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Viraya hatte den Dolch immer noch in der Hand, mehr zufällig, aber nicht ganz. Sie blickte Castor an. Es brauchte keine weiteren Worte von ihr.
"Die Längengrad-Koordinate war auf dem anderen Brief. Hier sind die Breitengrade. Wir müssen dem Bergkamm folgen dazu in Richtung Osten." Er zögerte. Viraya blickte ihn herausfordernd an. "Und wir müssen Beno holen."
Die Frau mit den schwarzen Haaren hatte noch nie so viel Entschlossenheit in Castors Augen gesehen. Er verdiente sich dadurch tatsächlich ein bisschen Respekt von ihr. Dadurch und weil er die Geheimschrift lesen konnte, aber vor allem weil er keine Angst zu haben schien vor dem was kam. Wahrscheinlich war er sein ganzes Leben darauf abgerichtet worden genau in so einem Moment zu funktionieren, genau wie sie selbst.
"Dafür werden wir aber bezahlt." Entgegnete sie nicht weniger entschlossen. "Wir setzen hier noch einen Vertrag auf."
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Geld.
"Ihr wollt verhandeln?", fragte Castor.
Geld. Das war irgendwie das letzte, an das Medin gedacht hatte. Ihm war wichtig, Usa als freier und nicht gesuchter Mann zu verlassen. Zur Abwechslung mal nicht gesucht werden. Seine Waffen zurück bekommen. Kortis auszulösen. Die Liste an Messern, die sich hinter jeder Ecke verstecken konnten, nicht noch länger werden zu lassen. Stattdessen Geld. Das war die gemeinsame Sprache, die Viraya und Castor finden konnten. Beide interessierte mehr, aber dort trafen sie sich. Und Medin konnte dabei mitspielen. Geld interessierte ihn am wenigsten, aber schaden würde es ihm auch nicht. Auf der Liste an Gründen, warum ihn Leute umbringen wollten, kam Geld erst ziemlich weit unten.
"Wir verhandeln nicht", antwortete Medin, "sondern wir nennen euch unseren Preis. Erstens: Ihr erwirkt die sofortige Freilassung unseres Gefährten Kortis und die Rückgabe all unserer Habseligkeiten bei Marlow und dem Königshof. Bestecht oder erpresst dafür wen ihr müsst. Zweitens: Alle Vorwürfe gegen uns werden fallen gelassen. Drittens: Wir verlassen Usa als freie Menschen ohne Schuld. Viertens: Wir erhalten einen Geleitbrief eures Hauses." Er machte eine kurze Pause. Das war mehr oder minder alles, was ihnen ohnehin in Aussicht gestellt worden war, doch nun formuliert aus einer Position der Stärke und nicht aus einer in Ketten heraus. Castor hatte stumm zugehört und schien nicht beunruhigt. "Fünftens: Dreihundert gorthanische Golddukaten und drei Pferde unserer Wahl aus den Stallungen eures Hauses."
Wieder stand der Mund des Adeligen kurz offen, aber er erwiderte nichts. Er kannte seine Lage und Medin war sich auch recht sicher, dass der Preis für das, für das hier das Leben eines Erstgeborenen riskiert wurde, nicht zu hoch angesetzt war.
"Und glaubt nicht, dass uns eurer Ehrenwort in der Sache reicht. Beim nächsten Lager setzen wir den Vertrag auf und ihr werdet den schönen Ring an eurer Hand dort in Kerzenwachs darauf drücken." Medin hielt kurz inne. "Sechstens?", blickte er fragend zu Viraya.
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"Also Sie müssen verstehen, dass das nicht unser Schiff ist", erklärte Gorr dem Wachmann. "Wir waren demnach gewissermaßen ja quasi nur Passagiere." Er blickte zustimmungsheischend in die Gesichter seiner Kumpanen. Die nickten eifrig. Selbst die anwesenden Matronen stimmten beflissen mit ein. So einem netten Mann, der sich derart um seine auf dem Hof zurückgelassene Frau sorgte, konnte man doch nun wirklich keinen Strick aus so einer Misere drehen!
"Und als solche können wir ja nun wirklich nicht für den Schaden verantwortlich gemacht werden, den solch ein Schiff verursacht...", schwafelte der Schmied weiter. Große Gestik und ein rotbäckiges, breites Lächeln sollten über die Schwachsinnigkeit seiner Ausführungen hinwegtäuschen. Mit mäßigem Erfolg.
"Aber der Glatzkopf da hat doch gerade gesagt, dass ER und nur ER ALLEIN der stolze KAPITÄN des schiffbrüchigen Frachters ist", sagte der Wachmann und zeigte mit dem Finger auf Schmock, der mit geschlossen Augen und zu einem Entenschnabel geschürzten Mund weiterhin zustimmend nickte. "Und dass ihr ALLE seine untergebene Crew wärt."
Gorr machte ein Gesicht das aussah, als hätte man eine eben noch vollgeschriebene Kreidetafel mit einem nassen Lappen abgewischt. Von oben nach unten, in einem Wisch.
Seine Enttäuschung war unermesslich und sein Tag ruiniert.
Jetzt gab es nur noch eines zu tun.
"LAUFT!", rief der Schmied und setzte sich hektisch in Bewegung. Die Arme wild in der Luft wedelnd fegte er wie ein angestochener Luftballon davon.
"LAUFT SO SCHNELL IHR KÖNNT!"
Die anderen standen noch einen Moment verdutzt da, bis sie verarbeitet hatten was gerade geschehen war.
Dann erst reagierten auch sie.
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Sie konnte also doch noch etwas von Medin lernen. Er verhandelte nämlich viel besser als sie. Sie hatte einzig und allein ein schriftliches Eingeständnis haben wollen, dass sie seine Söldner geworden waren, aber Medin haute noch mehrere Sachen oben drauf und das zum grossen Erstaunen von Viraya sogar mit Erfolg. Eines Tages würde sie ihm das Vorhalten können, dachte sie leicht belüstigt und fügte hinzu.
"Sechstens, du versorgst uns mit Informationen. Natürlich nichts was uns nichts angeht. Aber wir würden gerne wissen, wie wir nicht noch einmal den gleichen Leuten auf die Füsse treten."
Castor überlegte. Dann nickte er.
"Einverstanden, bei den Pferden könnt ihr allerdings nicht von allen auswählen, denn wenn ihr niemandem weiter auf die Füsse treten wollt, dann nehmt ihr keiner Person ein Pferd weg, der ein inniges Verhältnis zu ihm hat." Auch er schien entspannt bei diesen Verhandlungen. Entweder weil er dachte, dass er das alles sowieso nie einlösen würde oder weil die Forderungen für ihn in keinem Verhältnis standen zur Wichtigkeit des Ausgans dieser Mission. "Und die sechstens kommt nicht in den Vertrag, aber das versteht sich bestimmt von selber."
Er blickte Viraya an und irgendwie bekam sie das Gefühl nicht los auf der ganzen Ebene durchschaut zu sein. Ausgerechnet sie, die in so viele Intrigen und Spielereine verwickelt war, befand sich hier komplett auf verlorenem Posten. Sie schlugen ein. Dann machten sie sich auf Beno zu finden.
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Sie hatten alle keine Ahnung wohin laufen. Aber ausnahmsweise leistete Redsonja Gorrs Befehl folge und vielleicht half es tatsächlich auch, dass sie alle in andere Richtungen wirr davon stoben, denn die Wache wusste folglich nicht wem folgen. Sogar Iglo machte sich eiligst von Dannen. Ihre Worte hatten ihre Wirkung also hoffentlich nicht verfehlt. Zumal einige der Matronen auch davon stoben und eben eine solche winkte kurz darauf auch Redsonja, die gerade unentschlossen an einer Gabelung stand, ihr zu folgen. Da es ihre beste Chance war, tat Redsonja wie ihr geheissen. Sie folgte der stark parfümierten Frau und gelangte so über eine Hintertür in ein Haus. Hier konnte sie endlich etwas verschnaufen.
"Warum hilfst du mir?"
"Dieser Gorr, das ist doch dein Freund?" Sie nickte langsam. "Das ist ein braver Mann. Wir konnten nicht zulassen, dass ihm und seinen Freunden noch mehr zustösst. Zumal wir schon überlegt hatten dass wir zusammen einen Kochwettbewerb machen könnten." Sprach sie vergnügt und fügte dann noch hinzu. "Die anderen sind hoffentlich auch bald hier. Dann müssen wir aber schauen, dass wir euch erstmals in andere Kleidung stecken und ein Bad verpassen. Sonst erkennt und riecht man euch meilenweit."
Die Matrone plauderte so vergnügt, dass Redsonja ihr die Worte nicht übel nehmen konnte. Zumal es ein bisschen an ihr nagte, dass ausgerechnet Gorr derjenige war, der es wohl geschafft hatte in wenigen Momenten die Belegschaft eines ganzen Freudenhauses auf seine Seite zu ziehen. Obwohl, dachte sie und nun musste sie auch lächeln, Ragnar hätte das auch geschafft. Und das Lächeln schien der Matrone zu gefallen. Sie nahm Redsonjas Gesicht vorsichtig in die Hand und musterte sie.
"Daraus lässt sich noch etwas machen."
Beschloss sie und liess das Gesicht wieder gehen. Das konnte ja noch heiter werden.
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Ganz langsam und vorsichtig steckte Gorr den Kopf heraus. Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen und flackernde Fackeln erleuchteten die verwinkelten Gassen der Hafenstadt nur spärlich. Das warme Licht spiegelte sich in Wasserpfützen und an blank gescheuerten Mauern und ergab einen starken Kontrast zum schwach-bläulichen Mondlicht. Es waren perfekte Bedingungen um sich zu verstecken.
Gorr sah sich nach seinen Freunden um. Schmok? Keine Spur von ihm. Bloody? Ließ sich auch nicht blicken. Oder von sich hören. Oder sonstwas. Und Anne Bonny? Der Schmied wusste schon gar nicht mehr, wann er die Piratin zuletzt gesehen hatte. Wahrscheinlich bei der epischen Schlacht an Bord der Siebenarmigen Jungfrau. Und wo war Redsonja abgeblieben, die alte Verräterin? Wenn er das nur wüsste. Wenn es doch gerade nur nicht so einfach wäre, sich zu verstecken!
Den Wachmann hatten sie jedenfalls hinter sich gelassen. Der hing jetzt vermutlich irgendwo betrunken über einem Seil.
Die eingelegten Heringe, in deren Fass er sich versteckt hatte, blieben größtenteils an ihm kleben, als Gorr den Deckel hob und sich aus dem Fass herausstahl. Mittlerweile war er so gut mariniert, dass er selbst als Hering hätte durchgehen können. Er nahm sich einen von der Schulter und biss ein Stückchen davon ab. Ein bisschen zu sauer - und auch ein bisschen zu salzig, aber als Mitternachtssnack eigentlich gar nicht zu verachten. Die restlichen Fische streifte er sich von der Schulter und versteckte sie mit ein paar fegenden Fußbewegungen hinter dem Fass, welches er wieder sorgfältig hinter sich verschloss.
Als er sich umdrehte starrten ihn dutzende kleiner, refklektierender Augen aus der Dunkelheit an. Immer mehr davon tauchten auf. Sie sahen hungrig aus.
Dann tapste die erste Katze aus dem Schatten auf den Schmied und das Fass zu. Ein Anführer-Katz musste das wohl sein, denn schon bald folgten die anderen ihm nach. Gorr machte sich mit erhobenen Händen rückwärts auf dem Staub, während die felinen Vierbeiner sich immer mutiger und schneller vorwagten, bis schließlich alle Dämme brachen und sie wie eine wilde Horde über die zu Boden gegangenen Fische herfielen. Jaulende Drohgebärden waren zu hören und Gorr beeilte sich, von dannen zu kommen. Schließlich wollte er nicht herausfinden, was passieren würde, wenn der Vorrat an Fallfisch aufgebraucht und nur noch ein einziger Hering übrig war. Der Große, auf zwei Beinen. Eine Katze war ja vielleicht kein ernst zu nehmender Gegner - aber zwanzig? Heute war keine Nacht, das herauszufinden.
Gorr tauchte in die Dunkelheit ein.
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Schwefelmine 'Beliars Hauch', nordöstliches Herzogtum Gorthar
Anfangs hatte Kiyan versucht, die Tage in der Mine zu zählen. Wie oft bekamen sie Mahlzeiten, in welchen Abständen kam es zu Apellen durch die Wärter und wann wurden Lieferungen abgeholt. Bald jedoch hatte er bemerkt, dass es nichts brachte. Dass das Nutzen von einfachen Zeiteinheiten unter Tage nur Antrieb für die leisen Stimmen im Hinterkopf war, die vom Tod in diesem Lager sprachen, von ewiger Knechtschaft in der Mine, weit über jedes realistische Maß hinaus. Du wirst hier bis in alle Ewigkeit schuften, ohne Fleisch auf den Knochen, ein untoter Automat, nicht mehr. Hacken, schürfen, schlagen. Hacken, schürfen, schlagen.
In den ersten Tagen hatte sich Kiyan erholen müssen. Von der Überfahrt ins Lager, von dem Verhör durch Salvaro Barenzia. Selbst jetzt – Wochen später – stieg die Angst in dem Wächter auf, ein Gefühl, dass er lange Zeit nicht gekannt hatte. Was auch immer der Grund für den Hass dieser alten Bekannten auf Kiyan und seine Familie war, Barenzia hatte ihn durch die Tortur, die er dem Gefangenen zuteilwerden ließ, mehr als deutlich gemacht. Dennoch kreiste über dem brodelnden Teich aus Angst und Verzweiflung ein einsamer Adler als Sinnbild der Logik, immer wieder die Frage nach dem Warum stellend.
„Meister …“
Kiyan schreckte auf, wie er da so hockte. Der Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Eine etwas eingefallene Brust, musste er zugeben. Die Lumpen, die er zu Beginn der Haft noch gut gefüllt hatte, wirkten etwas lockerer an seinem Leib.
„Heric, ja, was gibt’s denn?“, fragte er vorsichtig, fast ängstlich. Würde der Bursche ihn weiter verspotten, verachten … hassen? Noch jemand, der mich hassen würde. Nur diesmal aus mir nachvollziehbaren Gründen …
„Entschuldigt meine Worte.“ Der Jugendliche stand da, blickte ihm geradeaus in die Augen. Das war nicht die dahingemurmelte Entschuldigung eines Kindes, sondern das ernstgemeinte Bitten um Verzeihung eines Erwachsenen. Kiyan lächelte.
„Junge, es gibt nichts zu entschuldigen … du … hast recht gehabt mit deinen Worten“, begann er krächzend. „Nur … Götter, ich weiß nicht, was wir tun sollen. Verstehst du das? Oft im Leben hatte ich für eine Situation, in der ich mich befand, eine Lösung. Ich habe nie aufgegeben. Als man mir das Bein brach, mich zum Krüppel machte, da humpelte ich zu meinem Vater und bat ihn darum, mich zu seinem Lehrling zu machen. Und danach, auf all den Expeditionen, habe ich trotz Sturm, sengender Hitze oder beißender Kälte einen Schritt nach dem anderen gemacht, immer vorwärts, nie zurück. Nie stehen bleiben und anzweifeln, ob der Weg richtig ist. Stellt er sich als falsch heraus, sucht man sich einen anderen.“
Lange Zeit sah er Heric in die Augen, seufzte dann so schwer, als würde das Gewicht des gesamten Berges auf seiner Brust lasten. „Aber hier … jetzt … nach alldem …“
„Werden wir es schaffen.“, unterbrach der Jugendliche ernst und sah seinen Lehrmeister entschlossen an. „Wir sind vom Waldvolk, Meister Kiyan. Ihr seid Wächter, ich bin Euer Lehrling. So wie Ihr mir eine Stütze seid, bin ich Euch ebenso eine.“ Er zögerte kurz, nickte dann wie für sich selbst. „Kommt mit. Ich habe mit den Leuten vom Schlangenvolk gesprochen, den Jüngern.“
Kiyan unterdrückte ein fast abfälliges Schnauben, hoffte, dass der Bursche es nicht bemerkt hatte. Nickte dann langsam. „Wenn … wenn sie einen Weg kennen, nun, dann schadet es nicht, ihnen zuzuhören, oder?“
Heric grinste bis über beide Segelohren. „Ganz genau, Meister! Kommt, ich helfe Euch hoch. Ihr müsst mehr essen, verfluchter Mist!“, bemerkte der Bursche, als er seinen Meister hochzog. „In Zukunft werden die Rationen so gegessen, wie sie ausgegeben werden, klar?“
Kiyan lachte auf, das erste Mal seit vielen Tagen aus vollem Herzen. „Selbstverständlich, junger Meister Heric.“
Geändert von Kiyan (15.01.2024 um 05:29 Uhr)
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Kurz darauf fand sich Redsonja in einem Zuber wieder und wurde geschrubbt, dann ihre Haare gewaschen und gekämmt. Wobei das kämmen doch etwas schmerzhaft war. Die Matrone zupfte und zog zusammen mit einer anderen Frau an ihren Haaren. Da war der rothaarigen Kriegerin ja schon ein kräftiger Tritt gegen das Schienbein lieber. Aber die beiden Damen, wollten von ihrem Gejammer nichts wissen. Nein, sie kicherten und erwähnte hinter vorgehaltener Hand, dass sie nicht erwartet hätten, dass eine Kämpferin so weinerlich wäre. Irgendwann durfte sie aus dem Bad kommen. Sie war erleichtert und hatte auch eine ganze Schicht (oder zwei) Haut eingebüsst. Sie atmete auf, allerdings nur einen kurzen Augenblick, denn die zwei grinsten sich schelmisch an. Dann kam eine dritte Frau mit langen Stofffetzen und etwas, was Redsonja erst gar nicht identifizieren konnte. Das Grinsen verriet allerdings nichts gutes.
Wachs?
Sie runzelte die Stirn. Nein das war es bestimmt nicht wofür würden sie flüssiges Wachs gebrauchen?
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Schwefelmine 'Beliars Hauch', nordöstliches Herzogtum Gorthar
Die Angehörigen des Schlangenvolkes, der Jünger von Slaassik, waren für Kiyan eine herbe Enttäuschung. Die Aufgeregtheit, mit der Heric von den Dschungelbewohnern erzählte, hatte in ihm zuerst eine leise Hoffnung geweckt. Vielleicht war wirklich ein Auflehnen, ein Ausbruch möglich. Keine blutige Revolte, die nach Tod und Verwundung stank, sondern eine gut geplante Flucht. Als er jedoch in die Runde blickte – wohlwissend, dass er selbst alles andere als beeindruckend aussah – schwand die Hoffnung so schnell, wie sie gekommen war. Als Heric ihn angrinste, als wolle er sagen ‚Na, zu viel versprochen?‘, musste sich der Gortharer zusammenreißen, nicht zu niedergeschlagen aus der Wäsche zu schauen.
Es waren größtenteils Alte und Junge. Sehr Alte und sehr Junge. Frauen fanden sich nicht. Entweder blickte Kiyan in herausfordernd blitzende, schräg stehende Augen von Jugendlichen, bei denen mitunter nicht einmal der erste Bartwuchs Einzug gehalten hatte, oder in die leeren, hoffnungslosen Löcher, die ihm aus den runzligen Gesichtern der Greise entgegen starrte.
Wir sind verloren. Verloren, verzweifelt, verlassen.
„Ist er eingeweiht?“, fragte ein Bursche, der vielleicht so alt war wie Heric und deutete abfällig auf Kiyan, der Blick nicht viel respektvoller als die Geste. Einen Moment regte sich Wut in ihm, verging aber wieder, als er sich überlegte, wie er in dem Alter gewesen ist.
„Ja, er ist mit dabei.“, Heric nickte heftig, doch Kiyan ließ den anderen Jüngling gar nicht zu Wort kommen.
„Das“, unterbrach er ihn schon beim Luftholen, „hängt stark davon ab, wie euer Plan genau aussieht.“
Heric sah ihn fast schon gekränkt an, aber der Gortharer ignorierte es in diesem Moment. Der Bursche vom Schlangenvolk trat herausfordernd vor.
„Angst, Alter? Heric hat erzählt, dass du eingeknickt bist. Dass du dich mit dem Schicksal abgefunden hast, hier auf ewig gefangen zu sein.“ Er spuckte dem Wächter vor die dreckigen Fußlappen, die alle Gefangenen hier trugen. In Kiyans Gesicht zuckte etwas, aber er kämpfte den ehrlichen Drang, dem Burschen eine Ohrfeige zu verpassen, nieder und lächelte finster.
„Seid ihr so heiß darauf, abermals in die Scheiße zu greifen?“, antwortete er und mit jedem Wort wurde das Lächeln widerwärtiger, „Ja, Heric hat mir erzählt, dass ihr’s vor ein paar Jahren schon einmal probiert habt. Euer heiliger Vebrannter kam und wollte euch befreien. Daran, dass hier nur Hosenscheißer wie du und alte Knacker versauern, erkenne ich, dass das ja mal ein Reinfall war, nicht wahr?“ Er trat dicht an den Burschen heran.
„Also solltest du dich hier vielmehr mit deinem Schicksal abfinden, Junge. Womit wollt ihr die Wärter bekämpfen? Spitzhacken? Beliar noch eins, die haben Schwerter, Schlagstöcke und Armbrüste. Wachhunde, die dürre Pfeifen wie dich in der Luft zerreißen.“ All die Wut der letzten Tage, Wochen – Götter, Monate – bahnte sich ihren Weg. „Was denkt ihr, mh? Dass euch eure verdammte Jugend unbesiegbar macht? Am Ende wird die eine Hälfte von euch von Armbrustbolzen durchlöchert und die andere zerhackt und den Kötern zum Fraß vorgeworfen. Und wofür? Einen möglichst beeindruckenden Tod?“
Die rechte Hand Kiyans schoss vor, packte den kleineren Burschen am Kragen seiner lumpigen Kluft. „Also ja, verdammt, ich habe mich mit dem Schicksal abgefunden, weil ich eine Situation realistisch einschätzen kann. Weil ich weiß, dass es ein verfluchtes Wunder braucht, um hier herauszukommen.“
Eine Hand legte sich auf Kiyans Schulter. Ein kurzer Seitenblick zeigte, dass es die runzlige, von Leberflecken gezeichnete Hand eines der Greise war. Aus müden, aber lebenserfahrenen Augen blickte er ihn an und schüttelte den Kopf. Der Gortharer fletschte kurz die Zähne, ehe er den Bengel von sich stieß. Heric fing ihn auf und funkelte seinen Meister vorwurfsvoll an. Den Blick ignorierend, wandte sich Kiyan dem Alten zu.
„Was willst du?“, knurrte er.
„Dir ein Wunder zeigen.“, antwortete der alte Anhänger von Slaassik und bedeutete ihm, zu folgen.
Geändert von Kiyan (21.01.2024 um 19:22 Uhr)
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Schwefelmine 'Beliars Hauch', nordöstliches Herzogtum Gorthar
Das zitternde, immer wieder kichernde Bündel, welches in der scheinbar hintersten Ecke der Quartiere der Jünger von Slaassik lag, schien ansatzweise menschlich. Misstrauisch, jedoch auch verwirrt blickte Kiyan darauf hinab und sah dann den Alten fragend an. Dieser schien nach Worten zu suchen, um eine Erklärung abzugeben.
„Sie … mh“, er schwieg kurz, ehe er nickte und fortfuhr: „Sie ist … eine Gefangene ihres eigenen Geistes. Sie kam nach dem Verbrannten hier her. Eine … nun, ich glaube in deinen Landen spricht man von einer Zauberin? Bei uns würden wir sie wohl Knochenhexe nennen.“
Kiyan hob die Schultern. „Dann eben Knochenhexe. Und was ist an ihr nun so besonders? Abgesehen von der Tatsache, dass sie scheinbar … krank oder wahnsinnig ist? Er schüttelte den Kopf, wandte sich zum Gehen. „Reine Zeitverschwendung …“
Der Greis hielt ihn am Arm fest, unerwartet kräftig. „Sie ist eine Zauberin.“
„Und was soll uns das helfen?“
„Sie ist mächtig. Sehr mächtig.“ Die Augen des alten Mannes glänzten vor Hoffnung. „Sie ist … aus diesem Land. Gorthar. So wie du.“ Er deutete auf Kiyan. „Ihr seid vom selben Volk. Steinprediger. Baummörder. Städtebauer.“
Kiyan merkte, wie Müdigkeit und allumfassende Enttäuschung ihn langsam ungeduldig und wütend machten. „Bei Adanos, Alter, sag was du willst. Was soll ich mit der Hexe machen? Sie. Ist. Durchgeknallt. Verstehst du das? Versteht das irgendjemand von euerm Volk? Findet euch mit dem Schicksal ab, ihr Narren, anstatt auf Wunder und eine Wahnsinnige zu hoffen.“
„Schäflein, Schäflein spring, Träume sollst du mir bald bring‘ ...“, sang das Bündel und kicherte erneut.
Verächtlich blickte Kiyan von der angeblichen Zauberin zum Alten. „Siehst du? Plemplem.“ Der Gortharer tippte sich an die Schläfe. „Mögen die Götter uns behüten, dass ihr Wahnsinn jegliche Magie fortgespült hat.“
Der Alte schüttelte heftig den Kopf, immer noch den Hoffnungsschimmer in den trüben Augen. „Das ist es ja, Steinprediger! Sie besitzt immer noch ihre Macht!“
Wie von der Blutfliege gestochen, sprang der Wächter zurück. „Ihr Idioten! Gebt den Wachen Bescheid! Wenn sie auch nur ansatzweise stark in der Magie ist, kann sie hier unten ein verfluchtes Chaos entfesseln!“
Der Greis tätschelte ihm den Arm, was Kiyan damit quittierte, diesen unwirsch wegzuziehen und sein Gegenüber abweisend anzufunkeln. „Du sollst sie … besänftigen. Aus dem Wahnsinn leiten. Ein Volk, Steinprediger. Ihr seid verbunden. Uns seid ihr fremd, wir sind euch fremd.“ Er sah dennoch mitfühlend hinab. „Sie hat gelitten, das spüre ich.“
Kiyan knirschte mit den Zähnen und schüttelte abermals den Kopf, fragte sich ernsthaft, warum er sich dieses Trauerspiel gab. Sein Blick fiel auf die Knochenhexe, auf ihr rostrotes Haar, welches vor Schmutz und Fett starrend, wie ein kupfernes Tuch über ihrem Kopf und den Schultern lag.
„Adanos“, flüsterte er und beugte sich herab. Durch den roten Schleier funkelten ihn eisblaue Augen aus einem blassen Gesicht an.
„Am Meeresboden sitzt er da, die Ertrunkenen sind sein Gefolge. Richtet über die Welt vom Thron des Unentschiedenen. Ihr betet ihn an, ihr fleht ihn an und er beantwortet all euer Klagen mit kaltem Schweigen. Das Dunkel am Meeresboden ist das Dunkel seines Herzens.“
Gackernd wandte sie wieder den Kopf ab, lachte noch einige Zeit, ehe es abebbte und zu einem Schnarchen wurde. Kiyan schluckte, merkte gar nicht, dass er für einen Moment wie erstarrt dagestanden hatte. Sein Blick fiel auf Heric, der herantrat. Auch in seinen Augen schimmerte Hoffnung. Und ein stummes Flehen.
„Ist ja schon gut“, knurrte er, „Ich werde es versuchen. Im besten Falle kommen wir hier raus, im schlechtesten sind wir nah genug an ihr dran, dass ihre Magie uns tötet.“ Ein trockenes Auflachen. „Wahnsinnige Zauberinnen, ha, was kann da schon schief gehen?“
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Schwefelmine 'Beliars Hauch', nordöstliches Herzogtum Gorthar
Tage vergingen, in denen der Wächter seiner Berufung auf gewisser Weise nachging und bei der unzurechnungsfähigen Zauberin mit dem roten Haar Wache hielt. Anfangs schweigend und die zumeist reglose Gestalt nur misstrauisch musternd, dann stellte er Fragen, plauderte … und irgendwann erzählte er schlicht und ergreifend von seinem Leben. Von der Kindheit in den Straßen Gorthars, als Sohn eines Kaufmannes, der den Sprung vom einfachen Händler zum wohlhabenden Geschäftsmann geschafft hatte. Von seinen jugendlichen Eskapaden und Plänen, Offizier der Gortharischen Stadtwache zu werden und vielleicht einmal mit den legendären Soldaten Humm und Buck dienen zu dürfen. Von dem einen Ehemann einer Geliebten, der keine Freude empfand, Hörner aufgesetzt zu bekommen und Kiyan im Laufe eines Duells das Bein brach. Von den schmerzhaften Monaten der Genesung, von der folgenden Kaufmannsausbildung unter den Fittichen seines Vaters, der ihm offen erklärte, dass er wohl erst auf so eine Art und Weise auf den Boden der Tatsachen aufschlagen musste, um vernünftig zu werden.
Er erzählte von den Reisen, vom Handel mit Artefakten, exotischen Dingen, oftmals Tand und manchmal schon mehr geschmuggelter Grabschmuck. Von den Expeditionen in tiefe Dschungel, durch Prärien, in den eisigen Norden des Gortharischen Kontinents und den brennenden Süden. Von der prachtvollen Wüste Al Sherim, der legendären Gnadenlosen, deren Ränder er erblicken durfte, jedoch niemals in das flammende Herz dieses Ödlands vorgestoßen war. Etwas, das nur wenige wagemutige Helden und Abenteuer je getan haben.
Dann sprach er von dem Tod der Eltern, dem Bruder, der ihn verstieß. Erzählte von Argaan, der Heilung durch den Magier Esteban, von der Zeit als Kurier und Bote auf dem Festland und der Genesung nach einer Verletzung im Hammerclan. Von der Zeit als Jäger und von Tooshoo, den Wächtern und der Zukunft, die er dort zu haben gehofft hatte. Leiser, fast flüsternd, sprach er von den Umständen, die ihn in diese Mine gebracht hatten.
Der Brief, der vom Tod Jakobs sprach, des ehrwürdigen Dieners der Familie. Von der Gefangennahme in Drakia, der Folter durch Salvaro Barenzia, der Kiyan ehrlich lächelnd mitgeteilt hatte, seinen Bruder wie auch Jakob eigenhändig getötet zu haben. Von dem Feind, der ein Exempel an dem Haus Calveit statuieren wollte. Er wiederholte die Worte des Mörders: Dich wollen sie nicht tot sehen. Du wurdest verstoßen, so wie es sich für ein schwarzes Schaf gehört. Du bist keine Gefahr für meine Auftraggeber. Ich habe vorgeschlagen, dich ebenfalls zu töten. Kurz und schmerzlos. Aber, nun ja, mein Hoher Herr hat Anteile an einer Schwefelmine. Beliars Hauch. Schöner Name, schöner Ort. Dort wirst du bis zum Ende deiner Tage schuften und irgendwann sterben. Durch Steinschlag, Hunger, die Spitzhacke eines Mithäftlings oder das Schwert eines Wärters. Du bist ein Nichts und wirst wie ein Nichts von dieser Welt verschwinden.
Zähneknirschend blickte Kiyan hinab und sah die rothaarige Frau an, erschrak, als die eisblauen Augen aus dem blassen Gesicht aufblickten.
„Das schwarze Schaf wurde nicht zur Schlachtbank geführt?“ Ein Kichern. „Es wurde im Herzen der Salzwüste angepflockt und sich selbst überlassen.“ Das Kichern wurde zum Lachen. „Sag, bist du ein Schaf … oder ein Raubtier. Der Wolf im Schafspelz, den man törichterweise für besiegt hält.“
Lange sah Kiyan ihr in die Augen. Dann traf er seine Entscheidung. Für sich, seine tote Familie, für Heric.
„Der Wolf. Der Wolf, der den Strick, der ihn bindet, durchbeißt und die Fährte des Narren aufnimmt, der ihn dort angebunden hat.“ Ein kaltes Lächeln, welches die Augen nicht erreichte, verzerrte Kiyans Züge. „Und am Ende werde ich diesem Idioten die Kehle herausreißen.“
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Schwefelmine 'Beliars Hauch', nordöstliches Herzogtum Gorthar
Was hast du erwartet, du Narr? Das ein kurzes Gespräch die Wahnsinnige aus ihrer Verwirrung erweckt und sie dir die Flucht auf dem Silbertablett darreicht? Den Schlüssel zur Freiheit lässig um den Zeigerfinger drehend präsentiert?
Ja, Kiyan musste sich eingestehen, dass er darauf gehofft hatte. Das Verhalten der Jünger von Slaassik, Herics Blick, der ebenfalls davon sprach, dass diese Frau ihr Weg in die Freiheit sein würde. All das hatte in dem Wächter eine Erwartungshaltung geweckt, die nur enttäuscht werden konnte. Die folgerichtig enttäuscht wurde. Die wahnsinnige Magierin schwieg, nachdem sie ihn einen Wolf im Schafspelz genannt hatte. Fast kam es ihm so vor, als hätte sie sich nur über ihn lustig gemacht. Vielleicht hatte sie aber in ihrem Wahn gesprochen oder … ach, nur die Götter kannten darauf die Antwort.
Dennoch wich ihr der Gortharer nicht von der Seite, reichte ihr Rationen, wenn sie welche bekamen und gab ihr die Privatsphäre zum Verrichten der Notdurft. Bei diesen grundsätzlichen Dingen kam ihm jedoch immer wieder in den Sinn, dass eine voll und ganz unzurechnungsfähig Wahnsinnige nicht dazu in der Lage gewesen wäre. Als Kind hatte Kiyan mit seiner Mutter ein Sanatorium außerhalb der Stadt Gorthar besucht, wunderbar idyllisch gelegen. Lady Calveit hatte Spenden bei irgendeinem Bankett oder einer Gala gesammelt und wollte sie den Priesterinnen überreichen, die die Heilstätte führten. Kurz nach der Ankunft hatte Kiyan jedoch das Gefühl gehabt, in einem Gefängnis zu sein. Und die Bandbreite an Menschen darin hatte sich von etwas schräg bis zu katatonisch bewegt. Darunter auch Männer und Frauen, die ständig rasch vor sich hinplapperten und wie kleinste Kinder gewickelt werden mussten.
Die Eindrücke hatten ihn damals, als Kind, verstört und erschreckt, später jedoch dafür gesorgt, dass er einen Teil seiner Einnahmen aus Reisen und Verkäufen an ebenjene Priesterinnen sandte, um für jene zu sorgen, denen ihr eigener Geist und Verstand die Möglichkeit dazu nahm.
Nein, aus der Zauberin wurde er nicht schlau. Vielleicht spielte sie allen auch nur den Wahn vor.
„Ihr seid ein Rätsel, Zauberin“, murmelte Kiyan in seinen dichten, in den letzten Wochen ordentlich gewachsenen Bart hinein. „Ich würde einiges dafür geben, dieses Rätsel zu entwirren. Aber ich sehe bei Euch so viele verschlungene, sich in- und umeinander windende Fäden, dass es wohl einfacher wäre, ein bestimmtes Sandkorn inmitten der tiefsten Wüste zu finden.“
Heric trat heran, löste sich aus der Gruppe von jüngeren Angehörigen des Schlangenvolkes. Er wirkte ermüdet. Dem Gortharer fiel es wie Schuppen von den Augen. Götter, der Bursche hatte für ihn mitgearbeitet. Während er sich hier dem Wunsch nach Freiheit hingab, ließ er den Jungen für sich buckeln. „Heric“, krächzte er den Namen des Jugendlichen, „Entschuldige, bei Adanos! Ich … ich …“
Der Sohn des Waldvolkes lächelte verständnisvoll. „Alles gut, Meister Kiyan … es … geht ja um unsere Freiheit, nicht wahr? Ich glaube an Euch. Ihr werdet einen Weg finden. Ihr und sie“ – fast respektvoll deutete er auf die Magierin, die schnarchend am Boden lag – „werdet uns befreien.“
Ach, armer Junge … bei den Dreien, wieso müsst ihr die Jugend mit so viel Idealismus und Hoffnungssinn beschenken. An Grausamkeit kommt euch nichts gleich.
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Schwefelmine 'Beliars Hauch', nordöstliches Herzogtum Gorthar
„Oh, diese wachsende Verzweiflung, dieses Schwinden der Hoffnung“
Die sanfte Altstimme der Zauberin drang an Kiyans Ohr, der aus dem Schlaf hochschreckte und sich einen Augenblick verwirrt, ja fast panisch umschaute. Fast fühlte er sich wie in den ersten Tagen seiner Gefangenschaft, als Salvaro Barenzia ihn gefoltert hatte. Teils, um Informationen zu erhalten, teils, um einem Drang nach Sadismus nachzugehen. Angst kroch in seine Glieder, bis er bemerkte, wessen blasses Gesicht über seinem schwebte. Die Zauberin grinste breit und ein unangenehmes Feuer brannte in ihren Augen.
„Daran ergötze ich mich“, fuhr sie kichernd vor, „Ihr alle habt so viel Hoffnung, so viel blindes Sehnen …“
Kiyan stieß sie von sich, nicht unwirsch, aber bestimmt. Er richtete sich auf. „Hör auf mich zu verspotten, Hex- … Zauberin“, schloss er knirschend und funkelte sie böse an. Aber sie ignorierte ihn, kam wieder ganz dicht heran.
„Was ist dein Preis für die Freiheit?“, fragte sie, immer noch lächelnd.
„Was soll das denn heißen?“, knurrte Kiyan, „Gold? Einen Gefallen? Beliar, ich weiß nicht, was Zauberer als Preis für ihre Dienste nehmen …“
Das irre Lachen bekam etwas Berechnendes, etwas Listiges. „Oh, Kiyan“, säuselte sie, „ich wende eine Magie an, die … alt und mächtig ist. Manchmal auch primitiv. Aber sie ist effektiv, wenn sie ihre Macht voll und ganz entfaltet.“ Sie rutschte näher an ihn heran, drängte sich fast an ihn. „Es muss etwas von deinem Körper sein, du musst mir etwas von deinem Leib geben.“
Angewidert schüttelte er sich. „Soll ich mit dir …“
„Dummer Mann“, sie schüttelte den Kopf, „wobei das wohl ein einfaches Opfer wäre, mein Hübscher. Nein, leider ist etwas … mehr erforderlich. Etwas, das für dich einen ebenso großen praktischen Wert hat, wie es einen mystischen besitzt.“
Von irgendwo her erschien ein dünnes, grob geschliffenes Eisenstück, das die Bezeichnung Messer niemals verdient hätte. Sie ließ es über die Finger tanzen, als würde es ein Eigenleben führen. Das Lächeln wurde breiter und breiter, Kiyan schien es, fast über die Grenzen des Möglichen hinaus. Schlange, dachte er sich, sie erinnert an eine Schlange. Welch passender Eindruck in Anbetracht unserer Mitgefangenen.
„Was?“, brachte Kiyan nur krächzend hervor.
„Bevor ich dir das sage, Kiyan, bedenke: Lehnst du ab, frage ich dich nicht noch einmal. Dann steht meine Hilfe nicht mehr zur Verfügung. Dann seid ihr alle verdammt.“
Die Worte wogen schwer. Kiyan schluckte, blickte an der Magierin vorbei zu den Jüngern von Slaassik – jung wie alt – und zu Heric, der ihn beobachtete, aufmunternd nickte. „Was verlangst du“ – dieses Mal korrigierte er sich nicht – „Hexe?“
„Ein Auge.“ Sie deutete mit der Klinge auf sein Rechtes. „Dieses. Es wird mir den Blick gewähren, der nötig ist, um einen Weg zu finden. Das, was du bereits gesehen hast und noch sehen wirst, liegt darin verborgen. Oh ja, im Auge eines Menschen liegt viel Wissen verborgen über Vergangenheit und Zukunft.“
Kiyan fühlte, wie seine Glieder zu Eis wurden, wie ihn alle Kraft zu verlassen schien. Nein, nein, niemals. Das ist ein Plan Barenzias, das ist eine verdammte Falle, nein, nein, nein! In ihm kämpften der Selbsterhaltungstrieb, die fast instinktive Angst eines Wesens vor Schmerzen, mit der moralischen Verpflichtung gegenüber Heric – ja, und wohl auch gegenüber den Jüngern von Slaasik. Was ist mein Auge gegen ihrer aller Freiheit? Was sind momentane Schmerzen gegenüber dem Leben, welches die Leute noch führen können?
Ja, antwortete aber eine Stimme in seinem Geist, ruhig, völlig trocken, und was, wenn die Hexe nicht mächtig genug ist? Wenn die Flucht scheitert? Wenn du am Ende immer noch gefangen bist, nur halb blind?
Sein Herz – so sehr er sich dafür verachtete – kannte die Antwort. Die ehrliche Antwort, die Antwort eines Feiglings. Während er den Mund öffnete, um den Laut zu formen, schien es ihm, als würde die Zauberin mit einer langgliedrigen Hand gestikulieren. Aus irgendeinem Grund fühlte sich Kiyans Kopf plötzlich seltsam an. Irgendwie ... befreit, völlig unbeschwert. Dann antwortete er ehrerbietig:
„Ja, Herrin. Nehmt mein Auge.“
Geändert von Kiyan (30.01.2024 um 15:34 Uhr)
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Schwefelmine 'Beliars Hauch', nordöstliches Herzogtum Gorthar
„Weißt du, warum ich diesen Beruf ausübe?“, fragt Herr Calveit, während er – steif, würdevoll wie eh und je - auf dem Stuhl in der dunklen Kammer sitzt und seinen Sohn durch die Gläser einer Halbbrille kalt mustert. „Weil ich Ehrgeiz verehre und Faulenzerei verachte. Ja, auch der Bauer ist ehrgeizig, der Böttcher, Schmied oder Soldat. Aber was erreichen sie? Am Ende ihres Lebens blicken sie auf ein Dasein voller Arbeit zurück und hinterlassen … nichts. Ich will aber eine Dynastie schaffen, etwas für die Ewigkeit.“
„Mir geht es darum, etwas Bleibendes, Prägendes zu hinterlassen“, fährt Barenzia fort und schenkt dem Opfer, das an Händen und Füßen gefesselt ist, ein süffisantes Lächeln. „Das ist nur ein Grund, weshalb ich meine Arbeit so gerne ausübe. Zum einen entscheide ich über Leben und Tod, Calveit, und das – glaube mir – ist ein stärkeres Hochgefühl als alle Narkotika und alles Sumpfkraut der Welt dir bereiten können. Und das Wissen, dass wenn sie leben dürfen, meine Opfer noch in Jahren, ach, Jahrzehnten aus dem Schlaf hochschrecken, weinend wie Kleinkinder und schauen, ob ich unter ihrem Bett oder in ihrem Schrank bin. Für ihr restliches Leben bin ich ein düsteres Versprechen geworden, zu real, um zu sagen, dass alles nur ein Traum war. Ein wunderbares Denkmal, glaube mir.“, schließt er ergriffen von seinen eigenen Worten und zückt ein Messer mit dünner Klinge, um sich weiter ans Werk zu machen.
„Aber ach je, Meister Kiyan“, der Leibdiener Jakob schüttelt den Kopf mit dem schütteren, grauen Haar und der Miene, die dem ernsten Profil eines Königs auf einer Münze würdig wäre, „Ihr hinterlasst nichts. Ihr seid der Fleck auf der Ehre Eures Vaters, Eurer Mutter und Eures Bruders. Mein Dienst für Euch war reine Pflicht, keine Freude. Ich tat es Eures Vaters wegen, nicht weil ich Euch geschätzt habe.“
„Denn du“, die Mutter blickt von ihrer Stickarbeit auf, auf den Lippen wie so oft in ihrem Leben das schiefe Grinsen, welches schalkhaften Humor verrät, der einer Dame ihres Standes oft abhanden geht, „hast nur an dich gedacht. Kiyan der Schürzenjäger. Kiyan der Trinker. Kiyan der eitle Geck. Als ich hörte, dass jemand sich ein Herz gefasst und dir die verdiente Lektion erteilt hat, habe ich innerlich frohlockt. Endlich, sagte ich zu mir, endlich kennt er seinen Platz in der Welt. Nicht an der Spitze, sondern zerschlagen am Boden.“
„Ich wünschte du wärst auf dieser Insel gestorben“, der große Bruder, auch in Gestalt und Statur eindrucksvoller als Kiyan, spricht von oben herab, „Argaan hätte dein Grab werden sollen. Aber wie immer in deinem Leben, Bruder, ziehst du es vor, deinen Mitmenschen Ungemach zu bereiten, ihnen zur Last zu fallen. Magier müssen dich heilen, Jäger dich unter ihre Fittiche nehmen und Hauptmänner dich bemuttern, weil du nie gelernt hast, selbstständig zu sein. Was hast du in all dieser Zeit erreicht, mh? Als du nach Drakia kamst, warst du in dreckiges Leder gekleidet, bewaffnet wie ein Halunke und mit einem jungen Spießgesellen auf den Fersen, der – man möge sich das einmal vorstellen! – zu dir aufblickt. Dir! Die Maus, die die Ratte sieht und sich denkt: So groß und mächtig möchte ich einmal werden.“
„Ihr enttäuscht mich, Meister Kiyan“, Heric wendet sich im Halbdunkel des Stollens ab, „Vielleicht hättet Ihr einfach sterben sollen. Ihr seid mir eine Last.“
Wieder dieses Gefühl, als würde der Inhalt seines Kopfes nur aus Watte bestehen. Wohlig warme Watte. Er hörte Vogelgezwitscher, roch den Frühling in der Luft und nicht den Gestank nach faulen Eiern, wie er in der Mine so üblich war, Schweiß und Ausscheidungen. Die rothaarige Magierin drehte sich zu ihm um, lächelte liebevoll. „Oh, mein opferbereiter Ritter“, sprach sie mit ihrer angenehmen Altstimme, „mein Befreier. Ein Auge für das Leben all dieser Leute. Wahrlich selbstlos, nicht wahr? Du hast keine Sekunde gezögert, als ich meinen Preis nannte.“
Die Hand Kiyans tastete sich langsam die rechte Wange entlang nach oben. Ihm wurde erst jetzt bewusst, wie eingeschränkt das Sichtfeld auf dieser Seite war. Seine Fingerspitzen spürten wulstiges Narbengewebe. Er erinnerte sich an den Heilungsprozess durch den Magier Esteban und vermutete, dass auch die Magierin dazu in der Lage zu sein schien. Aber irgendwie … wirkte es wesentlich archaischer. Die Magie Estebans hatte zwar keinen schmerzfreien Heilungsprozess garantiert, aber danach – als der Schmerz vergangen war – ein reines Gefühl der Genesung hinterlassen. Kiyans rechtes Auge - nein, die vernarbte Augenhöhle – brannte und fühlte sich irgendwie … falsch an? Geheilt, ja, aber auf eine Art, die alles andere als rein erschien. In dem Dunkel, das eine Hälfte seiner Sicht beeinträchtigte, tanzten Lichtflecken, rot und grün, auf seinem gesunden Auge wirkten sie schwarz, wenn sie scheinbar die Grenze übertraten. Verwirrt, schwindelnd, blickte er sich um. Hatte er Vögel gehört? Den Wald gerochen? Einbildung. Sie befanden sich immer noch in der Mine. Das Licht der Fackeln warf mehrere Schatten. Die Jünger standen weit abseits, ebenso wie Heric, der irgendwie aufgebracht schien, und gaben der Magierin und ihrem – wie nannte sie es? – Ritter Freiraum.
Stumpf starrte Kiyan mit dem einen Auge auf die Füße der Frau, den Schwindelanfall bekämpfend. Seltsam, dachte er trocken, was für Licht die Fackeln werfen. Der Schatten der Frau schien unpassend, viel zu breit und monströs für ihre zarte Statur. Als die Magierin die Hand hob, um ihm über die Wange zu streicheln, schien es, als würde der Schatten eine Pranke erheben, krallenbewehrt und behaart.
Quatsch. Du bist offenkundig verwirrt, Kiyan. Der Nachhall der Schmerzen, das neue Sichtfeld, die Beeinträchtigung. Er öffnete den Mund, um die Hexe barsch zu fragen, wann sie nun die Mine verlassen würden, aber seiner Kehle entsprangen nicht die Worte, die er gewählt hatte:
„Was nun, Herrin?“
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Schwefelmine 'Beliars Hauch', nordöstliches Herzogtum Gorthar
Kopfschmerzen, Stolpern, tanzende Lichter im vorhandenen Sichtfeld und der schwarzen Fläche, die sich nun dort befand, wo sein rechtes Auge geblickt hätte. Die Knochenhexe hatte die Wunde geheilt, so viel war Kiyan nun auch nach einer gründlicheren Untersuchung in einem Stück Blech, das ein Greis als Spiegel für eine gelegentliche Rasur nutzte, klar. Es war ein erschreckender Anblick, die Stelle, an der zuvor ein blaues Auge geruht hatte. Offensichtlich hatte die Hexe bei der Heilung nicht nur mit Magie gearbeitet, sondern auch die Wunde genäht.
Götter, mir fehlt eigentlich noch klassischer Wundbrand, um die Sache hier zu krönen.
Gerne hätte er es ihr auch sagen wollen, dieser triumphierend grinsenden, rothaarigen Zauberin, aber aus seinem Mund sprudelten die Worte, die er zuvor schon an sie gerichtet hatte, in bestem kriecherischem Tonfall: „Was nun, Herrin?“, fragte er und sah sie an, „Wie wünscht Ihr weiter vorzugehen?“
Sein Blick huschte zu Heric, der näher getreten war und ihn verwundert, ja fast entsetzt musterte. Er öffnete den Mund, um die Hexe schroff anzugehen, aber Kiyan kam ihm wie durch Zauberei zuvor.
„Schweig, Bursche!“, herrschte er den Jugendlichen an und baute sich in all seiner zerschundenen, einäugigen, stinkenden und verschmutzten Pracht vor ihm auf: „Wage es nicht die Konzentration der Meisterin zu stören!“
Dem Burschen stand der Mund sperrangelweit offen und es war klar, dass ihn diese Worte trafen. Er stammelte, suchte eine Erwiderung. Kiyans Augen – nein, Auge – sprang ihm fast aus der Höhle, so schmerzhaft geweitet war es. Jeder Muskel war angespannt, als würde er gegen Schnüre ankämpfen, die ihn ein- und umwickelten. „Ver-“, kam es durch zusammengebissene Zähne,“-schwinde!“
Götter, Heric, ich weiß nicht …
Pssst, Ruhe, mein Krieger, kämpfe nicht. Ignoriere den Burschen. Er ist unwichtig. Nicht mehr als ein Werkzeug. Das Säuseln klang seltsam. Tief, guttural, die Silben sperrig artikulierend. Es ist einfacher, wenn du dich nicht wehrst, glaube mir.
Kiyans Muskeln entspannten sich, Wärme breitete sich in seinem Leib aus. „Ja …“, stimmte er hauchend zu, „Ja, Herrin.“
Die Zauberin lächelte wieder. Sie öffnete die Hand, in der … Kiyan wollte keuchen, schreien, toben, fortlaufen. Aber er blieb stehen, starrte auf sein Auge und dann wieder zu der rothaarigen Hexe. Er neigte den Kopf. „Meine Gabe für unsere Befreiung, Herrin“, sprach er ehrerbietig, „Möge es ausreichen.“
Der Sturm in seinem Geist tobte wieder, fuhr hoch, brachte Chaos, den erst wieder die beruhigende, tiefe Stimme zähmen konnte.
„Ich werde nun ein … Ritual abhalten“, antwortete sie, ein Glitzern in den Augen, dass der Gortharer am ehesten als gierig bezeichnet hätte. „Und das wird uns Freiheit schenken.“
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Schwefelmine 'Beliars Hauch', nordöstliches Herzogtum Gorthar
„Meister Kiyan!“
Jemand rüttelte an ihm. Sein Bewusstsein wurde der warmen Schwärze, in die es abgetaucht war wie ein Wal, der Schutz suchte, entrissen und in die kalte, bittere Gegenwart zurück katapultiert. Herics Gesicht füllte sein Blickfeld aus. In der Nähe klang Lärm verschiedener Quellen in einer Kakophonie, die für Kopfschmerzen sorgte. Das dumpfe Knallen von Explosionen, das krachende Einstürzen von Hütten, die schrillen Schreie von Menschen, die qualvoll starben. Als hätte Beliar dem Burschen und seinem Meister das Privileg erteilt, einen Moment die Musik seines Schaffens genießen zu dürfen. Der Gott des Todes schien an diesem Tag reiche Ernte zu machen. Liegend – Kiyan spürte den harten Boden unter seinem Rücken – hustete er und kämpfte eine aufsteigende Übelkeit nieder, als er einen speziellen, widerlichen Geruch vernahm. Zwischen dem chaotischen Lärmstrudel mischte sich das laute Lodern von Flammen und damit verbunden der Gestank von brennenden Leibern. Etwas, das bei einem Menschen, der Monate mit minimalen Rationen mehr oder minder hatte hungern müssen, das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Diese Reaktion seines Körpers erfüllte ihn mit noch mehr Abscheu als überhaupt möglich.
„He … Heric, was …“, stammelte er und versuchte sich aufzurichten. Ein brennender Schmerz tobte in seinem linken Arm. Vorsichtig hob er ihn, hielt ihn sich vor das Auge. Da, am Oberarm, war ein brennend rotes Mal, als hätte das Feuer mit einer Pranke nach ihm gegriffen. Keine Verbrennung, aber klar ein Zeichen. „Was …“
„Das“, stieß der Bursche hervor, „ist von der Magierin.“ Er spie aus. „Der Knochenhexe!“
Herrin, wollte Kiyan ihn automatisch verbessern, sprach dieses Wort jedoch nicht. Kein Drang, der ihn dazu trieb. Keine Stimme in seinem Geist. „Die Hexe …“, wiederholte er langsam und sah zur Seite, fixierte keinen bestimmten Punkt. „Sie … das Ritual, Heric, ist es gelungen?“
Der Wächter bemerkte sofort an der Reaktion des Jugendlichen, dass dies der Fall war. Seine Miene zeigte eine Mischung aus kindlicher Faszination und alterslosem Schrecken. „Ja“, brachte er hervor, „Ist es.“
Und während Heric sprach, kehrten die Erinnerung zurück ...
In einem der hintersten Stollen der Mine hatten sich die Greise des Schlangenvolkes, die Knochenhexe, Kiyan sowie Heric eingefunden. Hier staute sich die Hitze wie in einem Ofen, ließ sie schwitzen. Der Geruch von Schmutz, Schwefel und Schweiß lag in der Luft. Nur die Hexe stand da, die Haut frei von jeglicher Feuchtigkeit. Nur in ihren Augen brannte ein fast fiebriger Glanz, wenngleich der Wächter ihn weniger als kränklich bezeichnen wollte. Gekonnt hätte er es sowieso nicht, da seiner Zunge nur lobhudelnde, unterwürfige Phrasen entsprangen. Ihm war, als hätten sich die Augen verändert. Zuvor noch eisiges Blau, schienen sie nun gelblich zu sein. Sie wirkten, als wären sie zu groß für einen Menschen, als … als würde eine fremde Kreatur durch sie blicken wie durch ein Schlüsselloch. Aber auch diese erschreckende Beobachtung konnte er nicht aussprechen.
„Ich werde etwas beschwören“, sprach die Knochenhexe und ließ sich auf den Boden nieder, um mit bloßen Händen etwas in den Dreck zu zeichnen. Kiyan kannte Runen, hatte auf seinen Reisen durchaus auch die magischen Zeichen von Feuer- und Wassermagiern sehen können. Er war sich auch sicher, dass Magier vom Schlage Estebans ähnliche, den Göttern gewidmete Symbolik nutzen. Aber das, was die Hexe in den Schutt zeichnete, schmerzte beim Betrachten. Es waren abgehackte, scharfkantige Runen. Sie wirkten auf eine Art und Weise archaisch, wie Kiyan sie nicht kannte. Etwas in ihm war der festen Überzeugung, dass selbst vor unzähligen Äonen die ersten Menschen keine solch … fremde Zeichen hätten formen können.
Als die Knochenhexe eine Reihe Zeichen im Kreis angeordnet hatte, hielt sie Kiyans geopfertes Auge in einer Hand, ehe sie sich erhob, den Arm ausgestreckt. Dann – Kiyan wollte schreien, konnte es aber nicht – ließ die sie Überreste aus der geballten Faust tröpfeln. Dem Gortharer schien es auf perverse Art ähnlich einer Segnung mit Weihwasser durch einen Priester Innos‘. Die Symbole bekamen eine blutrote Farbe, als hätte sich die Erde dort, wo sie gezeichnet worden waren, mit frisch vergossenem Lebenssaft vollgesogen.
„Schöpfer. krushak.“, die Stimme der Hexe war eine Mischung aus dem tiefen, kehligen Grunzen eines Menschen, wie er vor unendlichen Generationen gelebt haben musste, und etwas ebenso Altem, aber ungleich Dunklerem. „Schenke deinem Diener den Odem deiner Kinder, der Dämonen. Ich opfere dir das ashuk-ra meines morra, eine Gabe von hohem Wert.“
Von den Symbolen stieg langsam Rauch auf, erst schleierhaft, dann immer weiter verdichtend. Alsbald schien eine Wolke etwa anderthalb Meter über dem Ritualkreis zu schweben, die Hand der Knochenhexe mitten darin. „Suche die Wärter heim. Möge der Dämonenodem ihnen einen qualvollen Tod bereiten. Ihre Seelen sollen dir, Gebieter, dienen, so wie ich dir in der Welt der Lebenden und Toten diene als treuer varrag.“
Die Wolke schien sich zu ballen wie eine Faust, ehe sie davonschoss, einen Schweif wie ein Komet hinter sich herziehend. Kiyan wollte abermals schreien, brachte aber keinen Ton über die Lippen.
„Wie kann ich dienen, grash-varrag?“, fragte der Gortharer. Seine Zunge brachte das unbekannte Wort sperrig über die Lippen. Was – bei Beliar – bedeutete das?
Sie wandte sich um, schenkte ihm einen Blick aus diesen viel zu großen, viel zu gelben Augen. Die Hexe streckte die Hand aus, streichelte seine Wange, fuhr dann mit dem Daumen schmerzhaft langsam über die Narbe, wo sein rechtes Auge gesessen hatte. Er zuckte nicht zurück, obwohl er kreischen wollte wie ein Kind, das sich das erste Mal im Leben verbrannt hat.
„Jetzt, morra, brauche ich deinen starken Arm. Nimm dies“ – sie reichte ihm das Messer, an welchem noch Blut klebte – „und hilf unseren treuen Freunden hier, ihren Preis für die Freiheit zu bezahlen. Schau in ihre Gesichter, blicke ihnen in die Augen. Sie sehnen sich danach, zum Schöpfer zu gelangen.“
Kiyans Arm bewegte sich, obwohl er abermals mit aller Macht dagegen ankämpfte. Festen Griffes packte er das Messer, wandte sich den Greisen zu. Einen Moment war es ihm erschienen, als hätten sich zwei Bilder übereinandergelegt. Lachende, vor Freude weinende Gläubige, die ihren Teil beitragen wollten. Weinende, schreiende, gegen unsichtbare Fesseln ankämpfende Alte, die wussten, dass sie wie Lämmer zur Schlachtbank geführt wurden.
„Tu es, morra“, säuselte die Hexe in sein Ohr. „Ihr Blut schenkt uns die Freiheit.“
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Beno war wieder begraben und der Söldnervertrag aufgesetzt. Dreifach, damit jede Partei ein Exemplar hatte. Castor hatte noch einmal nachverhandelt, aber nicht was die Zugeständnisse anging. Er hatte stattdessen die Gegenleistungen konkretisiert, die dafür erwartet wurden. Die vorgenannten Söldner treten im Gegenzug in die Dienste des ehrenwerten Hauses Castor von Usa und dienen dem Blute des Hauses als Leibwachen, Führer, persönliche Streiter und Reisegefährten und erfüllen auch sonst alle Aufgaben, die ihnen angetragen werden, bis entweder drei Monde vergangen sind, oder die ihnen ursprünglich angetragene Mission in das nordöstliche Gebirge zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen ist und sie alle Vertreter des Hauses oder deren sterbliche Überreste sicher zum Stammsitz des Hauses nach Usa zurückgeleitet oder überführt haben. Der letzte Passus war dem jungen Adligen besonders wichtig gewesen. Falls er hier draußen starb, wollte er nicht das Schicksal von Beno teilen, sondern einen Platz in der Familiengruft finden. Loyalität und Blut waren starke Bande. Wenigstens wussten sie so, woran sie waren.
Zwei Tage waren sie seit dem Grab von Beno nun unterwegs, immer in Richtung der aufgehenden Sonne. Castor schien ungefähr zu wissen, in welche Richtung sie mussten, und Medin war nun vor allem dafür zuständig, die passenden Pfade für sie und die Pferde zu finden. Gerade letztere bereiteten ihm ein wenig Sorgen. Es waren gute und gesunde Tiere, aber die Strapazen des Gebirges, der Stress des Gefechts und die karge Diät im Vergleich zu den Stallungen Usas forderten ihren Tribut. Alle Tiere hatten sichtbar an Masse verloren. Es nahm noch kein beunruhigendes Maß an, aber so legten sie nun Wert auf viele Pausen und etwas mehr Weidezeit, wenn sie doch einmal ein grünes Tal in dem ansonsten eher kargen und trockenen Hochgebirge fanden. Medin nutzte die Gelegenheit auch, um Viraya noch einige Dinge über die Tiere beizubringen. Welche Kräuter sie meistens bevorzugt fraßen, wenn sie längere Ritte aushalten mussten, und wie lange ein Pferd brauchte, um auf einer Wiese das passende Fressen zu finden, damit es danach gestärkt weiterreisen konnte. Und auch den Menschen tat das etwas reduzierte Tempo ganz gut, zumal sich das Wetter ein klein wenig verbessert hatte.
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Schwefelmine 'Beliars Hauch', nordöstliches Herzogtum Gorthar
Vorsichtig, ja fast behutsam hatte Heric seinem Meister geholfen, wieder auf die Beine zu kommen. Sich auf den Burschen stützend, waren sie im Schutze einiger Bäume und Felsen dahin zurückgekehrt, von wo sie ihre Flucht angetreten hatten. Aufgrund des Rauchs, des Nebels, der in dieser Gegend allgegenwärtig schien und des allgemein herrschenden Chaos, machte sich niemand die Mühe, die beiden Gestalten in abgerissenen Lumpen zu suchen. Die Kakophonie, die Kiyans Erwachen begleitet hatte, war langsam abgeebbt. Die Schreie, vorher schrill, fast manisch und animalisch, waren nun lautem Wehklagen gewichen, dem Greinen und Flehen Verwundeter und Trauernder. Der Magen des Wächters drehte sich bei diesem Klang um.
„Was haben wir getan …“, flüsterte er und sah Heric an. In seinen Augen stand einen Moment eine gut lesbare, offene Anklage. Was habt Ihr getan, schienen sie zu sagen. Kiyan schluckte schwer, räusperte und wischte sich Feuchtigkeit aus dem Auge. Er hatte nicht bemerkt, dass er weinte.
„Wie ging es weiter … ich … meine Erinnerungen sind wahrlich lückenhaft“, stammelte er. Waren sie das wirklich? Oder wollte er die bittere Wahrheit nicht erkennen? Der Bursche schaute ihn einige Augenblicke an.
„Ihr erinnert Euch an nichts?“, fragte er langsam und sah auf die Hände seines Meisters. Sie zitterten nahezu unkontrolliert. Es kam einer titanischen Anstrengung gleich, diese ineinander zu verschränken, um die Spasmen zu unterdrücken. „Was Ihr …“, der Jugendliche brach ab und schaute zur Seite, als müsse er jeden Willen aufbringen, um auszusprechen, was ihm so lebhaft in Erinnerung blieb. Dann erzählte er.
Das Blut tropfte von der Klinge. Kiyans Beine bewegten sich auf fast mechanische Art und Weise, ein Schritt nach dem anderen, der Knochenhexe folgend. Sie hatte die blassen, dünnen Arme erhoben und bewegte sie ähnlich einer Dirigentin oder Puppenspielerin. Mal schien sie hier zu zupfen, dann dorthin zu wedeln, ehe sie wieder komplizierte Gesten vollführte, die in irgendeinem Zusammenhang mit ihrer Hexerei standen. Kiyans Gesicht war eine schreckliche Maske, auf der ein widerlich unterwürfige Miene zur Schau getragen wurde, die das Auge nicht umfasste. Im krassen Gegensatz zu seinen Gesichtsmuskeln, schien es nahezu aus der Höhle springen zu wollen und zeigte blankes Entsetzen, die Quintessenz der Panik. Er folgte der Hexe und murmelte immer wieder Dinge wie „Die Herrin ist gut“ oder „Heil dir, varrag“, wobei seine Zunge immer wieder über die fremdartigen Laute stolperte wie ein Betrunkener im dunklen Wald über Wurzelwerk. Bis zu den Ellenbogen waren die Arme der Hexe mit Blut besprenkelt, die Hände sogar derart blutrot, dass es wie eine neue, zweite Haut wirkte. Es schien zu dampfen und ab und an zu zischen, als würde jemand Wasser auf einen Stein im Krater eines Vulkans tröpfeln.
Episodenhaft zeigte sich das Bild des Horrors. Das hölzerne Bollwerk, welches den Eingang der Mine verbarrikadierte. Minimale Rationen und ausgesuchte Gewalttaten hatten das Schlangenvolk schnell gebrochen und auch die beiden neuen Gefangenen recht schnell die Regeln lernen lassen. Das hatte dafür gesorgt, dass die Wärter absolut selten in die Mine gekommen waren und sich ihr Leben fast nur davor abgespielt hatte.
Gegen die hölzerne Barrikade, gegen das breite Tor, warfen sich ein Dutzend Mitglieder des Schlangenvolkes in einer Art heulenden, geifernden Rausch. Wie wilde Tiere, schlimmer noch, wie völlig wahnsinnige, enthemmte Dämonen warfen sie sich mit verzerrten, blutenden Fratzen dagegen, zerschlugen ihre Fäuste und nutzten ihre Leiber als lebendigen Rammbock. Mit nahezu tadelndem Zungenschnalzen stieß die Hexe die rechte Hand vor, fast klauenhaft. Es tat einen schmetternden Schlag, als hätte sich die Luft plötzlich verdichtet und würde sich mit hoher Geschwindigkeit bewegen. Holz splitterte, Blut spritzte, das animalische Heulen verstummte. Irgendeine Art telekinetischer Schlag hatte ohne Rücksicht auf Verluste gewütet.
Die nächste Szene. Der Vorplatz. Tote mit aufgedunsenen Gesichtern, Flecken der Beulenpest, Zeichen der Pocken. Blut, welches aus Nase, Mund und Augen floss. Wärter, harte Männer, die noch vor Tagen einen Heidenspaß daran gefunden hatten, wehrlose Gefangene zu quälen, hockten nun zitternd an Wänden, auf dem Boden, lagen im Dreck, wimmerten und weinten wie Säuglinge, die nach ihrer Mutter riefen. Kiyan spürte, dass jemand an der zerrissenen Hose seiner Lumpen zerrte und mit deutlichen Anzeichen eines Erstickungstodes im Gesicht zu ihm hinauf starrte.
„Hil … Hil … mi … i…“, keuchte der Mann und fing an zu schnauben und zu schniefen. Die Knochenhexe hob die linke Hand und Kiyan blieb stehen. Sein linker Fuß hob sich und stieß dann gnadenlos herab. Einmal, zweimal. Bis der Wärter reglos da lag.
Götter, rettet mich! Adanos, schicke uns eine Flut und spüle all den Wahnsinn hier fort! Innos, brenne diesen Schandfleck nieder!
Morra, deine Götter sind so taub wie es leere, falsche Götzen nur sein können. Du solltest dein Flehen an jemanden richten, dem auch ich diene. Er jedoch schätzt Stärke, verehrt das Chaos, weil er beides verkörpert. Und er will nicht, dass ich damit aufhöre.
Kiyan war es, als würden sich erneut unsichtbare Fäden um seinen Körper spannen und langsam, immer weiter zuziehen und ihn einschnüren. Sein Blick fiel auf seinen Arm und es schien wirklich, als würden dünne Stricke in seine Muskeln schneiden.
Diene, wie es deiner widerwärtigen Rasse vorherbestimmt ist, und du wirst überleben. Widersetze sich, zweifle auch nur in Gedanken, und dir wird ein Tod zuteil, dass du um das gleiche Schicksal bitten wirst wie all diese Lämmer hier.
Der Gortharer vollbrachte einen geistigen Kraftakt sondergleichen: Er warf sich gegen das niederdrückende Gefühl der Stimme in seinem Kopf, dieser dröhnenden, archaischen Stimme und stellte eine Gegenfrage:
Was bist du? Du bist nicht die Hexe. Sie … nein, keine Magierin. Und du bist ganz sicher kein Mensch.
Ein tiefes Lachen antwortete ihm. Da du sowieso an meinen Fäden tanzt, morra, kann ich dir auch reinen Wein einschenken, wie man bei deinem Volk sagt. Sagen wir, deine Hexe hat zu tief in der Vergangenheit gegraben, hat in einer Höhle, weit im Norden eines fernen Kontinents, etwas aufgeweckt, was ihr zum Verhängnis wurde. Sie ist nur noch eine leere Hülle, mein Gefäß. Und nun, mein Ritter – ein erneutes, nun höhnisches Lachen– gib dich einen Moment lang der Umarmung der Raserei hin. Befreie deinen Geist und genieße die Vorstellungen, die ich deinem Verstand bieten werde.
„Hast du …“, Kiyan sah auf, direkt in Herics Augen. „Hat sie … es … Götter, was auch immer … warst du auch betroffen?“
Düster schwieg der Jugendliche und antwortete lange Zeit nicht. „Ich … erwachte früh aus dem Bann. Vielleicht liegt es an der Jugend, vielleicht an was auch immer … jedenfalls konnte ich mich verstecken. Dann sah ich Euch und schlug Euch nieder, als Ihr Euch umwandet um mir …“
„Verzeih mir, Heric“, kraftlos drangen die Worte aus Kiyans Mund, „Es tut mir leid.“
„Euch trifft keine Schuld.“, antwortete der Bursche. Aber es klang hohl, mechanisch, wie auswendig gelernt. „Die Hexe ist der Quell allen Übels.“
„Wo ist sie?“
Geändert von Kiyan (07.02.2024 um 19:55 Uhr)
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Schwefelmine 'Beliars Hauch', nordöstliches Herzogtum Gorthar
Der Lärm hatte sich gelegt. Etwas, das Kiyan als trügerische Stille bezeichnen würde, hatte die Wacht übernommen und nahm nun den Talkessel ein, in dem sich die Miene befand. Langsam folgte er Heric, der zwei Langmesser in der Hand hielt, die aussahen, als würden sie von den Wärtern stammen. Wortlos lief der Wächter in der Spur des Jüngeren und sagte kein Wort. Was hätte er auch sagen sollen? Was wollte der Bursche hören? Entschuldige, tut mir leid, ich bin aber nicht schuld. Nein, Kiyan wusste zwar, dass Heric die nötige Reife besaß und das Verständnis um zwischen seinem Meister als Person mit freiem Willen und seinem Meister als Marionette an den Strängen einer elendigen Hexe zu unterscheiden … aber es durfte ihm schwerfallen. Sehr sogar. Wie viele Übeltäter gab es auf der Welt, die ihre schrecklichen Taten hinter Unwissenheit, Verwirrung und der Zurede von Stimmen in ihrem Kopf stellten und sich von jeglicher Schuld freisprachen?
Der Gortharer schüttelte den Kopf. Hier und da brannten Feuer. Holzstöße, Barracken und ein größeres Wachgebäude mit Steinfundament. Leichen, wohin sie auch blickten, lagen Leichen. Angehörige des Schlangenvolkes, Wärter, jedoch auch einfaches Volk. Köchinnen, Handwerker. Unschuldige Bewohner der Ansammlung von Hütten, die dafür sorgten, dass die Wache versorgt wurde.
„Da.“, krächzte Heric und deutete fast unwillig auf eine Gestalt, die – übel zugerichtet – fast mittig im Kessel der Minengrube hockte. Und er erzählte weiter, während sie auf die Gestalt zugingen.
Um die Knochenhexe und ihren Ritter herum tobte ein Wirbelsturm aus Fleisch, Holz und Eisen. So würde es dereinst aussehen, wenn der Letzte Tag anbräche und die Menschen in Adanos‘ Sphäre sich gegenseitig zerreißen würden wie tollwütige Hunde. Junge Männer, gerade Herics Alter entwachsen, die mit weit aufgerissenen Augen, in denen fast nur noch das Weiß zu sehen war, die wenigen Überlebenden anfielen, die die Hexerei überlebt hatten. Kiyan sah zwei Greise, mehr dürre Klappergestellt als sonst etwas, die mit ihren wenigen verbliebenen Zähnen und Fingernägeln wie Aasfresser um einen Toten stritten und sich dabei anknurrten und -geiferten.
„So lobe ich mir dein Volk, morra“, die Hexe wandte sich ihm mit einem zufriedenen Lächeln halb zu, „Wenn ihr die Fassade eurer Zivilisation ablegt und auf eine Ebene hinabsteigt, auf der ihr euch befandet, als der Schöpfer uns über euch erhob.“ Sie deutete auf die Greise. „Das ist, was euch vorherbestimmt ist. Sich wie verhungernde Köter um einen Knochen balgen, ehe wir euch wieder eine Leine um den Hals schnüren und Benehmen einprügeln.“
Sie trat an ihn heran und tätschelte ihm wie einen Hund den Kopf. „Aber du, mein treuer Hund, du hast gezeigt, dass du dienen kannst. Dass du ‚Sitz!‘ machst, wenn ich es dir befehle. Dass du zubeißt, wenn ich ‚Fass!‘ rufe.“ Ihr Gesicht wurde ernster, der Blick aus den viel zu großen, gelben Augen kalt. „Doch etwas Erziehung muss noch sein. Dein Körper gehorcht, dein Geist jedoch … ist noch in manchen Dingen zu aufsässig, zu zweifelnd.“ Ihre Finger gruben sich in sein Haar wie Krallen, schabten schmerzhaft über seine Kopfhaut. Er spürte Schmerz, fühlte Feuchtigkeit an der Stelle, wo sie ihn brutal packte. Mit einer Kraft, die nicht menschlich war.
„Dazu musst du nur noch einige Kehlen durchbeißen. Wenn diese Vorstellung hier vorbei ist … nun, jemand muss sich um die tollwütigen Teile des Rudels kümmern. Das wird deine Aufgabe sein, ehe ich dir ein schönes Halsband anfertige.“ Die Hexe wandte sich wieder um, ehe ihr etwas einfiel. „Oh, und du musst diesen unerzogenen Welpen töten, für den du so viel übrighast. Ich erkenne die Unruhestifter in einem Wurf … und er, mein treuer Hund, ist ein Biest, dass nie hören und seinem Herrn immer wieder in die Waden beißen wird. Du wirst ihn vor meinen Augen töten, verstanden?“
Wieder das Lächeln, welches sein Herz höherschlagen ließ und seinen Geist, der sich in Tiefen zurückgezogen hatte, wo die monströse Stimme ihn nicht fand, schrie vor Terror auf.
„Es wird getan werden, wie Ihr wünscht, varrag“, sprach er, ging auf alle Viere und drückte die Stirn in den Dreck. „Ich werde dem Welpen vor Euren Augen das Genick brechen.
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Die Katzen hatte er glücklicherweise hinter sich gelassen. Oder er konnte sie nicht mehr sehen. Um ihn herum war irgendwie alles neblig grau. Und das waren die Katz bei Nacht ja bekanntermaßen auch.
Gorr spähte in diese Spelunke und in jene, doch wo er auch hinsah: keine noch so kleine Spur von Bloody oder Schmokster. Als hätte es sie plötzlich vom Boden verschluckt. Offensichtlich waren beide Meister im Davonrennen. Vermutlich waren sie schon in Nordmar.
Was ihn auf den Gedanken brachte. 'Wo, bei Beliars backenbärtigem Bub, bin ich eigentlich?" Es war ihm bisher noch gar nicht in den Sinn gekommen, sich danach zu erkundigen. Er kannte diese Gegend, diesen Hafen jedenfalls nicht. Und nun war er ganz auf sich allein gestellt. Offensichtlich.
Und dann musste er ja auch noch aufpassen, wen er fragte. Nicht, dass ihm der Hafenmeister noch auf die Schliche kam und er bis an's Lebensende die Restauration des Etablissements abzahlen müsste, dass sie mit ihrem gekaperten Schiff geschunden hatten.
Was für eine Zwickmühle.
Aber da reihte sich der nächste Gedanke an: Zum Flotten Dreier! (So war der Laden jetzt in aller Munde bekannt.) Verbrecher trieb es doch immer zum Ort des Verbrechens zurück! Vielleicht wurde er dort endlich fündig. Er schlich in den Schatten zurück zum Bordell.
Als er sich näherte, hörte er gequälte Schreie. Die Stimme kam ihm nur allzu bekannt vor.
Redsonja! Was taten sie ihr nur an? Wurde sie von den Hafenwachen gefoltert, um die Verstecke ihrer Mittäter zu offenbaren?! Aber das wäre doch völlig zwecklos, wo Gorr doch selbst schon nicht wusste, wo er war.
Er näherte sich mit aller gebotenen Vorsicht dem Butzenscheibenfenster hinter dem Feuerschein flackerte und hinter dem immer wieder das laute, wimmernde Aufjaulen der rothaarigen Kriegerin hervordrang.
Wenn sich von den wenigen Passanten, die hier vorbeikamen, daran jemand störte, ließen sie es sich nicht anmerken. Als sei das hier Alltag.
Gorr kam dem Fenster immer näher und suchte schon nach einem Verschluss, als er das klaffende Loch in den Bleifassungen entdeckte, wo eine Butzenscheibe fehlte.
Er fasste sich ein Herz und spähte vorsichtig mit einem Auge hinein, darauf vorbereitet die fürchterlichsten Dinge zu erblicken.
In der Tat schreckte er mit einem Sprung vom Fenster zurück. Sein Herz schlug ihm spürbar bis unter's Kinn. Tatsächlich hatte er Redsonja gesehen. Er hatte mehr gesehen, als ihm lieb sein konnte. Doch was genau er da gesehen hatte, konnte er nicht so genau sagen.
Flankiert von zwei kräftig gebauten Kokotten stand sie im Dampf eines heißen Waschzubers. In ihrer geschrubbten, rosa Haut. Entblößt, nass-glänzend, ihre weiblichen Formen vom Kaminfeuer umschmeichelt.
Gorr bekreuzigte sich bei dem Gedanken. Der Kragen wurde ihm plötzlich zu eng und das Wams zu heiß.
'Hummelchen, Hummelchen, Hummelchen...' wiederholte er gebetsmühlenartig in seinem Kopf.
Doch so eine Art Folter hatte er noch nie gesehen. Die eine Dame traktierte die Kriegerin mit heißem Wachs. Die andere klatschte ein Stück Tuch auf die Stelle und riss sie ruckartig wieder ab. Und wieder die gellenden Schreie der stolzen Kriegerin.
Gorr's Gesicht war heiß. Heißer als an jeder Esse. Und es wurde krebsrot bei dem Gedanken:
'Soll ich nochmal einen Blick riskieren?' Also. 'Nur um sicher zu gehen?'
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