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XXI. Wo der Wille auch ein Weg ist
„Ähm... Du, Pallas?“
„Ja?“ Pallas wandte sich zu Odo um und schaute ihn mit ihren großen Eulenaugen erwartungsvoll an. Seine Frage blieb Odo im Halse stecken: Wollte er überhaupt wissen, wovor sich Pallas so sehr fürchtete? Wenn sie etwas erwartete, das selbst ihr die Angst ins Gesicht schrieb, wie sollte dann er, der doch viel schwächer und furchtsamer war, den Weg noch fortsetzen? Die Antwort war denkbar simpel: Durch Unkenntnis dessen, was da kommen würde!
„Ach nichts“, erwiderte er also und hoffte, dass die Sache damit einstweilen beendet sei.
„Ne, nun sag schon!“ Pallas ließ nicht locker.
„Naja, also... wir haben... naja, wir haben die Gefangenschaft bei den Schwarzmagiern erlebt, eine Reise in die Unterwelt, eine Reise durch die Unterwelt, den Kampf mit einer schrecklichen Sphinx, eine Verhandlung mit dem Gott des Todes... Du erkennst da ein Muster?“
„Nö, ich weiß wirklich nicht worauf Du hinaus willst.“
„Äh, also... naja, das waren alles furchtbar gefährliche Dinge, die wir da erlebt haben.“
„Stimmt genau“, nickte Pallas und zuckte mit den Schultern, „und?“
„Naja, und Du hast... also, Du hast dabei eigentlich nie so richtig Angst gehabt. Oder zumindest hat es nicht so gewirkt. Und nun... naja, da frage ich mich doch...“
Ein spöttisches Funkeln trat in Pallas' Augen.
„Das waren alles Gefahren, denen man gut begegnen konnte. Odo, Feinde sind nicht sehr fürchterlich. Man kann sie bekämpfen. Man kann ihnen ausweichen oder sie überlisten, sie schlagen oder erschlagen oder zeitweilige Bündnisse mit ihnen eingehen um ihnen dann in den Rücken zu fallen, sie gegeneinander ausspielen, die Umgebung gegen sie ausspielen“, Pallas zählte an den Fingern ab, „man kann sie in Hinterhalte locken, ihnen tödliche Fallen stellen, sie erpressen, zur Kapitulation zwingen oder einfach niederwalzen. Seine Feinde kann man auf viele verschiedene Arten bekämpfen, und für so ziemlich jede Situation oder Machtkonstellation gibt es irgendeinen Weg, doch noch siegreich zu sein. Darum habe ich keine Angst vor meinen Feinden.“
„Wovor dann? Was gibt es in diesem Hades, was Dir solche Angst einjagt, dass selbst ich es Dir ansehen kann?“
Ein trauriges Lächeln umspielte Pallas' Lippen, als sie antwortete: „Das, was ich nicht bekämpfen kann: eine Freundin.“ Das Lächeln wurde um eine ganze Ecke weniger traurig. „Und jetzt hör auf herumzugrübeln und komm weiter!“
Die Grenze, die sie überschritten, war sehr deutlich durch einen Fluss erkennbar sowie mit zwei Schildern markiert, die an den beiden Enden einer Brücke aufgestellt waren. 'Beliars Reich Grenzübergang – Sie verlassen nun das Reich Beliars' verlautete das erste Schild, und einige Meter dahinter 'Herzlich willkommen im olympischen Protektionsgebiet Hades'. Warum die Brücke ausgerechnet an der Stelle stande, an der sie die Grenze zu überqueren gedachten, war Odo ein Rätsel. Denn soweit er nach links oder rechts den Fluss entlang schauen konnte, war kein anderes Bauwerk oder überhaupt irgendetwas von Interesse zu sehen.
Pallas verließ das Reich Beliars ohne Zaudern, und betrat jenen anderen Teil der Unterwelt, von dem Odo zuvor noch nie gehört hatte.
„Wer herrscht denn hier?“, fragte er.
„Es handelt sich um das Reich eines Gottes namens Hades, der der älteste Sohn von Kronos dem Titaten und der ältere Bruder von Zeus ist, der wiederum über den Olymp herrscht. Wenn Du so willst und Hades mit Beliar vergleichst, dann wäre Zeus so eine Art Innos.“
„Der Gott dieser Unterwelt heißt also so, wie diese Unterwelt selbst?“ Das kam Odo recht sonderbar vor. Und ausgesprochen fantasielos. Andererseits war 'Reich Beliars' auch nicht sonderlich originell, immerhin aber besser als eine einfache Reiteration des Götternamens. Er fragte weiter: „Gibt es dazu dann auch ein Äquivalent zu Adanaos?“
„Ja, der heißt Poseidon.“
„Werden wir auch auf diesen Hades treffen? Und ist der so ähnlich wie Beliar?“
„Wenn Du damit meinst, ob er uns Kuchen und Tee anbieten wird? Nein, ganz sicher nicht. Er wird wohl eher seinen dreiköpfigen Hund auf uns hetzen. Aber darüber brauchst Du Dir jetzt keine Gedanken machen. Es sollte ein Weilchen dauern, bis unsere Gegenwart bemerkt wird. Man kann doch viel leichter irgendwohin schleichen, wenn man mal keine Raumzeitverzerrung nutzt.“
Die Ödnis hinter der Grenze hatte zwar einen etwas anderen Namen, wirkte zunächst jedoch nicht anders als die Landschaft, die sie bislang durchquert oder überflogen hatten. Odo wunderte sich doch sehr, hätte er doch erwartet, dass es in der Unterwelt wesentlich voller sei. Doch die Landschaft gemahnte an eine menschenleere und leblose Felsenwüste.
„Wusstest Du, dass nur etwa dreißig Prozent aller Wüstengebiete tatsächlich aus Sand bestehen?“, fragte Odo, mehr um überhaupt etwas zu sagen, als zur Kommunikation einer sachdienlichen Information.
„Naja, also... eigentlich sind es zwanzig Prozent“, antwortete Pallas.
Sie gingen weiter.
„Ich glaube, dahinten ist jemand“, sagte Pallas endlich und schritt etwas zügiger aus, und in der Tat trafen sie auf eine einsam wandernde Seele. Die Gestalt war schattenhaft, bloß umrissen, und erhob sich aus einer Hocke, als sie die beiden Kinder bemerkte. In einer Hand trug sie etwas, das die Umrisse einer Pflanze haben mochte.
„Guten Tag“, sprach sie die Gestalt an, „oder wie immer man eine Begrüßung hier formulieren möchte. Angesichts der fehlenden Tageszeit meine ich. Vielleicht sollte man da auch eher einfach ’hallo’ sagen. Also: Hallo.“
Die Kinder blieben stehen und betrachteten den Fremden, dessen bloß umrissene Gestalt sich während der Begrüßung verfestigt hatte, so dass er ihnen nun aus einem durchaus gutaussehenden, bärtigen Antlitz heraus zulächeln konnte.
„Hallo“, erwiderte Pallas.
„Sagt, kennt Ihr Euch hier aus?“, fragte der Fremde und schaute sich um, „ich bin ja selbst ziemlich verloren hier, gerade erst angekommen. Mhm, wenn ich Euch so betrachte seht Ihr nicht gerade danach aus, als würdet Ihr hier hineinpassen.“
„Natürlich nicht“, erklärte Odo, „schließlich sind wir doch recht jung für den Tod. Sicherlich war es eine tragische Wendung, die zu unserem Ableben führte – doch ach! Plötzlich aus dem Leben gerissen finden wir uns nun wieder in dieser gräuslichen Unterwelt, getrennt von unseren lieben Eltern, die – ach weh! – an unsern Gräbern stehen, bittere Tränen der Trauer vergießend…!“
Ein heftiger Stoß von Pallas’ Ellenbogen brachte Odo schmerzhaft zum Schweigen.
„Ich sehe schon“, sagte der Fremde und nickte wissend, „Ihr seid Lebende, die es irgendwie hierher verschlagen hat. Wenn ich mich vorstellen dürfte: Mein Name ist Sisyphos. Mich hat er auch erst gerade eben herbeigeführt.“
„Hm, wer hat Sie hergeführt?“
„Oh, entschuldige bitte, ich meinte natürlich: ES hat mich gerade erst hierher geführt. Kleiner Versprecher.“ Der Mann zwinkerte.
Pallas betrachtete den Fremden mit ihrem Eulenblick, bevor sie sagte: „Dein Name ist Sisyphos?“
„Ja. Hast Du schon von mir gehört?“
„Oh, vielleicht das ein oder andere.“ Pallas lächelte plötzlich.
Der Fremde musterte Pallas seinerseits eingehend. „Kann es sein, dass wir uns schon einmal gesehen haben? Du kommst mir bekannt vor.“
„Nein, haben wir ganz sicher nicht. Naja, wir müssen dann wohl auch weiter. Es war schön, Dich getroffen zu haben...“
„Oh, vielleicht darf ich Euch ein Weilchen begleiten?“ Sisyphos sah plötzlich gar nicht mehr gut gelaunt aus, sondern eher etwas verzagt. „So plötzlich verstorben zu sein ist keine so schöne Erfahrung, wenn man dann so ganz alleine in der Ödnis des Hades aufwacht. Nur bis wir irgendeine Ansiedlung oder sowas finden, ja? Irgendein Ort, an dem ich andere Tote treffe, mit denen ich mich unterhalten kann?“
Da es keinerlei begründeten Einwand gab, stimmten die beiden Kinder zu, und so setzte man den Weg gemeinsam fort. Odo fiel auf, dass der Mann eine ausgesprochen eloquente Person war. Und er sah auch nicht allzu alt aus. Er war also vermutlich keines natürlichen Todes gestorben. Odo hätte gerne mehr gewusst, traute sich jedoch nicht recht, danach zu fragen. Immerhin war diese Information doch sehr persönlich.
Derweil sich Odo in ein Gespräch verwickeln ließ, wurde Pallas zunehmend ruhiger und ernster.
„Was genau macht Ihr hier eigentlich?“, fragte Sisyphos schließlich, „Ihr seid doch Lebende, oder? Das erkennt man. Irgendwie.“
Odo zögerte, antwortete dann jedoch: „Ja, wir sind Lebende. Wir sind hier, um jemanden zu treffen.“
Ein mitfühlender Ausdruck trat in Sisyphos' Miene. „Derlei geht niemals gut. Dieser Ort hier ist für Lebende nicht gemacht. Und der Versuch, die Toten zurückzuholen, geht niemals gut. Die Götter lassen es nicht zu.“
Odo antwortete nicht, sondern schaute zu Pallas, die sich etwas entfernt hatte und vor sich hingrübelte.
„Möchtest Du mir erzählen, um wen es sich denn handelt?“
Odo erzählte das wenige, was er wusste. Sisyphos hörte aufmerksam zu.
„Wie habt Ihr es eigentlich hergeschafft? Eigentlich kommen nur Götter hier durch. Und die auch nur mit der Erlaubnis von Hades.“
„Oh, das war wirklich faszinierend“, begann Odo zu berichten, und erklärte seinem Gefährten die Funktionsweise von Wurmlöchern und wie man sie herstellte.
„Dennoch glaube ich nicht, dass dies ganz ohne Pallas' besondere Fähigkeiten gelungen wäre. Sie ist eben doch etwas Besonderes“, endete er. Sisyphos stimmte nachdenklich zu.
„Und was macht Ihr, wenn Ihr diese Freundin gefunden habt?“
Odo zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht recht. Das hat Pallas noch nicht gesagt.“
„Das ist aber doch ziemlich wichtig.“
Odo wusste nicht, was er antworten sollte, stimmte jedoch im Stillen zu.
Nach einer kurzen Zeit des Wanderns machte Odo eine Veränderung aus: Immer öfter traten schattenhafte Strukturen hervor, die er bald als Gebäude erkennen konnte. Deren Dichte erhöhte sich bald, nahm bald wieder ab, und inmitten der dorfartigen Ansammlungen geisterten schattenhafte Kreaturen umher, die ebenso unstofflich und schattenhaft wie die Gebäude waren.
„Woher weißt Du eigentlich, wo genau wir hinmüssen?“, fragte er in Pallas' Richtung.
„Ich weiß es nicht, ich will“, kam eine nicht sonderlich erhellende Antwort. Nun, wer wusste schon, wie Buchstäblich der Wille den Weg an diesem Orte implizieren mochte? So gab sich Odo der Führung Pallas’ hin, die zwar zunehmend schweigsam, aber ungebrochen zielstrebig einherschritt.
„Ich glaube, dort müsste es sein“, sagte sie schließlich und wies auf ein Gebäude, das sich von den anderen abhob. Es bestand aus zwar blässlich grauem, dafür jedoch sehr solide wirkendem Marmor und war daher, abgesehen von den drei Wanderern, das einzig Stoffliche in der Umgebung. Odo versuchte, die Architektur einzuordnen, und hätte ihm am ehesten einen ardeanischen Ursprung zugesprochen: Es bestand aus einfachen, geometrischen Formen, die jedoch in höchst geschickter Weise so zusammengestellt waren, dass sich ein Bild zweckmäßiger Eleganz ergab. ’Ruhige Einfalt, stille Größe’, wie man in der Fachwelt zu sagen pflegte. Eine Treppe führte hinauf zu einem von Säulen gestützten Vorbau und schließlich einer Tür, die aus Bronze bestehen mochte.
„Klopfen wir jetzt?“, fragte Odo. Pallas antwortete nicht, sondern schluckte ängstlich und rang ihre Hände. Hätte Odo es nicht besser gewusst, er hätte gedacht, sie unterdrücke ein Zittern.
„Wir sind also da?“, fragte Sisyphos, „wenn ich gewusst hätte dass man hier nur etwas wollen muss, um ans Ziel zu kommen, dann hätte ich das wohl auch selbst hinbekommen.“ Er runzelte die Stirn. „Andererseits kann es nicht der Wille allein sein, wenn man das denn auch noch wissen muss, oder? Wie dem auch sei, warten bringt nichts!“ Sisyphos klopfte mit seiner Faust an das Portal, dass ein metallisches Pochen ertönte.
Zunächst geschah nichts, abgesehen davon, dass Pallas noch kläglicher dreinblickte als zuvor, und noch unruhiger von einem Bein aufs andere hüpfte. Es dauerte einen Augenblick, dann endlich öffnete sich die Tür.
„Hallo?“, begrüßte sie eine ebenfalls bärtige Person, die jedoch im Gegensatz zu Sisyphos einen Bänderpanzer sowie einen konischen Helm trug. In der Hand hielt sie außerdem ein kurzes Schwert aus einem für Odo nicht näher bestimmbarem Material. Wer wusste schon, was in der Unterwelt für Metalle zu gewinnen waren?
„Wir sind hier, um eine Freundin von mir zu finden“, sagte Pallas mit zitteriger Stimme, „sie kann noch nicht lange hier sein...“
Waffengeklirr aus dem Inneren des Hauses brachte Odo von dem Gedanken ab, dass der Mann sich aus Furcht vor den Gästen bewaffnet hatte. Indem der Mann die Tür weiter öffnete, um sie herein zu bitten, gab er den Blick auf einen Innenhof frei, in dem offenkundig Waffenübungen abgehalten wurden. Die andern Gestalten dort hatten ähnliche Rüstungen sowie unterschiedliche Waffen, insbesondere kurze Schwerter und Speere, sowie Schilde. Weitere Waffen standen in Haltern am Rande des Übungsplatzes
„Nun gut, kommt herein!“
Das Innere des Hofes war durch einen Säulengang abgegrenzt, der jedoch aufgrund der sonderbaren Lichtverhältnisse keinerlei Schatten bot, was Odo angesichts der übrigen Schattenhaftigkeit aller Objekte an diesem Ort recht ironisch vorkam. Sie umrundeten also den Innenhof und setzten auf eine Stelle zu, wo eine Reihe gerüsteter Männer eine einzelne Gestalt bekämpfte: In einen recht kunstvoll verzierten Plattenpanzer und eine aus Lederbändern bestehende Tunika gekleidet, mit einem Helm, dessen Wangenpartien einen schmalen Schlitz bildeten, der sich bloß auf Augenhöhe verbreitete, hielt die offenkundig weibliche Kämpferin ihre Gegner in Schach. Die Kriegerin war relativ klein, fast noch ein Kind. Odo fiel auf, dass sie als einzige barfuß war, wogegen alle anderen Sandalen trugen.
Das Mädchen hielt inne, als sie die Neuankömmlinge bemerkte. Die Gegner waren wohl zu verwundert um die plötzliche Inaktivität der Kontrahentin zu nutzen und taten es dieser gleich.
„Ati?“, rief die Kriegerin und machte einige Schritte in Richtung der Ankömmlinge, ließ ihre Waffe und den Schild fallen und rannte auf sie zu. Im Laufen nahm sie den Helm ab und entblößte eine Flut dunkler Locken.
„Ati, was machst Du denn hier?“
Pallas, die von der Kriegerin aus Odo unerfindlichen Gründen mit einem ihm gänzlich unbekannten und übrigens nach seinem Geschmack viel zu kindischen Namen bedacht wurde, reagierte nicht. Ein Blick in ihr Gesicht ließ ihn erschrecken, war die doch so bleich geworden, wie man es eigentlich von den anwesenden Toten erwartet hätte. Was Odo in ihren Augen glänzen sah, war ganz sicher kein Schalk. Als die Kämpferin Pallas erreicht hatte, blieb sie unschlüssig stehen.
„Was ist denn los, Du sagst ja gar nichts?“
„I-ich... was sollte ich auch sagen?“ Pallas wich dem Blick der anderen aus. „Ich... ich habe... oh, es tut mir so Leid!“ Pallas wischte sich über das Gesicht und schniefte, sah dann auf, der anderen direkt in die Augen. „Ich bin gekommen, um Dir zu sagen, dass es mir Leid tut. Ich bin dafür verantwortlich, dass Du gestorben bist. Ich hätte besser aufpassen müssen. Und nun... nun bist Du... weg. Für immer weg. Ich habe Dich vermisst!“
Die Kriegerin sah Pallas bedauernd an, trat sie einen Schritt auf sie zu und nahm sie in den Arm.
„Ich habe Dich natürlich auch vermisst!“
Pallas schniefte wieder. „Wie solltest Du? Ich bin doch der Grund für das, was passiert ist! Wie solltest Du mir da verzeihen können?“
„Wir sollten die beiden alleine lassen“, flüsterte Sisyphos Odo zu und zog ihn beiseite. Der Bärtige, der sie eingelassen hatte zuckte mit den Schultern, als interessiere ihn das alles nicht sonderlich.
„Ich geh dann mal wieder kämpfen“, sagte er und ging wieder kämpfen.
Odo und Sisyphos entfernten sich einige Schritte und betrachteten die Szene von weitem.
„Ich frage mich ja, wen sie vorgesehen hat“, sagte Sisyphos nachdenklich.
„Wie bitte?“
„Na, wen sie vorgesehen hat. Um ihren Platz einzunehmen, meine ich.“
Sisyphos blickte auf Odo herab.
„Ja, glaubst Du denn, dass sie ohne ihre Freundin wieder von hier weggehen wird?“
Odo zuckte mit den Schultern. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn Pallas selbst den Tod irgendwie hätte überlisten können.
„Vielleicht nicht. Aber ich verstehe trotzdem nicht, was Sie meinen.“
„Sie hat Dir also nichts darüber gesagt?“
„Worüber?“ So langsam reichte es Odo, dieser Kerl sollte endlich klar sagen, worauf er hinauswollte.
„Dass ein Toter nur dann wieder aus Unterwelt heraus kann, wenn jemand anders seinen Platz einnimmt. Freiwillig natürlich. Wenn Deine Freundin also ihre Freundin hier herausbringen will, muss jemand anders zurückbleiben. Und da frage ich mich natürlich, wer das denn sein soll.“
Odo verzog sehr unwillig das Gesicht. „Ich denke, dass ich die Implikation verstanden habe. Sie möchten andeuten, dass Pallas MICH mit ihrer Freundin eintauschen will. Allerdings scheitert diese Unterstellung an einem kleinen Detail.“
„Und das wäre?“
„Sie sagten selbst“, antwortete Odo, „dass diese andere Person freiwillig hierbleiben muss, um jemanden zu ersetzen. Wenn Sie also andeuten, dass Pallas nicht ehrlich zu mir gewesen sei, ist das nicht sehr überzeugend. Ich gehe davon aus, dass sie sich nur verabschieden möchte. Ich habe gehört, dass dies für manche Menschen ein Bedürfnis ist, wenn jemand Liebes gestorben ist. Hören Sie also bitte auf, schlechte Andeutungen über meine Freundin zu machen!“
„Menschen?“ Sisyphos seufzte bedauernd, „Freundin? Hat sie etwa vorgegeben, Dir eine Freundin zu sein? Mein lieber Junge, das Mädchen, mit dem Du da angekommen bist, ist vieles, aber ganz sicher nicht Deine Freundin. Die Abgebrühtheit, mit der sie Dich belogen hat, zeigt dies doch sehr gut. Sie hat sich Dir mit dem Namen 'Pallas' vorgestellt?“ Er schüttelte bedauernd den Kopf, „diese Abgebrühtheit hätte ich nicht einmal einer Göttin wie ihr zugetraut. Weißt Du denn nicht, wer sie ist?“
Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in Odos Magen aus.
„Deine sogenannte Freundin ist eine Göttin. Ich erkenne das. Die Familienähnlichkeit ist wirklich nicht zu übersehen. Ja, ich hatte schon mit dieser Sippe zu tun“, Sisyphos schürzte verächtlich die Lippen, „und diese hier ist ganz besonders gefährlich. Sie ist die Tochter des Göttervaters Zeus. Sie ist Athene, die Göttin der List und des Kriegs.“ Er machte eine Pause, um die Schwere des Gesagten zu unterstreichen, bevor er fortfuhr: „Sie wird ganz sicher nicht einen gewöhnlichen Sterblichen zum Freund erwählt haben.“ sein Tonfall wurde bedauernd. „Ich fürchte, dass sie etwas viel Konkreteres vorhat, als sich zu verabschieden. Und ich fürchte, dass Du da eine wesentliche Rolle spielen sollst.“ Odo reagierte nicht, doch das Gefühl in seinem Magen verstärkte sich, machte sich als Übelkeit deutlich bemerkbar. „Ja, normalerweise muss ein Sterblicher, der einen der Toten erlösen will, freiwillig dessen Platz einnehmen. Aber so eine Göttin wie Athene könnte sicherlich einen anderen Weg finden. Sie könnte es so einrichten, dass die Freiwilligkeit des Ersatzes nicht mehr notwendig ist.“
Das Gefühl beschränkte sich längst nicht mehr auf den Bauch, sondern erfasste die Beine als Schwäche, die Arme als Zittern und den Kopf als Schwindel. Eine Hand legte sich auf Odos Schulter, kalt, wie man es von der Hand eines Toten erwartet hätte.
„Hör zu, ich kann verstehen, dass Du schockiert bist. Aber es muss nicht so kommen. Ich glaube, ich könnte Dir helfen.“ Sisyphos überlegte einen Augenblick. „Es ist Athene die hierbleiben müsste. Natürlich wird sie das nicht freiwillig tun. Aber wenn wir sie dazu zwingen könnten, wärst Du gerettet. Hm, aber gegen einen Gott kann man natürlich kaum kämpfen. Es sei denn, man würde einen Trick anwenden.“ Sisyphos holte das Pflänzlein hervor, das er bei ihrem Zusammentreffen in der Hand gehalten hatte.
„Das hier ist ein interessantes Kraut“, sagte er, „ich bin aus Zufall in dieser Ödnis darauf gestoßen. Es nennt sich Akóniton und ist ausgesprochen giftig. Giftig genug, um sogar einen Gott zu töten. Vor allem hier. Wir müssen also nur einen Weg finden, es ihr zu verabreichen.“
Die Hand auf Odos Schulter verschwand und er hörte leichte Schritte, die sich in Richtung der Waffenständer im Hof entfernten.
Odo beobachtete weiterhin das Zusammentreffen von Pallas und ihrer Freundin. Oder besser: Von der Person, die er für Pallas gehalten hatte. Mittlerweile sah Pallas nicht mehr traurig aus. Zwar meinte er, durchaus noch Tränen in ihren Augen ausmachen zu können, doch lächelte sie, wirkte nachgerade gelöst, wie er es noch nie bei ihr erlebt hatte. Und dabei hatte er sie ohnehin stets für ungewöhnlich ungezwungen gehalten.
Sie wendete ihm das Gesicht zu und winkte ihn zu sich. Unsicher trat er näher.
„Odo“, Pallas sah glücklich aus, wie sie Odo da Arm in Arm mit dem andern Mädchen erwartete, „das hier ist meine Freundin Pallas. Natürlich heißen wir nicht beide so. Ich heiße in Wirklichkeit nämlich gar nicht Pallas, sondern ich heiße Athene. Aber mit dem Namen hätten mich meine Geschwister ja viel leichter finden können. Na gut, Pallas ist jetzt auch kein so toller Deckname, weil die sich ja denken konnten, dass ich wegen der Sache mit Pallas weggelaufen bin, aber naja, das ist immer noch besser als mein eigener Name, oder? Jedenfalls ist Pallas hier meine beste Freundin, ich habe die meiste Zeit in meiner Kindheit bei ihr verbracht. Oh, da hätte ich fast vergessen“, Pallas oder besser: Athene hatte sehr schnell gesprochen und holte einen Augenblick Luft, bevor sie einen Schritt von der jungen Kriegerin zurück trat, die ja wohl eigentlich Pallas hieß, und sich an sie wandte: „also das hier ist mein Freund Odo. Er ist als Schachspieler fast so gut wie Du als Schwertkämpferin und hat mich sogar mal darin geschlagen, wobei er da einen fiesen Trick genutzt hat, jedenfalls also ist er ein guter Freund und hat mir auch dabei geholfen, herzukommen, indem er ziemlich gut an meinem Warpfeldgenerator mitgebastelt hat, mit dem ich alle meine Verwandten austricksen konnte, vor allem meinen doofen Vater. Da fällt mir ein, Du weißt ja gar nicht, was ein Warpfeldgenerator ist, und hast eigentlich auch noch nie was von Schach gehört. Naja, ich denke, dass ich dieses Spiel bei uns einführen werde.“
Pallas – die Kriegerin – lachte und legte den Arm um Athene – Odos göttliche Freundin –, die sich ihre Haarsträhne aus dem Gesicht blies und überaus fröhlich lächelte.
„Es ist mir eine Freude, Dich kennen zu lernen, Odo“, sagte Pallas höflich und reichte Odo die Hand.
„Ähm, hallo“, sagte Odo, dem etwas schwindelig war.
„Du weißt hoffentlich“, sagte Pallas streng, „dass Du Ati gar nicht hättest helfen dürfen. Besuche bei den Toten sind sehr streng reglementiert!“
„Und genau darum ist es umso schöner, gegen diese Reglementierung, die übrigens durch gar kein praktisches Gesetz a priori begründet ist, zu verstoßen. Oder was sagst Du als aufgeklärter Rationalist dazu, Odo?“
Pallas, oder besser: Athene lächelte schalkhaft.
„D-du hast mich also belogen?“
„Naja“, antwortete Athene verlegen, „ich habe vielleicht etwas geschwindelt. Ich kann ja, wie gesagt, schlecht als Göttin rumlaufen. Nachdem ich mich einmal irgendwem als Pallas vorgestellt hatte, habe ich das eben beibehalten.“
„Meinetwegen“, fuhr Pallas dazwischen, „kannst Du den Namen ruhig weiterhin benutzen, das macht mir nichts aus. Zumindest solange DU nicht tot bist, weil das hier dann etwas verwirrend wäre, aber das wird wohl ohnehin nicht passieren.“
Plötzlich war die gute Laune der beiden wie weggewischt.
„Ihr könnt nicht mehr lange bleiben, oder?“, fragte Pallas.
„Vielleicht noch ganz kurz. Du… naja, Du könntest uns vielleicht noch etwas begleiten. Uns sozusagen zur Tür bringen?“
„Zur Brücke“, korrigierte Odo mechanisch. Die Gedanken in seinem Kopf kreisten umher. All diese neuen Informationen waren doch etwas zu geballt über ihn hereingebrochen.
„Natürlich kann ich Euch bis ans Ende des Hades begleiten“, sagte Pallas sanft, „oh, da kommt ja Euer Begleiter! Wie hieß er noch?“
„Sisyphos“, antwortete der und deutete eine Verbeugung an, „guten Tag. Oder besser: 'hallo'! Ihr wollt also schon wieder los?“
„Wir müssen“, sagte Pallas leise.
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XXII. Im Angesicht der Bestie
Es war Pallas, die Athenes Moment von Traurigkeit unterbrach, indem sie sich bei dieser unterhakte und sie mit sich zog. „Wenn Euch nur noch wenig Zeit hier verbleibt, dann sollten wir die nicht mit Trübsal vergeuden!“
Odo hätte gerne mehr Zeit gehabt, die Situation zu überdenken. Stattdessen eilte er hinter den beiden Mädchen her. Sisyphos schloss sich an.
„Nicht ganz so schnell“, sagte der, „lass den beiden doch etwas Raum!“
Dass diese Äußerung allenfalls gespielte Pietät war, offenbarte sich auf dem Fuße.
„Findest Du es nicht komisch, wie sie plötzlich so schnell aufbrechen wollen, obwohl sie doch dann auf ewig getrennt sein werden? Denn noch einmal wird Athene ganz sicher nicht herkommen können. Ich jedenfalls glaube kaum, dass Hades sich zweimal überlisten lässt. Du weißt, was passiert, wenn wir am Ausgang der Unterwelt ankommen?“ Sisyphos sprach leise und eindringlich. „Dann werden die beiden ihre Scharade fallen lassen und ihren eigentlichen Plan offenbaren. Aber schau mal, was ich hier habe!“ Sisyphos hielt Odo etwas hin.
„Ein Dolch?“
„Aber ja! Die Spitze ist mit dem Gift behandelt, das ich vorhin erwähnt habe. Damit wirst Du sogar eine Göttin töten können.“
Das Gefühl in Odos Bauch, das während der Unterhaltung mit Pallas und Athene in den Hintergrund getreten war, meldete sich unangenehm zurück. Eine Art Brennen, aber anders, als das ihm bekannte Sodbrennen. Es war heißer, Übelkeit erregend und manifestierte sich zusätzlich als Kloß in seiner Kehle. Ihn schwindelte auch etwas, doch konnte dies auch daran liegen, dass er zu lange nichts mehr getrunken hatte. Ja, er hätte mehr von Beliars Tee zu sich nehmen sollen!
„Du solltest den Dolch verstecken, bis wir am Ausgang sind. Und wenn sie dann versucht, das zu tun, was auch immer sie vorhat, um Pallas mit Dir einzutauschen, dann musst Du... nun, Du weißt, was Du dann zu tun hast. Aber versteck das Ding so lange!“
Wo sollte er denn einen Dolch verstecken? Er hatte doch gar keine Tasche für so etwas! Sisyphos schien es selbst zu bemerken und nahm die Waffe wieder an sich.
„Ach lass, ich gebe Dir das Ding, sobald es soweit ist. Bis dahin bewahre ich es auf.“
Odo war erleichtert, den Dolch nicht mehr tragen zu müssen. Der Gedanke alleine erfüllte ihn mit entsetzen. Er warf Athene, seiner Freundin, einen bangen Blick zu. Das Mädchen bemerkte nichts, schäkerte mit der Kriegerin an ihrer Seite, die immer noch die Rüstung trug. Wieso nur kümmerte Pallas – nein, Athene! – sich nicht mehr um ihn? War er ihr nicht wichtig? Warum achtete sie nicht auf ihn? Wenn er nun einfach zurückbliebe, würde sie es überhaupt bemerken? Oder würde sie einfach weitergehen, mit ihrer Freundin den Weg fortsetzen, und ihn vergessen?
Er trottete hinterdrein, einzig Sisyphos als Gesellschaft. Der Ältere blieb an Odos Seite, schritt zufrieden einher.
„Ich kann verstehen, dass das schlimm für Dich sein muss. Sie hat sicherlich Deine größten Schwächen ausgenutzt. Aber was will man von einer wie ihr auch erwarten? Diese Götter kann man eigentlich gar nicht wirklich als Personen bezeichnen. Du solltest also kein schlechtes Gewissen haben!“
Schlechtes Gewissen? War nicht der Gedanke alleine schon lächerlich? Odo hatte doch nun wirklich nichts getan, nicht einmal ansatzweise, das so eine Äußerung im Mindesten veranlasst hätte. Er fragte sich ernsthaft, wovon Sisyphos da eigentlich sprach.
Der Rückweg zur Grenze des Hades wirkte kürzer als der Hinweg. Odo vermochte nicht zu bestimmen, ob es daran lag, dass sie den Weg nun kannten, ob sich die Strecke verkürzt hatte oder ob es schlicht seine rastlosen Gedanken waren, die ihm die Zeit im Fluge vergehen ließen. Doch allzu bald tauchte die Brücke vor ihnen auf. Oder eher: Eine Brücke, denn Odo meinte, dass sie nicht genauso gebaut zu sein schien, wie die, welche sie zuvor überquert hatten. Oder war sie auf der dem Hades zugewandten Seite anders konstruiert? Er hatte bei der ersten Überquerung wohl keinen Blick zurück geworfen, und konnte daher nicht ausschließen, dass es bloß an der Perspektive lag.
„Gleich ist es soweit!“, Sisyphos' Stimme zeigte einen Anflug von Nervosität.
„Hier, nimm! Versteck es notfalls hinter Deinem Rücken!“
Odo konnte nicht anders, Sisyphos zwängte den Griff des Dolches regelrecht in seine Hand. Athene und Pallas hatten ihre Schritte unterdessen verlangsamt, waren stiller geworden, kompensierten dies jedoch damit, noch enger aneinanderzuheften.
„Du musst jetzt aufpassen!“, flüsterte Sisyphos.
Odo war es leid. Er wollte nicht aufpassen, er wollte nicht schleichen und erst recht wollte er diese Situation nicht mehr einfach über sich ergehen lassen.
„Es reicht mir jetzt!“, sagte er laut. Pallas und Athene wandten sich erschrocken um, Verwirrung in den Gesichtern. „Ich habe genug! Es muss also ein Ersatz her, ja? Es muss jemand die Stelle des Toten einnehmen, damit der wieder in die Welt der Lebenden kann? Und dieser Ersatz soll ICH sein?“ Odo hielt den Dolch keineswegs versteckt. Er hielt die Arme seitlich und hatte beide Hände zu Fäusten geballt. Einen Augenblick hielt er inne, als er erkannte, was dieses heiße in Gefühl in seinem Magen war. Es war Wut. Eine ungeheure Wut, die er keineswegs ganz rational erklären konnte. Nein, wurde ihm klar, diese Wut war wohl aus der allgemeinen Überforderung geboren, eine Reaktion auf diese nicht mehr endende Reihe an Situationen, mit denen er einfach nicht zurecht kam. Er war doch nur ein einfacher Mensch, ein Junge, der ein Schachturnier hatte gewinnen wollen! Was machte er hier eigentlich, in dieser Welt der Toten, umgeben von Göttern und sonderbaren Gestalten? Doch die Erkenntnis half nicht, die Wut war zu groß.
„Hältst Du mich wirklich für so blöd? Glaubst Du wirklich, ich würde mich so leicht benutzen lassen? Ich bin vielleicht naiv, aber ich bin kein Idiot! Hörst Du? ICH BIN KEIN IDIOT!“ Odo war immer lauter geworden, hatte zuletzt regelrecht gebrüllt, und die Hand mit dem Dolch zitterte.
„Odo?“, Athene sah ihn fragend an, „Du solltest mir vielleicht dieses Ding da geben“, sie trat einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus.
„Nein“, rief er, drehte sich zu Sisyphos um und hob den Dolch, die Spitze auf den Mann gerichtet, der ihn zu täuschen versucht hatte.
„Du willst diese angebliche Giftpflanze also hier gefunden haben? Aconitum, auch Eisenhut genannt, wächst in gemäßigtem Klima. Ganz sicher nicht hier in dieser Wüste. Es soll hier einen einzelnen Ableger geben und kein einziges anderes Pflänzchen? Selbst, wenn ich nicht wüsste, wie Aconitum wirklich aussieht: Was für ein Schwachkopf soll das denn glauben? Dieses angebliche Gift soll Pal- Athene töten können? Und dann? Wie soll ich dann hier weg kommen? Ohne sie? Und was geht Dich das eigentlich an? WAS HAST DU DAVON?“
Sisyphos war zurückgewichen. Er blickte etwas enttäuscht drein, jedoch nicht allzu ängstlich.
„Heda, nun beruhige Dich doch! Ich weiß ja gar nicht, wovon Du sprichst!“
„Odo, gib mir den Dolch“, hörte er Athenes Stimme von der Seite kommen. Er hörte Schritte nahen. Nun war der Moment, wo er die Waffe gegen diesen widerlichen Lügner erheben konnte! Er zögerte. Eine Hand legte sich auf seine, die den Dolch umklammert hielt.
„Odo?“
Er schloss die Augen und atmete tief ein.
„Darf ich?“, hörte er Athene fragen. Ja, Pallas, seine Pallas. Er dachte gar nicht daran, sie anders zu nennen. 'Athene' klang doch fürchterlich! Er lockerte seinen Griff und ließ zu, dass sie die Waffe an sich nahm.
„Das war nicht sonderlich nett“, sagte Athene tadelnd an Sisyphos gewandt, „dabei fand ich Dich eigentlich sympathisch. Ich weiß ja, dass Du die Pläne meines Vaters hintertrieben hast, das ist allgemein bekannt. Das finde ich gut. Aber das hier ist jetzt wirklich ziemlich gemein von Dir!“
Athene betrachtete den Dolch.
„Ich glaube, Du hast diese Waffe aus der Welt der Lebenden mitgebracht. Du hattest Deinen Tod kommen sehen, und Dich vorbereitet.“ Ihr stechender Blick richtete sich auf Sisyphos. „Kann es sein, das Du gar nicht wirklich tot bist? Wer genau hat Dich eigentlich hergeführt?“
Sisyphos reagierte nicht.
„Wie dem auch sei: Für Onkel Hades kann der Dolch nicht gedacht gewesen sein. Du wärst nicht dumm genug, ihn anzugreifen. Vermutlich hattest Du gehofft, eine niedere Gottheit oder einen Dämon anzutreffen, oder? Aber was dann? Ich verstehe nicht genau, was Dir das gebracht hätte.“
Der Gefragte zuckte mit den Schultern. „Ich kenne da ein Rezept für einen Trank, der Tote erwecken kann. Göttliches Blut ist leider Bestandteil davon. Bitte nimm es nicht persönlich, ja?“
Athene lächelte böse.
„Ganz sicher nicht. Aber dass Du Odo benutzen wolltest...“
„Nun komm, wie sollte ich Dich bitte selbst angreifen? Der Junge dagegen genießt Dein Vertrauen. Er hätte es sicherlich hinbekommen.“
Sisyphos' gewinnendes Lächeln war nicht aus dessen Gesicht gewichen.
„Ein Mann muss eben sehen, wie er das beste aus dem macht, was sich ihm an Gelegenheiten bietet. Eine Göttin Deines Kalibers wird dies zweifellos verstehen.“
„Eine Göttin meines Kalibers wird vor allem sehr, sehr böse, wenn...“
Athene hielt inne und ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Jedoch war nicht ihr Gegenüber der Grund. Im Gegenteil: Sisyphos wandte sich selbst ebenso überrascht in die Richtung des Lärms, der Athene unterbrochen hatte: Ein tiefes, mehrstimmiges Knurren. Aller Augen richteten sich auf das gewaltige Monstrum, das mit schnellen Sätzen herangelaufen kam. Aus den drei Mäulern troff der Speichel, die sechs Augen glühten böse, und jeder Satz schien die Erde erzittern zu lassen. Ja, es handelte sich tatsächlich um einen dreiköpfigen Hund! Niemals hätte Odo geglaubt, dergleichen einmal zu sehen. Der Anblick war schrecklicher noch als der des Drachen Finkregh, fürchterlicher als alles, was er bislang gesehen hatte. Was er sah war wie die Verkörperung des Grauens selbst.
„Oje!“, ächzte Sisyphos, dessen Miene Odos Schrecken spiegelte.
„Verdammt!“, ächzte Athene, zwar erschrocken, aber dennoch wesentlich gefasster als die beiden Menschen.
Das Ungetüm hatte sie bald erreicht. Seine sechs Augen richteten sich auf das Mädchen, welches das Monstrum ruhig erwartete, und der massige Leib sprang genau auf sie zu. Nicht einmal Athene vermochte diesem Ansturm standzuhalten. Sie wurde umgerissen, und schon war die Kreatur über ihr, die drei Mäuler senkten sich zu ihr herab, entblößten glänzende Zähne und lange Zungen, die sich wie Schlangen wanden.
„Igitt, Zerberus, nein!“, rief Athene und versuchte vergeblich, die drei Köpfe wegzudrücken, „nein Zerberus, aus! Aus!“
Doch der Hund zeigte kein Erbarmen mit dem Mädchen. Hechelnd fuhren die Zungen über Athenes Gesicht. Wann immer sie einen der Köpfe in Schach halten konnte, waren die andern beiden zur Stelle.
„Jetzt ist gut Zerberus!“, donnere eine Stimme, die nicht von Athene kam, und auch von sonst niemandem, den Odo hätte sehen können. „Aus!“
Der Hund hielt inne, die drei Köpfe ruckten mit zuckenden Ohren empor.
„Hallo Athene“, sagte die Stimme. Das Mädchen richtete sich soweit auf, wie es der monströse Hund erlaubte, und wischte sich Sabber aus dem Gesicht.
„Igitt! Hallo Onkel.“ Sie sah zu einem Stück leerer Luft, als befinde sich dort eine Person
„Wieso machst Du Dich nicht sichtbar? Ich finde das etwas unhöflich so.“
„Meinetwegen“, antwortete die Stimme, und es erschienen die Umrisse eines großgewachsenen Mannes.
„Ich frage mich übrigens, wie Du in mein Reich kommst, Nichte! Beinahe drängt sich mir der Verdacht auf, Du hättest Dich unerlaubt und entgegen dem Befehl Deines Vaters sowie meinen Gesetzen über Besuche in meinem Reich hergeschlichen, um einer albernen Sentimentalität nachzugehen. Erkläre Dich!“
Athenes Gesicht verfinsterte sich.
„Ich denke nicht, dass ich Dir Rechenschaft schuldig bin!“
Die dunkel umrissene Gestalt flackerte wütend.
„Deine Renitenz ist wieder einmal ungeheuerlich!“, donnerte die Stimme, „Dein Ungehorsam wird Dir teuer zu stehen kommen!“
„Das denke ich nicht“, fauchte Athene mit blitzenden Augen und trotziger Miene, „Odo, komm!“
Odo zögerte erst, doch dann bewegte er sich auf Athene zu, die sich mittlerweile den Hundeköpfen zum Trotz aufgerichtet hatte. Zu Odos Verwunderung sprang Athene auf den Rücken des Hundes und streckte ihm eine Hand entgegen.
„Das wagst Du nicht!“, grollte Hades, und es klang wirklich sehr böse. Doch natürlich wagte sie es. Odo ignorierte das weiche Gefühl in seinen Knien und hastete auf den dreiköpfigen Hund zu. Er bekam Athenes Hand zu fassen, die wiederum sein Handgelenk fest umschloss und ihn auf den Rücken des Hundes zog. Odo ächzte. Er hätte sich dergleichen Situationen, nach den Beschreibungen aus allerlei Epen, Balladen und Romanen, wesentlich heroischer vorgestellt. Eigentlich hätte er, mit Athenes Hilfe, schwungvoll rittlings auf dem mythischen Reittier landen sollen, so dass sie alsbald mit wehenden Haaren und flatterndem Umgang lospreschen könnten. Stattdessen zog ihn Athene bäuchlings vor sich, so dass seine Beine zur einen Seite und sein Kopf zur anderen an den Flanken des Tieres herabhingen. Odo stupste mit der Nase in das Fell des Hundes, das einen unangenehmen, muffigen Geruch hatte, und es kamen ihm dabei ein paar Härchen in den Mund. Er strampelte mit den Beinen, als sich Zerberus aufrichtete, und wäre beinahe wieder heruntergefallen.
Odo spürte Athenes Anspannung. Oder nein, eigentlich hörte er ihre Anspannung, in Form eines pustenden Geräusches. Er konnte es nicht sehen, doch mutmaßte er, dass sich die widerborstige Haarsträhne für kurze Zeit gelüftet habe.
„Pallas, ich...“, Athenes Stimme bebte, Odo meinte fast, ein Schluchzen darin zu vernehmen.
„Nun geht schon!“, kam die Antwort von Pallas.
Ein Ruf aus Athenes Kehle, der gewaltige Hund machte einen Satz, der Odos Zähne aufeinanderklacken ließ. Zerberus preschte voran.
„Da entlang!“, hörte er Athene rufen. Der Hund änderte die Richtung, und bald schon änderte sich der Klang der Pfoten, als diese auf das Gestein der Brücke trafen.
Mit etwas Mühe gelang es Odo, zu Athene aufzublicken.
Das Mädchen weinte.
Geändert von Sir Ewek Emelot (02.08.2015 um 14:54 Uhr)
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XXIII. Zwischenspiel: Der Notfallplan eines gotteslästerlichen Königs
Hades war wütend, oh ja, das war er! Er war der Gott der Unterwelt, der Herr über die Toten, der erstgeborene Sohn des Kronos und einer der mächtigsten Götter der Welt. Niemand trotze ihm! Nicht einfach so, ungestraft. Ihm galten Respekt, Furcht sogar, und unbedingter Gehorsam! Er würde sich keine Renitenz erlauben lassen!
Er schritt zügig voran, seinem Zerberus hinterher. Der setzte schneller aus, als es Hades normalerweise erwartet hätte. Sicherlich: Das Tier war ein hervorragender Jagdhund. Dennoch: Sonst war sein Haustier nicht mit so viel Herz bei der Sache.
Da! Endlich hatte er sein Ziel erreicht. Nun würde er diesen miesen, kleinen Frechdachs... Moment, was war das? Wer waren denn diese anderen Leute? Und wieso setzte Zerberus gar nicht auf seine Ziel, sondern auf eine andere Person zu?
Er konnte es nicht fassen, als sein Hund anstelle der eigentlich anvisierten Beute dieses Kind dort ansprang, das Hades irgendwie bekannt vorkam, und nicht etwa seinen höllenhündischen Zorn zeigte, sondern seine ihm als Hund entsprechende, schlabberige Sympathie.
Das war doch nicht etwa!
„Jetzt ist gut Zerberus!“, rief er, als er seine Nichte erkannte, an der sein Zerberus immer schon einen Narren gefressen hatte, vermutlich weil Athene ihn bei jeder Gelegenheit mit irgendwelchem Kram fütterte, „Aus!“
Zerberus gehorchte natürlich. Zumindest so einigermaßen. Er würde wohl noch einmal mit diesem Hundezüchter sprechen müssen, der vor einigen Generationen in sein Reich gekommen war...
„Hallo Athene“, begrüßte er die Nichte.
„Igitt! Hallo Onkel,“ kam die Antwort, „Wieso machst Du Dich nicht sichtbar? Ich finde das etwas unhöflich so.“
Das war sie, die kleine Athene, frech wie immer! Es war wirklich unglaublich! Wie kam sie überhaupt her? „Meinetwegen“, antwortete er und löste den Unsichtbarkeitszauber, in dessen Schutz er sein Reich gerne ungesehen erkundete. „Ich frage mich übrigens, wie Du in mein Reich kommst, Nichte!“, fuhr er streng fort, „Beinahe drängt sich mir der Verdacht auf, Du hättest Dich unerlaubt und entgegen dem Befehl Deines Vaters sowie meinen Gesetzen über Besuche in meinem Reich hergeschlichen“, sein Blick fiel auf eine der anderen Gestalten. War das nicht Pallas, die vor etwas mehr als einem Jahr verstorbene Freundin Athenes? „um einer albernen Sentimentalität nachzugehen. Erkläre Dich!“
Dieses Kind machte auch wirklich nichts als Ärger! Es war strengstens verboten, die Toten zu besuchen. Es handelte sich dabei schließlich um höchst sensible Geschöpfe. Nur wenige Oberflächenbewohner hatten das erforderliche Feingefühl zum Umgang mit ihnen, und nicht einmal Zeus hätte sich Hades' Gesetzen widersetzt. Nicht einmal, wenn es um eine seiner vielen teuren Affairen ginge.
Athene dagegen war da ein gänzlich anderes Kaliber als ihr Vater: „Ich denke nicht, dass ich Dir Rechenschaft schuldig bin!“, wagte sie zu sagen.
„Deine Renitenz ist wieder einmal ungeheuerlich!“, donnerte Hades, ernstlich böse. Er würde ein sehr ernstes Wort mit seinem jüngeren Bruder wechseln müssen. So konnte das mit Athenes Erziehung wirklich nicht weitergehen. „Dein Ungehorsam wird Dir teuer zu stehen kommen!“
„Das denke ich nicht“, fauchte seine Nichte, und dann: „Odo, komm!“
Einer der anderen aus dem Grüppchen setzte auf Athene zu, die sich doch allen Ernstes auf Zerberus, seinen Hund geschwungen hatte. Dieses Gör plante doch nicht etwa... Oh doch, sie plante genau das!
„Das wagst Du nicht!“, rief Hades, aber natürlich ließ sich seine Nichte nicht beirren, sondern zog diesen komischen Jungen, der Hades verdächtig lebendig aussah, zu sich auf Zerberus' Rücken und gab diesem Befehl, loszupreschen. Hades fluchte im Stillen. Er hätte, entgegen dem Rat des Hundezüchters, doch öfters zu den Leckerlis greifen sollen, das hatte er nun davon.
„Nun, das war ja wirklich etwas“, erklang eine angenehme Stimme. Hades Kopf ruckte herum. Und seine Nichte Athene war ihm plötzlich nicht mehr so wichtig.
„Ah, König Sisyphos, wie schön, dass ich Dich endlich finde“, sagte er, mit gespielter Freundlichkeit. Endlich hatte er diese Ratte gefunden! „Mir ist Dein kürzliches Ableben zu Ohren gekommen. Und weißt Du was? Du wirst es nicht glauben, aber ich habe bis heute kein Totenopfer bekommen. Na, was haben wir wohl dazu zu sagen, oh Majestät? Nun?“
Sisyphos grinste gewinnend.
„Ach Hades“, sagte er, „was kann ich denn dafür, wenn meine Hinterbliebenen...“
„Schweig! Und versuche nicht, mich zum Narren zu halten! Ich weiß genau, dass Du Deiner Frau verboten hast, mir zu opfern, wie es Sitte, Brauch und übrigens auch ganz schlicht und ergreifend mein Wille ist...“
„Ach!“, Sisyphos hob erschrocken die Hand vor den Mund, „ist das wirklich so? Nun, da hat sie wohl etwas falsch verstanden. Ich habe natürlich niemals befohlen, dass sie kein Totenopfer halten soll. Ich hatte Ihr doch nur gesagt, sie solle mich nicht wie einen doofen Oppa behandeln. Aber sie hört nicht mehr sehr gut. Weißt Du was, Hades? Ich kann das aufklären, das geht ganz leicht. Dafür muss ich nur nochmal zu ihr um ihr zu sagen, wie ich das gemeint habe, und dann wird sie Dir ganz sicher alle anstandsmäßig erforderlichen Opfer darbringen.“
Hades runzelte missgelaunt die Stirn. Dieser dumme Sisyphos hatte seine Nerven schon zu Genüge beansprucht.
„Na, meinetwegen“, sagte er und blickte in die Richtung, in die Athene mit seinem Hund verschwunden war. Das war doch das Reich von diesem affigen Fatzke Beliar! Dort hatte das Mädchen noch weniger verloren, als in seinem Hades.
„Ich öffne Dir mal kurz ein Portal... da! Aber danach kommst Du ruckzuck wieder zurück, verstanden?“ Hades warf Sisyphos noch einmal einen strengen Blick, und wandte sich dann wieder um. Offenkundig war es Zeit, seinem Nachbarn einmal einen Besuch abzustatten!
Geändert von Sir Ewek Emelot (02.08.2015 um 14:54 Uhr)
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XXIV. Wie die Weisheit zu ihrem Namen kam
Odo war sich nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. Das war nun nichts neues, üblicherweise aber störte ihn dies nicht sonderlich. Hier jedoch war es anders. Athene unglücklich zu sehen tat ihm selbst auf eine ihm völlig unerklärliche Weise leid. Glücklicherweise musste er einstweilen nicht damit umgehen, da die unsanfte Beförderungsmethode auf dem Rücken des Hundes ihn voll und ganz damit in Anspruch nahm, sich halbwegs festzuhalten und nicht herunterzufallen. Zerberus lief schnell. Ein Vergleich war schwierig, aber womöglich ebenso schnell, wie Finkregh hatte fliegen können. Andererseits mochte dieser Eindruck auch bloß dem Umstand geschuldet sein, dass Odo dem vorbeiziehenden Boden hier wesentlich näher, die Geschwindigkeit also viel besser wahrnehmbar war.
Irgendwann jedoch würde dieser Höllenritt beendet sein, und dann würde er sich mit Athenes Gemütsverfassung beschäftigen müssen. Ihm kam die Idee, sich vorzustellen, wie er sich wohl fühlen würde, sollte ihm ein Freund versterben, alleine: Dazu gebrach es ihm an Freunden. Nun, abgesehen freilich von Athene selbst. Und die Vorstellung, dass diese auf ewig aus seinem Leben schiede... das schreckte ihn dann doch zu sehr ab!
„Wir werden verfolgt“, schniefte Athene und wischte sich übers Gesicht. Ihre Miene verhärtete sich zu einem Ausdruck der Entschlossenheit. Odo bewunderte vor allem die Gewandtheit, mit der sie sich auf dem Rücken von Zerberus hielt.
Ein Pfiff ertönte. Zerberus reagierte, indem er seine sechs Ohren aufstellte, den Laufrhythmus änderte, und bellte. Der Pfiff erklang erneut, und der Hund wurde langsamer.
„Nein, Zerberus, lauf weiter!“, rief Athene. Der bellte wieder, setzte weiter voran, blieb jedoch bei einem dritten Pfiff stehen. Der Hund wandte sich halb herum und blickte zurück.
„Lauf, Zerberus, lauf!“, rief Athene. Der arme Hund winselte, offenkundig hin und hergerissen von den widerstreitenden Befehlen zweier Herrchen. Odo vermochte nicht in die Richtung zu gucken, aus der sie gekommen waren, da sein Kopf an der falschen Seite des Hundes herabhing. Athene jedoch hatte dieses Problem nicht.
„Mein Onkel kommt“, sagte sie, „wenn Zerberus nicht weiterlaufen will, müssen wir halt zu Fuß weiter. Schade, dass dieser Drache nicht mehr da ist, der wäre jetzt nützlich.“
Odo verknifft sich eine Bemerkung darüber, dass es nicht sehr anständig war, Personen nach ihrem Nutzen zu bewerten, wobei er sich durchaus nicht sicher war, ob denn ein Drache, zumal ein toter, überhaupt als Person zu werten sei.
Er drückte sich mit den Armen ab und rutschte von Zerberus herunter, kam ächzend auf die Füße. Athene war ebenfalls herabgestiegen und streichelte die Flanke des Höllenhundes.
„Brav, Zerberus. Das hast Du gut gemacht!“
„Äh... sollten wir also?“
„Natürlich.“ Athene wirkte zögerlich. Und immer noch traurig. Die Liebkosung des Hundes schien ihr tröstlich zu sein. Doch auf einen vierten Pfiff hin hatte der sich endgültig entschlossen, seinem Herrn zu gehorchen, und lief in Richtung des herannahenden Gottes los. Hades hatte sie beinahe eingeholt, und Odo war überaus beeindruckt von dessen Laufgeschwindigkeit.
„Nun, Nichte?“, sagte Hades, als er herangekommen war, „das war nicht sonderlich klug. Dabei bist Du doch angeblich so schlau. Aber da stehst Du nun, ertappt und ohne Ausweg. Und nein, glaube mir, da wirst Du Dich nicht herauswinden können. ICH lasse mich nicht bequatschen! Wir beiden werden jetzt zum Olymp gehen, und dort ein sehr ernstes Gespräch mit Deinem Vater führen!“
„Lass mich mit meinem Vater in Ruhe“, fauchte das Mädchen trotzig.
„Athene, Du wirst...!“
„UND NENN MICH NICHT ATHENE!“ Ein Moment der Verunsicherung zuckte über Hades' Gesicht, als für einen kurzen Augenblick etwas in Pallas funkelnden Augen, in ihrer Haltung, aufblitzte, das den Gott des Todes zurückzucken ließ, eine unbeschreibliche, ungreifbare und doch deutliche wahrnehmbare Macht. „Ich heiße nicht mehr einfach nur Athene. Von nun an und zu Ehren meiner Freundin, heiße ich PALLAS, und so sollt Ihr mich von nun an Pallas Athene nennen!“
Die Worte des Mädchens verklangen, und der Moment ging vorbei. Hades runzelte zornig die Stirn, setzte zu einer Erwiderung an.
„Guten Tag“, erklang eine wohlbekannte Stimme, welche die Erwiderung des Gottes abschnitt. Die Quelle entpuppte sich erwartungsgemäß als elegant gekleideter Dämon.
„Wie bitte?“, Hades' zorniger Blick richtete sich auf den Neuankömmling, „wer bist Du denn?“
„Ich bin Shalfarezehl“, antwortete der Dämon, „ein bescheidener Diener des Gottes von Chaos und Tod, Dunkelheit und Zerstörung und Herrn des Reiches, in dessen Grenzen Du Dich gerade befindest, oh edler und unglaublich mächtiger Hades, der ohne jede Einladung oder Ankündigung eine Grenze überquert und damit im Prinzip einen interdimensionalen Eklat produziert hat...“
„Ich denke, über so eine Kleinigkeit können wir hinwegsehen.“ Der ruhige Tonfall, das milde Lächeln, das spöttische Funkeln in den Augen, ja: Es handelte sich um Beliar selbst, der erschienen war, seinen ungebetenen Gast in Empfang zu nehmen.
„Schade“, kommentierte Shalfarezehl die Äußerung seines Herrn, „und ich hatte mich schon auf etwas Abwechslung gefreut. Aber gut, meinetwegen. Ich nehme an, dass Du mich dann gar nicht mehr brauchst.“
Sein Blick fiel auf Zerberus.
„Hm, mich beschleicht gerade das unangenehme Gefühl, dass ich hier im Augenblick im Prinzip als eine Art Äquivalent zu dem Viech da fungiere. Bäh.“
Hades räusperte sich.
„Bei allem Respekt, Nachbar! Ich bin hier, um meinen Hund zurückzuholen. Und meine Nichte.“
„Deinen Hund hättest Du daran hindern sollen, herzukommen. Immerhin haften Hundehalter für die Taten ihrer Tiere! Und diese sind hier an der Leine zu führen.“
Beliar zeigte auf ein in der Nähe befindliches Schild, das ebendies unmissverständlich und mit passendem Piktogramm untermalt anzeigte.
„Wie gesagt, ich wollte sowieso nicht lange bleiben, sondern nur Zerberus und Athene einfangen. Das habe ich jetzt getan. Wenn Du mich also...“
„Ich gehe nicht mit Dir“, widersprach Athene leise.
„Oh doch, Du wirst...“
„Hast Du denn eine Autorisierung der Erziehungsberechtigten?“, fiel Beliar dem andern Gott ins Wort, „andernfalls sehe ich nicht, wieso ich Dir dieses Mädchen gegen seinen Willen mitgeben sollte. Nein, wirklich! Soweit ich weiß, gibt es da zwei Geschwister von ihr, und eine Tante, die von ihrem Vater nachweislich den Auftrag bekommen haben, sie zurückzubringen. Ich denke, wenn ich Athene in ihre Obhut übergebe, bin ich auf der sicheren Seite, oder stimmst Du mir da nicht zu?“
Hades Miene verfinsterte sich weiter.
„Athene wird auf der Stelle mit mir kommen!“, zischte er, mit einer Stimme, leise und doch durchdringend, vibrierend vor unterdrückter Macht.
„Nein.“
Hades' Gestalt verfinsterte sich, und warf plötzlich Schatten auf den so gleichmäßig erhellten Boden, die sich krümmten und in die Länge zogen, alles Licht aufzusaugen schienen. Er wuchs in die Höhe, verschwamm zu einer wabernden, schwarzen Flamme, aus der zwei rotglühende Augen herausstachen. Und eisige Kälte strahlte Odo von dieser Flamme her an, zog alle Wärme und alles Leben aus ihm heraus. Sein Blick verschwamm, das Bewusstsein drohte ihm zu schwinden. Da stellte sich eine andere Gestalt in sein Blickfeld. Das Gefühl der Kälte riss ab, sein Blick klärte sich, die verschwommene Gestalt gerann zu Athenes Rücken, die ihren Onkel zornig anfunkelte.
Beliar hatte die Verwandlung seines Amtskollegen gelassen verfolgt, und seinerseits keine Anstrengungen unternommen, es ihm gleichzutun.
„Ich finde es nicht klug, was Du da tust. Du übernimmst Dich.“
Hades lachte zischend. „Willst Du mir drohen?“
„Nein, natürlich nicht. Du verstehst mich falsch. Ich drohe Dir nicht, ich warne Dich. Heute ist Athene ein kleines Mädchen. Aber das wird sie nicht immer sein. Oh, ich habe davon gehört, dass sie dereinst an Macht selbst ihrem Vater gleichkommen wird. Es heißt auch, dass sie einen Bruder hatte, der Zeus an Macht übertroffen hätte.“ Beliar machte eine kurze Pause und fuhr dann im Plauderton fort: „Aber das glaube ich nicht. Ich glaube, dass die Prophezeiung über die Kinder der Metis nicht ganz richtig weitergegeben wurden. Ich glaube, dass man diesen Bruder nachträglich eingebaut hat. In Wirklichkeit war es von Anfang Athene selbst, und nur sie, nicht wahr? Aber, wie ich Euch griechische Gottheiten kenne, seid Ihr dann doch zu sehr in Euren patriarchalen Vorstellungen verhaftet, als dass Ihr die Aussicht auf die Herrschaft einer Frau akzeptieren würdet. Das heißt aber nicht, dass sie nicht wirklich mächtiger als Zeus sein wird. Und was, mein lieber Hades, wird wohl sein, wenn sich diese so mächtige Athene an einen sehr unangenehmen Onkel erinnert?“
Hades richtete seine rot glühenden Augen auf Athene.
„Dies wird ein Nachspiel haben!“, fauchte er, und noch einmal loderte die schwarze Flamme empor. Dann erlosch sie, und an der Stelle, wo Hades gestanden hatte, war nurmehr leere Luft.
„Zerberus, bei Fuß“, hörte Odo eine Stimme sagen. Der Hund trottete, scheinbar einsam, davon. Doch Athenes Augen folgten dem unsichtbaren Gott der Unterwelt.
„Das wäre dann wohl geklärt“, seufzte Beliar, „ich finde es ja sehr anständig von Dir, dass Du zurückgekommen bist, um unseren Handel zu vollenden. Ich hatte schon befürchtet, Du würdest einfach auf Hades' Seite der Unterwelt wieder in die Welt der Lebenden zurückkehren.“
Athene wandte sich zu Beliar um.
„Ich bin eigentlich nicht Deinetwegen zurückgekommen. Sondern wegen Odo. Irgendwie muss er ja wieder nach Hause kommen.“
„Hm. Und ich hatte erwartet, dass... nun, offenbar hatte ich Dich falsch eingeschätzt.“
„Ich bin nicht dumm. Ich weiß, dass es niemals etwas Gutes bringt, wenn man die Toten wieder zu den Lebenden lässt. Wie dem auch sei: Ich werde Odo nach Hause bringen. Aber wenn Du magst, kann ich Dir jetzt mit Deinen Problem helfen. Vorausgesetzt....“
„Ja?“
„Du hattest doch noch was von der Torte übrig, oder?“
Geändert von Sir Ewek Emelot (02.08.2015 um 14:56 Uhr)
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XXV. Heimreise
Odo hatte gehofft, dass der restliche Weg sich durch den Gott des Todes wesentlich einfacher und vor allem kürzer gestalten würde, stattdessen verabschiedete sich der und löste sich, zusammen mit seinem Diener, in Luft auf. So galt es also, das Schloss füßlings zu erreichen, was Odo insbesondere durch Athenes Schweigsamkeit zu schaffen machte. Die junge Göttin grübelte die meiste Zeit über. So blieb ihm selbst also nichts übrig, als ebenfalls seinen Gedanken nachzuhängen, und je länger er dies tat, desto mehr hob sich seine Laune: Er hatte nicht nur eine Freundin gewonnen, sondern er hatte Dinge gesehen, gelernt und erlebt, von denen andere bloß träumen oder dichten konnten. Er hatte Beliar selbst gegenübergestanden, sogar an dessen Tafel gegessen, er hatte eine fremde Unterwelt besucht, damit den Beweis erhalten, dass es mehr im Universum gab als nur den Morgrad.
„Pallas?“
Athene schaute zu ihm herüber. „Ja?“
„Ist es wahr, dass Du die Göttin der List und des Kriegs bist?“
„Wie kommst Du darauf?“
„Naja, dieser Sisyphos hat es erwähnt.“
Athene dachte eine Weile nach. „Nein, ich denke nicht. Genau weiß ich es aber nicht, da muss ich wohl noch schauen. Vielleicht eher die Göttin von spielen, malen und basteln. Oh, oder die Göttin des Eises!“
„Des Eises?“, Odo war skeptisch.
„Des Speiseeises, meine ich. Ein Bruder von mir ist Gott des Weins, also kann ich ja wohl das Speiseeis für mich beanspruchen!“
„Ich würde vielleicht Strategie vorschlagen. Und Wissenschaft. Wobei, als starke Schwertkämpferin wäre das noch etwas zu speziell.“
„Dann vielleicht lieber Kriegskunst? Es gibt zwar schon einen Gott des Krieges, aber der ist ein Idiot. Und anstelle von Wissenschaft nehmen wir Weisheit, das klingt irgendwie viel besser, findest Du nicht?“ Mit schwungvoller, dramatischer Geste warf Athene die Haare zurück. „Sehet ich bin Pallas Athene, die Göttin der Weisheit und Kriegskunst! Klingt nicht schlecht, oder?“
Odo stimmte zu.
„Da ist ja schon das Schloss!“, sagte er, als das Bauwerk in Sichtweite kam. Diesmal zeigte sich die Unterwelt erstaunlich kohärent, denn der Weg ging tatsächlich durch denselben Wald, den sie bereits zuvor durchquert hatten, sodann durch den üppigen Garten. Die Sonne, die irgendwann am Himmel erschienen war, stand wesentlich tiefer als bei ihrem ersten Besuch und färbte den ansonsten wolkenlos blauen Himmel orange.
„Das hier ist wie eine Oase der Normalität in diesem Reich“, bemerkte Odo.
Diesmal empfing Beliar sie nicht in seinem Kämmerlein, sondern auf der Terrasse, in einem gemütlichen Lehnstuhl sitzend. Auf einem Tisch standen bereits allerlei Leckereien bereit, darunter auch die Reste der Torte.
„Wie schön, dass Ihr endlich ankommt. Setzte Euch doch und schlagt zu!“
Athene ließ sich nicht zweimal bitten, sondern häufte sich einen Teller voll, Odo zeigte sich weit zurückhaltender, jedoch weniger aus Scham als einfach, weil er mit dem Appetit einer Göttin nicht mithalten konnte.
„Und, hast Du über mein Problem nachgedacht?“, fragte Beliar.
„Habe ich. Hast Du Deine Notizen da?“
Beliar ging ins Innere und kehrte nach kurzer Zeit mit dem beschrifteten Zettel zurück.
„Hier“, sagte er, und wollte das Papier an Athene weiterreichen, die jedoch winkte ab, stand auf und umkreiste den Tisch.
„Das machen wir anders“, sagte sie, „immerhin gibt es keinen Grund, wieso ein göttlicher Segen nicht auch bei einem anderen Gott funktionieren sollte.“
Mit diesen Worten streckte sie die Hand aus und strich mit den Fingerspitzen über Beliars Stirn.
„Nun?“
Nachdenklich zog Beliar seine Brauen zusammen und betrachtete das Blatt vor sich. Er kratzte sich eine der Schläfen, murmelte vor sich hin, und plötzlich leuchteten die Augen auf. Er stand erneut auf, holte diesmal Papier und Tinte, und begann, die Notizen um einige weitere Zeilen zu ergänzen. Schließlich hielt er das Ergebnis der jungen Göttin vor.
„Also, was sagst Du dazu?“
Athenes Augen wanderten beim Lesen hin und her.
„Oha, schau mal hier!“, sagte sie tadelnd. Stirnrunzelnd beugte Beliar sich über das Blatt.
„Was denn?“
„Na, da!“ Athene tippte auf eine Stelle,
„Huch!“ Beliar nahm die Feder zur Hand, strich etwas durch und schrieb etwas neues auf. „Kleiner Rechenfehler“, sagte er in entschuldigendem Ton und lächelte.
„Das war wirklich hervorragend. Vielen Dank! Du hast vermutlich gar keine Ahnung, wie lange ich daran herumgewerkelt habe! Und jetzt habe ich etwas für Dich.“
Aus einer seiner Taschen förderte Beliar ein Stoffbündel hervor, in dem ein offenbar massiver Gegenstand eingeschlagen war. Er legte das Bündel auf den Tisch und schlug den Stoff zurück. Zum Vorschein kam ein goldenen Amulett, in der Form einer Sonne, in deren Mitte ein roter Edelstein eingefasst war.
„Wir haben es damals mehr aus Schusseligkeit mitgenommen. Das war es doch was Du wolltest, oder?“
„Ich nicht. Aber Alzhara wollte das, ja. Ich hatte versprochen, es ihr mitzubringen, und versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen. Danke, Beli.“
Ein Ausdruck von Irritation huschte über Beliars Gesicht.
„Kein Problem“, antwortete er schließlich.
Athene und Odo beendeten das Mahl. Er kam nicht umhin, Athenes Appetit zu bewundern, dem ein großer Teil der üppig gedeckten Tafel zum Opfer fiel. Doch schließlich war selbst ihr Hunger gestillt. Beliar, der die Komplimente über die Feinheit seiner Küche wohlwollend entgegengenommen hatte, erhob sich schließlich,
„So ist es nun Zeit, voneinander zu scheiden“, sagte er feierlich und breitete salbungsvoll die Arme aus, „es war eine große Freude, Euch bewirten zu dürfen.“
„Kein Ding“, antwortete Athene und erhob sich. „Odo, kommst Du?“
Anstatt auf eine Antwort zu warten, trat sie an ihren Freund heran und ergriff dessen Hand.
„Von hier aus geht es jetzt schnell“, sagte sie und plötzlich empfand Odo wieder das Kribbeln in seinen Gliedern. Die Umgebung verschwamm und machte erneut jenem verwirrenden Gang Platz, der ihm Einblick in tausende von Orten, möglicherweise auch Zeiten gewährte.
„Müssen wir gar nicht zum Wurmloch zurückkehren?“, fragte Odo, nachdem der anfängliche Schwindel etwas verklungen war.
„Nö. Das ist ja eine Raumzeitverzerrung, die also raumzeitlich gar nicht genau zu lokalisieren ist. Anders gesagt: Man kann das Wurmloch im Prinzip von überall her und egal wann betreten oder verlassen. Kommst Du?“
Natürlich tat er das, wenn auch mit etwas weichen Knien und klopfendem Herzen. Der Gedanke, endlich in seine eigene Welt zurückzukehren, erfüllte ihn mit Freude. Und Erleichterung.
Da die gesamte Einrichtung verbrannt war, war es nötig gewesen, aus einem der anderen Räume einen Tisch sowie Stühle herbeizuschaffen. Schließlich jedoch war es gelungen, es sich inmitten der Trümmer halbwegs gemütlich zu machen. Dass man nicht in einem der andern Zimmer des Anwesens warten wollte, lag schlicht daran, dass man die Rückkehr der Pallas nicht verpassen wollte.
Die drei Gäste hatten sich Alzhara unterdessen vorgestellt.
„Also, Artemis: Was meintest Du damit, dass Pallas nicht mehr zurückkehren würde?“
Diese Äußerung der Jägerin war Alzhara durchaus nicht entgangen, und hatte sie doch mit einiger Sorge erfüllt. Immerhin setzte sie ja darauf, dass das Mädchen zurückkehrte. Sonst wäre dieses ganze Brimborium ja völlig umsonst gewesen!
„Häh? Achso, ja, also Pallas kommt natürlich nicht zurück. Jedenfalls nicht wirklich. Vielleicht wird unser Schwesterchen ein Schattenwesen zurückbringen können, das Pallas' Erinnerungen hat, vielleicht auch einen Teil ihrer Persönlichkeit. Aber bestimmt nicht ihre Freundin selbst. Die ist ja nun einmal tot.“
„Wovon redest Du? Ich dachte, Pallas wäre Eure Schwester!“
Verwirrung zeichnete sich auf Artemis' Gesicht ab.
„Ah, sie hat also... hat sich Athene Dir unter dem Namen 'Pallas' vorgestellt?“, fragte Aphrodite. Der folgenden Erklärung schenkte Alzhara keine allzu große Aufmerksamkeit, nachdem klar war, dass das Mädchen, das sie als Pallas kannte, selbstverständlich zurückkehren würde. Alles andere, einschließlich der Hintergründe oder Motive, war ihr einigermaßen gleichgültig.
„Warum hast Du unserer Schwester eigentlich bei ihrem Plan geholfen?“, fragte Hermes, der Mann, und nippte von dem frischen Tee.
„Oh, ich dachte, dass es nur angemessen sei“, antwortete Alzhara ausweichend, „immerhin ist sie ja eine Göttin, und da gehört sich das doch so.“ Natürlich war das gelogen. Die göttlich Abkunft des Mädchens war ihr nur insofern wichtig, als es sie fähiger und damit für Alzhara nützlicher machte. Doch dies brauchten diese fremden Götter ja nicht wissen. Die gaben sich denn mit der Antwort zufrieden. Ob ihnen Gottesfurcht nun so selbstverständlich war, dass sie ihr glaubten, oder ob es ihnen letztlich unwichtig war, das vermochte Alzhara nicht zu bestimmen – und so lange sie sich benahmen, war es ihr auch egal.
„Ich glaube, da passiert was“, sagte Artemis. Und in der Tat: An der Stelle, wo Pallas' Maschine gestanden hatte, krümmte sich der Raum so als betrachte man ihn durch ein stark geschliffenes Glas, und schon traten Odo und Pallas, Hand in Hand, in das Trümmerfeld, das von dem einst opulent ausgestatteten Saal verblieben war.
„Athene, endlich“, empfing Aphrodite ihre Enkelin, „wir haben uns Sorgen um Dich gemacht. Du kannst doch nicht einfach so in eine fremde Unterwelt gehen!“
„Du sieht doch, dass ich das kann“, erwiderte Athene.
„Na warte“, polterte Artemis los, doch eine Handbewegung der Tante ließ die Göttin verstummen.
„Das ist jetzt nicht die Zeit oder der Ort zum schimpfen. Wir werden diese Dinge später klären. Erst geht es darum, unsere Athene wieder nach Hause zu bringen.“ Aphrodite erhob sich und blickte ihre jüngste Nichte sanft an.
„Wirst Du wieder versuchen, wegzulaufen?“
Athene schüttelte mit dem Kopf.
„Das dachte ich mir. Hast Du das bekommen, was Du gesucht hast?“
Athenes Blick wurde traurig, doch sie nickte.
„Das freut mich. Du weißt aber, dass Dein Vater sehr böse auf Dich ist?“
Ein Schulterzucken zur Antwort.
„Wir werden das schon irgendwie regeln.“
Artemis schnaubte verächtlich. Offenbar fand die Ältere, dass es da nichts zu regeln gab, zumindest nicht in einem für Athene angenehmen Sinne.
„Bevor wir gehen, würde ich gerne noch einen Augenblick mit Odo und Alzhara haben. So zum Abschied.“
„Das gibt’s doch nicht!“, polterte Artemis, wurde jedoch erneut von der Tante unterbrochen.
„In Ordnung. Wir warten dann draußen.“ An Alzhara gewandt: „Danke für den Tee. Der war sehr lecker.“
Als die drei Götter den Saal verlassen hatten, breitete sich ein Augenblick des Schweigens aus.
„Das ist dann... der Abschied?“, fragte Odo, mit einem leichten Zittern in der Stimme.
„Hast Du es?“, fragte Alzhara an Athene gewandt.
„Ja.“
Es war nicht gleich ersichtlich, auf welche Frage Athene da geantwortet hatte, bis sie das Stoffbündel hervorholte, das sie von Beliar erhalten hatte. Alzhara nahm das Amulett entgegen und schlug den Stoff zurück. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
„Das ist es!“, sagte sie, mit funkelnden Augen, „es war mir eine Freude, mit Dir Geschäfte zu machen, kleine Pallas. Oder Athene, oder wie immer Du heißen magst.“
„Pallas Athene. Odo?“
Odo schluckte. Er fühlte einen Kloß im Hals.
„Ich bin wirklich froh, Dich getroffen zu haben!“ Athene fiel ihm um den Hals und drückte ihn fest. Unbeholfen hob er die Arme und legte die Hände auf Athenes Rücken. Diese Geste kam ihm seltsam vor, sie war so ungewohnt. Und doch fühlte es sich gut an.
„Bis bald“, flüsterte Athene ihm zu, und als sie sich von ihm löste und zum Eingang wandte, meinte er, ein listiges Lächeln auf ihren Lippen zu sehen.
Nachdem die Götter verschwunden waren, hatte Alzhara einen sehr schweigsamen Odo wieder in die Nähe des Fürstenpalastes zurückgebracht. Was immer er in Beliars Reich erlebt haben mochte: Es war turbulent genug gewesen, ihn in durchaus derangierten Zustand zu versetzen, und so sollte es ihm nicht allzu schwer fallen, den Behörden eine abenteuerliche Geschichte über seine Gefangenschaft zu vermitteln, an deren dramatischem Ende ein schwerer, durch Unaufmerksamkeit ausgelöster Brand samt Flucht stehen sollte, dem das junge Fräulein Pallas leider ebenso zum Opfer gefallen sei, wie ein Großteil der Verbrecherbande selbst. Alzhara würde sich um die Beseitigung der Spuren kümmern. Natürlich würde sie als Lady Medusa die Verbindungen zum Fürsten abbrechen. Den brauchte sie ja nun nicht mehr, und der Tod der vorgeblichen Tochter wäre wohl ein hinlänglich glaubhafter Grund für einen dauerhaften Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben.
Bevor sie jedoch an die Arbeit ging, galt es, etwas zu überprüfen. Alzhara trat an die Stelle heran, wo der Warpfeldgeneratur gestanden hatte, und streckte die Hand aus. Sie konzentrierte sich, und schon verschwamm die Hand, die Fingerspitzen zuerst, schien in einer unsichtbaren Spalte aus Nichts zu verschwinden. Ein Gefühl kalten Schmerzes ließ Alzhara zurückzucken. Sie rieb sich die tauben Finger, und packte das Amulett aus. Sie betrachtete es eine Weile, legte es sich um Hals, und wiederholte die Prozedur. Diesmal schreckte sie nicht zurück, und anstelle des Schmerzes in der Hand breitete sich ein Lächeln auf ihrem Antlitz aus. Es funktionierte also! Alzhara spürte das Gewicht des Kleinods auf der Brust, und wie dessen Macht von ihrem Herzen – dem Herzen eines Drachen – gespeist wurde. Eines lebendigen Herzens, dessen Macht sich nicht verbrauchen würde, solange es schlug.
Sie wandte sich ab. Dieser Ort war unwichtig, so viel war ihr klar. Dieses Portal konnte sie nutzen, von wo auch immer es ihr gelüstete. Sie hastete zur Tür, auf der Suche nach einem Kamin, und bei dem Gedanken an Melchiors Gesicht, wenn er die Neuigkeit erfahren würde, weitete sich das Lächeln zu einem Grinsen aus.
Geändert von Sir Ewek Emelot (02.08.2015 um 19:03 Uhr)
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Epilog
Lieber Odo,
nachdem ich von meiner Tante und meinen Geschwistern zu meinem Vater zurückgebracht wurde, war erst einmal der Tartarus los: Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie böse mein Vater war! Aber so richtig ernst nehmen kann ich ihn dabei nicht. Er grollt oft, und dann kommen so Blitze aus seinen Augen, das sieht immer lustig aus. Wie dem auch sei: Er wollte mich natürlich bestrafen und hat sich dabei was besonders schauriges einfallen lassen: Wenn ich so gerne in einer fremden Welt umherwandle, so meinte er, dann solle ich doch einmal längere Zeit in dieser Welt leben. Er findet es wohl sehr ironisch, mich zu meinem Onkel (keine Ahnung wievielten Grades) Silbervogel zu schicken, weil der zwar ein Gott auf Deiner Welt ist, aber halt total streng und so. Ein fürchterlicher Pedant! Vater meint wohl, dass der mir Benehmen beibringen kann. Wie dem auch sei: Silbervogel kann Kinder nicht ausstehen, und wahrscheinlich lässt er mich bei meinem Verwandten (frag mich nicht, wie genau und über wieviele Ecken!) Rafi auf Khorinis, damit ihm niemand seine eigene Insel durcheinanderbringt. Und ist Khorinis nicht genau die Insel, wo Du zur Schule gehst?
Ich hoffe jedenfalls, dass wir uns bald einmal sehen können.
Also bis bald,
Deine Pallas
Geändert von Sir Ewek Emelot (02.08.2015 um 18:59 Uhr)
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