt, was? Na ja, wer kann’s dir verübeln? Ist schon ne tolle Frau. Aber ich rate dir, schlag sie dir aus dem Kopf. So leid es mir tut, sie ist verdammt wählerisch. Nichtmal mich hat sie je rangelassen – und das will was heißen. Machs wie ich, belass es bei ner normalen Freundschaft, zu mehr wirst du sie nicht bekommen.“
„Das habe ich schon.“
Lares’ Mund klappte auf. „Du… du und Katze?“, stammelte er. Dann brach er in lautes Gelächter aus. „Oh Mann, wer hätte das gedacht? Ich geb’ zu, ich hätte nicht erwartet, dass ich das noch erlebe. Die gute alte Katze von Vengard hat sich in nen Typen verguckt. Meinen Glückwunsch. Damit hast du geschafft, woran Hunderte vor dir gescheitert sind – mich selbst eingeschlossen.“
„Weißt du jetzt, wie ich sie finde oder nicht?“, fragte ich aufgebracht. Endlich hörte ich wieder etwas von ihr, endlich hatte ich eine Spur. Nun wollte ich sie finden, am liebsten jetzt gleich. Die Vermissten waren mir in diesem Moment egal, alles war mir egal. Ich wollte nur zu Velaya. Keine Sekunde würde ich es mehr ohne sie aushalten, das spürte ich.
„Tut mir leid“, sagte Lares bedauernd. „Ich weiß nicht, wo sie ist. Du wirst hier auf sie warten müssen… es sei denn…“
„Es sei denn was?“, fragte ich aufgeregt.
„Nun, sie unternimmt nicht einfach einen Spaziergang.“ Lares blickte sich vorsichtig um, bevor er sich näher zu mir beugte und flüsternd erklärte, „sie ist im Auftrag des Rings unterwegs.“
„Sie gehört auch dazu?“, fragte ich überrascht.
Lares lachte. „He, ich dachte du kennst sie! Klar mischt Katze da mit.“
„Und wie finde ich sie jetzt? Weiß Vatras, wo sie ist?“ Die Worte überschlugen sich fast in meinem Mund. Ich wollte losrennen, jetzt sofort, wollte sie suchen.
„Nein, sie arbeitet nicht direkt für Vatras. Es geht um einen Kerl, der den Banditen Waffen liefert, musst du wissen. Er sitzt irgendwo in der Stadt, vermutlich im Oberen Viertel. Der Ring versucht, herauszufinden, wer der Waffenhändler ist und seine Aktivitäten zu unterbinden. Eigentlich ist Martin dafür zuständig, das ist der Proviantmeister der Paladine. Aber er kann hier nicht weg. Er hat Katze losgeschickt, um eine Spur zu verfolgen. Genaueres weiß ich auch nicht. Am besten, du sprichst mal mit Martin.“
„Wo finde ich den Kerl?“
„Beim Proviantlager der Paladine, am Aufgang zum Hochseehafen. Geh einfach zu den Fischern. Kurz dahinter findest du eine größere Ansammlung von Kisten, Proviant und Paladinen. Da kann Martin dann nicht weit sein.“
Ohne ein weiteres Wort rannte ich los. Nichts um mich herum nahm ich wahr. Jetzt war nur noch eines von Bedeutung: Velaya so schnell wie möglich zu finden.
Lares hatte ganz Recht gehabt. Mit Hilfe seiner Beschreibung hatte ich Martin innerhalb weniger Minuten gefunden. Das Proviantlager der Paladine war an dem natürlichen Felsentor, durch das man zum Hochseehafen gelangte, errichtet worden, unweit des Strandes, auf dem die Fischer ihre Hütten hatten. Unmengen an Kisten und Fässern standen hier herum und dazwischen hielt sich ein gutes Dutzend Paladine auf. Der Proviantmeister stach deutlich aus der Menge hervor, da er als einziger keine Paladinrüstung trug. Stattdessen war er in den Waffenrock der Miliz gekleidet.
In der Nase bohrend brütete er über einem Stück Pergament, das auf einer der Kisten lag. Er war schon etwas älter für einen Milizsoldaten, wie sich an seinem grauen Haar zeigte. Als ich näher trat, blickte er auf. „He du, was willst du hier?“, fragte er ungehalten. „Das hier ist das Proviantlager der Paladine. Hier haben nur die Paladine selbst und wir von der Miliz Zutritt.“
„Bist du Proviantmeister Martin?“
„Allerdings und glaub ja nicht, dass du dich hier ungestraft an den Kisten vergreifen kannst! Ich bin für diesen ganzen verdammten Paladinkrempel zuständig und ich warne dich…“
„Schon gut, ich komme von gemeinsamen Freunden“, beschwichtige ich ihn und hielt meine Hand hoch, an der noch immer Lares’ Aquamarinring steckte.
„Oh!“ Die Augen des Proviantmeisters weiteten sich. „Verstehe. Nun, was kann ich für dich tun?“
„Ich bin auf der Suche nach den Vermissten.“
„Da kann ich dir nicht groß helfen. Das aufzudecken, ist nicht meine Aufgabe. Ich hab hier auch so schon genug zu tun. Ich komm hier ja kaum weg. Wenn hier irgendwas wegkommt…“
„Ist mir klar. Ich wollte auch nicht deine direkte Hilfe.“
„Sondern?“
„Ich habe eine Spur und die führt mich zur Diebesgilde. Deshalb muss ich dringend mit Velaya sprechen. Sie kann für mich Kontakt mit den Dieben aufnehmen. Lares meinte, du wüsstest, wo sie ist.“
„Ah, verstehe. Nun, das ist nur bedingt richtig.“
„Was soll das heißen?“
„Also, pass auf: Es gibt im Oberen Viertel einen Kerl, der mit den Banditen Geschäfte macht und ihnen Waffen verkauft. Vatras hat mir aufgetragen, rauszufinden, wer es ist. Ich weiß, dass er sich kürzlich mit einer größeren Gruppe von vielleicht einem Dutzend Banditen vor der Stadt getroffen und ihnen eine größere Menge Waffen verkauft hat. Die Banditen sind dann weitergezogen zu der Brücke, die Akils Hof mit der Taverne zur toten Harpyie verbindet. Dort haben sie sich festgebissen und überfallen Reisende. Ich hab Velaya losgeschickt, um bei den Banditen nach Hinweisen zu suchen. Aber sie hätte eigentlich schon zurück sein müssen.“
„Und wieso ist sie es nicht?“
Martin zuckte mit den Schultern. „Ich bezweifle eigentlich, dass ihr was passiert ist. Vielleicht sind die Banditen weitergezogen und sie ist ihnen gefolgt. Möglicherweise wissen sie in der Taverne was.“
„Gut, dann werd ich mich dort umsehen. Danke.“
Obwohl es bereits Nachmittag war, machte ich mich sofort auf den Weg. Weniger, weil ich die Vermissten finde wollte, als viel mehr, weil ich hoffte, Velaya so schnell wie möglich wiederzusehen.
Da Merdarion gesagt hatte, die Teleportplattform vor der Stadt würde zur Taverne führen, nahm ich den Weg in das Tal östlich von Khorinis und suchte nach der kleinen Höhle. Nicht lange und ich hatte sie gefunden. Sofort stellte ich mich auf die Plattform. Wieder schmiegten sich die blauen Funken an meinen Körper, wieder verspürte ich ein Kribbeln, wieder gab es einen Lichtblitz.
Ich stand in einem kleinen Gehölz. Hinter meinem Rücken erhob sich eine steile Felswand. Direkt hinter mir lag der Eingang zu einer Höhle. Merkwürdigerweise war er mit Brettern vernagelt. Es gab eine kleine Tür, doch sie war mit einem schweren Schloss versehen worden. Leicht verwundert, untersuchte ich die Tür kurz, doch es schien keinen Weg hinein zu geben. Also wandte ich mich um und begann, mich durch das Gehölz zu schlagen. Nicht lange und ich hatte seinen Rand erreicht und stand auf einer Straße, die linker Hand zwischen den Felsen hindurch bergauf führte. Rechter Hand dagegen führte sie auf die große, grasige und von Hügeln durchzogenen Ebene an der ich schon mit Lares vorbeigekommen war. Auch wenn ich dieses Mal auf der anderen Seite der Ebene stand, erblickte ich die Taverne, wie sie sich dort an eine Felswand schmiegte. Hier sollte meine Suche nach Velaya beginnen.
Geändert von Jünger des Xardas (09.02.2011 um 18:42 Uhr)
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Zur toten Harpyie
Neben der Taverne lag ein kleinerer Stall für das Vieh der Reisenden. Im Moment war er völlig leer. Ich erinnerte mich noch gut an diesen Stall. Auf dem Weg in die Minenkolonie hatte die Warenkarawane, die auch mich mit sich geführt hatte, an der Taverne halt gemacht. Wir hatten hier übernachtet. Während der Richter und die Milizen im Gasthaus geschlafen hatten, hatte man mich die Nacht über gefesselt im Stall gelassen.
Mein Blick schweifte zu dem über der Tür hängenden Schild, auf das eine Harpyie aufgemalt war und auf dem der Name des Gasthauses zu lesen war: „Zur toten Harpyie“.
Ich atmete tief durch. Velaya war möglicherweise in der Nähe. Mit etwas Glück würde ich sie schon bald wiedersehen. Und doch sollte ich nichts überstürzen. Vielleicht hatte sie bereits einen zu großen Vorsprung, um sie noch heute oder morgen einholen zu können. Vielleicht verpasste ich sie gar. Ich beschloss, die Sache ruhig anzugehen und mich im Zaum zu halten, anstatt blind loszurennen. Am Ende würde dies meine Chancen wohl erheblich erhöhen, sie schnell wiederzusehen.
Hinter der Tür lag ein großer, geräumiger Schankraum. Unter der Decke hing eine alte, ausgestopfte Harpyie. Einen schönen Anblick bot das Vogelweib nicht: Die stahlgrauen Federn waren mottenzerfressen und teils schon ausgefallen, das silbrige Haar war verfilzt und ausgebleicht und auf dem krummen Schnabel lag eine dicke Staubschicht.
Viele Gäste gab es nicht. Ein paar Landstreicher, einige Jäger und eine Gruppe Bauern von den umliegenden Höfen. Die meisten Anwesenden hatten sich um einen Tisch geschart, an dem zwei Männer saßen, jeder einen Haufen Bierhumpen vor sich. „Leere den Krug in einem Zug! Leere den Krug in einem Zug! Leere den Krug in einem Zug!“, feuerten sie die beiden Männer am Tisch an.
Links des Eingangs stand eine lange Theke mit drei großen Fässern dahinter. Vor den Fässern stand ein dunkelhäutiger Mann mit einem großen Schnauzbart und leicht angegrautem Haar und beobachtete mit verschränkten Armen und missbilligendem Blick das Treiben der Gäste.
„Bist du hier der Wirt?“, fragte ich.
„Allerdings. Mein Name ist Orlan und das hier ist meine Taverne.“
„Tja, schicke Harpyie.“
Orlans müder und missbilligender Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig und sofort schien er vor Stolz anzuschwellen. „Allerdings! Die hat mein Urgroßvater einst getötet. Der kam seinerzeit noch von den Südlichen Inseln hierher. Hat hier mit nichts angefangen und dann diese Taverne gebaut.“
„Hier auf dem Land scheinen ja einige Südländer zu leben“, stellte ich mit Blick auf die Bauern, unter denen sich einige weitere dunkelhäutige Gestalten befanden, fest.
„Ja, aber erst seit kurzem. Sicher, es kamen schon immer viele von den Südlichen Inseln auf die Khorinseln, aber die meisten davon kamen als Hafenarbeiter nach Khorinis, manche auch als Minenarbeiter, wobei die ihren Job an den Nagel gehängt haben, als der König verlauten ließ, dass er eine Barriere errichten lässt. Na, seit keine Schiffe mehr kommen, sind die Hafenarbeiter jedenfalls arbeitslos. Einige versuchen irgendwie, sich im Hafen von Khorinis durchzuschlagen, aber viele sind auch aufs Land gegangen und bei irgendeinem Bauern untergekommen.“
„Verstehe. Und was läuft dahinten ab?“
Orlan verdrehte die Augen. „Rukhars dämliches Trinkspiel. Er nennt es „Leere den Krug in einem Zug“. Wann immer er hier ist, veranstaltet er diese dämlichen Wettkämpfe – und seit die Söldner auf Onars Hof sitzen und er seinen Job da an den Nagel gehängt hat, ist er rund um die Uhr hier. Sein Gegner, Randolph, ist einer der Arbeiter von Akils Hof. Er hat auch bis vor kurzem noch im Hafen gearbeitet.“
„Hast du eigentlich immer so wenige Gäste?“
Orlan schüttelte traurig den Kopf. „Das war nicht immer so! Früher, da war meine Taverne noch gut besucht. Hier trafen sich die Bauern von den umliegenden Höfen. Die Jägergilde aus Khorinis hatte damals noch viele Mitglieder, die hier durch die Gegend gestreift sind und in meiner Taverne Rast gemacht haben. Dann waren damals auch noch viel mehr fahrende Händler unterwegs. Wanderer und Abenteurer gab es, die hier eingekehrt sind, bevor sie sich weiter in die Wildnis vorgewagt haben. Die monatliche Karawane, die die Gefangenen und die Waren in die alte Sträflingskolonie brachte, hat sich immer für eine Nacht hier einquartiert, wenn sie auf dem Weg zum Pass war. Und auf dem Rückweg zur Stadt auch. Und dann ist da noch das Kloster. Das liegt ganz in der Nähe. Die haben öfter mal Novizen als Boten in die Stadt geschickt und ich sag dir, die haben gerne mal einen getrunken, wenn ihre Meister nicht zusahen. Außerdem lieferten die Schiffe früher immer Weintrauben aus Khorelius, die sie im Kloster gekeltert haben. Das war ein Wein, kann ich dir sagen. Nur die Reben von den Hängen des Archolos schmecken besser. Früher haben oft Novizen im Auftrag der Magier Wein hergebracht und an mich verkauft. Aber heute…“ Orlan seufzte. „Die Jägergilde hat sich fast komplett aufgelöst. Sie fürchten die Banditen, die wilden Tiere und die Untoten, die neuerdings bei den alten Grabstätten in den Wäldern auftauchen sollen. Die Bauern haben auch Angst vor den Banditen. Viele trauen sich nicht mehr von ihren Höfen. Außerdem hat ihnen die Miliz in letzter Zeit soviel genommen, dass die meisten gar kein Geld mehr haben, was sie in der Taverne versaufen könnten. Händler gibt es auch kaum noch. Die Banditen überfallen alle. Außerdem haben sie früher hauptsächlich mit dem Großbauern gehandelt. Das haben ihnen die Paladine jetzt verboten und mit den kleinen Höfen zu handeln, lohnt kaum. Abenteurer gibt’s hier schon lang nicht mehr. Die Zeiten sind viel zu unsicher geworden. Die Leute müssen daheim bleiben und sehen, dass sie das bewahren, was sie noch haben. Außerdem kommen ja keine Schiffe mehr, die irgendwelche abenteuerlustigen jungen Kerle hier herbringen könnten – na wahrscheinlich sind die eh schon alle im Krieg gefallen. Wein kommt auch keiner mehr von Khorelius, wie auch, ohne Schiffe? Dadurch gehen natürlich auch die Vorräte des Klosters zur Neige. Na ja und von der Warenkarawane ins Minental muss ich wohl gar nicht erst anfangen, oder?“
Schweigend legte ich meine Hand auf die Theke. Orlans Augen weiteten sich schlagartig. „Was starrst du so auf meinen Ring?“, fragte ich, als ich seinem Blick gefolgt war.
„Oh, ich finde ihn nur sehr interessant.“
„Es ist ein Aquamarin, schon mal gesehen?“
„Allerdings.“ Orlan legte seine eigene Hand auf den Tisch, an der ebenfalls ein Ring steckte. „Willkommen im Hauptquartier, Bruder des Rings.“
„Hauptquartier?“, fragte ich überrascht.
„Ja. Noch nicht lang dabei, was? Hier bekommt jeder Bruder des Rings ein kostenloses Zimmer. Da die Taverne genau in der Mitte der Insel liegt und alle Wege hier vorbeiführen, ist sie das ideale Hauptquartier und ein hervorragender Treffpunkt.“
„Nun, das trifft sich gut. Der Grund, der mich hierher führt, hat nämlich mit dem Ring zu tun.“
„So?“ Orlan schien interessiert.
„Ja. Du kennst doch sicher Velaya oder?“
„Klar!“ Orlan gluckste. „Wer kennt die nicht?“
„Gut, ich suche sie nämlich. Sie könnte hier vorbeigekommen sein. Ich weiß, dass sie die Banditen ausspionieren wollte, die sich auf der Brücke zu Akils Hof breit gemacht haben.“
Der Wirt nickte. „Das ist richtig. Aber von denen sind nur noch drei da. Der Rest ist weitergezogen. Velaya ist ihnen gefolgt. Als sie ankam waren sie schon aufgebrochen und bei den drei Kerlen auf der Brücke fand sie nicht, was sie suchte.“
„Weißt du, wo sie hin ist?“
„Ja. Die Banditen sind an meiner Taverne vorbeigezogen. Mann, ich bin froh, dass sie mich nicht angegriffen haben. Aber sie schienen es eilig zu haben. Hatten nen großen Karren Waffen bei sich. Ein paar haben sie sogar verloren, so eilig hatten sie’s. Velaya ist ihrer Spur aufs Weidenplateau gefolgt.“
„Das Weidenplateau?“
„Ja, beginnt drüben im Südosten, unweit meiner Taverne. Das ist ein ziemlich fruchtbares Land im Besitz des Großbauern. Aber er hat es an den Bauern Bengar verpachtet. Außer Bengars Hof gibt’s da nicht viel – na ja, den Pass ins alte Minental natürlich, der liegt auch dort oben.“
„Dann werde ich dorthin aufbrechen.“
„Dafür dürfte es heute zu spät sein. Am besten, du übernachtest hier bei mir. Für einen Bruder des Rings ist das natürlich kostenlos. Wenn du dann auf dem Plateau bist, kannst du ja mal mit Gaan sprechen. Das ist ein Jäger, der für Bengar arbeitet. Er gehört auch zu uns. Wenn du Velaya nicht findest, kann er dir vielleicht weiterhelfen.“
„Gut, vielen Dank.“
„Immer gern, Bruder des Rings.“
Geändert von Jünger des Xardas (01.10.2010 um 19:06 Uhr)
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Unerwartetes Wiedersehen
Unschlüssig stand ich im Schankraum der Taverne. Einen Moment überlegte ich, mich zu den anderen zu gesellen, die noch immer die beiden Kontrahenten Rukhar und Randolph anfeuerten, doch wenn ich ehrlich war, hatte ich dazu wenig Lust.
Plötzlich jedoch winkte mich ein Mann, der allein in einer dunklen Ecke saß und den ich seiner Kleidung wegen für einen Bauern gehalten und nicht weiter beachtet hatte, zu sich. „He du, komm ma rüber!“
Ich folgte der Aufforderung. Tatsächlich, die Kleidung dieses Mannes war gewöhnliche Landarbeiterkleidung, doch der wilde braune Bart, das wettergegerbte Gesicht und die Augenklappe wollten einfach nicht zu einem Bauern passen.
„Da sieh ma ener an!“ Der Mann musterte mich mit schiefem Grinsen. „Dich hätt ick hier nich erwartet. Aber jut, du kannst mir helfen.“
„Helfen? Was denn“, ich grinste, „immer noch Probleme mit den Stadtwachen?“
„Ick geb dir gleich Probleme! Hör zu: Ick such enen Kerl. Er ist schlang, dunkelhaarig und trägt meist ene rode Rüsdung. Wie er heißt, weiß ick nit, aber soviel ick weiß, beginnt sein Name mit enem „D“. In der Stadt wusste kener Bescheid und hier in der Taverne könn se mir och nich helfen.“
„Hm.“ Ich kannte zwei Leute, auf die diese Beschreibung zutraf. Dass es um meinen Freund Diego ging, bezweifelte ich und so blieb nur noch einer übrig. „Der Kerl, den du suchst, heißt nicht zufällig Dexter?“
„Kann sein, datt er so heißt, ick weiß es nich. Weißt du, wo ick ihn finde?“
„Nein, ich hab keine Ahnung. Was willst du denn von ihm?“
„Wüsste nich, wat dich dat anginge. Na egal, werd ich mich halt selbst drum kümmern. Ick hab noch andere Sorgen, pass auf:“
„He, ich bin nicht dein Sklave. Warum sollte ich dir eigentlich helfen? Wer bist du überhaupt?“
„Wenn ick dir das hädde sagen wollen, hätt ick es getan. Und jetzt pass auf: Ick brauche Proviant, Gold und Waffen.“
„Proviant?“ Ich schaute ungläubig. „Ähm, du bist hier in einer Taverne.“
„Na du bist mir ja ’n ganz schlauer. Der dämliche Wirt rückt doch nichts raus, wenn du kene Kohle hast.“
„Und Waffen, hast du in der Stadt keine gefunden?“
„Pah! Die Händler da ham doch nur Ramsch!“
„Na dann geh halt zu den Söldnern auf Onars Hof. Ich wette, die haben einige Waffen.“
„Hm, gar nich so schlecht, die Idee. Bischt ja doch zu was zu gebrauchen. Ja, ick hab von den Kerlen gehört. Vielleicht haben die wirklich was Brauchbares und vielleicht kennen die auch diesen verdammten Hundesohn in der roden Rüsdung. Jetz fehlt mir nur noch Gold.“
„Gold – wir alle wollen Gold.“
„Und was tust du damit? Versäufst es in irgendeiner Kneipe oder verhurst es im Puff.“
„Ach und du hast einen besseren Verwendungszweck, ja?“
„Du würdest dich unter enem Sten verkriechen, wenn du wüsstest, wat ick schon alles auf die Bene gestellt habe! Na gut, du kannst mir nich helfen. Macht nichts. Ick war vor einiger Zeit schon mal hier in der Jegend und ick hab hier noch n bisschen Gold verbuddelt. Du könntest es für mich wiederbeschaffen, wenn ick so drüber nachdenke.“
„Wie gesagt, ich bin nicht dein Sklave. Also kein Interesse.“
„Ganz wie du meinst.“
Ich verbrachte die nächste Stunde untätig in der Taverne. Als es später wurde, gesellte ich mich wieder zu Orlan und bestellte mir etwas zu Essen. Bei dieser Gelegenheit sprach ich ihn auch auf den seltsamen Kerl mit der Augenklappe an, der nach wie vor in seiner dunklen Ecke saß.
„Sag mal, du weißt nicht zufällig, was das für einer ist?“
„Nein, wer er ist oder wie er heißt, weiß ich nicht. Aber ich seh’ ihn hier nicht zum ersten Mal. Er hat sich schon mal in meiner Taverne einquartiert, einen ganzen Monat lang. Ist aber schon einige Jahre her. Stand hier eines Tages einfach vor der Tür, hatte ne ziemlich große Kiste bei sich. Damals hat man sich noch nicht so über solche Gestalten gewundert. Da kamen noch ständig Schiffe und die haben so manchen komischen Kauz oder zwielichtigen Kerl mit an Bord gehabt. Na jedenfalls gefiel der mir damals schon gar nicht. Saß immer allein in seiner Ecke, genau wie heute. Oft war er auch mal den ganzen Tag über weg und kam erst spät in der Nacht wieder. Und er hat nie pünktlich die Miete gezahlt. Ständig musste man ihn dran erinnern. Und selbst dann hat er sich noch ordentlich Zeit damit gelassen. Tja, eines Tages war er dann einfach verschwunden – seine Kiste auch. Die letzte Zeche hat er natürlich noch geprellt. Seitdem hab ich ihn nie wieder gesehen – bis heute. Ich will mit solchen Leuten nichts zu tun haben!“
Schweigend und über den seltsamen Kerl nachdenkend, verspeiste ich mein Abendmahl. Plötzlich fiel mir etwas ein. „Du, in dem kleinen Wäldchen auf dem Weg zur Brücke ist so eine verrammelte Höhle.“
„Ja.“ Orlan beugte sich zu mir hinunter. „Die hab ich für die Wassermagier sichergestellt“, flüsterte er. „Irgend so ein Überbleibsel dieser alten Kultur, die sie erforschen.“
„Nicht zufällig eine Teleportplattform?“
„Ja, doch, so haben sie das Ding genannt, glaube ich.“
„Könnte ich den Schlüssel für die Höhle haben? Ich soll die Dinger nämlich untersuchen.“
„Klar.“ Orlan griff an seinen Gürtel. „Hier, ich hab zwei und bei einem Bruder des Rings soll’s mir recht sein. Pass aber auf, dass du die Tür jedes Mal wieder gut zuschließt. Die Wassermagier wollten unbedingt verhindern, dass jeder da rankommt.“
Ich nickte. „Keine Sorge, ich pass schon auf.“
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Das Weidenplateau
Das Weidenplateau begann unweit der Taverne. Der Weg führte zwischen zwei Felsen hindurch. Noch immer markierte ein Wegweiser mit der Aufschrift „Zur Gefängniskolonie“, das Ziel der Straße.
Ich passierte die beiden Felsen und stand nun am Rande des Plateaus. Es handelte sich um ein fruchtbares, weitläufiges Land. Der Boden war von saftigem Gras bedeckt und von leichten Hügeln durchzogen. Direkt vor mir lagen einige Auen. Ein schmaler, ruhiger Bach schlängelte sich hier zwischen den Hügeln hindurch, teilte sich dann und wann in mehrere Arme, um dann wieder zusammenzufließen. Am nördlichen Rand des Plateaus, zu meiner Linken, sprudelte das Wasser in zwei schmalen Wasserfällen vom Plateau hinab in ein weitläufiges Tal.
In den Auen am Ufer der schmalen Bäche konnte ich einige Lurker ausmachen und in den Wiesen tummelten sich Scavenger.
Es war eine malerische, idyllische Landschaft, die sich hier vor mir erstreckte. Sie schien friedlich und unberührt und strahlte eine sanfte, natürliche Ruhe aus.
Ich folgte weiter dem Weg, der sich durch die Hügel hindurch auf den Bach zuschlängelte. Eine kleine steinerne Brücke führte über den schmalen Wasserlauf hinweg. Hinter der Brücke teilte sich der Weg. Eine Straße führte nach Süden, wo eine hohe Gebirgskette das Plateau begrenzte. Abermals verkündete ein Wegweiser, dass es hier zur Gefängniskolonie ging. Der zweite, wesentlich schmalere Weg war nicht ausgeschildert, doch erkannte ich, dass er auf einen zwischen den Hügeln am anderen Ende des Plateaus gelegenen Bauernhof zuführte. Das musste Bengars Hof sein.
„Na Fremder, verlaufen?“ Ich fuhr herum. Vor mir stand ein Mann mit kantigem, leicht blassem Gesicht. Schwarze Stoppeln sprossen an seinem Kinn und graue Augen starrten mich aus tief liegenden Höhlen an. Über der Schulter trug er einen Bogen und an seinem Gürtel hing ein Hirschfänger. „Hier kommen nicht viele Menschen vorbei, vor allem, seit dem Fall der Barriere“, erklärte er mit ruhiger, monotoner, aber dennoch freundlicher Stimme.
„Ganz hübsch hier oben“, stellte ich fest. „Und ziemlich weitläufig das Land hier.“
„Ist ganz nett“, pflichtete der Mann mir bei. „Aber wenn dich dieser kleine Landstrich hier schon beeindruckt, täte es das Minental dort jenseits der Berge erst recht.“
„Bist du je da gewesen?“
„Einmal. Hab aber nur einen flüchtigen Blick drauf geworfen. Und hatte auch keine große Lust, näher ran zu gehen. Da war nämlich die Barriere.“
„Wer bist du eigentlich?“, wollte ich wissen.
„Sie nennen mich Gaan. Ich bin Jäger auf Bengars Hof.“
„Du bist also Gaan? Orlan hat von dir erzählt.“
„So?“ Gaans Blick wanderte zu meiner Hand. Seine Lippen kräuselten sich leicht, ansonsten blieb sein Gesicht emotionslos. „Schön, mal ein neues Gesicht in unseren Reihen zu sehen.“
„Was tust du für den Ring?“
„Meine Aufgabe ist es, den Pass im Auge zu behalten, aber viel gibt’s da nicht zu sehen. Die Paladine haben ihn verrammelt.“
„Wieso das?“
„Um die Orks einzusperren, sagen manche. Angeblich sitzen die Grünfelle auf der anderen Seite. Aber genau weiß das keiner. Vor einigen Wochen kamen die Paladine hier vorbei. Sicher fünfzig Stück, wenn nicht mehr. Hatten auch einige Knappen und Waffenknechte und ne Menge Ausrüstung dabei. Haben unseren ganzen Hof ausgeräumt und sich auf unsere Kosten noch mal mit Nahrung eingedeckt. Dann sind sie über den Pass. Vorher haben sie ihn noch dicht gemacht und zwei Männer dort zurückgelassen. Die haben sich seitdem keinen Meter da wegbewegt. Und das werden sie auch nicht tun. Ansonsten passiert da nicht mehr viel. Aber nachts sieht man manchmal seltsame Lichter hinter den Bergen und einige wollen auch Schreie gehört haben.“
„Und die Paladine stehen die ganze Zeit nur da rum?“
„Allerdings. Um uns kümmern sie sich zumindest nicht und gegen die Miliz tun sie auch nichts.“
„Gegen die Miliz?“
„Weißt du, hier kommen öfter mal die Milizen vorbei. Früher haben sie nur die Abgaben mitgenommen, die alle Bauern an die Stadt zu zahlen haben. Aber dann haben sie immer mehr und mehr mitgenommen. Als die Paladine kamen, dachten wir, das hätte jetzt ein Ende, aber es wurde nur schlimmer. Die Milizen haben sich nun alles getraut. Bestohlen haben sie uns und sich an den Mägden vergriffen. Daraufhin hat Onar sich aufgelehnt und Söldner zum Schutz vor den Milizen angeheuert. Bengar hat sich mit Onar zusammengeschlossen. Nicht, dass er eine große Wahl gehabt hätte. Das hier ist Onars Land. Bengar ist nur der Pächter. Und der Hof des Großbauern liegt nicht weit entfernt, aber es war auch das kleinere Übel. Die Miliz würde uns am Ende noch alles nehmen. Außerdem brauchen wir jetzt, wo es vor Banditen nur so wimmelt, Schutz. Die Stadt ist zu weit weg und außerdem kümmert sich die Miliz nicht um die Bauern und die Paladine auch nicht. Ich sag dir, die Miliz könnte uns hier alle abschlachten, die beiden Kerle am Pass würden nur weiter da rumstehen. Die Söldner sind zwar auch nicht allzu zimperlich, aber sie schauen dann und wann vorbei und vertreiben die Banditen und die Milizen, die hier noch ab und zu herkommen.“ Gaan seufzte. „Tja, sind halt schwere Zeiten, was? Früher war das einzige, was wir zu fürchten hatten, die monatliche Warenkarawane.“
„Wie dem auch sei. Ich bin eigentlich aus anderen Gründen hier.“
„Und die wären?“
„Ich suche ein Mitglied des Rings: Velaya. Sie hat einer Gruppe Banditen nachspioniert, die laut Orlan hier vorbeigekommen sein soll.“
„Ja, Velaya war hier.“
„War?“
Gaan nickte. „Die Banditen sind weitergezogen. Velaya ist ihnen hinterher.“
„Weißt du, wo sie sind?“
„Es gibt nur drei Wege, die hier vom Plateau führen. Da wäre einmal der Pass und dann der Weg zur Taverne. Der dritte führt durch einen kleinen Talkessel in Onars Tal. Den Weg haben die Banditen genommen. Aber den würde ich dir nicht empfehlen.“
„Warum nicht?“
„Nun, zum einen sind drei Banditen im Talkessel zurückgeblieben und blockieren diesen Weg. Zum andern streift hier seit Wochen so ein komisches Vieh umher.“
„Was für ein Vieh?“
„Weiß ich auch nicht so genau. Die meiste Zeit hört man es nur schnauben und kratzen. Aber es ist sehr gefährlich und macht die Jagd verdammt unsicher. Einige unserer Schafe hat es gerissen. Drüben, bei den paar Bäumen da, hat es einem Wolf einfach so den Kopf abgebissen. Seine Spuren erinnern an einen Snapper, aber sie sind zu groß für einen Snapper.“
„Weißt du, wo dieses Vieh herkommt?“
Gaan zuckte mit den Schultern. „Aus den Wäldern vielleicht. Möglicherweise auch aus dem Minental. Jedenfalls streift es vor allem dahinten rum, wo es zu dem Talkessel geht. Und du solltest es besser meiden. Ich will dich ja nicht zur Kräuterhexe schleppen müssen.“
„Kräuterhexe?“
„Ihr Name ist Sagitta. Sie wohnt irgendwo im Wald hinter Sekobs Hof. Sie ist die Heilerin der Bauern und der anderen Leute hier in der Gegend. Niemand geht wirklich gerne zu ihr. Sie ist etwas seltsam. Manche meinen sogar, sie sei mit Beliar im Bunde und habe von ihm ihre heilenden Kräfte erhalten. Aber wenn du tatsächlich mal eine Verletzung oder Krankheit hast, gibt es niemanden, der dir besser helfen kann als die alte Sagitta. Na egal. An deiner Stelle würde ich jedenfalls zur Taverne zurückgehen und von da den Weg Richtung Onars Hof nehmen. Vielleicht können dir die Bauern oder Söldner dort weiterhelfen. Onars Tal ist groß, wo genau Velaya und die Banditen da sind, weiß ich nicht. Aber wir haben beobachtet, dass die Banditen einen Gefangenen dabei hatten. Wahrscheinlich haben sie irgendwo ein Lager, wo sie ihn hinbringen.“
„Einen Gefangenen?“
„Ja, schien ein Bürger der Stadt zu sein.“
„In der Stadt sind einige Menschen verschwunden.“
Gaan nickte. „Ich weiß. Hier auf dem Land auch. Pardos, einer unserer Feldarbeiter ist auch verschwunden. Komische Sache.“
„Wieso?“
„Weil er sich nie über die Grenzen unserer Felder hinausgetraut hat. Normalerweise ist er schon beim Anblick einer Fleischwanze davongelaufen. Ich meine, die Dinger sind wirklich nicht besonders schön, aber Angst muss man vor denen auch nicht haben – soll ja sogar Leute geben, die die essen, widerlich.“
„Man gewöhnt sich dran. Danke jedenfalls, ich glaube, du hast mir sehr geholfen.“
„Immer gern, Bruder des Rings.“
Geändert von Jünger des Xardas (01.10.2010 um 19:45 Uhr)
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Die Felder des Großbauern
Ich hatte Gaans Rat befolgt und war zur Taverne zurückgekehrt. Von hier aus schlug ich den Weg Richtung Onars Hof ein. Ein Wegweiser verriet mir, welchen der zahlreichen Wege, die sich an der Taverne trafen, ich nehmen musste. Es war ein steil abfallender Hang, der zwischen dem Weg zum Weidenplateau und dem Weg in den Norden der Insel und damit zu den Wassermagiern in ein flaches Tal hinabführte.
Am unteren Ende des Hanges lag ein kleiner See. Rechter Hand, im Süden, ragte das Weidenplateau an seinem Ufer auf. Der See wurde von den zwei kleinen Wasserfällen gespeist, die ich schon von oben gesehen hatte.
Schilf wuchs an den Ufern des Sees, Seerosen schwammen auf der Wasseroberfläche und in der Mitte ragte eine kleine, von Gestrüpp überwucherte Insel aus dem Wasser. An den Ufern des Sees lagen Lurker. Die großen Amphibien hatten es sich auf einigen Steinen gemütlich gemacht und genossen die Mittagssonne. Auch Blutfliegen sah ich einige. Die großen Insekten waren mit ihrer auffälligen roten Farbe und den schillernden Flügeln, die in rasendem Tempo auf und ab flatterten, ein hübscher Anblick, wirkten durch den unter dem Körper nach vorne gebogenen Stachel jedoch auch bedrohlich.
Der Weg führte ein Stück am Ufer entlang auf eine kleine Blockhütte zu. Vor der Hütte befand sich eine kleine Feuerstelle, an der ich zwei Gestalten ausmachen konnte. Sie beide trugen bunt aus Metall, zotteligem Fell und blauem Stoff zusammengewürfelte Rüstungen, die ich sofort wiedererkannte. Es waren die Rüstungen der Söldner der Wassermagier aus dem Neuen Lager. Während der eine der beiden mit einem Streitkolben bewaffnet war, trug der andere ein einfaches Schwert an seiner Seite.
Als er mich erblickte, erhob sich der Söldner mit dem Schwert schwerfällig. Er hatte stoppelig geschorenes Haar und ein schmales Gesicht. „Sieh mal an, wen haben wir denn da? Kenn ich dich nicht irgendwoher?“
„Wer will das wissen?“
„Ich bin Buster, einer von Lees Söldnern. Und du solltest besser ein bisschen netter zu mir sein, Bürschchen. Also, was willst du hier?“
„Ich kenne Lee.“
„Pah!“ Buster spuckte aus. „Jeder kennt Lee. Das heißt gar nichts! Und jetzt redest du mit mir, klar? Also, was willst du hier?“
„Ich bin nur ein Reisender auf dem Weg zum Großbauern.“
„Hm.“ Buster musterte mich und schob dabei etwas Spucke in seinem Mund hin und her. Schließlich spuckte er ein weiteres Mal aus. „Besonders gefährlich siehst du mir ja nicht aus“, höhnte er.
„Oh“, ich schmunzelte, „das eine oder andere Vieh hab ich schon erledigt.“
„Ha!“ Buster lachte laut auf. „Hast wohl die Fleischwanzen in Mamis Küche geplättet und ein paar Ratten aus ihren Löchern gejagt, was? Wir haben es hier mit richtigen Gegnern zu tun, klar? Jeden Tag könnten die Orks, die hinterm Pass sitzen, hier angreifen.“ Buster machte eine kurze Pause, bevor er hinzufügte. „Na ja oder die dreckigen Stadtwachen.“
„Orks? Du meinst ECHTE Orks? Die großen?“, fragte ich gespielt ehrfürchtig.
Buster seufzte. „Du bist echt nicht von der hellsten Sorte, was? Ich meine… Moment mal. Willst du mich verarschen? Die großen? Ich glaub, ich muss dir einfach mal ein paar Manieren beibringen!“ Buster holte aus und zielte mit der Faust auf mein Gesicht. Mühelos wehrte ich den Schlag mit meinem Arm ab, packte Busters Handgelenk und drehte es blitzschnell herum, sodass er zu Boden stürzte.
Grinsend reichte ich dem Söldner meine Hand und half ihm wieder auf. „Mann, du bist gut“, sagte er. „Moment, jetzt fällt’s mir wieder ein. Du warst doch auch in der Kolonie oder?“
„Ja, war ich.“
„Daher kamst du mir so bekannt vor. Erinnerst du dich noch? Buster, aus dem Neuen Lager.“
„Achja, genau. Du warst ein Kumpel von Mordrag, nicht wahr?“
Buster nickte stürmisch. „Er ist auch hier. Sitzt irgendwo auf dem Hof rum.“
„Wart ihr nicht damals bei den Banditen?“
„Ja, stimmt schon, aber damals gibt es nicht mehr. Nach dem Fall der Barriere haben sich die meisten getrennt. Viele sitzen jetzt irgendwo in der Wildnis und überfallen Leute. Die würden auch vor ihren ehemaligen Kameraden nicht halt machen. Aber ein paar aus dem Neuen Lager sind Lee gefolgt und wurden dann Söldner des Großbauern. Einige von uns waren früher Banditen. Lares selbst hat sich ja Lees Truppe angeschlossen.“
„Ja, ich weiß.“
„Was ist mit dir? Du warst damals ja irgendwie verschwunden. Willst du dich nicht wieder den Jungs anschließen?“
„Hm, weiß nicht. Aber ich seh’ mir auf jeden Fall mal an, was ihr da auf dem Hof so abzieht.“
„Gut, mach das. Aber warte. Vor dem Hof lungert Sentenza rum. Der knöpft jedem, der da vorbeikommt, Gold ab. Ist besser, du bezahlst ihn. Ich weiß, du hast einiges drauf, aber er ist selbst ein verdammt guter Kämpfer. Hab mal gesehen, wie er einen verprügelt hat, der nicht zahlen wollte.“ Buster verzog das Gesicht. „Außerdem hat er einflussreiche Freunde unter den Söldnern. Du ersparst dir ne Menge Ärger, wenn du einfach zahlst.“
Ich nickte. „Danke für den Tipp.“
„Nicht wahr. Isser dir was wert?“
„Na gut, hast Recht. Hier, fünf Kupferlinge.“
Buster grinste. „Danke. Jetzt kann ich mir heut Abend wieder einen hinter die Binde kippen. Pass auf deinen Rücken auf.“
„Du auch.“
An der Blockhütte machte der Weg eine Biegung. Er führte nun relativ geradlinig weiter nach Osten ins Tal hinein. Zu beiden Seiten des Weges erstreckten sich nun riesige Felder, deren Ende ich nicht ausmachen konnte und auf denen unzählige Bauern arbeiteten. Eine lange Zeit folgte ich dem Feldweg zwischen dem auf beiden Seiten aufragenden Getreide hindurch. Einmal sah ich sogar drei Feldräuber. Ich hatte schon von diesen mannshohen, meist auf Feldern vorkommenden und wie große Kartoffelkäfer aussehenden Insekten, die sich vorwiegend von Getreide und denen, die es anbauten, ernährten, gehört. Irgendwann hatte ich das Ende der Felder erreicht und stand an einer Kreuzung. Vor mir begannen zwei neue Felder, ebenso groß, wie die vorherigen. Der Weg führte zwischen den vier Feldern hindurch und traf sich genau hier, unter einem großen, alten Baum. Ich folgte weiter dem Weg geradeaus, bis ich auch das Ende dieser beiden Felder erreicht hatte. Eine kleine Baumgruppe stand hier am Rande des Weges. An einem der Bäume lehnte ein Söldner. Knapp hundert Meter weiter konnte ich bereits einen großen Bauernhof erkennen.
Als ich ihn erreicht hatte, stellte der Söldner, der eben noch am Baum gelehnt hatte, sich mir mit breitem Grinsen in den Weg. Er hatte weißblondes Haar und ein stoppeliges, unrasiertes Kinn. „Na, wo soll’s denn hingehen?“, fragte er noch immer grinsend.
„Ich will mich nur mal umsehen“, entgegnete ich.
„Nur mal umsehen, ja klar. Verarsch mich nicht! Du willst zum Hof, das seh’ ich doch.“
„Und du hast was dagegen, ja?“
„Nicht, wenn du mir eine bescheidene Spende gibst“, antwortete der Söldner, bei dem es sich zweifellos um Sentenza handelte. „Nur fünfzig Kupferstücke. Und du musst auch nur einmal bezahlen, ich bin schließlich kein Unmensch. Wenn du zahlst, kannst du auf den Hof UND du kriegst meine Stimme, wenn du vorhast, bei uns mitzumachen. Eine Hand wäscht die andere. Das ist doch fair, oder?“
„Weiß Lee, dass du hier Wegzoll kassierst?“, fragte ich kühl.
„Lee?“ Sentenza lachte auf. „Lee hat hier bald nichts mehr zu sagen, wenn er so weitermacht. Und Sylvio hat nichts dagegen.“
„Wer ist Sylvio?“
„Wenn du mich fragst, unser neuer Anführer. Im Moment sitzt er im Küchenhaus. An deiner Stelle würd’ ich mich von ihm fern halten. Er hat schlechte Laune. An den Bauern dürfen wir uns nicht vergreifen, aber wenn er einen Schwächling sieht, der nicht zum Hof gehört…“ Sentenza grinste breit. „Und jetzt will ich endlich mein Geld sehen.“
Widerwillig zahlte ich. Buster hatte Recht, es war nicht gut, mir gleich zu Anfang Feinde zu machen. Dann schritt ich an Sentenza vorbei und betrat den Hof.
Geändert von Jünger des Xardas (31.03.2012 um 13:33 Uhr)
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Zwei Fronten
Der Hof war wahrlich groß. Auf der rechten Seite erhob sich eine große, strohgedeckte Scheune. Dieser gegenüber stand ein fast ebenso großer, ebenfalls strohgedeckter Stall, hinter dem ich noch eine große Windmühle erkannte. Hinter dem Stall stand ein etwas kleineres Gebäude. Geradeaus, auf der anderen Seite des Hofes, stand ein großes, längliches Fachwerkhaus.
Reges Treiben herrschte auf dem Hof. Knechte und Mägde liefen umher, trugen Körbe und Eimer, Kannen und Mistgabeln. Zwischen ihren Beinen liefen gackernde Hühner und Gänse umher. Und zwischen alledem saßen und standen die Söldner, alle in Rüstungen aus Leder, Fell, Metall und blauem Stoff gekleidet. Sie unterhielten sich, lachten, grölten und starrten den Mägden nach. Vielen sah man die Jahre im harten und rauen Minental an.
Ich schritt gerade über den Hof, als plötzlich laute Rufe erklangen: „Fester!“
„Mach ihn fertig!“
„Gjan!“
„Reiß ihm die Eier ab!“
Zwei Söldner wälzten sich inmitten des Hofes auf dem Boden und schlugen wie besessen aufeinander ein. Einige Schaulustige hatten einen Kreis um sie gebildet und feuerten nun die Kämpfenden an. Ich näherte mich und versuchte, mich zwischen den gaffenden Söldnern hindurchzuschieben, um eine bessere Sicht zu haben.
„Zeig ihm, wer hier der Boss ist!“
„Mach den Verräter fertig!“
„Zeig ihm, was mit Lees Jungs passiert!“
„Ja, genau! Zeig ihm, dass es keiner mit Sylvios Männern aufnehmen kann!“
„Fresse, Bastard, sonst mach ich das mit dir, was Gjan gerade mit Fester macht!“
„Komm nur her und versuch’s! Wenn ich mit dir fertig bin, wird dich deine eigene Mutter nicht mehr wiedererkennen!“
Ich quetschte mich zwischen zwei massigen Söldnern hindurch und stand nun fast ganz vorne. Um mich herum waren alle zu sehr mit dem Kampf beschäftigt, um mich überhaupt zu bemerken, bis…
„He, pass doch auf!“ Ich war einem der Söldner auf den Fuß getreten. Dieser – ein schlanker, braunhaariger Kerl mit einem Langbogen über der Schulter – drehte sich nun wütend zu mir herum. „Bist wohl auch einer von Sylvi… Moment… Du?!“
„Mordrag! Schön, dich zu sehen!“
„Gleichfalls!“ Der ehemalige Bandit aus dem Neuen Lager lächelte erfreut. „Mit dir hätt’ ich nun wirklich nicht gerechnet.“
„Ja genau, so muss man’s ihm geben!“
„Komm schon, den wirst du ja wohl noch schaffen!“
Wir wandten die Köpfe den Kämpfenden zu. „Was ist hier los?“, fragte ich.
„Üble Sache“, erwiderte Mordrag grimmig.
Der eine der beiden hatte seinen Gegner am Kragen gepackt und schlug dessen Kopf wie wahnsinnig auf einen aus dem Boden ragenden Stein, sodass er zu bluten anfing. Dann gelang es diesem jedoch, sich loszureißen. Er versetzte dem Söldner, der ihn eben noch auf den Stein geschlagen hatte, eine Kopfnuss, warf ihn herum und schlug in rasendem Tempo auf sein Gesicht ein. Blut rann aus der Nase des Söldners und aus seinen aufgeplatzten Lippen.
„He aufhören! Aufhören! Ich sagte AUFHÖREN!“ Ein hochgewachsener, muskulöser Söldner mit einer Axt und einem Kompositbogen auf dem Rücken, einem wettergegerbten Gesicht mit stoppeligem Kinn und blondem, zu einem kurzen Pferdeschwanz gebundenen Haar hatte sich aus Richtung des Haupthauses durch die Menge gedrängt und riss nun die beiden Kämpfer auseinander. Es gelang ihm mühelos, die beiden zu trennen. Einige Söldner stürzten herbei und halfen ihm. „Haltet ihn fest“, befahl der Söldner, den ich längst als Lees Adjutant Torlof erkannt hatte, und stieß einen der beiden Streithähne zu ihnen. Mit aller Kraft und wild um sich schlagend versuchte dieser, seinen Gegner wieder zu erreichen. Dieser jedoch schien nach den heftigen Schlägen ins Gesicht halb bewusstlos. „Orik! Orik verdammt, wo bist du?!“ Ein dunkelhäutiger Söldner mit kahlgeschorenem Kopf stürzte herbei. „Bring die arme Sau in die Scheune.“ Orik nickte und nahm den Söldner mit dem blutüberströmten Gesicht entgegen. Torlof wandte sich nun uns zu. „Wie oft soll ich das noch sagen: Ich will sowas hier nicht mehr erleben, klar?! Wenn Lee davon erfährt…“
„Hör uns auf mit Lee“, sagte einer der Söldner abfällig und erntete zustimmendes Gemurmel von denen, die ihn umringten und wüste Beschimpfungen von den anderen.
„Ruhe!“, donnerte Torlof. Dann wandte er sich dem Söldner zu, der eben gesprochen hatte. „Und du, Raoul, solltest dich etwas zurückhalten. Noch ist Lee hier der Boss, klar?“
„Noch.“
„Genug! Ich will nichts mehr hören!“ Torlof wandte sich wieder an uns alle. „Was ist? Was gafft ihr noch so blöd? Verschwindet, hier gibt es nichts mehr zu sehen!“
„Was war das eben?“, fragte ich Mordrag, während die anderen Söldner sich wieder zerstreuten.
Der ehemalige Bandit seufzte. „Komplizierte Angelegenheit. Wir haben hier im Moment ne Menge Ärger, auch ohne die dämlichen Stadtwachen und die Blechdosen.“
„Ja, das seh’ ich, aber was ist los?“
„Es bilden sich gerade zwei Fronten unter den Söldnern. Die einen wollen Lee als Anführer behalten. Die anderen hätten lieber diesen Sylvio.“
„Wie kam es zu den Fronten?“
„Tja, der Großteil von uns Söldnern kommt aus der Kolonie, aus dem Neuen Lager. Wir kennen Lee und wissen, dass er ein verdammt guter Anführer ist und wir halten zu ihm. Er hat uns aus dem Tal geführt. Als die Barriere fiel, war da Beliars Reich los. Er meinte, wir überleben nur, wenn wir zusammenhalten und er hatte verdammt Recht. Wir sind ihm über den Pass gefolgt und einige hier würden ihm wahrscheinlich bis in Beliars Reich folgen. Er war es auch, der für uns eine neue Bleibe gefunden und den Vertrag mit dem Großbauern ausgehandelt hat. Seit wir hier sind, kamen aber auch einige neue Söldner dazu. Ein paar aus einem der andren Lager, einige aus der Stadt, die, seit keine Schiffe mehr kommen, keine Arbeit mehr haben oder hier festsitzen, sogar zwei desertierte Soldaten aus der königlichen Armee. Aber die größte Gruppe neuer Söldner kam mit Sylvio. Sie hatten im Süden in einer kleinen Söldnerarmee gegen die Orks gekämpft.“
„Im Süden? Wo im Süden?“
„Khorelius. Der dortige Stadtvogt des Herzogs hatte sie zum Schutz der Insel angeheuert. Die Milizen da wurden mit den Orks nicht fertig – haben wohl nicht mehr drauf als die von Khorinis.“
„Khorelius? Dann sind die Orks schon auf den Khorinseln?“
Mordrag nickte. „Zumindest auf Khorelius. Von Khorana und Khoron weiß ich nichts. Na ja, ein paar von den Söldnern jedenfalls sind desertiert und aus dem Dienst des Herzogs ausgetreten. Mit einem der letzten Schiffe sind sie dann rüber nach Khorinis. Da saßen sie dann ne Zeit in der Stadt, bis Onar uns hier angeheuert hat und sind dann zu uns gestoßen. Tja und der Anführer von den Kerlen war Sylvio. Er hat sie erst nach Khorinis und dann hierher zu Onars Hof geführt. Damals haben sie alle Lee als Anführer akzeptiert, aber es ist ein offenes Geheimnis, dass Sylvio nichts von Lee hält und gerne seinen Platz einnehmen würde. Es ist jetzt nicht so, dass alle, die damals mit Sylvio kamen, auch für ihn sind. Ebenso wenig, wie alle, die aus der Barriere kommen, für Lee sind. Es gibt sogar den einen oder anderen aus der Barriere, der Sylvios Plan zugeneigt ist – auch, wenn die meisten der alten Jungs zu Lee halten; alle zumindest, die schon damals Söldner waren.“
„Sylvios Plan? Was für ein Plan?“
„Sylvio meint, jetzt, da die Hälfte der Paladine ins Minental gezogen ist, werden es die anderen nicht wagen, uns hier anzugreifen. Er meint, wir sollten das ausnutzen und mal ein bisschen auf den Putz hauen: Reisende überfallen, Milizpatrouillen aufreiben, die kleinen Höfe vor der Stadt plündern – solche Sachen eben. Aber Lee meint, das wäre das schlechteste, was wir in unserer Situation tun können. Er will abwarten. Er hat den Plan, uns von hier wegzubringen. Wie genau er das anstellen will, weiß ich nicht, aber Innos weiß, dass ich nichts dagegen hätte, diese verfluchte Insel endlich zu verlassen. Und ich vertraue Lee. Na ja, im Großen und Ganzen haben sich so jedenfalls die zwei Fronten gebildet. Und mit der Zeit wird es immer schlimmer. Es gibt ständig irgendwelche Anfeindungen und Schlägereien, wie die eben, gibt es auch öfter mal. Ist, wenn du mich fragst, nur ne Frage der Zeit, bis das ganze es… eskelt… eskalid… ausartet. Aber bis jetzt sind es eher die jüngeren von Lees Leuten, die Streit mit Sylvios Jungs anfangen und sich von den Idioten provozieren lassen. Die meisten der älteren Söldner nehmen Sylvio nicht wirklich ernst. Viele denken, er wäre keine Gefahr. Aber der alte Jarvis sieht das anders. Erinnerst dich doch noch an ihn, oder?“
„Klar, der Torwächter vom Neuen Lager.“
„Genau. Er meint, er kennt Typen wie Sylvio. Er sagt, solche gehen bis zum Äußersten und geben erst Ruhe, wenn sie ihre Ziele erreicht haben. Und Torlof sieht das ähnlich. Wenn du mich fragst, haben sie Recht. Sylvio hat zwar keine Eier in der Hose und ist ein miserabler Anführer, aber er ist nicht blöd und er hat einige gute Kämpfer auf seiner Seite – Sentenza und Bullco zum Beispiel. Ich hoffe nur, dass das alles gut geht. Aber was soll’s. Reden wir über was anderes. Was verschlägt dich hierher? Hab dich ja ne ganze Weile nicht geseh’n. Nach dem Fall der Barriere warst du irgendwie weg. Dachte schon, dich hätt’s erwischt.“
„Es hätte nicht viel gefehlt.“
„Na hast ja noch mal Glück gehabt. Also, was suchst du hier? Willst du etwa wieder bei uns mitmischen? Einen Kämpfer wie dich können wir immer gebrauchen. Gerade jetzt.“
„Ich weiß nicht recht. Mal schauen. Eigentlich bin ich wegen was andrem hier.“
„Und zwar?“
„Ich suche Velaya.“
„Velaya? Ja, die war hier – hübsches Mädel.“ Mordrag lachte. „Hat dem halben Hof den Kopf verdreht. Kein Vergleich zu den Mägden hier. Und nach mehreren Jahren im Knast… Ich mein, ich wär’ auch nicht abgeneigt, aber die würde wohl keiner von der Bettkante schubsen…“
„Weißt du, wo sie ist?“, fragte ich und versuchte, meine Stimme ruhig zu halten.
„Nicht genau, nein. Vielleicht solltest du mal mit Lee reden. Er hat mit ihr gesprochen.“
„Gut, werd ich machen. Wo finde ich ihn?“
„Im Haupthaus. Keine Angst, am Eingang steht Jarvis, der lässt dich schon rein.“
„Gut, dann werd ich direkt mit Lee sprechen. Kann ohnehin nicht schaden. Ich hab da noch was anderes, wo er mir vielleicht helfen kann.“
„Gut, dann geh zu ihm. Er wird sich sicher freuen, dich zu sehn. Wir sehen uns dann später. Bin wahrscheinlich in Theklas Küche.“ Mordrag deutete auf das kleinere Gebäude neben dem Stall. Ich nickte ihm zu, dann machte ich mich auf den Weg zu Lee.
Geändert von Jünger des Xardas (03.10.2010 um 11:02 Uhr)
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Die Familie des Großbauern
Ein etwas älterer Söldner mit blondem Haar und stoppeligem Kinn bewachte den Eingang des Haupthauses. „Du?“, fragte er ungläubig, kaum dass er mich erblickte.
„Tag Jarvis“, grüßte ich grinsend.
„Gab nen Riesenaufstand wegen dir. Die Magier meinten, du hättest uns verraten. Und als dann die Barriere fiel, hat keiner mehr dich gesehen. Die meisten dachten, du wärst tot.“
„Tja, wie du siehst, lebe ich noch.“
„Und jetzt? Willst du etwa bei uns mitmachen?“
„Ich denke nicht, aber du wirkst, als wäre dir das auch lieber.“
„Nun, wir stimmen über neue Mitglieder ab. Ich müsste entweder für oder gegen dich stimmen und ich wüsste ehrlich nicht, wofür ich mich entscheiden sollte.“
„Warum?“
„Ein paar von den neuen Söldnern machen hier ne Menge Ärger. ICH stimme für keinen Neuling, solange ich nicht sicher bin, dass er gegen Sylvio ist.“
„Keine Angst, das bin ich.“
„Das will ich hoffen, auch, wenn es keine große Rolle spielt, solange du uns nicht beitreten willst. Jetzt möchtest du zu Lee?“ Ich nickte. „Geh nur. Ich denke, er wird sich noch an dich erinnern.“
Ich betrat das Haus und folgte einem langen Flur. Etwas verloren spähte ich durch die Türen zu beiden Seiten. Nach kurzer Zeit fand ich hinter einer der Türen einen wohnlichen Raum, in dem einige Frauen im Kreis auf einfachen Holzschemeln saßen. Sie alle waren mit dem Flicken von Kleidern und Laken beschäftigt und unterhielten sich dabei angeregt. Als ich eintrat verstummten sie sofort und blickten auf.
„Was willst du hier?“, fragte eine der Frauen leicht unfreundlich. Sie schien von den Anwesenden die Älteste zu sein. Ihr blondes Haar, das sie wie alle Bäuerinnen hochgesteckt trug, wies bereits eine graue Tönung auf. Auch schienen die anderen Frauen zu ihr aufzuschauen und in ihr so etwas wie eine Anführerin zu sehen. Trotz der etwas schroffen Begrüßung schien sie nicht unfreundlich. Vielmehr hatte sie etwas herzliches, mütterliches an sich.
„Verzeihung. Ich wollte nicht stören.“
„Oh.“ Die Frau schaute überrascht. „Soviel Höflichkeit bin ich gar nicht mehr gewohnt. Mein Name ist Maria. Ich bin die Frau von Onar. Entschuldige, aber ich habe dich erst für einen der Söldner gehalten.“ Sie lächelte mich freundlich an.
„Hast du ein Problem mit ihnen?“, wollte ich wissen.
„Ach.“ Maria machte ein gequältes Gesicht. „Es ist schon schlimm. So einen großen Hof zu führen, ist schwer genug, aber seit diese Kerle hier sind, hat man keine ruhige Minute mehr, sag ich dir. Ständig kommt einer reingestiefelt. Und dann ihr Benehmen – fürchterlich. Ihr Anführer, Lee, das ist ein anständiger Kerl. Und galant ist er. Ich sag dir, ein etwas gepflegteres Äußeres und feine Kleidung und dieser Mann könnte durch die Oberstadt von Khorinis spazieren, ohne aufzufallen! Ich frag mich manchmal, wie ein anständiger Kerl wie er an solche Gestalten geraten konnte. Dieser Wolf ist auch ganz in Ordnung. Ruhig und hilfsbereit. Aber der Rest… Machen sich überall breit, grölen hier herum, stinken wie ein toter Oger, lassen sich durchfüttern, pöbeln die Knechte an und gaffen den Mägden nach. Alle halten sie von der Arbeit ab. Und dann ihre Ausdrucksweise und erst diese ständigen Raufereien!“ Sie seufzte. „Na ja, zumindest halten sie uns die Miliz vom Leib. Früher, da kamen diese Kerle von der Stadtwache ständig. Schlimmer als die Söldner waren sie. Alles haben sie mitgenommen. Sogar gestohlen haben sie! Daraufhin bin ich zu Onar gegangen. „Warum lässt du dich von den Milizen aus der Stadt so herumschubsen?“, hab ich gesagt. „Tu was!“, hab ich gesagt. Daraufhin hat er die Söldner angeheuert. Jetzt kommt man sich hier vor wie im Krieg – Na schließlich ist ja auch Krieg, was?“ Abermals seufzte Maria. „Aber ich will nicht klagen. Onar ist ein guter Mann. Etwas brummig und sehr ungeduldig, aber jeder hat seine Fehler. Ach ich rede und rede und rede.“ Sie lächelte. „Das ist mal wieder typisch. Entschuldige. Kann ich vielleicht etwas für dich tun?“
„Ja, ich wollte zu Lee. Wir sind so was wie… Bekannte.“
„So? Nun gut. Elena! Komm her, Kindchen.“
„Ja, Mutter.“ Ein junges Mädchen mit mandelfarbenem Haar von vielleicht sechzehn Jahren war aufgesprungen und an Maria herangetreten.
„Bring diesen Burschen zu den Söldnern. Und danach kannst du gleich zu Thekla in die Küche gehen. Das Fleisch muss noch gepökelt werden.“
„Ja, Mutter.“ Sie wandte sich zu mir um.
„Hallo, schönes Kind“, grüßte ich sie.
Elena legte den Kopf schief und grinste mich schelmisch an. „Na, wo haben sie dich denn laufen lassen? Na komm mal mit. Ich zeig dir, wo’s zu den Söldnern geht.“
„Du bist also Onars Tochter?“, fragte ich, während wir den Flur entlang liefen.
„Ja, bin ich.“
„Dann hat dein Vater hier das Sagen.“
„Das Sagen?“ Das Mädchen lachte. „Wenn du mich fragst, sind es die Söldner, die hier das Sagen haben. Möchte nicht in Papas Haut stecken, wenn sie eines Tages meinen, er wäre hier überflüssig.“
„In Khorinis hab ich an jeder Ecke gehört, dein Vater lehnt sich gegen die Stadt und den König auf.“
„Alles, was wir tun, ist, das zu verteidigen, was uns gehört. Es ist doch so: Der Krieg wird auf dem Rücken der Bauern ausgetragen. Einerseits erhöht der König immer wieder die Steuern und verlangt immer größere Abgaben von uns, andererseits nimmt er uns alle Knechte und zieht sie in sein Heer ein. Und für all das dürfen wir uns dann noch von der Miliz schikanieren lassen. Mein Vater hat dieses Land von seinem Vater geerbt, der von seinem und der wiederum von seinem… Die Armee des Königs hat uns nie beschützt für unsere Abgaben. Und von dem Geld, das wir jetzt sparen, können wir uns unsere eigene Armee leisten.
So, da wären wir. Viel Spaß mit den Söldnern.“ Elena grinste und lief dann den Flur in Richtung Ausgang davon.
Ich trat durch die Tür, zu der sie mich geführt hatte, in einen großen Gesinderaum. Eine lange, einfache Tafel, umgeben von zahlreichen Hockern, nahm einen Großteil des Raumes ein. Der Rest war voller strohgefüllter Säcke, auf denen vermutlich die Söldner schliefen.
Momentan war der Raum leer, bis auf einen kräftigen, dunkelhäutigen Söldner, der mit einer Armbrust und einem Morgenstern bewaffnet war. Als ich eintrat, kam er auf mich zu. „Ich bin Khaled. Ich bin für die Waffenkammer zuständig“, grüßte er.
„Ich bin…“
„Wahrscheinlich noch einer, der von den Blechdosen in der Stadt und den scheinheiligen Bastarden aus dem Kloster und ihrem Gehorsamswahn die Nase voll hat und lieber bei uns mitmacht als in dieser dämlichen Hofschranzenuniform der Miliz durch die Straßen zu latschen. Und jetzt bist du gekommen, um dich uns anzuschließen.“
„Nicht ganz. Aber ich muss Lee sprechen. Ich kenne ihn von früher.“
„Verstehe. Dann kommst du auch aus der Barriere?“
„Ja. Was ist mit dir? Ich kenn dich nicht.“
Khaled lachte. „Nö, mir ist das auch erspart geblieben – nicht, dass es keine guten Gründe gegeben hätte, mich da rein zu werfen.“
„Was hast du dann gemacht?“
„Bis vor kurzem hab ich für den Herzog von Khorelius und seinen dämlichen Stadtvogt gekämpft, aber das wurden mir zu viele Orks auf der Insel. Hab drüber nachgedacht, überzulaufen. Den Orksöldnern soll’s ja ganz gut geh’n. Aber dann hab ich mich stattdessen mit einigen andern nach Khorinis abgesetzt.“
„Dann bist du einer von Sylvios Leuten?“
Khaled wurde ernst. „Nein, ganz sicher nicht. Ich bin ihm zwar hierher nach Khorinis gefolgt, aber wie fast alle Söldner steh ich voll hinter Lee. Sind nur ein Dutzend Idioten, die sich mit Sylvio einlassen. Wenn du mich fragst, ist er ne linke Sau. Und ne große Klappe hat er nur neben seinem Arschkriecher Bullco – gut, mit dem wollte ich mich auch nicht anlegen. Lee dagegen ist ein guter Anführer. Soweit ich weiß, hat er sogar mal unterm König gedient. Sind aber nur Gerüchte. Heute ist er jedenfalls nicht mehr ganz so gut auf den alten Sack zu sprechen.“ Khaled lachte. „In jedem Fall führt er uns wesentlich besser als Sylvio das jemals könnte.“
„Und wo finde ich Lee jetzt?“
„Einfach da die Treppe rauf. Kannst ihn nicht verfehlen.“
Geändert von Jünger des Xardas (31.03.2012 um 13:36 Uhr)
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Der Hauptmann der Söldner
Die Treppe führte in einen kleinen Raum, der bis auf ein Bett und eine Truhe leer war. Durch eine Tür gelangte ich in einen weiteren Raum. Ein einfacher Tisch stand in seiner Mitte. Darauf ausgebreitet lag eine Karte, die das Land des Großbauern zeigte. Hinter dem Tisch, auf einem Hocker, saß ein Mann, dessen, trotz seines Alters, kräftiger Körper in einer schweren Söldnerrüstung steckte und an dessen Seite ein Langschwert hing. Das schwarze Haar des Mannes war von grauen Strähnen durchzogen. Darunter lag ein markantes Gesicht mit harten, scharfen Zügen und stoppeligem Kinn. Der Mann machte einen rauen, aber nicht unfreundlichen Eindruck. Wie schon bei meiner ersten Begegnung mit ihm, fiel mir ein kleines, goldenes und fein gearbeitetes Amulett auf, das um seinen Hals baumelte und nicht so recht in das Bild passte, das der Söldnerhauptmann bot.
Als ich eintrat, blickte er auf. „Wer bei Beliar hat dich denn hier rein…?!“, hob er wütend an, stutzte jedoch augenblicklich. „Du?!“ Lee erhob sich überrascht, reichte mir dann jedoch erfreut die Hand. „Ich muss zugeben, ich hätte nicht erwartet, dich je wiederzusehen. Eigentlich hatte ich angenommen, du seiest tot.“ Während er seine Hand wieder zurückzog, erklärte er: „Gorn hat erzählt, du hättest die Barriere zum Einsturz gebracht. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Mann so etwas überleben kann.“
„Nun, wie du siehst, habe ich es geschafft. Aber was ist mit Gorn? Ist er hier auf dem Hof?“
Ich hatte mein Ziel nicht aus den Augen verloren und die Hoffnung nicht aufgegeben, meine anderen Freunde wiederzufinden.
Lee jedoch machte eine betrübte Miene. „Er war hier“, erklärte er. „Aber als die Paladine hier vorbei ins Minental zogen, haben sie ihn am Rand von Onars Land aufgegriffen. Sie hatten einige Sträflinge aus der Stadt bei sich, mit denen sie über den Pass gezogen sind. Gorn haben sie als weiteren Sträfling mitgenommen.“
„Über den Pass?!“, stieß ich entsetzt aus.
Der Söldnerführer nickte. „Ich würde ihn ja da raushauen, aber das waren rund fünfzig Paladine mit Gefolge. Außerdem heißt es, dass die Orks im Minental gelandet sind. Das sind zwar nur Gerüchte, doch nach den wenigen Informationen, die wir haben, ist es sehr wahrscheinlich. Zudem sitzt uns die Stadt mit ihren Paladinen und Milizen im Nacken. Und wir müssen den Hof vor Banditen und Feldräubern schützen. Nicht zu vergessen die Spannungen, die momentan unter meinen Männern herrschen.“
„Ich versteh schon.“
„Im Moment gibt es nichts, was wir für Gorn tun könnten. Zumindest werden die Paladine ihn am Leben lassen. Sie haben die Sträflinge sicher nicht umsonst mitgenommen.“
„Und was glaubst du, wollen sie mit ihnen im Tal?“
„Das, weshalb sie hergekommen sind: Magisches Erz.“
„Woher willst du wissen, dass das der Grund ihres Kommens ist?“
„Ich zähle eins und eins zusammen. Es hat sicher einen guten Grund, wenn Rhobar mitten im Krieg seine hundert besten Krieger aus der Hauptstadt abzieht und auf eine entlegene Insel schickt, vor allem, wenn der Krieg tatsächlich so schlecht steht, wie es heißt.“
„Aber die Paladine kamen kurz vor dem Fall der Barriere hier an.“
„Nur ein weiteres Indiz dafür, wie schlecht der Krieg steht. Die Orks haben die myrtanische Flotte beim Östlichen Archipel aufgerieben und vernichtend geschlagen. Damit sind sie nun die dominierende Macht auf dem Myrtanischen Meer. Vermutlich kamen die Erzlieferungen schon seit einiger Zeit nur noch in unregelmäßigen Abständen. Ich denke, dass die Orks immer mehr der Erzschiffe abgefangen haben. Wahrscheinlich sollten die Paladine zunächst nur dafür sorgen, dass die Schiffe sicher ankommen. Als die Barriere fiel, mussten sie umdisponieren, um Rhobar das Erz bringen zu können. Glaube mir, ich kenne Rhobar und Hagen, ich weiß, wie sie denken. Seltsam ist höchstens, dass Dominique so einer Aktion zugestimmt hat. Andererseits hörte ich, er wäre vom König wegen seines Alters suspendiert worden. Aber zu dir: Was führt dich her? Ich bezweifle, dass du gekommen bist, um dich meinen Männern anzuschließen.“
„Da liegst du richtig.“
Lee lachte. „Hätte mich auch gewundert. Passt nicht zu dir. Damals in der Kolonie, da waren es besondere Umstände. Aber jetzt? Du bist nicht der Typ, den es lange auf den Höfen hält. Trotzdem – ich schätze Männer wie dich. Wer weiß. Auch, wenn du nicht direkt für mich arbeitest, vielleicht können wir einander ja einmal helfen. Ich würde mich freuen.“
„Danke. Ich fühle mich geehrt. Ich könnte tatsächlich deine Hilfe gebrauchen.“
„Worum geht es?“
„Ich suche nach Velaya.“
„Sie war hier auf dem Hof, aber ich weiß nicht, wohin sie dann ist. Vielleicht hat sie es Cord gesagt.“
„Warum Cord?“ Ich kannte Cord zwar als stolzen, leicht arroganten und sehr misstrauischen Söldner, als einen der besten Kämpfer in Lees Truppe und als Kampflehrer, doch war mir nicht bekannt, dass Cord je irgendetwas mit Velaya zu tun gehabt hätte.
„Nun, die beiden haben gemeinsame Freunde.“
Ich verstand. „Sind diese Freunde zufällig die Wassermagier?“
Lee lachte. „Vom Ring weißt du also auch schon. Hätt’ ich mir ja denken können.“
„Gehörst du auch dazu?“
Der Söldnerhauptmann schüttelte den Kopf. „Ich selbst hab nur am Rande damit zu tun. Nach dem Fall der Barriere boten die Wassermagier mir und einigen meiner Männer, die ihnen besonders gut gedient hatten oder die sie für besonders vertrauenswürdig hielten, an, dem Ring beizutreten. Einige, wie Cord, nahmen an. Ich lehnte ab.“
„Warum?“
„Ich bin nicht der Typ für so was. Ich habe genug mit meinen eigenen Problemen zu tun. Sobald ich kann, werde ich ohnehin von dieser Insel verschwinden. Dennoch – ich vergesse keinen Verbündeten. Zumal mich mit den Wassermagiern mehr verbindet als nur die Barriere. Auch heute würde ich den Wassermagiern noch jederzeit zu Hilfe kommen, wenn sie mich brauchen, sofern es in meiner Macht steht. Nun, wie gesagt: Du solltest mit Cord sprechen. Er ist die meiste Zeit auf der großen Weide hinter der Scheune und trainiert dort.“
„Danke. Ich werde gleich zu ihm gehen.“
„Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“
„Hm. Ja, vielleicht. Ich muss dringend mit Lord Hagen sprechen. Lares meinte, du könntest mir vielleicht helfen.“
„Könnte ich vielleicht, ja. Aber was willst du vom Großmeister der Paladine, wenn ich fragen darf?“
„Das ist ne lange Geschichte.“
„Macht nichts, ich habe Zeit.“
Ich seufzte. „Also gut: Im Minental sammelt sich eine Armee – Orks und andere Kreaturen – unter der Führung von Drachen.“
„Drachen?!“ Lee schaute ungläubig. „Sag mal, hast du zu viel Sumpfkraut geraucht?“
„Ich weiß, ich weiß. Ich kann es ja selbst kaum glauben, aber es ist wahr, wirklich! Ich weiß es von Xardas.“
„Xardas? Du bist also tatsächlich mit diesem Dämonenbeschwörer im Bunde. Hm. Und du bist sicher, dass er Recht hat?“
„Völlig sicher, so unglaublich es klingen mag.“
„Wenn du Recht hast, stehen wir vor einem großen Problem.“ Lee kratzte sich an seinem stoppeligen Kinn. „Aber was hat Lord Hagen damit zu tun? Erhoffst du dir etwa Hilfe von ihm und seinen Paladinen?“
„Nicht direkt. Aber sie verfügen über ein wertvolles Amulett: Das Auge Innos’. Nur mit seiner Hilfe kann ich die Drachen besiegen.“
„Sie werden es dir nicht einfach so übergeben.“
„Das ist mir klar, aber ich muss alles versuchen.“
„Nun, zu Hagen könnte ich dich vielleicht bringen. Allerdings nicht jetzt. Gib mir noch etwas Zeit – eine Woche vielleicht.“
„Eine Woche sollte gehen. Du bist sicher, dass ich dann zu ihm komme?“
Lee nickte. „Völlig sicher.“
„Gut, danke. Das ist vorerst alles. Ich werde dann mal mit Cord sprechen.“
„Tu das. Es war mir eine Freude.“ Der Hauptmann der Söldner reichte mir zum Abschied ein weiteres Mal die Hand.
Geändert von Jünger des Xardas (09.02.2011 um 18:45 Uhr)
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Die Söldner von Onars Hof
Lees Wegbeschreibung folgend, ging ich zwischen dem Haupthaus und der Scheune hindurch und gelangte so auf eine große, saftige Weide. In ihrem Osten lag der Rand eines dichten Waldes, der kurz hinter dem Haupthaus begann. Im Süden dagegen schloss ein abfallender und von zahlreichen Sträuchern bewachsener Hang an die Weide an, der bis zu den Bergen im Süden von Onars Tal reichte.
Ich blickte mich auf der Weide um. Eine große Schafherde stand hier, friedlich grasend. Cord konnte ich nicht entdecken, doch machte ich inmitten der Herde den Hirten aus. Ich beschloss, ihn nach Cord zu fragen.
Der Hirte war ein junger, etwas schüchtern wirkender Bursche. „Hallo!“, grüßte ich. „Wer bist du?“
„Pepe“, antwortete der Hirte knapp, um dann mit matter Stimme zu fragen, „was willst du?“
„Du magst wohl keine Gesellschaft, was?“
„Nein, ich versuche, allem Ärger aus dem Weg zu gehen.“
„Gelingt dir nicht immer, was?“
Pepe schüttelte traurig den Kopf. „Ne, vor allem nicht bei den Söldnern.“
„Was ist dein Problem?“
„Ach, hier streift so ein Wolfsrudel umher. Ständig reißen sie welche von meinen Schafen. Sogar mein Lieblingsschaf, die alte Liesel, hat’s schon erwischt. Das ist alles die Schuld von diesem Bullco. Seine Aufgabe war es, sich darum zu kümmern, aber stattdessen hängt er die ganze Zeit im Küchenhaus rum. Und von uns Bauern lassen der und sein Kumpel Sylvio sich nichts sagen. Inzwischen weiß Lee Bescheid, aber ich hab von Onar einen Riesenärger bekommen. Ich hoffe nur, dass die Söldner sich jetzt um die Wölfe kümmern. Diese Mistviecher haben sogar schon die kleine Liesel gerissen. Die war kaum vier Wochen alt.“
„Hast du nicht eben noch von der alten Liesel gesprochen?“
„Alle Schafe heißen Liesel – bis auf die Hammel natürlich, die heißen Horst.“
„Verstehe. Du weißt nicht zufällig, wo ich den Söldner Cord finde?“
„Doch, der trainiert da hinten, bei den Bäumen.“
Am Waldrand, vom anderen Ende der Weide aus nicht zu sehen, stand der schon etwas ältere Schwertmeister mit dem angegrauten braunen Haar und dem schmalen Schnurrbart und ließ sein Schwert elegant durch die Luft sausen, dass es nur so sirrte.
„He Cord!“ Der Söldner beachtete mich nicht, sondern setzte sein Training fort als hätte er mich nicht bemerkt. „He, ich rede mit dir! Ich brauche deine Hilfe.“
„Was belästigt ihr Bauern mich andauernd?“, fragte Cord ungehalten und in gewohnt arrogantem Tonfall, ohne dabei seine fließenden Bewegungen zu unterbrechen oder mich auch nur anzusehen. „Ich hab euch schon tausendmal gesagt…“ Cord schlitzte einem imaginären Gegner den Bauch auf. „… wenn ihr Probleme mit den Feldräubern oder Wölfen habt, fragt einen der jüngeren Söldner.“ Der Schwertmeister vollführte eine Neunziggraddrehung und köpfte aus dieser Bewegung heraus einen weiteren nicht vorhandenen Gegner. „Zu mir könnt ihr kommen…“ Cord ging leicht in die Knie, hielt das Schwert mit beiden Händen über seine Schulter, die Spitze nach vorne gerichtet, bereit für den nächsten Angriff seiner unsichtbaren Gegner. „… wenn hier die Paladine oder…“ Er durchbohrte einen anstürmenden Feind. „… die Orks anrücken.“ Cord wirbelte herum und ließ sein Schwert auf einen weiteren nicht existenten Feind hinabsausen. Blitzschnell zog ich meine eigene Waffe aus der Scheide, blockte den Schlag des Söldners und unterbrach ihn so in seinem Rhythmus.
Die Augen des Kampflehrers weiteten sich überrascht. „Ich bin kein Bauer“, sagte ich kühl.
„Du?“ Cord senkte sein Schwert.
Ich schob das meine zurück in die Scheide. „Ja, ich.“
„Oh Mann, du hast uns grade noch gefehlt. Dich können wir hier nun wirklich nicht gebrauchen.“
„Traust du mir etwa immer noch nicht?“, fragte ich grinsend.
„Nach der Sache mit dem Erzhaufen? Nachdem du gezeigt hast, dass du einem sofort in den Rücken fällst, wenn man dir vertraut? Nein. Ich seh’ das Ganze nicht so locker, wie die anderen.“
„Trotzdem wirst du mir helfen.“
„Warum sollte ich das tun? Und warum fragst du gerade mich?“
„Weil du zum Ring des Wassers gehörst.“
„Was?!“, stieß Cord erbost hervor. „Welcher Mistkerl konnte denn da schon wieder seine Klappe nicht halten?!“
„Lee.“
Der Söldner seufzte resigniert. „Also gut, was willst du? Und pass jetzt gut auf, was du von mir verlangst!“
„Ich will nur wissen, wo Velaya ist. Lee sagte, du wüsstest, wohin sie weiter gezogen ist.“
„Gut, wenn’s nur das ist“, sagte Cord, dennoch sichtlich genervt. „Sie ist nach Süden. Wohin genau, weiß ich nicht. Sie hat einige Banditen verfolgt. Ich glaube, sie sind zu der alten Burg dort oben gezogen.“ Cord deutete auf einen der Berge im Süden, wo ich einen schmalen Wachturm emporragen sah. „Aber den Weg kannst du dir sparen.“
„Warum?“
„Bei der wilden Gegend da unten findest du sie eh nicht. Vor allem jetzt. Es ist schon Nachmittag. Vor dem Einbrechen der Dunkelheit schaffst du das nicht mehr. Außerdem wollte sie da nicht länger als zwei Tage bleiben. Ihren eigentlichen Auftrag hat sie schon beendet. Nur hatten die Banditen einen Gefangenen dabei. Sie wollte sich das noch genauer anschauen und prüfen, ob es eine Chance gibt, den Kerl zu befreien. Morgen früh wird sie aber zur Stadt zurückkehren.“
„Kommt sie dann wieder hier vorbei?“
„Kommt drauf an, wie eilig sie es hat. Ich würde eher oben beim See warten. Da muss sie auf alle Fälle vorbei.“
„Gut, danke.“
„Gibt nichts zu danken. Hauptsache, du lässt mich jetzt in Frieden.“
Nun würde ich Velaya hoffentlich endlich treffen. Ich konnte es kaum erwarten, sie endlich wiederzusehen, sie endlich wieder in meine Arme zu schließen. Doch vorerst musste ich mich noch etwas gedulden. Zwar wäre ich am liebsten sofort losgerannt, doch Cord hatte Recht und ich wollte Velaya nicht verpassen, nur weil ich nicht in der Lage war, noch einen halben Tag zu warten.
So beschloss ich, den Rest des Tages auf dem Hof zu verbringen und kehrte deshalb auf diesen zurück.
Etwas ziellos schlenderte ich über den Hof, als ich plötzlich von einem Söldner von der Seite angesprochen wurde: „He!“ Ich wandte den Kopf. Der Söldner, der mich angesprochen hatte, lehnte an der Wand der Scheune. Er hatte dunkles, braunes Haar, das ihm tief in die Stirn hing.
„Wolf?!“ Freudig schüttelten wir uns die Hände.
„Mordrag meinte, du wärst hier, aber ich hab’s kaum geglaubt. Mann, dachte schon, dich hätt’s erwischt“, sagte Wolf mit seiner tiefen, etwas rauen Stimme.
„Hat’s auch. Ich bin nur grade so davongekommen.“
„Freut mich jedenfalls, dass du’s geschafft hast. Ist keine Selbstverständlichkeit. So manch einer ist bei der Flucht draufgegangen.“
„Freut mich auch, dich wieder zu sehen. Was machst du so? Stellst du immer noch die Rüstungen für die Jungs her?“
Das Lächeln verschwand augenblicklich aus Wolfs Gesicht. „Ach, frag nicht.“
„Was ist los?“
Wolf nickte mit dem Kopf zum kleinen Gebäude gegenüber, direkt neben dem Stall. Unter einem hölzernen Vordach war hier eine Schmiede aufgestellt worden, in der ein Kerl gerade dabei war, ein glühendes Stück Stahl am Amboss zu bearbeiten. „Das ist Bennet, unser neuer Schmied“, erklärte Wolf missmutig. „Kaum kommt so ein gelernter Schmied daher, schwups, bist du deinen Job los. Jetzt verbring ich meine Zeit damit, hier rumzustehen und auf die Schmiede zu starren.“
Ich musste grinsen. „Du meintest, du hättest grad mit Mordrag gesprochen. Wo ist er?“
„Im Küchenhaus. Wir könnten zu ihm. Thekla kocht nen guten Eintopf.“
„Klar, warum nicht?“
Wolf führte mich über den Hof und vorbei an der Schmiede ins Innere des Gebäudes. Das Küchenhaus bestand aus einem großen, dunklen Raum voller Tische, an denen Bauern wie Söldner saßen. Wir blickten uns kurz um, dann hatten wir Mordrag an einem der Tische ausfindig gemacht und setzten uns zu ihm.
„He, da bist du ja wieder! Und, warst du bei Lee?“
„Ja. Aber heute ist es zu spät. Ich werde morgen aufbrechen, um Velaya zu finden. Für heute bleib ich hier.“
„Dann nimm dir etwas von Theklas Eintopf. Das Zeug ist göttlich – vor Allem, wenn du drei Jahre fast ausschließlich von Reis gelebt hast.“
Ich tunkte meinen Finger in den Eintopf und leckte ihn ab. Es schmeckte tatsächlich vorzüglich. „Was ist genau passiert, als die Barriere fiel?“, fragte ich.
„War ein ziemlich großes Chaos“, erklärte Mordrag. „Blitze, Funken, Durcheinander. Wie auf Kommando haben einige angefangen, zu plündern und übereinander herzufallen. Ein paar sind sofort losgerannt, andere haben gewartet. Als die Nacht vorbei war, sprach Lee zu uns. Er meinte, wir müssten zusammenhalten, nur so könnten wir überleben. Er brachte Ordnung in das Chaos, beruhigte die Menschen. Alle, die ihm folgen wollten, durften mitkommen. Es war ein geordneter Abzug. Er hat uns über den Pass geführt. Drüben haben sich viele dann abgesetzt und zerstreut, aber viele sind auch zusammengeblieben – Söldner und Banditen. Wir sind bei Lee geblieben. Als er den Vertrag mit Onar schloss, wurden wir die Söldner des Großbauern. Wir haben Lee echt ne Menge zu verdanken. Er ist ein verdammt guter Anführer.“
„Und was macht ihr jetzt hier so alles?“
Nun war es Wolf, der antwortete: „Die meiste Zeit sitzen wir hier rum. Lee war ja schon immer ein eher ruhiger Vertreter, das hat sich seit der Kolonie nicht geändert. In erster Linie hat Onar uns angeheuert, um ihm die dreckigen Milizen und diese Blechdosen vom Hals zu halten, aber die trauen sich gar nicht erst her. Deshalb hängen wir hier ab und kümmern uns im Wesentlichen um die Feldräuber oder die Wölfe und Banditen. Ab und an treiben wir die Pacht von Sekob ein. Der alte Mistkerl zahlt nämlich nie pünktlich – ganz miese Sau, sag ich dir; wird von seinen eigenen Knechten nur noch „Menschenschinder“ genannt. Und dann müssen wir vielleicht mal ein paar Milizen auf Bengars Hof verprügeln. Das Weidenplateau ist weit genug weg, dass die sich da ab und zu hintrauen. Aber ist ganz gut so. So haben wir wenig zu tun und können die meiste Zeit machen, was wir wollen. Und dann hat’s ja noch andere Vorteile, Söldner auf Onars Hof zu sein.“
„Und die wären?“
„Na Kost und Logis. Und das ist schon mal einiges. Ich meine, dieser Hof ist nicht die Oberstadt, aber nach so langer Zeit in der Barriere… Zumindest gibt’s hier was ordentliches zu essen und akzeptable Schlafplätze.“
„Und nicht zu vergessen, Weiber“, sagte Mordrag grinsend. „Ich mein, in der Stadt gibt’s sicher was besseres als die Mägde hier, aber nach so langer Zeit ist man nicht wählerisch.“
„Das führte allerdings zu ner Menge Ärger“, erklärte Wolf. „Nach so ein paar Jahren im Knast staut sich einiges an. Wenn Lee nicht eingegriffen und die Jungs so gut im Griff hätte… Onar ist auch nicht so begeistert davon, wenn wir anstatt den Hof zu bewachen, die Mägde von der Arbeit abhalten, vor allem, wenn es Folgen hat.“
„Und Lares schien wirklich vorzuhaben, den halben Hof zu schwängern“, meinte Mordrag lachend. „Aber der ist ohnehin ein alter Weiberheld.“
„Na, solange wir es nicht zu wild treiben und uns von seiner Tochter fernhalten, drückt Onar noch ein Auge zu“, meinte Wolf. „Wir dürfen uns halt nur an niemandem vergreifen. Aber das gilt nicht nur für die Mägde, sondern auch für die Knechte und das Vieh.“
„Wer ist so alles von der alten Truppe dabei?“
Wolf lachte. „Mann, bis ich dir das erzählt habe, hat der König den Krieg gegen die Orks gewonnen. Ne Menge der alten Söldner und auch einige der Banditen halt. Musst dich ja nur mal umsehen, wer dir so bekannt vorkommt. Schau, da ist zum Beispiel Roscoe von der Bande oder dahinten Olaf und Orik. Gibt natürlich auch einige neue Gesichter: Rod zum Beispiel. Kam mit Sylvio. Ihm ist aber ziemlich egal, wer nun der Anführer ist. Oder Biff dahinten. Söldner durch und durch. Hat wohl schon für jeden auf den Khorinseln gearbeitet. Und die halbe Portion dahinten, die sich einen Sumpfkrautsengel nach dem andren reinzieht, ist Dar. Ich frag mich bis heute, warum wir den eigentlich aufgenommen haben. Der Kerl ist praktisch dauerbekifft.“
„Wieso, macht er sonst nichts, außer zu rauchen?“
„Doch“, sagte Mordrag lachend. „Manchmal lässt er sich auch von rachsüchtigen Sumpfkrautjunkies verprügeln.“
„Was soll das heißen?“
„Du erinnerst dich doch noch an Cipher oder?“
„Klar, der Krautdealer aus dem Neuen Lager. Ist er auch hier?“
„Nicht nur er, auch sein Kraut. Aber Dar war blöd genug, es ihm zu stehlen und es in der Stadt zu verticken. Ist ihm nicht gut bekommen.“
„Und die beiden Kerle dahinten sind Sylvio und Bullco“, erklärte Wolf abfällig und deutete auf zwei Gestalten, die allein in einer dunklen Ecke saßen. „Verdammt, ich hab noch nie einen solchen begriffsstutzigen Vollidioten wie diesen Bullco gesehen. Wundert mich, dass sowas überhaupt auf zwei Beinen laufen kann. Aber Muskeln hat der Kerl – würd’ mich nicht mit ihm anlegen wollen. Rennt Sylvio ständig hinterher, der Typ. Der ist nicht mehr als sein Schoßhündchen. Sylvio lässt sich nie ohne Bullco blicken. Ist auch viel zu feige, die Mistsau. Ohne ihn würde diese miese Ratte sich doch nicht mal trauen, den Mund aufzumachen.“
„Wisst ihr was? Ich hab jetzt schon so viel von Sylvio gehört, ich glaub, ich schau mir den mal aus der Nähe an.“
„Lass den Quatsch“, meinte Wolf und packte mich am Arm. „Sylvio ist leicht reizbar. An die Söldner traut er sich nicht ran und an den Bauern dürfen wir uns nicht vergreifen, aber du gehörst nicht zum Hof. Der hetzt dir doch sofort Bullco auf den Hals.“
„Und der macht Fleischwanzenfutter aus dir“, meinte Mordrag.
„Ich hatte schon mit ganz anderen Gegnern zu tun“, erwiderte ich und erhob mich von meinem Platz.
Bullco war groß und bullig, sein Haar bis auf wenige Millimeter gestutzt und sein rundes Gesicht von einem stumpfen, begriffsstutzigen Ausdruck geziert. Sylvio dagegen war wesentlich kleiner, etwas schmächtig, hatte blondes Haar und ein schmales, hinterhältiges Gesicht mit einer langen, unschönen Narbe etwas über seinem linken Auge und einem schmalen Bart, der an seiner Unterlippe begann und bis zu seinem Kinn reichte.
Als ich an ihren Tisch herantrat, blickten beide auf. Sylvio fixierte mich mit kalten blauen Augen und zischte, „was willst du?“ Etwas Gefährliches, Kaltes lag in seiner Stimme.
Ich blickte von Bullco zu Sylvio. „Da er die Muskeln hat, musst du wohl der mit dem Hirn sein“, sagte ich.
Sylvios Augen verengten sich. „Das war ein Witz – ich mag keine Witze.“
„Schon gut, ich wollte auch nur ein wenig mit dir plaudern. Ziemlich viele Leute reden über dich, musst du wissen.“
„Ziemlich viele Leute reden zuviel.“
„Ich wollte nur fragen, was du denn so von Lee hältst.“
„Oh“, Sylvio lächelte zynisch, „er ist ein guter Kämpfer. Ich würde mich nicht mit ihm anlegen wollen.“ Seine Stimme und sein Gesichtsausdruck verhärteten sich. „Es sei denn, es ließe sich nicht vermeiden.“
„Verstehe. Und…“
Bullco packte mich am Unterarm. „Hast du noch nicht kapiert, dass Sylvio es nicht mag, angesprochen zu werden?“ Er ballte die andere Hand zur Faust. Mein Arm schnellte nach vorn, riss sich aus Bullcos Umklammerung und traf mit der Faust mitten ins Gesicht des bulligen Söldners. Dieser heulte auf und hielt sich die Nase, aus der Blut strömte. Ich dagegen wich augenblicklich zurück und damit aus Bullcos Reichweite. Er und Sylvio sollten sehen, dass sie es nicht mit einem Bauern zu tun hatten. Im Küchenhaus wurde es still.
Sylvio schien einen winzigen Moment geschockt, fasste sich jedoch sofort wieder. Sein Gesicht nahm augenblicklich wieder den kalten, harten Ausdruck an. „Das hast du davon, Bullco“, sagte er, sodass es die Anwesenden gut hören konnten. „Du wolltest ihn angreifen und das ohne meinen Befehl. Schlägereien und dann auch noch im Küchenhaus. Ich hätte dir gesagt, dass der gute Lee so ein Verhalten gar nicht schätzt. Und wir wollen uns doch nicht dem Hauptmann widersetzen, nicht wahr?“ Die meisten wandten sich nun wieder ihren Angelegenheiten zu. Es wurde wieder lauter im Küchenhaus. Sylvio wandte sich nun wieder mir zu. Leise, kaum hörbar zischte er: „Du bist einer von Lees Schützlingen, nicht wahr? Ich warne dich, hier wird sich bald einiges ändern.“
„Fragt sich nur, für wen“, erwiderte ich kühl und kehrte dann zu Wolf und Mordrag zurück.
Die beiden beglückwünschten mich unter einigem Schulterklopfen und die Köchin Thekla brachte mir eine besonders große Portion Eintopf mit den Worten: „war bestimmt anstrengend, das fette Schwein zu verprügeln. Aber verdient hat ers. Keine ruhige Minute hat man mit diesen zwei Idioten. Ständig machen sie einem das Leben schwer „Die Suppe ist zu heiß, das Fleisch ist zu zäh!“. Und was soll eine arme alte Frau da machen? Mit dem Nudelholz draufhauen? Das hilft vielleicht bei den Bauern, aber diese miesen Kerle schlagen zurück!“
Geändert von Jünger des Xardas (09.02.2011 um 18:46 Uhr)
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Die Katze von Vengard
Ich hatte den Rest des Tages auf dem Hof verbracht. Mit Lees Erlaubnis hatte ich mir bei Khaled ein neues Schwert gekauft. Im Gegensatz zur Stadt, gab es hier, auf Onars Hof, reichlich Schwerter und zwar nicht nur kurze. Bennet war, wie sich herausstellte, ein hervorragender Schmied. Die Waffe, die ich nun trug, war von ihm angefertigt worden. Es war ein einfaches, aber sehr gutes Schwert.
Am Abend machte ich mich auf den Weg in Richtung See. Ich übernachtete in der kleinen Blockhütte bei Busters Vorposten. Der Weg über die Felder war lang und ich wollte am Morgen gleich am See sein, um Velaya nicht zu verpassen. Schließlich wusste ich nicht, wann genau sie kommen würde.
Früh am Morgen, die Sonne war gerade erst aufgegangen, stand ich auf. Ich schlenderte am Ufer entlang, entfernte mich dabei weiter von der Hütte. Als diese schließlich nur noch ein weit entfernter Punkt am Ufer war, ließ ich mich nieder.
Mein Blick schweifte über den See. Es war ein herrlicher Anblick: Die Sonne tauchte das Wasser in ein sanftes Rosa und die Seerosen auf der Oberfläche reckten ihr ihre prächtigen Blüten entgegen.
Ich nahm einen Stein und warf ihn in Richtung der kleinen Insel, die, umgeben von Schilf, in der Mitte des Sees aus dem Wasser ragte. Dreimal sprang er über die Oberfläche und schlug dabei sanfte Wellen auf der ansonsten spiegelglatten Fläche, dann tauchte er hinab, versank in den Tiefen.
Ich rutschte leicht herum, sodass ich die Straße im Blick behalten konnte. Ich spürte, wie mein Herz pochte und von innen gegen meine Brust schlug.
War ich so aufgeregt?
Ich war es wohl. Ja, ich war aufgeregt, so aufgeregt, dass ich kaum stillhalten konnte. Am liebsten wäre ich aufgesprungen, gerannt. Ich konnte es nicht mehr erwarten.
Es war unerträglich. Sekunden kamen mir vor wie Jahre. Wo blieb sie? Würde sie kommen? Oder hatte ich sie gar verpasst?
Doch dann, plötzlich, erblickte ich eine Gestalt auf der Straße. Sofort sprang ich auf. Gespannt beobachtete ich die Gestalt, die sich langsam näherte und dabei dem Weg in Richtung Taverne folgte. Noch war sie nur ein kleiner schwarzer Punkt und wenngleich jede Faser meines Körpers angespannt war, wenngleich ich nichts lieber getan hätte als auf der Stelle loszurennen – ich wagte es nicht. Zu groß wäre die Enttäuschung gewesen, hätte es sich nicht um Velaya gehandelt. Ich musste warten, musste mich vergewissern.
Unerträglich langsam kam die Gestalt näher, bemerkte mich dank des Schilfes nicht, welches mich vor den Blicken derer, die über die Straße kamen, verbergen musste.
Dann jedoch war die Gestalt nah genug, dass ich sie erkennen konnte und mein Herz schien einen Hüpfer zu machen.
Sie war es!
Die leichte Rüstung aus schwarzem Leder schmiegte sich eng an ihren zierlichen Körper. Die zahlreichen Messer an ihrem Gürtel leuchteten rötlich in der aufgehenden Sonne. Das herrliche tiefschwarze Haar fiel sanft um ihren Nacken auf die Schultern herab.
Ich schnappte nach Luft. Sie bot ein so wundervolles Bild.
„VELAYA!“
Die Gestalt fuhr herum. Wenngleich ihr Gesicht aus dieser Entfernung nur ein weißer Punkt inmitten des schwarzen Haares war, glaubte ich, ihre ebenmäßigen Züge zu erkennen.
Ja, nun gab es keinen Zweifel mehr, ich hatte sie gefunden, sie war es, meine Velaya.
Völlig ruhig stand sie da, wie in Stein gehauen, den Blick starr auf mich gerichtet.
Stunden schienen zu vergehen, bevor sie endlich meinen Namen ausstieß und auf mich zurannte.
Nun setzte auch ich mich in Bewegung, rannte ihr entgegen.
Auf der Wiese am Ufer des Sees trafen wir uns, fielen uns in die Arme.
Sofort drückte ich sie an mich als wolle ich sie nie wieder loslassen. Und das wollte ich in diesem Moment auch nicht. In diesem Moment war ich einfach nur überglücklich und vergaß alles andere. In diesem Moment gab es keine Armee der Finsternis und keine Drachen, keine Vermissten, keinen Gorn, der von den Paladinen ins Minental verschleppt worden war – es gab nur sie. Wellen des Glücks durchströmten meinen Körper. Seit dem Fall der Barriere hatte ich mich nicht mehr so befreit, so sorglos gefühlt.
Velaya schien es ganz ähnlich zu gehen. Eine Weile schmiegte sie sich eng an mich, klammerte sich an meinem Körper fest.
Dann hob sie den Kopf. Einen Moment blickte ich in ihre goldbraunen Augen, die in diesem Moment heller zu strahlen schienen als die Sonne selbst. Dann senkte Velaya die Lider und öffnete ihren Mund einen winzigen Spalt breit.
Lächelnd beugte ich mich zu ihr herab, legte meinen Mund auf ihren und meine Hände in ihren Nacken.
Sofort schien ich in einem wahren Feuerregen aufzugehen. Warme Schauer liefen prickelnd meinen Rücken hinab.
Eine lange Zeit – viele, viele sonnige Tage wie mir schien – standen wir so da, eng umschlungen und uns küssend. Ich genoss den Geschmack ihrer zarten, warmen Lippen, das Gefühl ihrer weichen, geschmeidigen Haut und die Berührung ihres schlanken Körpers.
Nach, wie es schien, unendlich langer und doch viel zu kurzer Zeit lösten sich unsere Lippen wieder. Velaya öffnete ihre Lider und blickte mich eine Weile stumm an. Der Blick ihrer dunklen, braunen Augen mit dem goldenen, an einen Bernstein erinnernden Schimmer darin nahm mich völlig gefangen.
„Wo warst du?“, fragte sie leise, fast flüsternd.
„Das ist eine lange Geschichte.“ Ich hatte Mühe, ihr weiterhin in die Augen zu schauen. Ich fühlte mich schuldig. Sicher hatte sie sich Sorgen gemacht, mich für tot gehalten. „Es tut mir leid. Wenn ich früher…“
Velaya unterbrach mich durch einen kurzen, sanften Kuss. Dann lächelte sie. „Ich weiß. Mach dir nicht immer so viele Vorwürfe. Erzähl mir lieber, was geschehen ist.“ Ich musste grinsen. Sie war noch immer ganz die Alte. Und noch immer gelang es ihr, mich aufzumuntern und mir Kraft zu geben.
Ich nahm sie bei der Hand und führte sie ans Ufer des Sees. Dort ließen wir uns nieder, blickten Arm in Arm auf die noch immer in sanftes Rosa getauchte Oberfläche.
Einen Moment schwieg ich, dann stieß ich einen Seufzer aus. „Ich hab ne Menge mitgemacht“, begann ich.
„So siehst du auch aus“, stellte sie, mich musternd, fest.
Ich fuhr mir über das Gesicht. „Seh’ ich immer noch so schlimm aus?“
„Hast jedenfalls schon mal besser ausgesehen.“
Ich schmunzelte. „Na wenigstens siehst du noch genauso hinreißend aus wie immer.“
„Schmeichler.“ Velaya gab mir einen Kuss. „Aber jetzt erzähl mal, was hast du mit dir angestellt? Du siehst nämlich aus als hättest du Tonnen von Steinen auf den Kopf bekommen.“
„Das kommt der Wahrheit sogar relativ nahe.“
Ich begann, Velaya zu erzählen, was geschehen war, nachdem ich sie aus dem Tempel teleportiert hatte. Sie hörte aufmerksam zu und stellte dann und wann eine Frage. Dass es im Minental Drachen geben sollte, konnte jedoch auch sie kaum glauben. „Ich meine, Drachen!“
„Es ist wahr, glaub mir.“
„Ich glaube dir – oder Xardas. Die Geschichte mit dem Schläfer klang auch sehr weithergeholt und war am Ende wahr. Ich bin mir sicher, dass Xardas sich auch dieses Mal nicht irrt, trotzdem fällt es mir schwer, zu glauben, dass Dra…“ Velaya brach ab.
„Stimmt was nicht?“, fragte ich stirnrunzelnd.
„Ich dachte nur gerade… Erinnerst du dich noch an die Reliefs im Schläfertempel?“
„Ja, was ist mit ihnen?“
„Nun, auf einem war doch ein Drache oder ein Drachenskelett – in jedem Fall Drache, ob Skelett oder nicht.“
„Du meinst wirklich, dass diese Bilder vorhersagen, was uns noch alles bevorsteht?“
„Na ja, die ersten Bilder mit der Barriere und dem Schläfer und den Schwertern haben sich doch auch bewahrheitet, nicht?“
Ich nickte nachdenklich. „Ja, doch, schon. Aber irgendwie unheimlich, nicht?“
„Dass Orks vor Tausenden von Jahren gesehen haben, was wir mal alles durchmachen?“
„Ja.“
„Hm.“ Velaya zuckte mit den Schultern. „Ehrlich gesagt, machen mir die Drachen im Augenblick mehr Sorgen – und dieses Beliarartefakt.“
„Ja, hast Recht. Aber jetzt erzähl du mal. Was ist passiert, nachdem ihr aus dem Tempel raus wart?“
„Lange Geschichte. Wir sind erst mal im Neuen Lager aufgetaucht. Die Wassermagier waren noch immer ziemlich wütend. Aber nach wenigen Minuten gab es plötzlich einen Riesenlärm und vor der Höhle schlugen Blitze aus der Barriere in den Boden ein. Im selben Moment sind die anderen wieder aufgewacht. Im Lager war dann ein Riesenchaos. Lee hat versucht, für Ruhe zu sorgen. Einige sind sofort geflohen – oder nachdem sie sich mit so viel Zeugs vollgepackt hatten wie sie nur tragen konnten. Viele haben aber auf Lees Rat hin gewartet. Am nächsten Morgen sind wir dann losgezogen. Lee hat uns geführt. Diego ist zurückgeblieben. Er meinte, er hätte noch was zu erledigen. Na ja, wir anderen sind jedenfalls über den Pass.“
„Gab es irgendwelche seltsamen Vorkommnisse?“
„Oh ja, allerdings. Die Tiere, vor allem die Schattenläufer und alle möglichen Echsen, schienen völlig durchgedreht. Dann streiften da größere Banden von Ogern und Goblins umher und am Pass waren so komische Kerle.“
„Was für Kerle?“
„Niemand aus der Kolonie, soweit ich das beurteilen kann, auch wenn wir am Pass einige Flüchtlinge aus dem Alten Lager getroffen hatten. Aber diese Kerle… Unheimliche Gestalten in schwarzen Umhängen. Aber sie haben sich von uns ferngehalten. Wir konnten sie nur aus der Ferne sehen. Na ja, einige aus unserer Gruppe legten sich jedenfalls mit den Flüchtlingen aus dem Alten Lager an, aber Lee bekam das ganz gut in den Griff. Der Mann taugt wirklich was als Anführer. Nun, wir – also Milten, Gorn und ich – haben einen der Flüchtenden ausgefragt. Er meinte, Raven hätte einen Großteil des Lagers noch vor Sonnenaufgang über den Pass geführt.“
„Raven? Was ist mit Gomez?“
Velaya zuckte mit den Schultern. „Über den wusste er nichts. Er hatte nur Gerüchte gehört, dass er tot sei. Jedenfalls muss sich die Gruppe um Raven hinter dem Pass zerstreut haben. Genau wissen wir es natürlich nicht, aber die meisten Banditen stammen aus dem Alten Lager. Eine größere Gruppe würde sicher auffallen. Wir sind jedenfalls weiter. Ein paar wenige Flüchtlinge aus dem Alten Lager haben sich unserer Gruppe angeschlossen. Lee hat dafür gesorgt, dass ihnen keiner was tut. Am Austauschplatz lagen dann einige tote Gardisten rum. Während wir im Schläfertempel waren, hatte es dort ein Scharmützel zwischen dem Alten und dem Neuen Lager gegeben. Die Überlebenden sind scheinbar direkt über den Pass geflohen. Na ja, unter den Toten war dann auch Arto. Er hatte die Gardisten am Austauschplatz angeführt. Gomez wollte den scheinbar um keinen Preis verlieren. Der schwerste Teil war damit jedenfalls geschafft. Der Weg über den Pass verlief ohne irgendwelche größeren Vorfälle. Am Weidenplateau haben wir uns dann getrennt. Viele sind direkt in die Wälder und Berge geflohen. Ein größerer Teil wollte bei Lee bleiben. Gorn war auch darunter. Ein paar haben auch versucht, sich zur Stadt durchzuschlagen. Keine Ahnung, was aus denen geworden ist.“
„Was war mit dir?“
„Ich wollte auch in die Stadt, aber ich hatte es nicht ganz so eilig. Wir haben erst mal in der Nähe vom Pass übernachtet, da es schon ziemlich spät war. Am nächsten Tag sind wir dann in Richtung Stadt aufgebrochen.“
„Wer sind wir?“
„Ich, die Wassermagier, Milten und Cavalorn. Er wollte nicht bei Lee bleiben, hatte es aber nicht ganz so eilig mit der Stadt, wie die Idioten, die noch am Vorabend losgerannt sind. Außerdem hatten die Wassermagier ihm ein Angebot gemacht. Nun, Milten hat sich an der Taverne abgesetzt und ist ins Kloster gezogen. Wir anderen haben uns dann erst in der Stadt getrennt.“
„Was ist mit dem Treffen? Ich war bei Coragon und er meinte, nur du wärst da gewesen.“
„Ja, stimmt auch.“ Velaya grinste schief. „Da ist man mal mit fünf Kerlen zugleich verabredet und wird dann von allen fünf sitzen gelassen.“
„Hast du eine Ahnung, warum die anderen nicht gekommen sind? Über Lester und mich weißt du ja jetzt Bescheid.“
„Nun, erst mal war ich ziemlich ratlos und hab mir Sorgen gemacht. Gerade um dich, Diego und Lester, weil ihr nicht mit uns geflohen seid und ich euch seit dem Kampf im Tempel nicht mehr gesehen hatte. Ich hab dann erfahren, dass Diego etwas später auch noch aus dem Tal geflohen und in die Stadt gekommen war. Dort haben sie ihn dann allerdings recht schnell in den Kerker gesperrt. Als die Paladine mit ihrer großen Expedition ins Minental gezogen sind, haben sie alle Sträflinge aus dem Stadtkerker mitgenommen – auch ihn. Und Gorn haben sie nahe Onars Hof aufgegriffen und ebenfalls ins Tal mitgenommen.“
„Ja, das hab ich auf dem Hof auch erfahren. Verdammt, das ist nicht gut. Wo im Tal doch die Drachen sitzen.“
Velaya nickte betrübt. „Aber die beiden werden sich schon irgendwie durchschlagen. Die kriegt man nicht so leicht klein.“
„Ich hoffe, du hast Recht.“
„Ich auch.“
„Was ist mit Milten? Weißt du, warum er nicht kam?“
„Nein, aber ich hab ihn, wie gesagt, bis zur Taverne begleitet und von da ist er direkt ins Kloster. Seitdem hab ich nichts mehr von ihm gehört. Wer weiß, vielleicht lassen sie ihn da nur nicht mehr raus. Die haben da ja ziemlich strenge Vorschriften. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass die alten Knacker da ihn besser behandeln als die im Minental.“
Geändert von Jünger des Xardas (31.03.2012 um 13:37 Uhr)
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Zurück in die Stadt
Eine Weile saßen wir schweigend da und ließen unsere Blicke über den See schweifen.
Irgendwann wandte ich den Kopf. Velaya tat es mir gleich, blickte mich lächelnd an. Sanft nahm ich ihr Gesicht zwischen meine Hände, zog es zu mir heran und gab ihr einen zärtlichen Kuss.
„Ich habe dich vermisst“, flüsterte ich.
Sie lächelte. „Ich dich auch.“ Dann küsste sie mich abermals. Ich legte eine Hand an ihren Hinterkopf, ließ sie durch das herrliche schwarze Haar gleiten.
„Na sieh mal einer an! Wen haben wir denn da?“
Velaya und ich schraken auseinander. Sofort blickte ich auf und erkannte Sylvio und Bullco, sowie zwei andere Söldner mit großen Säcken über den Schultern, die sich grinsend vor uns aufgebaut hatten.
Sylvio grinste hämisch. „Da haben sich ja die zwei richtigen gefunden. Der Witzbold und die Schlampe.“
Blitzschnell sprang ich auf und zog mein Schwert. „Wie hast du sie gerade genannt?“, zischte ich.
„Lass ihn“, sagte Velaya, die sich ebenfalls erhoben hatte, und legte ihre Hand auf meinen Arm.
„Ja, genau!“, höhnte Sylvio. „Hör auf deine kleine Schlampe.“
„Nimm es zurück“, sagte ich ruhig.
„Lass ihn“, bat Velaya mich ein weiteres Mal. „Er ist es nicht wert.“ Ich zögerte kurz, dann schob ich langsam mein Schwert zurück in seine Scheide.
„Schlaues Kerlchen“, lachte Sylvio. „Glaub mir, ist besser so, du willst dich doch nicht mit uns vieren anlegen.“
Velaya zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Du zählst dich mit?“
Der höhnische Ausdruck in Sylvios Gesicht wich einem wütenden. „Du kleines Drecksstück bist mir ein wenig zu respektlos für eine Frau. Du solltest aufpassen. Wir sind hier nicht auf dem Hof und außer diesem Witzbold ist niemand hier, um dich zu beschützen. Wär’ vielleicht gar nicht so verkehrt, dir mal zu zeigen, wo dein Platz ist.“
„Und wo wäre der?“, fragte sie ruhig.
„Eine Frau sollte sich nicht anziehen wie ein Mann, Waffen mit sich rumtragen und sich aufspielen. Die Aufgabe einer Frau ist es, unter dem Mann zu liegen und zu stöhnen.“ Sylvio beugte sich leicht vor, näherte sein Gesicht dem ihren. „Das ist auch genau das, was du brauchst: Ein Kerl, der dich mal richtig durchnimmt.“
„Versuche es nicht“, sagte Velaya kalt und legte unauffällig die Hand auf meinen Arm, der schon wieder in Richtung meines Gürtels gezuckt war. „Ist ein gutgemeinter Rat.“
„Pah!“ Sylvio spuckte ihr vor die Füße. „So was wie dich fick ich einmal durch und lasse’s dann liegen.“ Meine Hand schloss sich um den Schwertgriff.
„Sei vorsichtig. Wer sein Ding allzu oft aus der Hose holt, läuft Gefahr, es zu verlieren.“
„Willst du mir drohen?“
Velaya lächelte verschmitzt. „Ich will dich nur warnen.“
Sylvio starrte ihr wütend ins Gesicht. Einen Moment glaubte ich, er würde gleich angreifen und so wurde mein Griff um den Schwertgriff fester, wenngleich Velaya noch immer mein Handgelenk umklammerte.
Dann jedoch spuckte ihr Sylvio nur ein weiteres Mal vor die Füße. „Ihr beide solltet verdammt gut aufpassen. Ihr bekommt noch, was euch zusteht.“ Damit wandte er sich ab. „Kommt, Jungs. Wir gehen zum Hof zurück, sonst schöpft Lee noch Verdacht.“
Grimmig sahen wir den vier Söldnern nach. Meine Hand ruhte noch immer auf meinem Schwertgriff, ihre auf meinem Handgelenk. Ich bemerkte es gar nicht. Erst als sie ihre Hand von meinem Arm nahm, fragte ich, „warum hast du mich zurückgehalten?“
Velaya wandte mir den Kopf zu, blickte mir in die Augen. „Weil ich mich damals in dich und nicht in Bloodwyn verliebt habe.“
„Ich wollte dich nur beschützen.“
„Ich weiß und das finde ich auch süß von dir – obwohl dir klar sein sollte, dass ich auch ganz gut auf mich selbst aufpassen kann – aber ich halte nichts von unnötiger Gewalt und ich habe mich damals unter anderem in dich verliebt, weil es dir genauso ging. Ich brauche keinen blöden Schläger, der sich von jedem Idioten provozieren lässt. Die Kerle sind es nicht wert. Und nebenbei: Man hat mich schon weit schlimmer beschimpft, damit kann ich umgehen – du scheinbar nicht.“
Ich senkte den Kopf. Sie hatte Recht. Was gab ich auch auf die Worte Sylvios? Ich durfte mich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lassen, nicht einmal wenn es um sie ging. So war ich nicht besser als Sylvio und seine Schläger; ein Idiot, der auf jede Provokation ansprang.
„He.“ Velaya legte mir die Hand unter das Kinn und hob es leicht an. Sie lächelte mir ins Gesicht. Dann gab sie mir einen sanften Kuss. „Ich mag dich trotzdem.“
Nun musste auch ich lächeln. Ich schloss sie in die Arme und zog sie an mich heran. „Ich mag dich auch. Ich mag dich auch.
Was meinst du, haben sie hier draußen gemacht?“, fragte ich, nachdem ich sie losgelassen hatte und wandte mich in die Richtung, in die die vier Söldner gegangen waren.
„Na hast du nicht die Säcke gesehen, die sie bei sich hatten?“
„Doch, schon, aber weißt du etwa, was da drin ist?“
„Zumindest nichts, was da drin sein sollte. Vielleicht waren Alvares und Engardo, die beiden anderen Kerle ja drüben bei Akils Hof und haben die Pacht eingetrieben.“
„Aber Akils Hof liegt nicht auf Onars Land. Akil muss dem Großbauern keine Pacht zahlen, oder?“
„Eben. Könnte mir allerdings auch gut vorstellen, dass das einfach der Kram irgendwelcher Reisender ist.“
„Du meinst, Sylvios Jungs überfallen Reisende?“
„Sie nicht, aber die Banditen, mit denen sie Handel treiben. Aber hast du mal Bullcos Nase gesehen?“
„Allerdings. Das war ich.“
Velaya nickte anerkennend. „Alle Achtung.“
„He.“ Ich lachte. „Er hat angefangen.“
Auch Velaya musste nun lachen. „Schon gut, ganz ohne etwas Gewalt geht’s bei solchen Kerlen auch nicht. Jetzt weiß ich wenigstens, was Sylvio für ein Problem mit dir hat.“
„Dich scheint er auch nicht gerade zu mögen.“
„Du würdest mich auch nicht mögen, wenn ich dich dahin getreten hätte, wohin ich ihn getreten habe.“
„Du hast…“
„He, er hatte ganz eindeutig zu viel Druck in der Hose. Und aus seinem Verhalten schloss ich, dass er meine Hilfe beim Abbau dieses Drucks wollte…“
„Ich schätze, er hatte eine andere Art von Hilfe im Sinn.“
Velaya schaute unschuldig. „Ach wirklich?“
Wir schauten uns an, dann prusteten wir los.
„So und was jetzt?“, fragte ich, nachdem wir uns wieder etwas beruhigt hatten.
„Also ich wollte eigentlich in die Stadt zurück, bevor ich dich getroffen habe. Noch eine Weile hier am See zu sitzen, wäre zwar auch recht verlockend gewesen, aber irgendwie hab ich jetzt keine Lust mehr. Ist nicht mehr dasselbe, nachdem Sylvio uns so charmant unterbrochen hat.“
Ich nickte zustimmend. „Ja, du hast Recht. Ich wollte auch direkt in die Stadt zurück, sobald ich dich gefunden habe. Brauche da noch bei was deine Hilfe.“
„Na dann lass uns gehen“, sagte Velaya und legte ihre Hand in meine.
Bald schon hatten wir die Taverne erreicht und beschlossen, eine kleine Rast einzulegen.
Orlan begrüßte uns lächelnd. „Wie ich sehe, hast du Velaya gefunden.“
Nach einem kurzen Blick in den Raum stellte ich fest, dass der Kerl mit der Augenklappe entweder auf seinem Zimmer war oder die Taverne verlassen hatte.
„Du meintest, du bräuchtest meine Hilfe“, sagte Velaya als wir – jeder mit einem Humpen Bier – an einem der Tische saßen.
„Ich hab dir ja erzählt, dass Xardas meinte, um das Beliarartefakt zu finden, müsste ich mich mit den Wassermagiern verbünden.“ Velaya nickte. „Da wollte ich mich dem Ring anschließen.“
„Klar, das ist der einfachste Weg.“
„Gar nicht überrascht, dass ich vom Ring weiß?“
„Nö, wieso? Du trägst doch Lares’ Ring.“
Ich nickte anerkennend. Es war nicht das erste Mal, dass ich ihre gute Beobachtungsgabe bewunderte. „Na jedenfalls will Vatras, dass ich herausfinde, wo die Vermissten sind und wer dahintersteckt. Ich hab auch einiges rausgefunden.“
Rasch erzählte ich von meinen Nachforschungen und meiner Begegnung mit Skip.
„Und jetzt muss ich irgendwie zu Dexter, ohne, dass er und seine Leute mich zu Fleischwanzenragout verarbeiten“, schloss ich meine knappe Erzählung.
„Und was soll ich da machen?“
„Skip meinte, die einzigen, die mir weiterhelfen können, sind die Diebe von Khorinis. Ich muss irgendwie mit der Diebesgilde in Kontakt treten und Lares hat mich zu dir geschickt.“
„Zu mir?! Hat dem Kerl ein Troll eins übergezogen?“
„Wieso, wo ist das Problem?“
„Lares sollte eigentlich um mein Verhältnis zu dieser Diebesgilde oder zumindest einem ihrer Mitglieder wissen.“
„Was für ein Verhältnis?“
„Nichts großes, nur dass jemand eine große Abneigung gegen mich hat, weshalb ich dieser Person lieber aus dem Weg gehe.“ Velaya erhob sich. „Komm. Wenn wir es heute noch in die Stadt schaffen wollen, sollten wir weiter.“
Auch ich erhob mich von meinem Platz und folgte ihr nach draußen. „Warte“, sagte ich. Velaya, die bereits den Weg Richtung Stadt eingeschlagen hatte, wandte sich um. „Ich kenne einen schnelleren Weg.“ Sie zog die Brauen hoch. Ich bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, mir zu folgen und führte sie in Richtung des kleinen Gehölzes. „Heißt das, du wirst mir nicht helfen?“
„Doch, natürlich werde ich das. Aber mir wäre lieber, es bliebe mir erspart.“
„Ich danke dir“, sagte ich, drückte ihre Hand und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Velaya lächelte matt.
„Wie ist eigentlich deine Suche nach dem Waffenhändler ausgegangen?“, fragte ich, während ich sie durch das Gehölz führte.
„Gut, wenn man davon absieht, dass ich die Kerle erst über die halbe Insel verfolgen durfte. Aber ich weiß jetzt, wer der Waffenhändler ist.“ Mit einem skeptischen Blick auf die umliegenden Bäume fügte sie hinzu, „sicher, dass dieser Weg in die Stadt führt?“
„Ganz sicher“, sagte ich grinsend. „Vertrau mir. Aber jetzt erzähl, wer ist es?“
„So ein reicher Überseehändler aus der Oberstadt. Fernando heißt er.“
„Fernando… Fernando… Den hat Lares erwähnt. Das ist doch der Kerl, dem die Erzschiffe gehörten oder?“
„Ja, genau der. Und auch wenn der Schiffsverkehr abgebrochen ist, kann mir niemand erzählen, dass er in so kurzer Zeit so viel Geld verloren hat, dass er darauf angewiesen ist, den Banditen Waffen zu verkaufen. Wenn du mich fragst, ist der Typ einfach ein goldgieriger Bastard.“
„Gaan und Cord meinten, die Banditen hätten einen Gefangenen dabei gehabt.“
„Ja, irgend so ein Grünschnabel – vermutlich aus der Stadt. Deswegen hat’s etwas länger gedauert. Ich wollte ihn eigentlich befreien, aber es ergab sich keine Möglichkeit. Die Banditen haben sich in einer verlassenen Festung nahe Onars Hof eingenistet. Das sind zu viele für mich allein und gute Fluchtwege, auf denen man den Kerl unbemerkt wegführen könnte, gibt’s da nicht. Ich werde noch ein paar Helfer vom Ring organisieren müssen, bevor wir ihn retten können.“
Ich hatte Velaya zu der kleinen Höhle geführt und schloss nun die Tür mit Orlans Schlüssel auf. „Ach das ist eine dieser Teleportplattformen, nicht?“, fragte Velaya interessiert, als sie eingetreten war, während ich damit beschäftigt war, die Tür wieder zuzuschließen. „Haben die Wassermagier inzwischen rausgefunden, dass die Dinger funktionieren?“
„Ich hab’s für sie getestet.“
„Du hast… Immer noch der Alte, was?“ Velaya lachte. „Oh Mann, du machst Sachen. Na dann.“ Sie trat auf den Teleporter. Ich folgte ihr.
Wenige Sekunden später standen wir in den Ruinen der Erbauer, die gerade von einem weiteren Erdbeben geschüttelt wurden. Ein Wassermagier, der gerade ein Relief untersuchte, blickte auf. Es war Merdarion. „Velaya und… Seid ihr gerade mit einer der Teleportplattformen gereist?“
„Sind wir“, bestätigte ich. „Die Dinger funktionieren einwandfrei.“
„Ein Glück. Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht. Nun, es freut mich, dass du wohlauf bist. Ebenso bin ich dir dankbar. Du hast uns mit deinem Mut einen großen Dienst erwiesen.“
„Ich habe hier auch noch das Ornamentstück vom Steinkreis bei Lobarts Hof, dass ich beschaffen sollte.“
„Und hier ist das aus Onars Tal“, meinte Velaya. Überrascht wandte ich den Blick zu ihr. Sie grinste.
Merdarion nahm die Relikte erfreut entgegen. „Wunderbar! Wunderbar! Das ist einfach großartig! Nun muss Dragomir nur endlich mit dem Ornament aus dem nördlichen Wald zurückkehren, dann sind wir bereit, das Portal zu öffnen!“
Dem Wassermagier war seine Freude deutlich anzusehen. Um einer überschwänglichen Dankesrede zu entgehen, setzten wir unsere Reise in die Stadt jedoch schnell fort, indem wir den Teleporter hier in den Ruinen benutzten.
Geändert von Jünger des Xardas (03.10.2010 um 13:22 Uhr)
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Ein Blick in die Zukunft
Schnellen Schrittes marschierten wir an der mächtigen Kaserne vorbei auf den Galgenplatz zu. Ich hatte Velaya erklärt, dass ich so bald wie möglich mit der Diebesgilde in Kontakt treten wollte und sie hatte sich bereiterklärt, sich sofort darum zu kümmern. Auf dem Galgenplatz blieb sie abrupt stehen und blickte sich um. Sie schien nach etwas Ausschau zu halten. Ich sah nur das übliche Publikum, das sich am Freibierstand tummelte, den Galgen und die kunstvollen Teppiche, die vor einer Hauswand auf der anderen Seite des Platzes ausgelegt waren.
„Wo steckt dieser kleine Tagedieb?“, murmelte Velaya.
„Wen suchst du?“, wollte ich wissen.
„Rengaru. Nichts als ein kleiner Fisch, aber er kann uns weiterhelfen. Ah, da steht er! Hör mal, ich muss das allein regeln. Der Kerl ist so schon nervös genug, wenn jemand dabei ist, den er nicht kennt und der kein Dieb ist…“
„Schon klar. Mach du das, ich halt mich zurück.“ Während Velaya auf Rengaru zuging, blieb ich, wo ich war und blickte mich etwas unschlüssig um. Nach einigen Momenten beschloss ich, mir die Teppiche genauer anzusehen.
Es waren schöne, sehr fein gearbeitete und wie unschwer zu erkennen war, sehr kostbare Teppiche, mit aufwendigen Mustern. Ähnliches hatte ich einmal auf dem Markt von Laran gesehen. Ich wusste, dass diese Teppiche nur von den Südlichen Inseln stammen konnten. Darauf aufgebaut waren mehrere große Wasserpfeifen. Inmitten dessen stand ein dunkelhäutiger Mann mit schwarzem Bart, bunter Kleidung und einem großen, prächtigen Turban.
„Merkwürdig“, begrüßte er mich nachdenklich und mit südländischem Akzent in seiner Stimme, als ich an ihn herantrat. „Es ist mir, als wären wir uns schon einmal begegnet, Reisender… Nun, groß sind die Geheimnisse von Zeit und Raum… Oh, verzeih meine Unhöflichkeit, Sohn der Geduld. Ich habe dich noch gar nicht begrüßt. Nun denn, willkommen, Freund. Nimm Platz auf meinen bescheidenen Teppichen und genieße eine Pfeife.“
„Wer bist du?“, fragte ich.
„Mein bescheidener Name ist Abuyin ibn Djadir ibn Omar Kalid ben Hadji al Sharidi. Ich bin ein Sohn Agadirs, der strahlenden Hauptstadt des ariabischen Hochlands, dem Juwel der Südlichen Inseln. Ich bin Seher und Weissager, Sternendeuter und Tabakanbieter. Meine Pfeifen sind gefüllt mit bestem, würzigem Apfeltabak, einer Sinfonie aus meiner Heimat, den Südlichen Inseln. Gegen den bescheidenen Preis von zehn Kupfermünzen, ist es dir gestattet, auf meinen Teppichen Platz zu nehmen und eine meiner Pfeifen zu genießen.“
„Du bist Weissager?“
„Oh ja, die Götter, in ihrer großen Güte, haben mir die Gabe der Voraussicht geschenkt! Für bescheidene zehn Kupfertaler werde ich für dich einen Blick in die Zeit riskieren, oh Vater der Wissbegierde. Und es scheint mir… Aber natürlich! Nun weiß ich, weshalb du mir so bekannt vorkommst, oh Sohn der Mysterien. Ich sah dich in meinen Träumen. Ich sah, dass du mich mit deinem Besuch beehren würdest.“
„Hm. Ach weißt du, ich denke, zehn Kupferlinge kann ich entbehren.“
„Ich danke dir, oh Vater der Münze“, sagte Abuyin und nahm die Münzen entgegen. „Doch eines noch, bevor ich mich in Trance begebe: Was ich dir erzähle, ist nicht für meine eigenen Ohren bestimmt und ich selbst höre nichts von dem, was ich preisgebe. Und bedenke, dass ich nur in der Lage bin, Bruchstücke zu erfassen. Die Zukunft ist verworren und niemand vermag mit Sicherheit zu sagen, was das Schicksal bringen wird. Doch nun lausche, denn ich werde mich nun in Trance begeben.“
Abuyins Augen wurden glasig, sein Blick verschwommen. Er schien durch mich hindurch in die Ferne zu starren. Als er zu sprechen begann, klang seine Stimme rauchig und wie aus weiter Ferne.
„Was ist das? Eine Stadt… Alte Ruinen… Magier, du kennst sie, doch du hast sie betrogen… Und da sind die, die keine Heimat mehr haben, sie, die fliehen mussten, um zu überleben… Ihr Anführer… eine dunkle Aura umgibt ihn… Und da, ein schwarzes Schwert…“ Abuyin riss die Augen auf. „Ein Fluch…! Lasst das Tor verschlossen, wie es die Altvorderen wünschten… Quarhodron in Jharkendar! Er wird gerufen. Quarhodron in Jharkendar!
Nimm dich in Acht… Schmerz… Es bringt Leid wie einst… Hüte dich vor seinem Gift, sonst verlierst du, was dir teuer… Eine harte Probe… An euch, sie zu bestehen…
Ich sehe… Orks, die eine Burg bewachen! Ein alter Pass… Das Tal der Minen! Eine Burg… Männer… in strahlenden Rüstungen… Ein Magier… Dein Freund ist bei ihnen. Er wartet… auf dich…Was ist das?! Feuer! Ein Angriff! Ein mächtiges Wesen! Die Flammen! Viele… werden sterben.
Die dunklen Schergen… Sie werden kommen… Sie suchen nach dir! Du kommst zu spät… Ein Wächter wird fallen… Eine Jagd… Ein schrecklicher Mord… Ein Söldner… er wird dich brauchen… Ein großes Fest… Was zerbrochen, kann zusammengefügt werden. Doch erst müssen sich die drei vereinigen… ehe du erhältst, was dir zusteht.
Männer, ausgezogen, Ruhm zu ernten… Du wirst erzwingen, was niemandem sonst bestimmt. Die Elemente… Durch Glut und Eis… durch Schnee und Flammen… Felsen… ein Sumpf… Echsen… sie erwarten dich! Doch nicht alles ist, wie es scheint…
Der Ort des Wissens… Ein anderes Land… ein dunkler Ort, weit entfernt… mutige Gefährten, du wirst deine Wahl treffen…“
Abuyins Gesicht nahm wieder seinen normalen Ausdruck an. „Das war alles, mehr kann ich nicht sehen, Fremder.“
„Kannst du mir nicht noch eine Weissagung geben?“, fragte ich fasziniert.
„Oh verzeih, doch im Augenblick ist es mir nicht möglich, einen weiteren Blick in deine Zukunft zu werfen. Erst, wenn sich die Schleier der Zeit ein weiteres Mal lüften.“
„Wann wird das sein?“
„Wenn die Zukunft zur Gegenwart geworden ist. Doch dann kehre zurück. Ich spüre, dass du anders bist als jene, deren Schicksal ich für gewöhnlich vorhersage. Du bist größer, du bist mehr…“ Abuyin wandte den Kopf und blickte an mir vorbei. Ein Lächeln trat auf sein Gesicht. „Sei mir gegrüßt, oh liebreizende Jungfrau!“ Auch ich wandte mich herum. Velaya war zu uns getreten. „Mein bescheidener Name lautet Abuyin ibn Djadir ibn Omar Kalid ben Hadji al Sharidi. Ich bin ein Sohn des prächtigen Agadirs, der Stadt der goldenen Kuppeln. Ich bin Seher und Weissager, Sternendeuter und Tabakanbieter. Welch Ehre, dass du, oh Tochter der zarten, holden Schönheit, meine bescheidenen Teppiche mit deinem zauberhaften Glanz beehrst.“
„Ähm…“ Velaya schien verlegen. „Die Ehre ist ganz meinerseits.“
„Was kann ich für dich tun, oh katzengleiche Geschmeidigkeit? Wünschst du, an meinen bescheidenen Pfeifen Platz zu nehmen? Oder gestattest du mir, einen Blick in deine Zukunft zu werfen, oh farbige Blume der dunklen Wälder Khorinis’?“
„Es lohnt sich“, flüsterte ich.
„Ich… Na gut, warum nicht?“
„So muss ich dich um zehn bescheidene Kupferlinge bitten, oh liebliche Perle Myrtanas.“ Velaya gab dem Weissager sein Geld. Wie zuvor mich, wies er sie darauf hin, dass „ich nur Bruchstücke der Zukunft erkennen kann und was immer ich sehe, nicht für mich selbst bestimmt ist.“ Dann fiel er wieder in Trance.
„Seltsam… einmal schon sagte ich dieses Schicksal voraus, doch es war ein anderes… Du bist es, doch du kannst es nicht sein… Ich sehe drei Wege, doch ein Ziel. Ein Band… es verbindet…
Eine Person aus deiner Vergangenheit… ihr kennt euch… gut. Doch getrennte Wege seid ihr gegangen.
Einer, den du kennst… verloren geglaubt… zurückgekehrt… Du hilfst ihm und er tritt ein… in den Ring. Ein Ring von Wasser… ein Ring von Menschen… Ein Auftrag… Ein Portal… Fürchte nicht… was einmal geschehen, wird sich nicht wiederholen. Ruinen… eine alte Stadt… Ein großer Sumpf. Ein altes Herrenhaus… Ein Grab… sein Grab… Er, dessen Blut den Untergang brachte… er, der den Schmerz trägt. Er wird gerufen, doch nicht von dir… Sie, bei denen du lebtest… Nun deine Feinde. Allein muss er gehen… allein muss er kämpfen. Was er bringt, ist der Tod… was er bringt, ist das Leid… Was geschehen vor so langer Zeit, darf sich nicht wiederholen… Zürne ihm nicht. Nicht er… ES!… Vergib…
Er ist fort… Die Dunkelheit kommt… du spürst es. Einhalt wollen sie ihr gebieten… stärken werden sie sie… Er wird zurückkommen und er wird dich brauchen… Und du brauchst ihn… Der Todgeweihte kann nur durch euch errettet werden. Ein Fest… du tust es nicht gern, doch dir bleibt keine Wahl. Eine andere Welt… nicht die deine… Eine dunkle Gestalt… ein Angriff…
Dunkelheit zieht über das Land… Sein Sieg allein bringt keine Rettung. Doch er kehrt zurück als Träger des oberen Wissens… Eine Reise beginnt…“
Abuyin endete. „Mehr vermag ich nicht zu sehen, oh feinblättrige Rose unter Dornen. Doch wenn die Zukunft zur Gegenwart geworden, kehre zu mir zurück, oh Abendstern an schwarzem Himmel. Ich spüre, dass das Schicksal auch für dich noch mehr bereithält.“
Nachdenklich gingen wir über den Galgenplatz. „Komischer Kerl, nicht?“, fragte ich.
„Oh, er scheint sehr kreativ, wenn es um blumige Komplimente geht. Du könntest mir ruhig auch öfter mal solche Komplimente machen.“
„Es gäbe keines, das auch nur annährend beschreiben könnte, wie wundervoll du bist.“
Velaya lachte und gab mir einen Kuss. „Da hast du dich ja geschickt rausgeritten.“
Ich grinste. Dann kam ich wieder auf Abuyin zu sprechen: „Aber was ist mit seiner Vorhersage? Glaubst du daran?“
„Weiß nicht. Ich hab mich eigentlich nie um so etwas gekümmert oder viele Gedanken daran verschwendet, aber seit neuestem – ich meine, seit wir wissen, dass die Orks schon vor Tausenden von Jahren unser Kommen und unseren Kampf gegen den Schläfer vorausgesagt haben… Zumindest ein Teil seiner Prophezeiung wird sich bald erfüllen, denke ich…“
Geändert von Jünger des Xardas (26.04.2012 um 14:58 Uhr)
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Die Diebesgilde von Khorinis
„Was ist jetzt mit der Diebesgilde?“, wollte ich wissen, während wir in die Straße zum Tempelplatz einbogen.
„Wir müssen zur Hafenkneipe. Dort muss ich mit jemandem sprechen.“
Schnellen Schrittes überquerten wir den Platz. Durch die Unterführung gelangten wir in die Kaufmannsgasse, wo wir in die Hafenstraße einbogen.
„Am besten, du wartest draußen, während ich das regle“, meinte Velaya, als wir vor dem einbeinigen Klabauter standen. Ich nickte und sie verschwand im Innern der Spelunke.
Ich trat aus der Straße heraus auf die breite Kaimauer und blickte aufs Meer hinaus.
Lange musste ich nicht warten, dann kam Velaya wieder heraus und nickte mir zu. „Alles geregelt.“
„Was ist nun, kriegen wir jetzt Zugang zur Diebesgilde?“, fragte ich, während wir die Hafenstraße entlangschlenderten.
„Ja, wir treffen heute Abend jemanden. Bis dahin musst du dich gedulden.“
„Ich hab ja dich.“
Velaya lächelte und hakte sich bei mir ein. „Na dann. Bummeln wir ein wenig durch die Stadt. Ein bisschen Erholung ist genau das, was ich jetzt gebrauchen kann.“
Es war stockfinster, die Straßen menschenleer. Velaya führte mich durch die engen Gassen des Hafens. Ihr schwarzes Haar und ihre ebenso schwarze Rüstung verschmolzen wie ein Schatten mit der Dunkelheit. Dazu bewegte sie sich wie immer lautlos wie ein Schattenläufer. Niemand, der uns jetzt beobachtet hätte, hätte sie bemerkt. Ich kam mir dagegen furchtbar auffällig und plump vor.
Wir erreichten die großen Lagerhäuser im Norden des Hafens. Eine schmale Gasse führte an ihrer Rückwand entlang. Direkt daneben ragte eine hohe Mauer auf, die den Hafen von den anderen, höher gelegenen Vierteln trennte. Das Ende der Gasse, wo die Mauer das hinterste Lagerhaus traf und die mächtige Kaserne aufragte, lag völlig im Dunkeln.
Plötzlich blieb Velaya so abrupt stehen, dass ich beinahe mit ihr zusammengestoßen wäre. „Velaya, was…?“
„Pscht!“ Velaya blickte einen Moment in die völlige Dunkelheit am Ende der Gasse, dann hob sie ihre Stimme: „Mögest du mit beiden Händen begraben werden!“
„Mögest du mit beiden Händen begraben werden!“, antwortete eine ruhige Stimme aus dem Dunkeln.
Einen Moment stand Velaya reglos da, dann setzte sie sich in Bewegung. Zur gleichen Zeit brach ein Mann aus der Dunkelheit und lief auf sie zu. Die beiden umarmten sich. „Ramirez!“
„Kindchen, Kindchen!“ Der Mann lachte, dann löste er sich von Velaya, machte einen Schritt nach hinten und musterte sie. „Innos, wie lang ist es her? Du siehst wunderbar aus. Mein Gott, bist du groß geworden. Als ich dich das letzte Mal gesehen hab, warst du noch so klein, dass du auf meinem Schoß sitzen konntest.“
Velaya lachte. „Nun übertreib mal nicht, Ramirez. Ich war groß genug, um das nicht mehr gefahrlos tun zu können.“
„Ich sehe, du hast deine spitze Zunge behalten.“ Der Mann wandte den Kopf und musterte mich abschätzig. Auch ich sah ihn mir genauer an. Er war in ein elegantes und dennoch einfaches Wams gekleidet. Sein Haar war weißblond, sein Kinn stoppelig und unrasiert. Wachsame Augen blitzten unter dunklen Brauen hervor. Alles in allem machte er einen seltsam seriösen und eleganten Eindruck. „Wer ist dein Begleiter?“, fragte Ramirez und wandte sich wieder Velaya zu. „Zumindest ist er keiner von uns. Du bist ja inzwischen noch besser geworden. Selbst ich hab dich nicht bemerkt, aber er. Jeder besoffene Tagelöhner merkt es, wenn der sich anschleicht.“
„Allerdings. In unserem Gewerbe hätte er tatsächlich schlechte Karten. Aber du hast es richtig erkannt, er ist keiner von uns. Aber ein guter Freund ist er.“
„Nun, das soll mir reichen.“
„Aber wenn wir schon bei Amateuren sind, was ist das eigentlich für ein Treffpunkt? Hier gibt es ja keinen vernünftigen Fluchtweg.“
„Oh, du würdest dich wundern, wie viele versteckte Eingänge dieses alte Lagerhaus besitzt“, sagte Ramirez mit verschwörerischem Lächeln. „Aber jetzt erzähl mir endlich, warum du mit mir sprechen wolltest.“
„Wir suchen jemanden. Sein Name ist Dexter. Er führt eine Gruppe von Banditen an.“
„Ah, der Kerl, verstehe. Hundsfott! Seine Banditen haben sich doch tatsächlich in die Stadt gewagt. Wenn dieses Lumpenpack die fahrenden Händler da draußen überfällt, ist das eine Sache, aber das hier ist unser Revier.“
„Weißt du, wo genau wir ihn finden und wie wir zu ihm kommen, ohne von seinen Männern zu Hackfleisch verarbeitet zu werden?“
Ramirez schüttelte den Kopf. „Ich nicht, aber wir haben bei uns wen, der euch helfen könnte.“
„Dann bring uns hin.“
„In Ordnung, aber…“
„Ich weiß, lass das meine Sorge sein.“
„Ganz wie du meinst. Dann folgt mir.“
Wieder schlichen wir gemeinsam durch die Gassen des Hafenviertels. Dann jedoch bogen wir in die Unterstadt ein. Ich war überrascht, auch, als ich sah, dass wir uns immer weiter auf die Kaserne zu bewegten. Doch noch überraschter war ich, als ich erkannte, dass das Gebäude, auf das wir zuhielten, die Herberge „Zum schlafenden Geldsack“ war.
Hanna lächelte nur verschmitzt, als wir an ihr vorbeiliefen, gab aber ansonsten kein Zeichen von sich, das darauf hindeutete, dass sie uns bemerkt hatte. Wir blieben vor einer kleinen Tür unter der Treppe stehen. Ramirez klopfte dreimal gegen die Tür, machte dann eine kurze Pause und klopfte weitere zwei Male. Nach einem kurzen Moment wurde die Tür von einem Mann mit großem, schwarzem Schnauzer geöffnet. „Mögest du mit beiden Händen begraben werden“, grüßte Velaya ihn. Der Mann setzte zum Nicken an, machte jedoch stattdessen ein erstauntes Gesicht bei Velayas Anblick.
Ein Lächeln umspielte Ramirez’ Lippen „Was schaust du so, Jesper?“.
„Ist sie…?“
„Ja, bin ich. Können wir jetzt rein?“
„Ähm, natürlich.“ Der Mann namens Jesper ließ uns eintreten und schloss die Tür hinter uns sorgsam ab. Dann führte er uns eine lange Treppe hinunter in einen großen, geräumigen Keller, in dem einige Möbel aufgebaut worden waren.
Auf der anderen Seite des Raumes, vor einer kleinen Kommode, stand eine Frau in einem schwarzen Kleid. Das ebenso schwarze Haar war zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. In den Händen der Frau bemerkte ich einen goldenen, reich verzierten Kelch, den sie gerade zu begutachten schien.
Ramirez räusperte sich. „Ähm… Cassia. Wir haben Besuch.“
Die Frau wandte sich um, ließ ihren Blick über uns schweifen und dann auf Velaya verharren. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. „Du?!“
Velaya rollte mit den Augen. „Ach komm. Immer noch sauer? Nach so vielen Jahren?“
„Nicht genug Jahre, wie mir scheint. Weißt du, ich war nicht so blöd, anzunehmen, du seist da drin umgekommen, aber ich habe doch tatsächlich geglaubt, du wüsstest, was ich von dir halte und würdest mir einfach aus dem Weg gehen.“
„Hatte ich auch vor, aber ich brauche deine Hilfe.“
„Was?“ Die Frau namens Cassia stieß ein spitzes Lachen aus. „Die große Katze von Vengard bittet mich, die unbedeutende Anführerin der kleinen Diebesgilde von Khorinis um Hilfe? Womit habe ich diese Ehre nur verdient?“
„Spar dir den Sarkasmus. Alles, was ich will, ist ein kleiner Gefallen, dann bist du mich wieder los.“
„Und warum sollte ich dir helfen? Und komm mir jetzt nicht damit, dass ich deine Schwester bin.“
„Hatte ich auch nicht vor. Aber du würdest nicht nur mir einen Gefallen tun, sondern auch…“ Velaya grinste schief. „L-a-r-e-s.“ Sie sprach den Namen langsam aus, betonte jeden Buchstaben einzeln.
Cassias Gesichtsausdruck änderte sich kaum merklich. „Es… geht um Lares?“
Velaya lachte. „Du kannst ihm immer noch nicht widerstehen, was?“
„Du… ich weiß nicht, wovon du redest.“
„Ich bin nicht blöd, Schwesterchen. Aber wie dem auch sei – hilfst du mir jetzt?“
„Worum geht es?“, fragte Cassia seufzend.
„Es gibt da eine größere Gruppe von Banditen, die hier auf der Insel Ärger macht. Ihr Anführer heißt Dexter. Wir müssen ihn finden und mit ihm sprechen.“
„Oh.“ Cassia lächelte süffisant. „Und die große Katze von Vengard ist nicht in der Lage, sich an ein paar lumpigen Banditen vorbeizuschleichen? – oder sie mit ihren, einem Meisterassassinen würdigen, Kampfkünsten in Beliars Reich zu schicken?“
„Cassia, lass den Mist. Entweder du hilfst uns oder du lässt es bleiben.“
„Oh, natürlich werde ich helfen. Schließlich ist es eine Ehre, der großen Katze von Vengard helfen zu dürfen.“
„Dann tu es und erspar uns dieses alberne Getue.“
„Geduld, Schwesterchen, Geduld. Ich kann dir nicht helfen. Aber einer meiner Männer kann es.“
Velaya seufzte. „Dann hol ihn her.“
„Er kommt gleich. Er bringt nur einiges von dem, was wir… erworben haben, in Sicherheit.“
„Ihr versteckt euren Krempel immer noch auf dieser Insel vor der Stadt?“
„Du…“
„Wie oft noch, Cassia? Ich bin nicht blöd. Und das ist ziemlich offensichtlich.“ Cassia schnaubte wütend und ließ sich auf einen Hocker fallen. Velaya schlenderte derweil durch den Raum auf die kleine Kommode zu und nahm den goldenen Kelch in die Hand. „Ein Blutkelch, hm?“, fragte sie, während sie das Diebesgut mit geübtem Blick musterte. „Doch wenn mich nicht alles täuscht, hat Rhobar sechs Kelche auf dem Kitaifeldzug erbeutet.“
„Meine geniale Schwester liegt wie immer richtig. Und wahrscheinlich wäre es ihr auch ein leichtes, die anderen zu erbeuten. Aber natürlich ist etwas so banales wie die Sammlung der Blutkelche des Maharadschas von Kitai unter ihrer Würde.“
„Mein Gott, Cassia. Dein Getue war schon albern, als wir noch Kinder waren, aber jetzt und auch noch nach so langer Zeit…“
„Reg dich ab, reg dich ab.“ Cassia fixierte mich. „Wer ist das eigentlich?“
„Ein Freund.“
Cassias Lippen kräuselten sich. „Verstehe. Du hattest schon immer einen fürchterlichen Geschmack was Männer betrifft.“
„Worüber du froh sein solltest. So musst du mir nicht vorwerfen, dass ich dir Lares ausspanne.“
Eine kleine Falltür im Boden öffnete sich und ein strohblonder Haarschopf erschien. „Alles erledigt, Cassia.“ Der Mann kletterte aus dem Loch im Boden hinaus. Dann bemerkte er Velaya und mich.
„Fingers!“, stieß ich überrascht aus.
„He, wie kommst du denn hierher?“, fragte der ehemalige Schatten nicht minder überrascht.
„Unwichtig“, mischte Cassia sich ein. „Fingers, die zwei hier brauchen deine Hilfe. Machs schnell, sie haben’s eilig.“
„Worum geht es?“ Fingers blickte mich fragend an.
„Wir müssen mit Dexter reden.“
„Dexter? Aus der Kolonie?“
„Wie viele gemeinsame Bekannte namens Dexter haben wir?“
„Recht hast du. Nun, wir sind damals zusammen mit einigen anderen aus dem Alten Lager aus der Kolonie geflohen. Raven hat uns geführt. Hinter dem Pass hab ich mich dann von den anderen getrennt. Wollte zu meiner guten alten Diebesgilde zurück. Aber ich bin noch eine Weile mit Dexter in Kontakt geblieben. Er führt jetzt eine Gruppe von vielleicht zwei Dutzend Banditen an. Was aus Raven und den anderen geworden ist, weiß ich nicht.“
„Weißt du, wo wir Dexter und seine Leute finden?“
„Die haben sich in der Nähe vom Großbauern in einer alten Burg in den Bergen verschanzt.“
„Gut, wir müssen unbedingt mit Dexter sprechen.“
„Hm. Ich hab keinen Kontakt mehr mit ihm. Hat sogar versucht, in unserm Revier hier in der Stadt Fuß zu fassen. Aber ein paar Mal war ich da, kurz nach dem Fall der Barriere. Dexter hatte damals noch einige kleinere Banditengrüppchen im Umland unter sich. Die Kerle hatten eine Parole, die sie als seine Leute auswies und mit der sie zu ihm vorgelassen wurden.“
„Kennst du die Parole?“, fragte ich aufgeregt.
„Ja: „Die Nacht des Raben naht“.“ Fingers lachte. „Frag mich, wer sich den Stuss ausgedacht hat. Früher hatte Dexter es nicht so mit so’nem Mist. Das hätt’ ich ja noch eher dem alten Whistler zugetraut. Na ja. Ich weiß jedenfalls nicht, ob die Parole immer noch gilt. Bin, wie gesagt, fertig mit Dexter. Mehr kann ich euch auch nicht sagen.“
„Ist schon gut. Danke jedenfalls. Das hilft uns vielleicht sehr weiter.“
„Dann könnt ihr ja verschwinden!“, fauchte Cassia.
„Keine Sorge, Schwesterherz, wir sind schon weg. Und wir kommen auch nicht wieder, wenn’s sich vermeiden lässt.“
Geändert von Jünger des Xardas (09.02.2011 um 18:50 Uhr)
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Kapitel II: Die Nacht des Raben
Aus einer Prophezeiung aus der Zeit kurz nach der großen Flut
Rhademes ist gebannt. Doch die Kaste der Krieger hat Adanos’ Zorn über Jharkendar gebracht. Und nun wird es im Strom der Zeit vergehen.
Und zweimal tausend Jahr’ wird das Portal verschlossen bleiben.
Sumpf wird wachsen, Tempel fallen. Und wo einst die Ahnen hausten, werden die wilden Tiere leben. Wo einst Tempel und große Bauten, werden nur Ruinen stehen.
Vorbei der Glanz vergang’ner Tage.
Geborsten Stein.
Gebrochen Statue.
Zerfallen Tempel.
In Trümmern Heiligtum.
Doch nicht auf ewig gebannt, was Fluch über uns gebracht. Was im Tempel versiegelt, durch drei Kammern verschlossen, kehret zurück.
Wenn zweimal tausend Jahr’ vergangen und Ochs’ den Krieger trifft.
Wenn schwarze Hallen ersteh’n zu neuer Macht und Echsen ihre Diener gebracht.
Wenn der Orken Horden stürmen übers Land und Königreich zerbrochen.
Dann ist die Nacht des Raben nah und ein mächtiges Artefakt wird auf diese Welt zurückgeholt werden, wenn der Gott der Finsternis seine Schergen auf die Suche schickt.
Höret die Zeichen:
Blauer Käfig wird zerbrechen, dann wird der Rab’ zum Flug ansetzen. Erd’ wird beben und gegraben wird tief in Berg, wo einst der hohe Priester lag.
Der Totenwächter heil’ges Wissen, das lange Zeit verborgen, wird aus alten Bauten geborg’n.
Dann wird von seinem Fluch befreit, wer sein Leben dereinst dem Dunklen geweiht.
Doch ein neuer Träger wird gefunden, auf ewig an das Schwert gebunden. Der Fluch von Jharkendar mit neuer Kraft, wiederholt, was einst geschah. Dann bricht die Nacht des Raben an und schwarze Schwingen, hüllen’s Land in Dunkelheit.
Ein einz’ger ihm zu trotzen, ein einz’ger ihn zu bezwingen, das Dunkel auf ewig niederzuringen.
Wenn zum ersten Mal seit zweitausend Jahr’ betreten Adanos’ Priester den Boden von Jharkendar, ist der heil’ge Bewahrer nah.
Doch große Gefahr sein Kommen birgt, bezwingt er den Raben, doch verfällt er Ihm, ist das Schicksal der Welt verwirkt. Er kann’s zerstören, für immer beenden, doch verfällt er Ihm, wird das Blatt sich auf ewig wenden, die Welt im Dunkeln enden. Dann wird er der mächt’sge Diener des Zerstörers sein und die Welt, die aus den Wassern erstand, wird im Chaos vergeh’n.
Chochmar, Oberster der altehrwürdigen Kaste der Gelehrten
Dexters Auftraggeber
Es war Mittag. Wir liefen über Onars Hof. Sofort nach dem Verlassen der Diebesgilde hatten wir beschlossen, Dexter gleich am nächsten Tag aufzusuchen. Bei seinem Versteck handelte es sich um die Burg, die ich schon von Onars Hof aus gesehen und zu der Velaya auch die Banditen mit der Waffenlieferung verfolgt hatte.
Bevor wir uns zu Dexter wagten, steuerten wir jedoch die große Weide an, auf der Cord noch immer seinem Training nachging.
„Ihr?“, fragte er überrascht, nachdem wir ihn auf uns aufmerksam gemacht hatten. „Seid ihr immer noch in der Gegend?“
Velaya schüttelte den Kopf. „Wieder.“
„Hör mal“, begann ich. „Wir könnten deine Hilfe brauchen. Es geht um die Banditen da oben. Ihr Anführer ist Dexter aus der Kolonie. Ich muss unbedingt mit ihm sprechen. Es ist sehr wichtig. Er könnte über die Leute Bescheid wissen, die in der Stadt vermisst werden und Vatras will, dass ich sie finde. Aber wir könnten ein wenig Hilfe gebrauchen. Das sind immerhin zwei Dutzend Banditen.“
„Und da seid ihr zu dem besten Kämpfer gekommen, den dieser Hof zu bieten hat.“
„Cord.“ Velaya bedachte den Schwertmeister mit einem strengen Blick.
„Schon gut, Mädel. Wenn der Auftrag von Vatras ist, werde ich euch helfen. Hab mit diesem Dexter sowieso noch ne Rechnung offen.“
„Wieso das?“, fragte ich.
„Hatte nen Kumpel. Patrick hieß er. War auch in der Kolonie. Nun, eines Tages hatte er die großartige Idee, mit den Banditen da oben Handel zu treiben. Waren vom Hof gegen ein paar von den vielen Waffen, die die da haben, oder gegen Stahl – ne kleine Mine gibt’s da nämlich auch. Ich hab ihm davon abgeraten, aber der Idiot wollte nicht hören. Tja, ne Zeit lang ging die Sache gut, aber dann kam er irgendwann einfach nicht mehr zurück. Ich wette, diese verdammten Hundesöhne haben ihn auf dem Gewissen.“
„Wir werden es rausfinden“, sagte ich.
Cord nickte. „Gut, gehen wir los. Hier ist es im Augenblick sowieso ruhig – zu ruhig. Ich werd hier gar nicht gebraucht. Wenn ich mal ein paar Stunden weg bin, ist das kein Ding.“
Wir stiegen den weiten, an der Weide beginnenden und nach Süden hin abfallenden, von Gestrüpp überwucherten Hang hinab. An seinem südlichen Ende ragten die hohen Berge auf, die Onars Tal begrenzten. Auf einer Bergspitze erhob sich die Burg, in der sich die Banditen versteckten. Wobei die Bezeichnung Burg stark übertrieben war. Tatsächlich war alles, was man von hier unten erkennen konnte, ein kleiner, steinerner Wachturm.
„Da wären wir.“ Velaya blickte zu dem alten Turm hinauf, der in fast dreihundert Metern Höhe aufragte. Sie wandte sich mir zu. „Ich denke es wird das Beste sein, du gehst allein. Auch wenn wir die Parole kennen, könnten die Kerle misstrauisch werden, wenn wir gleich zu dritt da antanzen. Außerdem würden sie uns beiden sowieso nicht abnehmen, dass wir Banditen sind. Cord trägt unverkennbar die Rüstung eines Söldners und ich wäre der erste weibliche Bandit von Khorinis – zumal mich die meisten da oben wahrscheinlich wiedererkennen würden, wenn die alle aus dem ehemaligen Alten Lager kommen. Dir kann das zwar auch passieren, aber die Gefahr ist schon wesentlich geringer.“
Ich nickte. „Hast Recht. Aber bleibt in der Nähe.“
„Klar. Wir lassen dich doch nicht im Stich, wenn’s brenzlig wird. Wir bleiben dicht hinter dir und warten dann am Lagereingang. Zwischen den Felsen da oben sollte man sich ganz gut verstecken können. Wenn irgendetwas passiert, kommen wir dir zu Hilfe. Leg’s aber nicht drauf an. Das sind immerhin zwei Dutzend Banditen da oben. Sprich einfach mit Dexter und versuch, herauszufinden, was mit den Vermissten ist. Und schau nach dem Gefangenen Kerl aus der Stadt. Wir müssen noch immer einen Weg finden, ihn zu befreien.“
„Und vergiss Patrick nicht“, ergänzte Cord, der bis dahin geschwiegen hatte.
Am oberen Ende des schmalen, gewundenen Pfades angekommen, der zur Banditenfestung hinaufführte, stand ich vor einer schmalen steinernen Brücke, die über einen kaum zwei Meter breiten Abgrund führte. Auf der anderen Seite erhob sich der kleine Wachturm. Direkt daneben stand eine einfache Blockhütte. Etwas weiter hinten stand ein zweiter Turm, den man von unten aus nicht gesehen hatte und der an ein steinernes Haus herangebaut war.
„He, was willst du hier?“, fragte ein grimmiger Bandit, der die Brücke bewachte.
„Zu deinem Anführer.“
„Zu meinem Anführer? Ich schick dich gleich zu Beliar!“
„Ich hoffe, du wartest damit bis zur Nacht des Raben. Die naht schließlich und ich würde sie auch noch ganz gerne erleben.“
„Was? Was quatscht du da eigentlich für einen…? Ach so, das ist das Passwort! Sag das doch gleich, Mann! Kannst rein. Dexter ist im Haus.“
Ich nickte der Wache zu und überquerte dann die Brücke. Zwischen den zwei Türmen und dem Blockhaus saß eine größere Gruppe Banditen um ein Lagerfeuer. Ich erkannte ihre Rüstungen, auch wenn sie bereits stark mitgenommen waren, als die des Alten Lagers. Dabei schienen die Banditen bunt aus den verschiedensten Lagermitgliedern zusammengewürfelt zu sein. Ich erkannte sowohl ehemalige Buddler und Schatten, als auch Männer in den alten Rüstungen der Gardisten.
Einen Gefangenen konnte ich nicht entdecken, doch vielleicht befand sich dieser in einem der Gebäude. Oder aber sie ließen ihn in der Mine für sich schuften. Gegenüber dem zweiten Turm führte nämlich ein kleiner Stollen in den Berg hinein. Jetzt nach dem Gefangenen zu suchen, wäre jedoch zu auffällig gewesen. Ich musste direkt zu Dexter gehen, wenn ich nicht entlarvt werden wollte.
Das Haus am Fuße des zweiten Turms war zwar aus Stein gebaut, jedoch nur unwesentlich größer als die Blockhütte. In seinem Inneren gab es kaum Möbel. Lediglich ein kleiner Tisch stand in der Mitte des einzigen Raumes.
Das einzige andere Möbelstück war ein großer Stuhl mit hoher Lehne, der auf der anderen Seite des Tisches stand.
Ein Mann in einer roten Rüstung und mit einer Weste aus schwarzem Leder saß in dem Stuhl. Er hatte den Ellbogen auf den Tisch gestützt und kratzte sich nachdenklich seinen braunen Bart, den Blick auf ein Pergament gerichtet, das vor ihm lag. Als ich eintrat, blickte er auf.
„Du?“, fragte er ungläubig. „Oh Mann, du bist echt der falsche Kerl am falschen Ort! Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit, dass du freiwillig hierher kommst.“
„Du kennst mich, ich schaff es auch wieder raus.“
„Nur weil du ein verdammter Glückspilz bist, bist du nicht unsterblich. Aber was willst du hier? Bist du völlig wahnsinnig oder hast du einfach nichts von den Zettelchen mitbekommen, die ich von dir verteilt habe?“
„Oh doch, das ist mir nicht entgangen. Aber ich habe ein paar Fragen an dich.“
„Nur zu, frag ruhig. Du kommst eh nicht mehr lebend hier raus.“
„Dann erzähl mir doch mal, warum du meinen Tod willst.“
„Will ich gar nicht. Du gehst mir ehrlich gesagt am Arsch vorbei.“
„Und warum lässt du mich dann suchen?“
„Weil mein Boss deinen Tod will. Warum, weiß ich auch nicht.“
„Und will dein Boss zufällig auch, dass du Menschen entführst?“
„Das weißt du also auch schon? Na um deine Frage zu beantworten: Ja, will er.“
„Und wer ist dein Boss, wenn man fragen darf?“
Dexter grinste. „Oh, du kennst ihn. Er ist ein gefährlicher Mann.“
„Wer?“, fragte ich leicht ungeduldig.
Noch immer grinsend spitzte Dexter die Lippe und antwortete, jede Silbe einzeln betonend: „Raven.“
„Ein Erzbaron in Khorinis?“
„Erzbarone gibt es nicht mehr. Raven ist weit mehr als nur ein Erzbaron. Ein großer Teil des Alten Lagers ist ihm damals aus der Kolonie gefolgt.“
„Aber hinterm Pass haben sie sich zerstreut.“
Dexter lachte. „Nein, viele sind bei Raven geblieben. Sie sind ihm weiter gefolgt.“
„Und wohin?“
„An einen Ort, der unerreichbar für dich ist.“
„Spuck’s schon aus.“
„Sie sind in einem Tal im Norden der Insel. Aber man kann es nur auf dem Seeweg erreichen.“
„Und dort habt ihr auch all die Leute hingebracht, nicht wahr?“
„Richtig.“ Dexter grinste.
„Und was macht ihr dort mit ihnen?“
„Ist doch unwichtig.“
„Aber jetzt seid ihr von Raven und seinen Leuten abgeschnitten, stimmt’s? Die Piraten, die euch rübergebracht haben, wollen nichts mehr mit euch zu tun haben.“
„Du bist gut informiert“, sagte mein Gegenüber mit anerkennendem Nicken. „Ja, die Hundesöhne haben uns den Krieg erklärt.“
„Und jetzt könnt ihr diesen letzten Gefangen, den ihr hier im Lager habt, nicht mehr loswerden.“
„Glaub mir, er ist auch hier ganz nützlich. Oder findest du den Stuhl hier etwa nicht hübsch? Den hat er mir angefertigt.“
„Heißt euer Gefangener zufällig Patrick?“
„Patrick, wer ist Patrick? Nein, das ist so’n junger Wicht aus der Stadt. Ist da wohl der Lehrling vom Tischler. Ganz begabt, wenn’s um Holz geht, aber ansonsten ne ziemliche Memme.“
„Und habt ihr zufällig auch Patrick gefangen genommen?“
„Was für ein Patrick, verdammt? Ich kenne keinen Patrick.“
„Einer der Söldner von Onars Hof.“
„Ach so! Ja, da war öfter so ein aufgeblasener Söldner draußen. Hat mit meinen Jungs gehandelt.“
„Und was habt ihr mit ihm gemacht?“
„Ich habe keine Ahnung“, erklärte Dexter in nicht sehr glaubwürdigem Tonfall. Er grinste. „Vielleicht haben die Jungs ihn ja inzwischen aufgeknüpft.“
„Verstehe. Hör mal: Da ist so’n Kerl mit ner Augenklappe – wenn du mich fragst, ist das einer der Piraten, mit denen ihr ein so gutes Verhältnis pflegt – der sucht dich.“
„Alle suchen mich“, erwiderte der ehemalige Schatten gleichgültig. „Wenn er was will, soll er herkommen.“
„Ganz wie du meinst. Aber was hast du jetzt mit mir vor? Willst du mich töten?“
„Ja. Aber ich gebe dir eine Chance: Lauf, verschwinde, verlass die Insel, wenn du kannst, verkriech dich unter einem Stein, lass dich nie wieder blicken. Jetzt lasse ich dich gehen. Wenn ich dich je wiedersehen sollte, werde ich keine Sekunde zögern.“
„Danke.“
„Es gibt keinen Grund, mir zu danken“, erwiderte Dexter grinsend. „Und jetzt verschwinde.“
Geändert von Jünger des Xardas (27.04.2012 um 10:53 Uhr)
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