Zitat von
Tjordas
Die längste Zeit behielt der Neurologe einen ernsten, skeptischen Blick bei, während sein Gast erneut ihre Entschlossenheit beteuerte. Dann schließlich schlich sich doch ein vorerst zufriedenes Schmunzeln auf seine Lippen und er entspannte sich wieder so weit, dass er sich zumindest wieder hinsetzte. Mit den Ellenbogen auf der Tischplatte und den Händen vor dem Mund ineinander verschlungen betrachete er Akina erneut intensiv, während er seine Worte sammelte.
"Ich mag Ihre Beharrlichkeit. Sie werden trotzdem nicht alles glauben, aber das ist in Ordnung. Ich muss mich entschuldigen, dass wir dieses Gespräch im Dunkeln fortsetzen, aber ich traue dem Sicherheitsbüro hier nicht... Nichts gegen Sie.", hängte er an, als ihm bewusst wurde, wo Akina aktuell arbeitete.
"Wer weiß, welche Mikrofone und Kameras hier wirklich nur zur Computersteuerung und welche zu Sicherheitszwecken angebracht sind. Ich bevorzuge es zumindest für den Moment, wenn wir in Sherlock Holmesscher Manier unsere Erleuchtungen im Dunkeln finden."
Er nahm seinen Kaffee wieder mit beiden Händen an sich und sog den Dampf genüsslich ein, als er seine Ausführungen begann.
"Sie wissen ja über meine Cerberus-Vergangenheit bescheid. Nun, schon damals auf Noveria packte mich eine extreme Faszination für die Geth. Es lag auf der Hand, dass man bei der Entwicklung einer Mensch-Maschine-Schnittstelle, wie sie unser Ziel war, zunächst die am weitesten entwickelte KI unserer Galaxie in Augenschein nahm. Wir hatten also zahlreiche Artefakte und Bauteile aus allen Bereichen des Geth Sektors zu unserer Verfügung. Schon beim Aufstellen dieser Sammlung wurde mir anhand der Berichte klar, dass unser Bild von den Geth sehr eingeschränkt ist. Wir stellten fest, dass die Maschinenkörper, denen wir begegnen, eben nur das ist: Die physische Form der Geth. Dabei wird eine Plattform, wie wir sie nennen, aber meist nicht nur von einer KI bevölkert. Bei den Menschen ist es einfach: Ein Körper, ein Geist. Oder nennen Sie es Seele, Verstand, Bewusstsein, was es auch ist: Es ist fest verbunden mit dem Körper und umgekehrt. Stirbt der eine Teil, verendet früher oder später auch der andere. Bei den Geth ist das anders. Bei den Eliteeinheiten der Gethplattformen sind zahlreiche Identitäten sind in einer Plattform versammelt. Bei den Standardmaschinen ist es noch verwirrender. Ihre KIs sind alle miteinander über eine Leiteinheit verknüpft. Ein Geist hat hier nicht einen Körper. Vielmehr haben tausende Teilidentitäten die gemeinsame Kontrolle über ein Dutzend Körper. Und erst durch ihre Vernetzung miteinander erhalten sie überhaupt ihre eigene jeweilige Identität. Ein wunderbar komplexes Netz, miteinander verwoben wie eine Melodie, bei der zahlreiche Töne einen facettenreichen Akkord bilden, dieser jedoch nur einen Grundton hat."
Er bemerkte wie die Japanerin ihm zwar weiterhin lauschte, aber offensichtlich das Ziel dieser Ausführung abwartete und darin enttäuscht wurde.
"Entschuldigen Sie, ich schweife ab. Nun, hat man dieses Wissen, so fragt man sich, wo all diese Identitäten sind, wenn sie doch nicht an Körper geknüpft sein müssen. Und nach enigen Nachforschungen fanden wir heraus, dass der Großteil der Identitäten in gewaltigen Datenbanken abgespeichert ist, die sich in den Mutterschiffen der Geth befinden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie in diesem Netzwerk permanent miteinander kommunizieren und tatsächlich wohl nur ein winziger Bruchteil jemals einen Körper bewohnt. Vielleicht sind sogar bis zu neunundneunzig Prozent der Geth niemals Physis, sondern für immer reiner Geist. Wie vermehren sich dann die Geth, mögen Sie vielleicht fragen? Wenn die Vermehrung von Plattformen offensichtlicht nicht das Ziel ist, was dann? Nun, scheinbar geht es nur um die Findung eines Konsens. Das Netzwerk der Identitäten wird immer weiter ausgebaut und zur Maximierung werden nicht die Kämpferplattformen vermehrt, sondern die Datenbanken vergrößert. Viele Geth streben primär scheinbar nicht nach Aggression gegen organische Rassen, sondern nach der Verbesserung ihrer Konsensfindung und dem Selbsterhalt. Was hat das nun alles mit dem Amoklauf zu tun? Geduld. Denken Sie einmal nach. Wenn uns die Geth vernichten wollten, wieso vermehren sie dann nicht ihre Flotte? Ihre Kämpferplattformen? Ihre Fabriken? Stattdessen füllen sie nach jeder Dezimierung ihre Flotten nur auf die Ausgangsmenge auf und bleiben Passiv in ihrem Nebel. Warum dann greifen sie aber manchmal unsere Kolonien unter großen Verlusten an, nutzen die Ressourcen aber nicht etwa zum Ausbau ihres Netzwerks, sondern erschaffen stattdessen für das Netzwerk nutzlose, halborganische Husks, die zwar mitkämpfen, aber nicht mitdenken? Unsere Theorie bei Cerberus: Nicht alle Geth sind gleich. Einige greifen aggressivst unsere Kolonien an, während andere passiv zurückbleiben. In ihrem Codekonsens hat sich offenbar ein Fork gebildet. Und als wir unsere Hochrechnungen über die vermutliche Anzahl an vorhandenen Gethidentitäten mit den Angriffen und den dort eingestezten Truppengrößen verglichen, stellten wir fest: Diese aggressive Gruppe ist nur ein kleiner Teil der Geth. Wir gehen von zehn bis höchstens zwanzig Prozent aus. Die übrigen achtzig bis neunzig Prozent stehen den Ratsvölkern neutral bis indifferent gegenüber und suchen nur ihren Selbsterhalt. Unter dieser Hypothese konnten wir dann feststellen, dass diese aggressivere Gethgruppe nicht nur anders handelt als ihre passive Muttergruppe. Sie verwenden auch andere Technologien. Haben Sie die Schiffe einmal angesehen? Die Aufnahmen der Schiffe, die Eden Prime attackierten? Oder des Mutterschiffs, das die Citadel angriff? Das ist eine völlig andere Architektur als die der Gethjäger und Gethmutterschiffe, wie wir sie aus dem Nebel kennen. Andere Waffen. Andere Energieerzeugung. Andere Kommunikationskanäle. Überhaupt: Beim Citadelangriff sah die Kommunikation nach keinem gleichberechtigten Netzwerk aus, wie wir es von den Geth kennen. Stattdessen waren die Plattformen und Jäger untereinander vernetzt, während das Mutterschiff nur in eine Richtung Befehlskommandos aussandte. Zudem in einer anderen Sprache, als wir sie von den Geth kennen. Einfach alles an diesem Schiff war anders. Und das ist, was ich mit der plausibelsten Erklärung meine, Lieutenant. Was ist glaubhafter: Dass Die Geth all ihre Befehlsstrukturen, ihre Architektur, ihre Strategien, ihre Bewaffnung, ihre Kommunikation und ihre gesamten Werte für diesen einen Angriff von Grund auf ändern... Oder dass das Mutterschiff in Wirklichkeit eine ganz andere KI ist? Eine technologisch viel weiter entwickelte, mit der sich die Geth verbündet haben. Unsere Forschungsgruppe ging von Letzterem aus. Um herauszufinden, wer diese ominöse dritte Fraktion neben den neutralen und den aggressiven Geth war, untersuchten wir das, was die aggressiven Geth von ihren Geschwistern unterscheidet: Ihre Kommunikation. Miteinander sprachen sie über den bekannten konventionellen Funk. Lokal nutzten sie ihre akustischen 'Schreie', wie Sie sie vielleicht schon einmal in Videos gehört haben. Aber als wir die Aufzeichnungen über den Eden Prime Angriff analysierten stellten wir fest, dass sie zu dem handartigen Mutterschiff über eine Art Quantenkommunikatorkanal sprachen, der unser technisches Verständnis überstieg. Latenzfrei und abhörsicher. Und völlig neuartig. Was unsere These stützte, dass es bei diesen Angriffen eine dritte Fraktion gab. Warum sonst sollten die Geth auf dem Schlachtfeld plötzlich zwei verschiedene Sprachen sprechen? In Ermangelung weiterer Beweise untersuchten wir die Drachenzahnflüssigkeit genauer. Wie bereits bekannt handelte es sich dabei um eine Art Nährlösung aus Mineralien und Metallen, aus denen später die synthetischen Teile der Husks entstehen. Aber wir fanden bei genauerer Untersuchung auch Naniten. Diese mikroskopischen Miniaturmechanismen bauen das Gewebe des Wirts geplant um. Wir konnten unter dem Mikroskop gut beobachten, wie dies geschah, aber verstanden nicht, wie sie sich organisierten. Sie alle sind in ihrem Aufbau nämlich identisch, aber dennoch bauen manche etwa das Titan in die Knochen ein, während andere die Neuronen neu verknüpfen und somit neue Denkmechanismen lenken. Alles perfekt abgestimmt, ohne jegliche Kommunikation untereinander. Dann jedoch fanden wir eines Tages bei einem Feldexperiment zu einem frisch attackierten Stützpunkt die Antwort: Die Naniten empfingen alle ein gemeinsames Signal mit der gleichen Übertragungsmethode, die das handförmige Mutterschiff auf Eden Prime nutzte. Sie führten Befehle aus von der Fraktion ausgesendet, die sie auch gebaut hat. Und die Geth - die sind nur Lakaien dieser Methodik - dienen ihrem Herren, der im Gegensatz zu den meisten Geth tatsächlich offenbar nur unsere Vernichtung im Sinn hat. Und nun, jetzt da sie auf dem neuesten, wissenschaftlichen Stand sind, die Pointe: Die gleichen Naniten fand ich hier in Blutproben von Iiyama. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würden wir diese auch bei Diggles Leichnam finden. Diese unterscheiden sich nicht in ihrem Aufbau von denen, die wir in Drachenzähnen finden. Der Unterschied ist nur, wann das Signal ausgesendet wurde, die Umwandlung zu beginnen oder zumindest in die letzte Phase zu bringen. In der vorangehenden Phase, so zeigt mir das Gehirn von Iiyama, finden sich fast alle körperlichen Veränderungen nur in der Vernetzung der Neuronen. Mir ist noch nicht ganz klar, ob der ausschlaggebende Faktor dabei das ominöse äußere Signal ist, oder ob die Naniten gewissermaßen selbst ein Signal aussenden - aber in jedem Fall kann dieser Prozess ganz ohne direkten Zellumbau passieren. Der Wirt unterliegt einer Beeinflussung. Einer Indoktrination, wie Sie sie nennen. Ist er dann erst komplett dem neuen Willen unterlegen, wird er aktiv auch die körperliche Umwandlung unterstützen, indem er etwa mit den Geth Kontakt aufnimmt und sich so Zugang zu der Drachenzahnflüssigkeit verschafft. Wenn er sie nicht schon davor in sich trug. Die Reihenfolgen sind variabel und vielseitig - klar ist nur: Die Metamorphose geschieht auf mehreren Ebenen, psychisch und körperlich, und wird von außen gesteuert durch ein Signal, das wir nicht blockieren können. So war es bei Iiyama, so war es bei Diggle, und ich würde mich wundern, wenn wir bei Vandernot keine Naniten oder zumindest eine rudimentäre Neuronenumwandlung feststellen. Und es liegt an mir, diese Umwandlung näher zu untersuchen, um die Quelle des Ganzen auszumachen... Bisher habe ich da nur ein paar verrückte, unhaltbare Theorien von Verschwörungstheoretikern..."