Dies ist die Geschichte eines Mannes der im 20. Stock an einem Fenster stand und nicht sprang.
"Geschichte ist immer eine Lüge!", bemerkt eine laute, männliche Stimme aus dem Hintergrund des grauen Treppenhauses.
Woher weiß der was Ich denke?
"Ist ja gar nicht so schwer.", antwortet die Stimme im gleichen lauten Tonfall. "Außerdem finde ich es ziemlich frech, dass du mich DER nennst." Dabei betont die Stimme "Der" äußerst verächtlich. Danach wechselt die Stimmlage und es hört sich nach einer Frauenstimme an. "Na was is' denn jetzt du toller Hecht? Doch Wackelpudding in den Beinen gekriegt!?", fragt sie vorwurfsvoll.
Ich konnte es meinen Eltern nicht antun!
Die Stimme schnaubt verächtlich und fragt dann: "Die Eltern die du so sehr hasst, dass du von zuhause weggerannt bist um von einem Hochhaus zu springen?"
Ja. Genau. Sie brauchen mich vielleicht noch.
"Brauchen ist immer eine Lüge" wiederholt die Stimme ihren Satz, nur mit anderem Substantiv. "Die brauchen dich nicht. Niemand braucht dich. Du hast dir ja sogar noch das schäbigste Hochhaus hier im Viertel rausgesucht!" Die Stimme lacht hämisch.
Du verstehst es nicht. Ich war da oben und Ich habe es gesehen.
"Was denn gesehen?" Die Stimme hört sich durchaus neugierig an.
Gott.
"Gott?", fragt die Stimme uniteressiert. "Gott ist auch immer eine Lüge."
Wie kann man denn eine Lüge sehen?
"Dieses ganze Menschengeschlecht lebt seit Jahren eine Lüge." Die Stimme hört sich entrüstet an. "Und du fragst mich wie man eine Lüge sehen kann." Sie lacht trocken auf. "Wenn man eine Lüge leben kann, dann kann man sie auch sehen." Die Stimme scheint sich nach oben zu entfernen. "Vielleicht solltest du noch einmal hinsehen gehen!"
Lieber nicht.
"Dann sag mir was du gesehen hast! Und dieses Mal die Wahrheit!"
Ich habe einen Mann gesehen der von einem Hochhaus fällt. Mehr nicht.
"Und wieso bist du dann nicht gesprungen?"
Weil es nicht reicht. Es reicht nicht von einem Hochhaus zu springen.
"Wieso reicht es nicht. Es wäre das Ende." Die Stimme kommt anscheinend wieder näher und wird etwas ruhiger und leiser.
Das Ende von was? Das Ende von mir. Der Rest geht ohne Gnade und ohne jeden Funken von Verbesserung einfach weiter. Es reicht einfach nicht.
"Warum wolltest du denn überhaupt springen?", fragt die Stimme einfühlsam.
Das ist ein weiterer Grund gewesen nicht den Schritt nach vorne zu machen. Nicht in den Abgrund zu gehen. Als ich da oben stand, wusste ich es nicht mehr. Ich hatte keine Ahnung mehr warum ich in dieses Hochhaus gegangen bin. Ich glaube aber, ich glaube, ich wollte ein Zeichen setzen.
"Ein Zeichen für was?"
Ein Zeichen dafür, dass man so nicht mit Menschen umgehen kann. Man kann nicht von freien Menschen verlangen sich "freiwillig" in Sklaverei zu begeben.
"Wer würde sich schon freiwillig in die Sklaverei begeben?", fragt die Stimme bohrend. "Was meinst du denn?"
Ich meine diese Welt. Wir brauchen Geld, denn wir brauchen alles. Wasser, Kleider, Essen, Ansehen. Mir hat es gereicht. Ich wollte nicht mehr in diesem System leben.
"Dann hast du ja schon wieder gelogen.", zischt die Stimme und scheint sich zu entfernen. "Dann weißt du ja doch warum du springen wolltest. Tu's doch. Setz' ein Zeichen."
Du hast mich doch dazu gebracht es zu konstruieren. Du willst mich springen sehen! Wer bist du?
"Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich gar nicht wer ich bin, reicht es nicht zu sein?" Die Stimme klingt kleinlaut.
Zu sein reicht uns allen nicht. Wir brauchen mehr.
"Was wird denn mit uns, wenn wir dieses "mehr" nicht finden?"
Dann werden wir zu Maschinen. Wunderbare Maschinen.
"Warum wunderbar? Eine Maschine zu sein stelle ich mir schrecklich vor."
Weil in diesen Maschinen noch immer der Funke steckt der uns nach "mehr" streben lässt. Der Funke der keine Ruhe lässt. Der Funke der auch diese Maschinen dazu treibt ein- oder zweimal im Jahr um den Globus zu reisen, damit sie ausbrechen können. Damit sie sich zumindest nicht wie Maschinen fühlen.
"Das hört sich für mich sehr verachtend an."
Ich verachte sie nicht. Ich liebe sie. Ich hasse sie. Ich bewundere sie. Ich verachte sie. Ich fühle all diese Emotionen gleichzeitig und es macht mich schier wahnsinnig. Aber am Ende sind es auch nur Menschen die vielleicht im Leben eine falsche Abzweigung genommen haben, oder nie nach mehr gesucht haben und immer dem geraden Weg vor ihnen gefolgt sind.
"Warum machst du dir so viele Gedanken über andere Menschen? Hast du nicht eigentlich genug eigene Probleme."
Natürlich. Eigentlich hat wohl jeder genug mit sich selbst zu tun. Aber wenn jeder nur an sich denkt verzweifeln alle alleine. Ich will eine andere Art zu leben. Ich will eine Welt in der Menschen zueinander stehen. In der man seinen Nächsten fragt und man eine gerade Antwort erhält. Eine Menschheit die Fehler verzeiht und nicht bei einem Mückenstich die Endzeit heraufbeschwört. Kurz: Wir brauchen die Revolution.
"So mit brennenden Autos, Städten und toten Menschen?"
Nein. Wir brauchen eine Revolution die nicht aus Hass geboren ist. Die auskommt ohne ein Feindbild das sich in Menschen manifestiert. Natürlich ist das System von Menschen gebaut. Aber man muss diese Menschen dafür nicht hassen. Man sollte Menschen nicht dafür hassen oder verachten, dass sie zuerst an sich denken. Das ist auch Teil von Evolution. Man gewinnt nichts wenn man zu allen nur immer nett ist.
"Hast du dann nicht gerade deine eigene Revolution zerstört?"
Vielleicht. Aber da oben, da oben habe ich gemerkt, dass es nicht zu versuchen schrecklicher ist als zu scheitern.
"Also rennst du weg?" fragt die Stimme und sie scheint sich weiter nach oben zu entfernen.
Ich renne nicht weg. Ich habe aufgehört zu rennen. Ich gehe auf meine Probleme zu und stelle mich ihnen entgegen. Ich versuch' es. Es nicht zu versuchen ist Feigheit.
Die Stimme bleibt eine Weile stumm. Dann scheint sie ganz nah und flüstert: "Warum rennst du jetzt weg vor der einzigen wirklichen Lösung?"
Weil ich nur glaubte, dass der Tod die Antwort sei. Aber der Tod ist keine Antwort. Nichts wird besser, nur weil man stirbt. Wenn man stirbt, dann sollte der Tod wenigstens etwas bedeuten. Ich hingegen hinterlasse nichts, wenn ich heute sterbe, noch nicht einmal einen Abschiedsbrief. Niemand würde meine Gedanken kennen. Niemand würde wissen für was ich gestorben bin. Es wäre ultimativ sinnlos. Ich muss zuerst leben, bevor ich sterben kann. Mein Problem geht tiefer als ich. Mein Problem ist mehr als mein innerer Krieg. Mein Problem ist Teil dieser Welt. Und wenn ich nicht wenigstens für einen Menschen, außer mir, mit meinem Tod etwas gutes erreiche, dann war alles umsonst. Dann sterbe ich für nichts. Dann habe ich für nichts gelebt.
"So viel Pathos." beschwert sich die Stimme während sie sich leise entfernt. Dann ruft sie laut. "Ich hoffe du schaffst es zu leben, was du dir vorgenommen hast."
Ich auch. Aber du hast es leicht. Ich muss jetzt noch ein ganzes Leben leben und ihm einen Sinn geben. Und das bevor ich überhaupt weiß wer ich überhaupt bin, geschweige denn wer ich sein will.
"Am Ende werden wir uns wiedersehen. Und dann erzählst du mir deine Geschichte."