Markus wachte zum zweiten Mal auf. Der Radiowecker spielte noch nicht. Diese Zeit, die wenigen Minuten zwischen dem hysterischen Sechs-Uhr-Alarm und der unbarmherzigen Sechs-Uhr-Dreißig Radioweckermusik war die einzige wirklich freie Zeit, die Markus für sich hatte. Er war froh, sie heute bewusst zu erleben. Nicht wie in den letzten Tagen, wo er wie betäubt in einen bleiernen Schlaf versunken war.
Markus war bewusst, dass er nicht mehr träumte, und allmählich mischten sich in die Erinnerung an die eben noch erlebten Traumbilder die Erinnerungen von gestern, und die Erwartungen an heute. Und nirgends war etwas Außergewöhnliches dabei. Gut. Die allmorgendlichen Schmerzen der Müdigkeit breiteten sich hinter seiner Stirn, hinter den Augen und heute auch hinter den Wangenknochen aus. Sie würden vergehen, wenn er erst richtig wach war. Aber das hatte Zeit. Der Radiowecker spielte noch nicht.
Die Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Wecken pflegte er mit immer neuen Plänen für den Tag zu füllen; sein Hemd bügeln, die Arbeiten von letzter Nacht beenden, in Ruhe frühstücken, ein gutes Buch lesen, joggen, eine Liste mit allem Guten in seinem Leben schreiben, die Jobangebote lesen, sich aufhängen, seine Frau küssen, mit den Kindern Fußball spielen. Und das meiste davon tat er auch, in Gedanken, noch ehe er eine Zehe rührte.
Seine Zehen waren kalt. Am Luftzug spürte Markus, dass er sich in der Nacht teilweise abgedeckt hatte, und dass seine Füße kalt und steif waren. Wenn er gleich aufsteht, würden die Glieder durchblutet, kurz kribbeln, und dann ist alles in Ordnung. Aber noch nicht gleich.
Mit einer energischen Bewegung warf er die Decke fort. Er freute sich über die Wirkung dieser einfachen Handlung und über die spielerische Leichtigkeit, mit der sie ihm gelungen war. Markus streckte sich wie seine Katze nach langem Schlaf, stieg geschmeidig aus dem Bett und huschte nackt ins Bad. Sechs Minuten später kam er erfrischt, duftend, rasiert und fast schon wieder trocken ins Schlafzimmer zurück. Bereits in der Unterwäsche plättete er mit langen effektiven Strichen sein bestes weißes Hemd und kombinierte gewagt-elegant Jeans und Jackett. Von Kopfschmerzen keine Spur, nur seine Zehen…; während er auf das Erkalten des Bügeleisens wartete, las er ein Kapitel aus dem Steppenwolf. „Ach Hermann…“ schmunzelte er, als er den Radiowecker noch rechtzeitig abstellte, bevor irgendeineine aufdringliche Melodie sich ihm auf die immer besser werdende Laune schlagen konnte.
Um 6 Uhr 45 warteten Toast und Kaffee auf Markus, der noch rasch die liegen gebliebenen Papiere von gestern Abend abgeheftet hatte. Kauend schrieb er die sieben Gründe seines Glücks auf ein weißes Blatt und heftete es an den Kühlschrank. Die Kinder würden ihn auslachen, aber Gabi würde sich freuen. Gabi…
Kurz vor sieben klingelte das Telefon. Markus trocknete den letzten Teller fertig ab und klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter, während er mit dem Ellenbogen die Tür öffnete, den Müll in die Tonne wuchtete und mit einem kurzen prüfenden Blick sicherstellte, dass alle Geräte aus, Schlüssel und Papiere an ihrem Platz und die Katze gefüttert waren.
„Ja, ich bin noch verfügbar – ja, in einer Stunde kann ich da sein. Über das Gehalt müssen wir aber noch mal reden. – Haha, richtig! Bis dann, Herr Pany!“
Markus kam zugleich mit dem Bus an der Haltestelle an, stieg ein als hätte er seinen Weg zur neuen Arbeitsstelle längst vorausgeplant, summte vergnügt und genoss die wohlige Wärme, die sich langsam in ihm ausbreitete, vom Bauch in die Brust, in den Kopf, bis zu den Fingerspitzen, die Beine hinab; nur seine Zehen…
Langsam stieg das Bewusstsein in ihm auf, dass er all diese geschmeidige Bewegung vielleicht nur geplant hatte; und wirklich, am Luftzug spürte Markus, dass er sich gar nicht bewegt hatte. Seine Zehen waren immer noch kalt. Und dann You Can Get It If You Really Want um 6:30!