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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Post [Story]Die höchste Tugend


    Sanft rauschend brachen sich die Wellen am Bug des stattlichen Schiffs. Die Sonne ließ ihre Kämme in weißem Licht glitzern. Über dem Schiff kreisten Möwen, die mit ihren Rufen gegen die der Seeleute anschrieen. Vor dem Bug konnte man bereits das Land und die prächtige Hafenstadt erkennen, deren ins Meer hinausragenden Mauern mit den beiden Türmen an ihren Enden wie zwei einladend ausgestreckte Arme wirkten, mit denen sie das Schiff in Empfang zu nehmen gedachte.
    Mit gemischten Gefühlen blickte er auf die Stadt, deren Namen er trug. Nun, genau genommen trug er nicht den Namen der Stadt, sondern den der gleichnamigen Insel. Eine wichtige Unterscheidung, auf die die übrigen Mitglieder seines Standes viel Wert gelegt hätten. Die Herren von und zu Laran waren schließlich ein altes und hoch angesehenes Adelsgeschlecht, das über die Stadt und große Teile der Insel herrschte. Von Laran nannten sich dagegen eine ganze Reihe kleinerer Adels- und Ritterfamilien, die diese Insel ihre Heimat nannten und selbst meist kein eigenes Land besaßen.
    Er freute sich, seine Heimat wiederzusehen. Wenngleich er gerne reiste und schon immer mehr von der Welt hatte sehen wollen, war es doch ein schönes Gefühl, auf die Insel zurückzukehren, auf der er geboren worden war und seine Kindheit verbracht hatte.
    Dennoch wurde seine Freude durch gleich mehrere Tatsachen getrübt. Schon jetzt vermisste er die Universität von Geldern, auf die ihn sein Vater geschickt und in der er, wie es sich für einen Mann seines Standes gehörte, die letzten Jahre zugebracht hatte. Studieren, lesen, das Sammeln von Wissen, all das hatte ihn schon immer mehr interessiert als politische Ränkespiele oder feine Bankette. Aber das war nicht alles, was seine Freude trübte. Es war auch das Wissen darum, was ihn nun erwarten würde.
    Er war der Zweitgeborene. Und sein bisheriges Leben hätte für einen solchen nicht typischer sein können. Zunächst war er gemeinsam mit seinem älteren Bruder Heinrich aufgewachsen und beide hatten dieselbe Erziehung genossen. Beide waren mit den Gepflogenheiten des höfischen Lebens vertraut gemacht worden. Beide hatten eine Ausbildung im ritterlichen Kampf genossen. Und beide hatten an der weltberühmten Universität zu Geldern studiert. Kurz: Beide waren darauf vorbereitet worden, das Erbe ihres Vaters anzutreten. Es war nicht ungewöhnlich, dass Kinder oder Jugendliche verstarben. Und wenn dies mit dem ältesten Sohn eines Adligen geschah, fiel das Erbe an dessen nächstjüngeren Bruder. Deshalb wurde auch dieser zumeist schon von Anfang an darauf vorbereitet, seinen Vater einmal zu beerben, um nicht völlig unvorbereitet getroffen zu werden, sollte sein Bruder tatsächlich vorzeitig sterben.
    Doch sein Bruder war am Leben und bei bester Gesundheit. Er hatte sein Studium vor zwei Jahren beendet und war in die Heimat zurückgekehrt. Und mittlerweile war er alt genug, dass keine allzu große Gefahr eines vorzeitigen Todes mehr bestand. Dass für ihn selbst damit alle Aussichten darauf, Titel und Gut seines Vaters zu erben, dahin waren, störte ihn nicht einmal besonders. Ihn störte vielmehr, dass man ihn nun als Novizen ins Kloster geben würde.
    Dabei konnte er sich noch glücklich schätzen, dass eines der drei großen Klöster der Feuermagier direkt auf ihrer Heimatinsel lag und sein Vater somit nicht lange überlegt hatte, was aus ihm werden sollte. Genauso gut hätte er wie andere, denen es ähnlich wie ihm erging, nach Gotha gebracht werden können. Und wenn dies die beiden Optionen waren, ließ er sich doch lieber zum Magier als zum Paladin ausbilden.
    Er musste zugeben, dass der Gedanke, Magie zu wirken, ihn durchaus faszinierte. Und noch mehr angetan war er von der Vorstellung der gewaltigen Bibliothek des laraner Klosters mit all ihren Büchern. Doch die Arbeiten eines Novizen zu verrichten, nur um dann ein Leben als Priester zu führen, reizte ihn weniger. Zudem dachte er an all die Einschränkungen, die ein Leben hinter Klostermauern sicher mit sich brachte.
    Barthos von Laran seufzte und wandte sich von der Reling ab. Es half ja doch nichts. Dies war sein Schicksal wie das vieler zu spät geborener Adelssöhne vor und zweifellos auch noch vieler nach ihm. Und daran würde er nichts ändern können. Ihm blieb nur, das Beste daraus zu machen. Und jetzt musste er seine Sachen zusammenpacken. Sie würden bald im Hafen anlegen.
    Geändert von Jünger des Xardas (13.10.2018 um 15:52 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Eintritt in den Orden


    Freiherr Wilhelm von Laran führte die Gabel zum Mund und ließ die Spargelspitze genüsslich darin verschwinden. „Ihr werdet zufrieden mit ihm sein“, versicherte er nach kurzem Kauen.
    Erzbischof Lumones nickte und trank einen Schluck Wein. Er glich eher einem Edelmann als einem Geistlichen. Aber schließlich war er ja auch von Adel und herrschte als Abt des Klosters zu Laran und Erzbischof des Östlichen Archipels über die großen Länderein des Klosters. Neugierig musterte Barthos den Mann, der ihn zukünftig unter seine Fittiche nehmen sollte. Er war hochgewachsen und ausgesprochen dünn, ohne jedoch gebrechlich zu wirken. Das graumelierte Haar fiel elegant auf seine Schultern herab und ein ordentlich gestutzter Bart zierte sein Gesicht, in dem etwas Nachdenkliches, vielleicht sogar Lauerndes zu liegen schien.
    „Er studierte die letzten Jahre in Geldern“, fuhr Barthos’ Vater fort. „Ihr werdet feststellen, dass er über einen großen Wissensschatz in allen Künsten und Wissenschaften verfügt.“
    Lumones hatte nun die Hände vor der Brust zusammengelegt und musterte Barthos mit den schwer zu ergründenden Augen. „Seiner Aufnahme in unseren Orden steht nichts im Wege“, sagte er mit einer tiefen, wohlklingenden Stimme. „Wir haben die großzügige Spende nicht vergessen, die Ihr den Dienern Innos’ zukommen ließet.“
    Demütig, doch mit einem Lächeln auf den blassen Lippen, neigte der Freiherr sein Haupt.
    Lumones war weit mehr als nur der Abt eines Klosters. Es war nun ungefähr sechzig Jahre her, dass der erste Orkkrieg seinen Höhepunkt im Tod des Königs und der darauf folgenden Annexion der nördlichen Ebenen durch die Orks gefunden hatte und das Reich daraufhin in unzählige kleine Fürstentümer zerbrochen war, womit es heute wieder starke Ähnlichkeit mit der Zeit vor der Reichsgründung, achthundert Jahre vor dem großen Orkkrieg, aufwies. Auch das Archipel war davon betroffen gewesen. Die Könige Myrtanas hatten lange Zeit den Titel des Erzherzogs des Archipels geführt, wenngleich der dortige Adel sich immer eine große Eigenständigkeit bewahrt hatte. Seit sechzig Jahren nun verwaltete die Kirche des Feuers in Gestalt des laraner Klosters das Archipel. So lange, bis der leere Thron – denn nominell bestand das Reich weiter, war nie zerbrochen und wartete nur auf einen neuen Herrscher – wieder von einem Erwählten Innos’ bestiegen werden würde. Der Abt des Klosters und Erzbischof des Archipels betrachtete sich somit als oberste Autorität der großen Inselgruppe. Natürlich sahen das die örtlichen Fürsten anders. Zwar widersprachen sie dem Herrschaftsanspruch der Kirche nicht direkt, doch im Grunde kümmerte sie wenig, wie diese die Lage beurteilte. Stattdessen waren sie untereinander in Machtkämpfe verwickelt und die mächtigsten von ihnen strebten danach, als Vertreter des nicht existenten Königs und somit Erzherzog des Archipels anerkannt zu werden.
    Barthos verzog etwas das Gesicht. Seine Gedanken waren mal wieder abgeschweift und hatten ihn weit weg getragen, zu Themen, die ihn eigentlich nur mäßig interessierten. Natürlich war er als Adelssohn politisch sehr versiert, doch im Grunde waren ihm die Machtkämpfe des Adels und der Kirche, die stetig versuchte, ihre offiziell bestehende Machtposition auch in der Realität geltend zu machen, zuwider.
    Gedankenverloren ließ er den Blick über die kostbaren Wandteppiche und Ölgemälde schweifen, die die steinernen Wände des Raumes schmückten und verharrte mit den Augen schließlich auf einem der schmalen, hohen Fenster. Viel war um diese Urzeit allerdings nicht mehr zu erkennen. Doch Barthos hatte die Landschaft schon bei ihrer Ankunft an der Klosterpforte bewundert. Das Kloster zu Laran schmiegte sich an den Hang eines hohen Berges, der den äußerstes Ausläufer des einzigen Gebirges der Insel bildete. Ein Stück oberhalb des Klosters trat Wasser aus dem Felsen hervor. Munter plätschernd schlängelte es sich zwischen den Felsen hindurch und stürzte sich dann den Berg hinab. Zu Füßen des Klosters erstreckte sich ein kleiner See, an dessen Ufer einige vorgelagerte Gebäude standen. Ringsum und vom hochgelegenen Kloster aus gut sichtbar, erstreckte sich eine weite, fruchtbare Ebene voller Weiler und großer Felder. All dieses Land gehörte den Magiern. Und anders als im Falle des übrigen Archipels machte ihnen hier niemand ihre weltlichen Herrschaftsansprüche streitig.
    „Somit ist es also beschlossene Sache“, sagte Lumones und tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab, bevor er sich in einer fließenden Bewegung erhob. „Begeben wir uns in die Kirche. Ich werde Euren Sohn weihen.“
    Freiherr von Laran, der sich ebenfalls erhoben hatte, verbeugte sich tief. „Es ist mir eine Ehre, Meister.“
    Gemeinsam verließen die drei den kleinen privaten Speisesaal im Magierflügel des Klosters. Dieser bestand aus zwei einander gegenüberstehenden länglichen Gebäuden, die hauptsächlich die Gemächer der Priester beherbergten. Zwischen beiden verlief eine breite Gasse, deren eines Ende ein breiter Turm bildete, der gleichzeitig der höchste Punkt des Klosters war, und an dessen anderem Ende eine kurze Treppe in die Tiefe führte. Die wenigen Magier, die ihnen begegneten, verbeugten sich ehrfürchtig vor ihrem Meister. Lumones schien jedoch keine Notiz von ihnen zu nehmen und führte seine beiden Gäste schweigend die Treppe hinab zu dem etwas tiefer gelegenen Hauptbereich des Klosters. Sie durchquerten einige Gänge, dann erreichten sie einen großen von Säulengängen gesäumten Hof, an dessen Seite sich die Kirche erhob.
    Das Innere des Gotteshauses war beeindruckend und übertraf an Größe und Pracht alle Tempel, die Barthos bisher besucht hatte. Fasziniert bewunderte er das große Fresko, das die Decke schmückte und Szenen aus der Offenbarung des Ewigen Wanderers zeigte.
    Auf Höhe des Altars blieben sie stehen. Lumones schritt allein weiter auf das Ende des mächtigen Kirchenschiffs zu, wo sich eine Statue Innos’ bis unter die gewölbte Decke erhob. Der Abt erklomm eine Kanzel, die in etwas zwei Metern Höhe vor der Statue aufragte und über eine schmale Treppe erreichbar war. Drei prächtige Throne standen auf dieser Kanzel. Lumones ignorierte sie jedoch, trat an das Geländer und blickte auf Barthos hinab. „Bist du bereit, in unseren Orden einzutreten und dein Leben Innos zu weihen?“, fragte er.
    Barthos wollte „Nein“ sagen, doch die gebieterische Stimme des Hochmagiers und der strenge Blick seines Vaters, der sich in seinen Rücken bohrte, wirkten nicht, als hätte er tatsächlich eine Wahl. Und so nickte er nur.
    „So tritt denn vor“, forderte der Magier ihn auf.
    Barthos atmete tief durch und tat, wie ihm geheißen. In Gedanken schloss er mit seinem bisherigen Leben ab. Den Rest seiner Tage würde er wohl innerhalb dieser Mauern zubringen.
    „Schwörst du, dein Leben Innos und dem Feuer zu weihen, ein Leben in Demut und Keuschheit zu führen, das frei von Sünde und erfüllt ist von Gottesfurcht, und den Erwählten Innos’ zu dienen und mit Respekt und Gehorsam zu begegnen?“
    „Ich schwöre“, versprach Barthos zögernd.
    Lumones nickte zufrieden und streckte dann seine Hand über das Geländer der Kanzel. „So empfange denn meinen Segen. Du beginnst nun ein neues Leben und damit seien dir die Sünden des alten vergeben.“ Während Barthos das Haupt neigte, schritt der Magier langsam wieder die kurze Treppe hinab. Den Blick auf Wilhelm von Laran gerichtet schob er die Hände in die Ärmel. „Eurem Sohn wird es hier im Kloster an nichts mangeln. Schon morgen wir seine Ausbildung beginnen und ich verspreche Euch, dass er seines Standes entsprechend behandelt werden wird. In wenigen Jahren schon, so Innos will, wird er dem Kreis des Feuers angehören. Ich werde Novizenmeister Patrus herbeirufen. Er wird sich um Euren Sohn kümmern. Ihr selbst könnt die Nacht im Gästeflügel verbringen, wenn er dies wünscht.“
    Abermals verbeugte der Freiherr sich tief. „Ich danke Euch für Eure Großzügigkeit.“
    Barthos starrte nachdenklich auf die große Innosstatue. Nun war er also ein Novize.

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    Zimmergenossen


    Meister Patrus war ein glatzköpfiger Feuermagier, der mit seiner großen Hakennase und dem schmalen Gesicht wie ein Greifvogel wirkte, der nur darauf wartete, sich auf seine Opfer, die wohl die Novizen des Klosters waren, zu stürzen. Er führte Barthos durch den großen Gebäudekomplex und erklärte ihm dabei mit der Stimme eines alten Schulmeisters die Grundzüge des Lebens im Kloster. Vor einer kleinen Tür im Novizenflügel ließ der Magier Barthos schließlich stehen und erinnerte ihn noch mit mahnendem Ton daran, dass es Novizen nicht gestattet war, sich des Nachts auf den Gängen aufzuhalten.
    Während Patrus’ Schritte auf dem langen Flur langsam leiser wurden, legte Barthos mit klopfendem Herzen die Hand auf den Türgriff. Dahinter lag der Raum, in dem er seine Nächte verbringen würde. Gemeinsam mit drei anderen Novizen. Er hatte sich sein Zimmer nie zuvor mit irgendjemandem teilen müssen und hoffte nur, dass er sich mit seinen drei Mitnovizen verstehen würde.
    Als er die Tür öffnete und hereintrat, erschrak er etwas. Die Kammer war winzigklein und bis auf vier Betten mit je einer kleinen Truhe davor völlig leer. Sie bildete somit einen starken Kontrast zu seinen bisherigen Zimmern und auch zu dem, was er bisher von den Gemächern der Magier gesehen hatte.
    Zwei seiner Zimmergenossen, die offenbar in ein Gespräch vertieft gewesen waren, blickten auf. Der dritte, der einsam auf seinem Bett lag, nahm keine Notiz von ihm und Barthos vermochte nicht mit Sicherheit zu sagen, ob der Bursche nicht bereits schlief.
    „Was willst du hier?“, fragte einer der Novizen forsch. Unter dunklem Haar lag ein spitzes Gesicht, das nun einen missbilligenden Ausdruck angenommen hatte.
    Barthos neigte höflich das Haupt. „Innos zum Gruße. Ich wurde soeben in dieses Kloster aufgenommen und werde zukünftig das Zimmer mit euch teilen.“
    Ein enttäuschtes Schnauben erklang von einem der hinteren Betten und verriet Barthos, dass der Novize darauf noch hellwach war. Das Gesicht dessen, der ihn angesprochen hatte, hellte sich dagegen auf. „Darf ich annehmen, dass wir es mit einem Edelmann zu tun haben?“, fragte er.
    „Barthos von Laran, zu euren Diensten.“ Wieder neigte der junge Adlige den Kopf.
    Sein Gegenüber nickte wohlwollend. „Das habe ich gleich an deiner Ausdrucksweise erkannt. Verzeih meine Unhöflichkeit, doch ich fürchtete schon, wir hätten noch so einen Bauerntölpel vor uns.“
    Barthos nickte langsam und mit leicht gerunzelter Stirn. Er wusste nicht so ganz, was er von diesem Kerl halten sollte.
    Dieser stellte sich nun seinerseits vor, ohne sich jedoch die Mühe zu machen, aufzustehen: „Ich bin Florencius Arturius Ludovico Ferdinand von Kavaros. Mein Bruder ist der neue Herzog von Kavaros. Ich bin damit der Novize höchster Abstammung in diesem Kloster.“
    „Und ich heiße Theodor-Richard. Mein Vater ist der Graf von und zu Voring-Elbra“, meldete sich nun erstmals der zweit Novize zu Wort. Er schien im Gegensatz zu Florencius, der ungefähr in Barthos’ Alter war, etwas jünger zu sein. Aber vielleicht lag das auch nur an den zahlreichen Pickel, die sein Gesicht zierten, und den fehlenden Bartstoppeln.
    „Sehr erfreut“, entgegnete Barthos höflich. Dann richtete er den Blick auf den dritten Novizen, der sich noch immer nicht erhoben hatte und von dem er nur einen Schopf unordentlich geschnittener und in alle Richtungen abstehender Haare von einem außergewöhnlich hellen Blond erkannte. „Und das ist?“
    „Beachte ihn gar nicht.“ Florencius’ Miene verfinsterte sich schon wieder. „Sein Name ist Femo oder so. Seine Eltern sind irgendwelche Bauern.“ Er seufzte. „Ich habe mich bei Meister Patrus beschwert, dass wir unsere Zimmer mit einem Bürgerlichen teilen müssen, aber da ist nichts zu machen. Ein Glück, dass du nicht auch so einer bist.“
    Noch einmal schaute Barthos zu dem Novizen hinüber. Doch diesen schienen Florencius’ Worte nicht sonderlich zu stören. Zumindest ließ er es sich nicht anmerken. Aber vielleicht schlief er inzwischen auch einfach tatsächlich.
    Während Barthos sich auf dem freien Bett niederließ, ergriff Florencius wieder das Wort. „Aber mache dir keine Sorgen. Das Leben hier ist gewiss nicht mit dem im Schloss von Kavaros zu vergleichen, doch in den meisten Fällen werden wir durchaus unseres Standes entsprechend behandelt. Ich bin sicher, dass man dich schon morgen in die Kunst der Magie einweisen wird.“
    Barthos hörte nur mit halbem Ohr zu, auch wenn der Fürstensohn noch weitersprach. Er war nicht sicher, ob er sonderlich glücklich mit seinen Zimmergenossen sein sollte.
    Florencius war ihm nicht sonderlich sympathisch. Vor allem gefiel ihm nicht, wie er betont hatte, dass er die höchste Abstammung unter den Novizen vorzuweisen hatte. Natürlich waren die Herzoge von Kavaros ein großes Adelsgeschlecht, neben dem auch seine Familie nur niederes Gewürm war. Sein Vater hätte froh sein können, auch nur auf dem Schloss von Kavaros geduldet zu werden. Doch Barthos hatte geglaubt, die Abstammung zähle hier drinnen nicht mehr und alle Novizen seien gleich. Er wollte nicht vor seinem Zimmergenossen das Haupt neigen müssen, weil er dies dort draußen vor seinem Bruder hätte tun müssen. Aber andererseits schien Florencius ganz froh darüber zu sein, dass Barthos selbst blaues Blut besaß. Vielleicht würde er sich ja mit ihm arrangieren können.
    Theodor vermochte er noch nicht recht einzuordnen. Er hatte das leise Gefühl, es mit einem Bastard zu tun zu haben. Nur diese pflegten sich nicht mit einem Nachnamen vorzustellen, an dem man ihre Herkunft und folglich auch ihre Eltern erkennen konnte, sondern nannten schlicht den Namen ihres Vaters. Das war ihm jedoch relativ egal. Mehr interessierte ihn, wie er sich mit seinem Mitbewohner verstehen würde. Aber das würde sich wohl noch zeigen müssen.
    Und Femo? Ihm gefiel nicht, wie Florencius ihn behandelte. Natürlich hatte er nicht ganz Unrecht damit. Ein Bauer war nun mal kein Adliger. Aber Florencius trieb es etwas weit für Barthos’ Geschmack. Dass er selbst nicht viel mit Femo würde anfangen können, stand jedoch fest. Weniger, weil er sich damit wohl bei seinen anderen Zimmergenossen unbeliebt gemacht hätte, als vielmehr, weil er beim besten Willen nicht wusste, worüber er sich mit einem Bauern hätte unterhalten sollen. Diese Menschen waren einfach weniger gebildet und auch schon von Geburt an weniger intelligent, daran gab es auch für ihn nichts zu rütteln. Natürlich konnten sie teils freundlichere und bessere Menschen sein als so mancher Adliger, da war er recht liberal in seinen Ansichten. Aber eine Konversation auf einem gewissen intellektuellen Niveau war mit so jemandem gewiss nicht möglich.
    Barthos seufzte tief, wünschte den anderen eine gute Nacht und legte sich dann schlafen. In einem Kloster musste man schon früh aufstehen und sich zum Gebet begeben, deshalb wollte er nicht zu lange wach bleiben. Er würde ja sehen, was der morgige Tag für ihn bereithielt und wie er sich einleben würde.
    Geändert von Jünger des Xardas (25.03.2011 um 21:05 Uhr)

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    Ein ungehobelter Klotz


    Früh am Morgen wurde Barthos von seinen Zimmergenossen geweckt. Femo musste die Kammer bereits verlassen haben. Theodor und Florencius waren bereits angekleidet und trieben ihn nun zur Eile an.
    „Furchtbar, nicht wahr?“, bemerkte Florencius, als er Barthos’ verschlafene Mine sah. „Ich habe mich heute noch nicht daran gewöhnt. Es ist eine Schande, dass man uns so früh aufstehen lässt!“
    Gemeinsam verließen sie die Kammer und machten sich auf den Weg zur Kirche. Barthos war froh, die beiden anderen Novizen bei sich zu haben. Überrascht musste er nämlich feststellen, dass er den Weg bereits wieder vergessen hatte. Er würde wohl noch etwas Zeit brauchen, um sich in dem großen Gebäudekomplex zurechtzufinden.
    Der Hof war voller Novizen, die alle wie sie der Kirche entgegenstrebten. Drinnen hatten bereits viele von ihnen auf den zahlreichen Bänken platzgenommen. Florencius führte sie zielstrebig auf die vorderen Bankreihen zu, direkt hinter denen, auf denen die Magier saßen. Eine Weile warteten sie stumm, dem leisen Gemurmel um sie herum lauschend oder – wie Barthos – sich umsehend. Der junge Novize hatte seine Aufmerksamkeit auf die Buntglasfenster gerichtet, durch die das rötliche Licht der aufgehenden Sinne hereinfiel.
    Dann betrat endlich der Rat die Kirche. An der Spitze schritt Lumones einher. Ihm folgten ein weißhaariger Magier mit eingefallenen Wangen und strengen Zügen und ein rundlicherer Priester mit einem vollen grauen Bart und einer Glatze. Gemeinsam stiegen die drei Hochmagier zur Kanzel hinauf und ließen sich auf den Thronen nieder.
    Einer der Magier erhob sich von seiner Bank und trat an ein Pult unterhalb der Kanzel, auf dem, bereits aufgeschlagen, die heilige Schrift wartete. Es folgte eine lange Predigt, die Barthos daran erinnerte, weshalb er die Tempel in Geldern, frei von der strengen Aufsicht seines Vaters, gemieden hatte. Dann beteten Magier und Novizen gemeinsam.
    Schließlich, es schien vorüber zu sein und die ersten wollten sich bereits erheben, stand der weißhaarige Hochmagier überraschend auf und schickte den Novizen einen vernichtenden Blick entgegen. In diesem Moment hätte es Barthos nicht gewundert, wenn Flammen aus seinen Augen geschlagen wären. „Bevor ihr euer Tagewerk beginnt, Novizen, hat der Rat euch etwas mitzuteilen“, verkündete er mit hoher, schneidender Stimme. „Es wurde ein Runenstein entwendet. Dies ist schon das zweite Mal innerhalb eines Monats.“
    Unruhiges Getuschel brach unter den Novizen aus. Einige blickten sich verstohlen um.
    „Der Rat möchte alle Novizen daran erinnern, dass das Wirken von Magie, ohne selbst ein Geweihter Innos’ zu sein oder unter der Anleitung eines solchen zu arbeiten, ein schweres Vergehen ist“, fuhr der Magier fort und ließ schon mit dem ersten Wort alles Gemurmel verstummen. „Wer immer sich auf diese Weise versündigt haben mag, wird sich vor dem Rat und vor Innos zu verantworten haben. Und mit jeder Sekunde, die er zögert, seine Schuld zu gestehen, wird die Strafe schwerer wiegen. Gleiches gilt für alle Mitwisser, die die Identität des Diebes vor dem Rat geheim halten. Wir werden herausfinden, wer für diesen Frevel verantwortlich ist. Und wir sind nicht gewillt, diesen Vorfall leichtfertig zu vergeben.“ Der Hochmagier, der sich mittlerweile über die Balustrade gebeugt und sie mit seinen Händen heftig umklammert hatte, richtete sich nun etwas auf. Sein wütender Gesichtsausdruck entspannte sich leicht. „Und nun widmet euch euren Pflichten, Novizen, auf dass Innos Wohlgefallen an euch finden möge.“
    Sofort hob lautes Stimmgewirr an. Die Anwesenden erhoben sich von den Bänken und strebten dem Ausgang zu. Ehe Barthos überlegen konnte, was er nun tun sollte, wurde er von dem Strom mit nach draußen getragen.
    Dort wartete bereits Meister Patrus neben der Pforte und winkte ihn zu sich heran, während die anderen Novizen sich nun langsam zerstreuten und in verschiedene Richtungen davonliefen.
    „Es wird Zeit für dich, die Kluft deiner Brüder anzulegen“, erklärte Patrus unumwunden.
    Barthos schaute an sich herab und bemerkte erst jetzt wirklich, dass er noch immer das feine Wams trug, mit dem er das Kloster betreten hatte. Er musste wahrlich aus der roten Masse der übrigen Novizen herausstechen.
    Patrus forderte ihn auf, ihm zu folgen und erklärte unterwegs: „Dein Vater wünscht, dass du zum Magier ausgebildet wirst, Novize. Und er hat dem Kloster eine großzügige Spende zukommen lassen. Du wirst dich deshalb nach der Morgenandacht ab jetzt jeden Tag in der Bibliothek bei Meister Scolon einfinden. Dort wirst du bis zum Mittag mit den übrigen Novizen, die für würdig befunden wurden, in die Kunst der Magie eingeführt werden. Nach deinem heutigen Unterricht wirst du mich aufsuchen. Ich werde dir dann mitteilen, was du den Rest des Tages über tun wirst.“ Sie hielten vor einer kleinen Tür. „Wir sind angekommen“, sagte der Magier. „Dort drinnen wirst du ein passendes Gewand finden, Novize. Deine alte Kleidung kannst du dort zurücklassen. Einer deiner Brüder wird sich darum kümmern. Wenn du umgezogen bist, begib dich umgehend in die Bibliothek. Meister Scolon ist bereits informiert.“
    Barthos verbeugte sich leicht und trat dann durch die Tür in eine kleine Kammer voller Schränke. Er konnte sein Glück kaum fassen. Magie! Gleich am ersten Tage würde er in den arkanen Künsten unterwiesen werden! Vielleicht war das Klosterleben ja doch nicht so schlecht, überlegte er, während er sich umzog.
    Als er die Kammer wieder verließ, verließ ihn auch sein Eifer. Mit Schrecken stellte er fest, dass er nicht die leiseste Ahnung hatte, wo sich die Bibliothek befand. Und von Meister Patrus fehlte jede Spur.
    Barthos biss sich auf die Lippe und schaute den Gang hinauf und hinab. Niemand. Langsam setzte er sich in Bewegung und ging in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Schon nach zwei Biegungen wusste er jedoch nicht mehr, wo er war. Es schien einfach unmöglich, sich in diesem Kloster zurechtzufinden. Orientierungslos irrte er durch die Gänge, als plötzlich ein Novize einige Meter vor ihm aus einer Tür trat und mit einem Besen in der Hand den Gang hinunterlief. Sofort erkannte Barthos den unordentlichen Schopf weißblonder Haare.
    „Feno!“, rief er.
    Der Novize lief unbeirrt weiter.
    „Feno!“ Barthos setzte sich in Bewegung, beschleunige seine Schritte und verfiel in ein schnelles Gehen. „Hey, ich rede mit dir!“ Er hatte seinen Zimmergenossen erreicht und packte ihn nun an der Schulter. Augenblicklich blieb dieser stehen.
    „Oh, und ich dachte, du hättest mit irgendjemandem gesprochen, der Feno heißt.“ Die Stimme des Novizen klang unerwartet hell.
    „Aber du heißt doch Feno…?“ Barthos runzelte die Stirn.
    Sein Zimmergenosse wirbelte herum und erstmals blickte ihm Barthos direkt ins Gesicht. Er starrte in zwei smaragdgrüne Augen, deren fester Blick ihn leicht zurückschrecken ließ. „Ja, fast“, erwiderte sein Gegenüber mit ironischem Lächeln. Er hatte weiche Züge und ausgesprochen helle Haut. Ähnlich wie bei Theodor war bei ihm noch kein Bartwuchs zu erkennen, dennoch schätzte Barthos ihn auf Anfang zwanzig, wie auch er selbst es war. „Aber schon in Ordnung“, fuhr sein Zimmergenosse nun in einem Ton fort, der bestens zu seinem ironischen Grinsen passte. „Ich war gestern schon überrascht, dass Flora meinen Namen richtig ausgesprochen hat. Da musste das ja jetzt kommen. Es heißt jedenfalls Femo. Auch wenn du das in fünf Minuten sicher wieder vergessen haben wirst.“
    Barthos verkniff sich ein Lächeln. Flora, das war ein interessanter Spitzname für ihren Zimmergenossen. Der Rest von dem, was sein Gegenüber sagte, gefiel ihm jedoch weniger. Tatsächlich verstand er Florencius jetzt schon ein wenig besser. Dieser Femo war ja wirklich ein ungehobelter Klotz! Es gab doch schließlich keinen Grund, sich so aufzuführen. Aber der Knabe war wohl doch nur ein einfacher Bauer.
    „Wie dem auch sei“, sagte Barthos leicht unwirsch. „Ich suche die Bibliothek.“
    „Ah, Hochwohlgeboren werden in der Kunst der Magie unterwiesen!“ Femo verbeugte sich übertrieben tief. „Es ist mir eine Ehre, Hochwohlgeboren zu Diensten zu sein.“
    Tatsächlich, ein ungehobelter Klotz.
    „Na dann folg mir mal“, meinte Femo, der sich wieder aufgerichtet hatte. „Du hast Glück, zufällig bin ich auch auf dem Weg in die Bibliothek.“
    „Wirst du auch schon in der Runenmagie unterrichtet?“, fragte Barthos überrascht und vergaß darüber seinen Ärger.
    Femo lachte. „Nein, keine Angst. Ihr Blaublüter seid da unter euch. So reich ist mein Vater nicht.“ Er hob den Besen in seiner Hand und wedelte Barthos damit vor der Nase herum. „Ich habe die ehrenvolle Aufgabe, dafür zu sorgen, dass ihr von den Böden, auf denen ihr lernt, auch essen könntet. Nicht, dass ihr euch zu so was herablassen würdet“, fügte er schnell hinzu.
    Da war der Ärger wieder. Mit erbost zusammengezogenen Brauen folgte Barthos dem anderen Novizen schweigend durch die Gänge.
    Die Bibliothek war ein etwas abseits auf einem großen Felszacken stehendes Gebäude, das nur über eine schmale Brücke mit dem übrigen Kloster verbunden war, unter der der aus den Bergen darüber entspringende Fluss dahinplätscherte.
    Barthos staunte nicht schlecht, als sie das Innere des Gebäudes betraten. Bücher. Bücher in allen Größen und Farben. Bücher, so viele, wie er noch nie auf einen Haufen gesehen hatte. Die Privatbibliotheken seines Vaters und der engen Freunde der Familie wirkten geradezu lächerlich dagegen. Doch selbst die Bibliothek der gelderner Universität verblasste neben den Massen an Büchern, die sich hier in den Regalen auftürmten und die, den nach oben und nach unten führenden Treppen nach zu urteilen, höchstens ein Drittel aller Bücher des Klosters ausmachten. Natürlich wusste Barthos von König Sophur dem Weisen, der vor über vierhundert Jahren befohlen hatte, eine Abschrift jedes Buches der Welt in das Kloster zu Laran zu bringen. Natürlich hatte dieser kühne Befehl nie vollständig in die Tat umgesetzt werden können, doch seitdem fand man auf der Insel Laran die größte Bibliothek der bekannten Welt und das Kloster trug den Beinamen „Kloster des Wissens“. Dennoch hätte Barthos sich niemals so viele Bücher auf einem Haufen vorstellen können.
    „Dann mal viel Spaß“, riss Femo ihn aus seinen Gedanken. „Deine Cousins warten sicher schon sehnsüchtig auf dich.“ Mit diesen Worten verschwand der Novize mitsamt seinem Besen hinter einem der Regale.
    Barthos runzelte kurz die Stirn. Er brauchte einen Moment, ehe er die Anspielung verstanden hatte. Dann kochte wieder Wut in ihm hoch. Die Gedanken an diesen rüpelhaften Bauern aus seinem Kopf verbannend, schritt er auf die kleine Gruppe Novizen zu, die in einem abgeschiedenen Teil der Bibliothek vor einer Reihe hölzerner Pulte saßen und einem alten Magier lauschten. Er wollte sich jetzt nicht ärgern, sondern ganz auf die Magie konzentrieren.
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    Streit um die Lektüre


    Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen blätterte Barthos in einem dicken Buch, das er aus der Bibliothek ausgeliehen hatte und das den Titel Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral. Zur Beantwortung der Frage welche die Königl. Academie der Wissenschaften zu Vengard auf das Jahr 763 aufgegeben hat trug. Dabei lag er am Ufer des großen Sees zu Füßen des Klosters und ließ sich die Nachmittagssonne auf den Bauch scheinen. In solchen Momenten genoss er das Leben in vollen Zügen.
    Er hatte sich schnell im Kloster eingelebt. Inzwischen war ihm, als läge sein altes Leben bereits Jahre zurück. Und alles in allem war es gar nicht so übel. Gemeinsam mit einigen anderen Novizen wurde er vormittags zum Magier ausgebildet. Er erlernte die Herstellung und Anwendung magischer Runen, aber auch, was es hieß, ein Erwählter Innos’ zu sein. Und so wurden sie auch in Theologie und Varantisch unterrichtet und mit der heiligen Schrift vertraut gemacht. Für die meisten von ihnen barg dieser Teil kaum Neues, hatten sie doch wie Barthos in Geldern studiert und waren des Varantischen mächtig und meist auch wenigstens mit den Grundlagen der Theologie vertraut.
    Nachmittags hieß es dann arbeiten. Doch nicht für lange Zeit. Unter den Novizen, soviel hatte Barthos mittlerweile festgestellt, gab es eine klare Rangordnung, die sich vor allem nach dem sozialen Stand und dem Reichtum ihrer Eltern richtete. Offiziell waren zwar alle Novizen gleich, doch die Magier unterstützten diese Ordnung indirekt durch ihre Entscheidungen, welche Novizen würdig für den Unterricht waren und damit von den meisten und vor allem von den schwereren Arbeiten entbunden wurden. Doch wirklich beschweren konnte er sich kaum. Immerhin stand er als Adliger relativ weit oben in der Hierarchie der Novizen.
    „Hey, kommt doch ins Wasser! Ist großartig!“
    Barthos blickte über den Rand seines Buches zum See. Eine stattliche Zahl von Novizen schwamm darin herum und genoss das kühle Wasser. Überall am Ufer lagen ihre roten Roben verstreut.
    „Nein, danke“, vernahm er eine bekannte Stimme in seiner Nähe. „Schwimmen ist nicht so mein Ding.“
    „Nun hab dich doch nicht so, Femo“, forderte der Novize im Wasser.
    Barthos war überrascht. Er hatte seinen Zimmergenossen gar nicht gehört. Doch offenbar kam er gerade von den nahen Kräuterbeeten des Klosters, wo er soeben seine Arbeit beendet haben musste. Verständnislos schüttelte Barthos den Kopf. Inzwischen, da er die übrigen Novizen schon etwas besser kannte, wusste er, dass es nicht nur Florencius war, der Femo nicht leiden konnte. Der junge Novize war für alle ein Außenseiter, auch für die anderen seines Standes. So ganz war Barthos noch nicht dahintergekommen, weshalb, doch mehr und mehr kam er zu der Erkenntnis, dass Femo das selbst zu verschulden hatte. Was sonderte er sich auch immer von den anderen ab? Er schüttelte den Kopf. Im Grunde ging ihn das ja nichts an.
    Kurz überlegte er, ob, wenn schon Femo dies nicht tat, wenigstens er der Aufforderung nachkommen sollte. Und tatsächlich konnte er etwas Erfrischung gebrauchen, wie er befand. Blieb nur das Problem, dass er das Buch nicht einfach auf die Erde legen konnte. Dafür hätte Meister Pulvis, der Bibliothekar, ihn wohl umgebracht. Doch da kam ihm auch schon eine Idee. „Hey!“, rief er Femo zu, der seinen Weg in Richtung Klosterpforte bereits wieder aufgenommen hatte. „Ich will auch ein paar Runden schwimmen. Könntest du solange auf das Buch aufpassen?“
    Der Angesprochene zog überrascht die Brauen in die Höhe. „Du willst ein solches Werk einem einfachen Bauern anvertrauen?“
    „Ja, aber vielleicht sollte ich mir das noch einmal überlegen“; entgegnete Barthos aufgebracht. „Musst du gleich so unfreundlich sein? Ich habe dir doch gar nichts getan.“
    „Nein, du betrachtest mich einfach als deinen persönlichen Diener.“ Femo seufzte und riss Barthos das Buch aus den Händen, während dieser noch zu einer Antwort ansetzte. „Lass gut sein. Geh ruhig planschen, deinem Buch passiert nichts.“
    Barthos wollte etwas erwidern, besann sich jedoch eines Besseren. Er würde sich nicht von diesem unverschämten Bauern aus der Fassung bringen lassen. Wenn dieser Kerl es für nötig hielt, ihm jedes Mal derart unfreundlich zu begegnen, war das seine Sache.
    Stattdessen zog Barthos sich nun seine Robe aus, faltete sie fein säuberlich zusammen und legte sie neben Femo, der es sich dort bereits gemütlich gemacht hatte, ins Gras. „Ich nehme an, darauf soll ich auch noch aufpassen?“, fragte Femo. Barthos nickte nur und blickte dem anderen Novizen unsicher ins Gesicht. Femo hatte plötzlich einen seltsamen Ausdruck in den Augen, der nichts mehr mit dem zu tun hatte, was er sagte, und von dem Barthos nicht ganz verstand, was er zu bedeuten hatte.
    Aber darum wollte er sich nicht weiter kümmern. Wortlos drehte er sich herum und lief auf den See zu. Nackt wie er war stieg er in das erfrischend kühle Wasser. Ja, das hatte er wirklich gebraucht. Genießerisch schloss er für einen Moment die Augen und genoss das Gefühl des Wassers, das seinen Körper umschloss.
    Bis zum frühen Abend schwammen sie herum und ließen es sich im Wasser gut gehen. Als nach und nach immer mehr Novizen den See verließen und ihre Kleider auflasen, beschloss auch Barthos, dass es Zeit wurde, zum Kloster zurückzukehren. Gemächlich schwamm er ans Ufer und hielt dann auf die Stelle zu, an der er zuvor noch gelesen hatte. Das Wasser reichte ihm gerade noch zum Knöchel, als er plötzlich einen Stich in der Fußsohle spürte. Mehr vor Schreck als vor Schmerz schrie er auf und riss aus einem Reflex das Bein in die Höhe. Auf dem anderen hüpfte er an Land, während er sich den blutenden Fuß hielt. Dann kam er ins Straucheln und fiel auf seinen Hintern.
    „Na sieh mal einer an.“ Mit einem Mal kniete Femo vor ihm im Gras und besah sich seinen Fuß. „Rotes Blut; wer hätte das gedacht?“
    Barthos schnaubte verächtlich. „Danke, wirklich sehr hilfreich.“
    „Tut mir leid.“ Femo zuckte mit den Schultern. „Ich würde ja einen Heilzauber sprechen, aber ich habe keinen Schimmer, wie das geht. Dafür ist mein Vater zu arm. Wirst schon nicht dran sterben.“
    Barthos stieß Femo wütend beiseite und erhob sich. Mit großen Schritten stampfte er auf seine Kleidung zu, wobei er den Schmerz, den er beim Auftreten verspürte, ignorierte. Als er sich, seine Robe in der Hand, wieder zum See drehte, sah er, dass Femo sich nicht bewegt hatte. Er kniete noch immer am Ufer und starrte Barthos an. Und da war wieder der seltsame Ausdruck in seinen Augen. „Was schaust du so?“, fragte Barthos.
    Femo wurde rot. „Nichts“, sagte er rasch und erhob sich. „Vergiss dein Buch nicht.“
    Wütend schlüpfte Barthos in seine Robe und klemmte sich den dicken Wälzer unter den Arm. Dann machte er sich an den Anstieg zum Kloster. In ihrer Kammer würden Theodor und die allabendliche Schachpartie schon auf ihn warten. Genau das Richtige, um sich wieder etwas zu beruhigen.

    Barthos lächelte, als das schwarze Pferd die weiße Dame schlug. Noch drei Züge.
    Theodor entschied sich für einen Angriff auf Barthos’ Turm mit seinem verblieben Läufer. Barthos ließ ihn gewähren. Er brauchte den Turm nicht. Er war beinahe am Ziel.
    Das allabendliche Schachspiel war zur Routine geworden. Barthos war schon seit vielen Jahren ein leidenschaftlicher wie begnadeter Schachspieler. Theodor hatte ihm wenig entgegenzusetzen, doch er musste sich mit ihm als Gegner begnügen. Florencius hielt nichts von diesem Spiel aus Ariabia, das erst im Laufe des letzten Jahrhunderts in Myrtana bekannt geworden war. Und Femo brauchte er kaum zu fragen. Der hätte wahrscheinlich einen noch lausigeren Gegner als Theodor abgegeben. Außerdem verbrachte er die Abende ohnehin so gut wie nie bei seinen Zimmergenossen, sondern kam meist erst, wenn die Dunkelheit schon lange über dem Kloster hereingebrochen war.
    Barthos brachte seinen Läufer in Stellung. Gleich würde er es sagen können, das Wort, das das Spiel beenden würde.
    Die Tür der kleinen Kammer öffnete sich. Es musste Femo sein, der da langsam in die kleine Kammer geschlurft kam. Doch Barthos blickte nicht von seinem Spiel auf. Auch nicht, als er spürte, wie Femo kurz hinter ihm stehen blieb und über seine Schulter starrte. „F4“, sagte er knapp an Theodor gewandt, der seinen Läufer bereits in der Hand hielt, jedoch unschlüssig schien, wo er ihn abstellen sollte, und schlurfte dann weiter in Richtung seines Bettes. Theodor zögerte kurz und folgte dem Vorschlag dann. „Schach“, sagte er, als er merkte, dass er nun Barthos’ König bedrohte. Ärgerlich darüber, dass er nun noch eine weitere Runde würde warten müssen, bis er Theodor endlich mattsetzen konnte, ließ Barthos seinen König auf das einzige freie Nachbarfeld ausweichen. Dann riss er plötzlich die Augen auf, als er merkte, dass dieses bereits von Theodors Springer bedroht wurde.
    Dem anderen Novizen klappte der Mund auf. Dann stieß er einen kleinen Freudenschrei aus. Dies war sein erster Sieg über Barthos.
    Dieser wandte fassungslos den Kopf in Femos Richtung. Doch der junge Bauersohn lag bereits in seinem Bett und schien zu schlafen. Einen Moment starrte Barthos ihn an, dann begab auch er sich zu Bett, ohne noch ein Wort mit seinen beiden Zimmergenossen zu wechseln. Eine ganze Weile lag er noch wach. In den letzten Jahren war er kaum ein Dutzend mal geschlagen worden. Wie hatte Femo das gemacht? Glück? Das musste es sein. Eine andere Erklärung gab es nicht. Barthos hätte nicht einmal erwartet, dass der Novize die Regeln kannte.
    Nachdem er eine Weile fassungslos über seine Niederlage nachgegrübelt hatte, hörte er plötzlich ein leises Rascheln. Mittlerweile war es völlig finster in der kleinen Kammer. Ohne, dass er es bemerkt hatte, waren auch Florencius und Theodor zu Bett gegangen. Doch nun schien einer seiner Mitbewohner leise aufzustehen. Vielleicht wollte derjenige kurz aufs Necessarium verschwinden, überlegte Barthos und war umso überraschter, als sich vorsichtige Schritte seinem Bett näherten. Jemand beugte sich zu ihm herab. Er konnte leises Atmen vernehmen. Dann schien derjenige, der sich über ihn beugte, eine Hand auszustrecken. Langsam glitt diese unter Barthos’ Bett und schien dort herumzuwühlen. Sekunden später hatte sie gefunden, was sie gesucht hatte, und zog es unter dem Bett hervor. Das war zuviel. Barthos fuhr herum und packte den sich gerade zurückziehenden Arm, dessen Haut sich überraschend weich und angenehm anfühlte. Über ihm keuchte jemand überrascht auf.
    „Was soll das werden?“, zischte Barthos und starrte wütend in Femos überraschtes Gesicht. Dann senkte er seinen Blick zur Hand des Novizen und erkannte das Buch, das er am See gelesen hatte. Er hatte es unter seinem Bett verstaut und es am nächsten Tag weiterlesen wollen.
    „Nichts.“ Verärgert entwandt sich Femo aus Barthos’ Griff und pfefferte das Buch wieder unter das Bett. Dann wandte er sich seiner eigenen Schlafstatt zu.
    Doch Barthos bekam den Saum seiner Robe zu fassen. „Nicht so schnell. Was wolltest du mit dem Buch?“
    Femo rollte mit den Augen. „Was macht man denn mit Büchern?“
    „Du kannst doch nicht mal lesen“, schnaubte Barthos.
    „Stell dir vor, der dumme Bauer kann lesen.“ Das verschlug Barthos für einen Moment die Sprache. Vor allem, als Femo hinzufügte: „Und hättest du vorhin am See auch mal zu mir rübergeschaut, hättest du das mitbekommen.“
    Nun trat ein trotziger Ausdruck auf Barthos’ Gesicht. „Wie auch immer. Das ist trotzdem zu hoch für dich. Das verstehst du doch gar nicht.“
    „Meinetwegen“, entgegnete Femo tonlos und wandte sich wieder ab.
    „Und überhaupt“, zischte Barthos hinterher. „Wenn du das wirklich lesen wolltest, würdest du mich fragen oder es dir selbst aus der Bibliothek ausleihen!“
    Der andere Novize schwang sich wieder in sein Bett und warf sich herum, sodass er mit dem Gesicht zur Wand lag. „Ja, ist klar“, murmelte er verächtlich.

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Feuersturm


    Femo trommelte unruhig mit den Fingern auf den kleinen Tisch, an dem er mit Barthos saß. „Wenn er in fünf Minuten nicht zurückkommt, verschwinde ich.“
    Barthos nickte nur. Ihm war relativ egal, was Femo tat. Allerdings fragte auch er sich, wo ihr Begleiter blieb. Er fühlte sich unwohl hier in dieser dunklen Ecke in dem kleinen, muffigen Schankraum. Und das nicht nur, weil er sich in seiner Robe furchtbar fehl am Platz vorkam.
    Eigentlich hatten sie nur Meister Kratius begleiten sollen. Das Kloster hatte einen Tag zuvor die Nachricht erhalten, dass Landgraf August von Brabern im Sterben liege. Daraufhin war der beleibte, glatzköpfige Hochmagier aufgebrochen, um die letzte Ölung vorzunehmen. Und Barthos und seine Zimmergenossen waren ausgesucht worden, ihn zu begleiten.
    Brabern war die nächste Siedlung, die nicht direkt den Magiern des Klosters unterstand. Die Stadt lag jenseits eines großen Waldes, den man von den Zinnen des Klosters bei gutem Wetter gerade noch ausmachen konnte, am Fluss Edra.
    Kratius war im landgräflichen Schloss ein fürstlicher Empfang bereitet worden. Doch während er und Florentius dort zurückgeblieben waren, hatte er den drei anderen gnädig gestattet, den Rest des Tages unbeaufsichtigt in der Stadt zu verbringen. Barthos hatte es zuerst genossen, wieder in der Zivilisation zu sein, und sich in Ruhe umsehen wollen. Femo dagegen hatte etwas angespannt gewirkt und sich absetzen wollen, ohne zu verraten, was genau er vorhatte. Doch Theodor hatte beide zurückgehalten. Wie Barthos festgestellt hatte, blühte der Novize in Abwesenheit Florentius’ richtig auf. Er hatte sich augenblicklich entspannt und war plötzlich auch mit Femo viel freundlicher umgegangen. Bisher, so viel musste er sich eingestehen, hatte Barthos Theodor kaum als Individuum gesehen, sondern vielmehr als Florentius’ Schoßhündchen, das immer mit diesem einer Meinung war und immer tat, was dieser gerade tat. Doch dabei schien er sich getäuscht zu haben. Vermutlich versuchte der Novize für gewöhnlich nur, sich mit Florentius besonders gut zu stellen. Wahrscheinlich musste er als Bastard um seine Stellung unter den Novizen Acht geben. Barthos konnte über so ein Verhalten nur verächtlich den Kopf schütteln. Er buckelte nicht vor Florentius und hätte das auch unter anderen Umständen nicht getan.
    „So, mir reicht’s!“ Femo erhob sich und riss Barthos damit aus seinen Gedanken.
    Auch er hatte genug. Erst schleppte Theodor sie in dieses zweifelhafte Etablissement und machte nur vage Andeutungen, er habe eine Überraschung, und nun warteten sie sicher schon eine halbe Stunde auf seine Rückkehr. Dennoch zog Barthos Femo auf dessen Platz zurück. „Er kommt bestimmt gleich“, meinte er. Tatsächlich wusste er nicht, was er sonst mit seiner Zeit hätte anfangen sollen. Und alleine wollte er nicht hier sitzen bleiben. Da war ihm ausnahmsweise selbst Femos Gesellschaft lieber.
    Kaum hatte Barthos ausgesprochen, erschien jedoch schon die charakteristische Robe der Klosternovizen im Eingang. Der junge Bursche, der darin steckte, grinste bis über beide Backen und führte eine weitere Person am Arm auf ihren Tisch zu.
    „Na, habe ich euch zu viel versprochen?“, fragte er, warf sich Barthos und Femo gegenüber auf einen Hocker und zog sich seine Begleitung auf den Schoß. Es handelte es um ein pausbäckiges Mädchen mit schmutzigblondem Haar und in einem einfachen braunen Kleid.
    Eine Mischung aus Abscheu und Wut trat auf Femos Gesicht. „Du willst uns nicht erzählen, dass du uns dafür hier hast warten lassen?“
    „Was denn?“, entfuhr es Theodor. Gespielte Empörung lag in seiner Stimme. „Das Mädchen ist doch klasse. Und sie will nur ein Silberstück. Ich habe sechsundfünfzig Kupferlinge bei mir. Das heißt, jeder von euch muss nur zweiundzwanzig drauflegen. Ist das nichts?“
    Femo schüttelte entgeistert den Kopf. „Ich fasse es nicht. Dafür hast du uns in dieses Drecksloch geschleift?“
    „Ach komm schon“, bettelte Theo. „Das ist doch ein Superangebot. Schau dir die Kleine doch mal genau an!“ Der Novize unterstrich seine Worte, indem er einen Finger in ihrem Ausschnitt einhakte, etwas an dem Stoff zog und so noch mehr von ihrem üppigen Busen freigab. Das Mädchen kicherte dümmlich. „Und erst der Preis! Hey, du solltest eigentlich dankbar sein, dass ich nicht verlange, dass wir das gerecht aufteilen. Du solltest dankbar sein, dass wir dich überhaupt mitmachen lassen! Barthos und ich könnten uns das Mädel auch zu zweit vornehmen. Stimmt’s, Barthos?“
    Der Angesprochene öffnete den Mund, doch Femo ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Dann steigt halt zusammen über das Flittchen drüber. Aber lasst mich aus dem Spiel.“
    Verständnislos schüttelte Theodor den Kopf. „Was ist dein Problem? Du hast doch sicher auch schon ewig keine Frau mehr gevögelt. Und so ein Schnäppchen gibt’s nicht alle Tage.“
    „Vielleicht sind Schnäppchen einfach nicht meine Sache“, entgegnete Femo scharf und erhob sich mit einem Mal. „Außerdem hast du ein Gelübde abgelegt.“
    Theodor pustete los. „Das meinst du doch nicht ernst! Komm, wer wird das denn so eng sehen?“
    „Wenn Kratius rausfindet, dass…“, hob Femo an, wurde jedoch umgehend unterbrochen.
    „Was glaubst du, warum Kratius den ganzen Tag auf dem Schloss verbringt? Der alte August hat sicher noch eine Menge Sünden zu beichten, bevor Beliar ihn zu sich holt, aber so lange braucht nicht mal er dafür. Nein, nein. Unser guter Kratius kümmert sich gerade in diesem Moment um die zukünftige Witwe, da kannst du Gift drauf nehmen.“ Theodor lachte leise. „Um die würde ich mich allerdings auch gerne kümmern. Die Kleine soll August auf seine alten Tage noch mal ordentlich auf Trab gehalten haben – und die Dienerschaft auch. Von der guten Elisabeth von Kopul habt ihr doch sicher auch schon gehört? Siebzehn, völlig nymphomanisch und mit zwei Dingern gesegnet, sage ich euch! Es heißt, ihre Unschuld hätte sie mit elf an ein Bataillon Lanzenträger…“
    Femo schüttelte den Kopf. „Du bist so dermaßen erbärmlich“, zischte er angewidert. „Ich fasse es nicht, dass du diesen albernen Quatsch auch noch glaubst. Aber nur zu. Von mir aus vögel dir den letzten Rest Hirn auch noch raus. Aber ohne mich.“ Mit hoch erhobenem Haupt drehte Femo sich auf dem Absatz um und marschierte auf die Tür zu. „Und dafür habe ich hier meine Zeit verschwendet“, murmelte er wütend.
    Theodor blickte ihm verständnislos nach. „Dann geh doch!“, rief er dann nach einem kurzen Augenblick. „Bist halt doch nur ein blöder Bauer!“ Dann drehte er sich wieder herum. „Komm, Barthos. Bleibt mehr für uns. Ich krieg den Vordereingang.“
    Barthos, der das Geschehen stumm beobachtet hatte, erwachte aus seiner Starre. Langsam richtete er den Blick auf das Mädchen auf Theodors Schoß. Er hätte tatsächlich nichts gegen etwas Entspannung einzuwenden gehabt. Aber alles an Theos Eroberung stieß ihn ab. Nicht, dass sie hässlich gewesen wäre. Das war sie keinesfalls; etwas ungepflegt vielleicht und mit eher bäuerlichen Gesichtszügen, aber gewiss nicht hässlich. Dennoch stieß jedes Detail an ihr ihn ab: Das stumpfe Haar, die beinahe aus dem Kleid hervorquellenden Brüste – er hatte ohnehin immer die kleineren Exemplare bevorzugt –, das dümmliche Kichern. Nein, er verspürte keinerlei Verlangen danach, mit diesem Mädchen intim zu werden. Und schon gar nicht gemeinsam mit dem anderen Novizen. Und überhaupt war Femo viel schöner. „Lass mal.“ Barthos erhob sich, dann stockte er plötzlich. Was hatte er da gerade gedacht?
    „Du nicht auch noch“, stöhnte Theo.
    Barthos wandte den Kopf wieder dem anderen Novizen zu. „Tut mir leid, aber so nötig habe ich es nicht“, stammelte er.
    „Du hattest seit du im Kloster warst keine mehr, das weiß ich genau. Du willst mir doch nicht erzählen, du hättest keinen Druck in der Robe. Komm, schau dir die Kleine an. So was würde doch jeder gerne mal flachlegen.“
    Doch Barthos hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Ohne seinen Zimmergenossen überhaupt noch zu beachten, schlängelte er sich zwischen den Tischen hindurch. Er war verwirrt, vielleicht sogar schockiert. Das hatte er doch nicht wirklich gedacht?
    „Bitte!“, rief Theodor ihm nach. „Allein hab ich nicht genug Geld. Es sind doch nur vierundvierzig Kupf… Hey! Hey, Süße, bleib da. Ich habe das Geld – nur nicht hier. Du kriegst es hinterher!“
    Barthos trat hinaus auf eine kleine Gasse. Die kühle Luft tat ihm gut und sofort beruhigte er sich etwas. Das hatte doch nichts weiter zu bedeuten. Er wandte den Kopf und sah eine Gestalt in einer roten Robe aus der Gasse verschwinden. Femo. Einem plötzlichen Impuls folgend, setzte Barthos sich in Bewegung und ging dem anderen Novizen hinterher.
    Femo war in eine breitere Straße eingebogen. Er bewegte sich auf das Handwerkerviertel der Stadt zu. Sie durchquerten zwei weitere Straßen, wobei Barthos darauf achtete, sich seinem Zimmergenossen nicht zu weit zu näheren, um nicht von diesem entdeckt zu werden. Bestimmt würde Femo nun das tun, was er von Anfang an in der Stadt hatte tun wollen. Und Barthos war neugierig, was es war.
    Dann erreichten sie die Hauptstraße des Handwerkerviertels. Dichtes Gedränge herrschte hier zur Mittagszeit. Menschen schoben sich an ihm vorbei. Einige trugen große Körbe, andere führten Esel oder Ziegen mit sich oder ganze Karren. Sie drängte sich zwischen ihn und Femo, rempelten ihn an, ohne ihn wirklich zu beachten. Barthos beschleunigte seine Schritte, doch der Abstand zwischen ihm und dem anderen Novizen wurde immer größer und zwischen all den Leibern war es ihm unmöglich, wieder zu Femo aufzuschließen.
    Kurz darauf war es auch schon vorbei. Er hatte seinen Zimmergenossen aus den Augen verloren. Unschlüssig blieb er stehen, während der Strom aus Menschen weiter anhielt und an ihm vorbeizog. Sicher einige Minuten verharrte er so. Warum wusste er selbst nicht ganz. Im Grunde war es ja egal, was Femo tat. Wieso interessierte ihn das überhaupt so sehr? Andererseits hatte er auch nichts Besseres zu tun.
    Da erspähte er mit einem Mal wieder eine rote Robe, die deutlich zwischen der meist grauen Kleidung der einfachen Leute herausstach. Femo trat aus einem Laden an der Straßenseite und setzte seinen Weg nun wieder zielstrebig fort, wobei er sich glücklicherweise nicht auf Barthos zubewegte. Dieser hob den Kopf zu dem Schild, das über der Ladentür hing. Eine Apotheke. Femo war bei einem Alchemisten gewesen. Doch weshalb? Was hatte er sich wohl für einen Trank geben lassen? Kurz überlegte Barthos, hineinzugehen und nachzufragen, doch er befand schließlich, dass das wohl sehr seltsam gewirkt hätte, und beschloss stattdessen Femo weiter zu folgen. Die Entscheidung kam in letzter Sekunde, denn Femo hatte inzwischen bereits einen großen Vorsprung und um ein Haar hätte Barthos ihn abermals aus den Augen verloren.
    Stattdessen sollte der Rest der Verfolgung für ihn jedoch ohne weitere Probleme ablaufen. Schnell stellte er überrascht fest, dass Femo die Stadt offenbar verlassen wollte. Eine Ansammlung ärmlicher Hütten lag auf der Außenseite der Mauer. Dahinter begann ein freies Feld. Hier gab es keine Möglichkeit mehr, sich zu verstecken und Barthos war froh, dass der andere Novize sich nicht umwandte und direkt auf den Wald zuhielt, in dem es wieder leichter sein würde, unbemerkt zu bleiben.
    Es dauerte nicht lange, da erreichten sie eine kleine Lichtung, in deren Mitte ein großer Felsen aufragte, der wiederum den Eingang zu einer kleineren Höhle beherbergte. Barthos, der inzwischen kaum noch an sich halten konnte vor Neugierde, folgte Femo in ihr Inneres und kauerte sich schließlich hinter einem Felsbrocken nahe des Eingangs zusammen, während der andere Novize vor der Rückwand stehen blieb.
    Vorsichtig hob Barthos den Kopf und spähte über den Felsen hinweg. Er sah wie Femo etwas aus seiner Robe hervorzog. Ein eckiger, etwa faustgroßer, offensichtlich von Menschen bearbeiteter Stein von dunkler, leicht bläulicher Farbe. Eine Rune.
    Barthos runzelte die Stirn. Wie konnte Femo an eine Rune kommen? Selbst die Novizen, die bei Meister Scolon lernten, durften keine Runen aus der Bibliothek entfernen. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der gestohlene Runenstein!
    Kurzentschlossen schnellte Barthos in die Höhe, den Mund bereits geöffnet, um Femo zur Rede zu stellen. Dieser hob im selben Augenblick die Rune und wirkte den darin eingravierten Zauber. Barthos ging unbeirrt weiter auf den Novizen zu. Nur am Rande nahm er wahr, dass es sich offenbar um einen Feuerball handelte, der nun auf die Höhlenwand zuraste. Sekunden später traf er den Fels zischend und mit einem Mal schossen von der Stelle des Aufpralls mehrere kleinere Feuerbälle in alle Richtungen davon. „Runter!“ Noch ehe Barthos reagieren konnte, warf Femo sich gegen ihn, schlang die Arme um seinen Körper und riss ihn zu Boden. Barthos fühlte eines der heißen Geschosse im Fallen über seinen Kopf hinwegzischen und hörte, wie es dann an der gegenüberliegenden Wand verpuffte.
    „Verdammt!“, stieß Femo wütend aus, dessen Gesicht nun direkt über Barthos’ hing. „Lauf mir nie wieder in die Schussbahn!“
    „Ich…“ verdattert starrte Barthos den anderen Novizen an, der sich nun wieder erhob und seine Robe abklopfte, bevor er ihm eine Hand reichte und ihn wieder auf die Beine zog. „Was… was war das?“
    „Man nennt es Magie.“ Femos Stimme war kalt. Langsam wandte der Novize sich ab und hob den zu Boden gefallenen Runenstein wieder auf.
    „Von so einem Zauber habe ich noch nie gehört. Ich dachte, das wäre ein gewöhnlicher Feuerball.“ Nur langsam überwandt Barthos den Schock. Sein Blick war noch immer starr auf den anderen Novizen gerichtet.
    „Ja, ein modifizierter“, sagte dieser tonlos. „Ich habe ihn „Feuersturm“ genannt.“
    „Du? Heißt das, du hast…?“
    „Ja“, unterbrach Femo Barthos unwirsch. „Ja, ich habe den Runenstein gestohlen, auch den davor. Ja, ich habe einen neuen Zauber entwickelt. Und ich hätte wohl lieber zulassen sollen, dass es dich erwischt.“ Er senkte den Kopf. „Du wirst es dem Rat erzählen, stimmt’s?“, fragte er mit auf einmal leiser, brüchiger Stimme.
    „Ich…“ Das hatte Barthos im ersten Moment tatsächlich vorgehabt. Er war kein Verräter und niemand, der viel davon hielt, jede Kleinigkeit gleich der Obrigkeit zu melden, aber wenn ein einfach gestrickter und unausgebildeter Novize Runensteine stahl und damit herumhantierte, war er eine Gefahr, auch für sich selbst. Doch mit einem Mal war dieses Vorhaben vergessen. Nicht, weil Femo ihm gerade das Leben gerettet hatte – das hatte er noch gar nicht wirklich realisiert. Vielmehr war es die Faszination, die ihn ob dessen ergriff, was Femo da gelungen war. „Kann ich mal…“ Unsicher streckte er eine Hand nach der Rune aus.
    Femo hob den Kopf, blickte ihn kurz aus diesen durchdringenden grünen Augen an und reichte ihm dann den Stein. Ehrfürchtig nahm Barthos die Rune entgegen, nicht ohne bei der Berührung von Femos Hand ein weiteres Mal festzustellen, wie angenehm weich die Haut des Novizen war, hielt sie sich vors Gesicht und studierte die eingeprägten Symbole. „Der Zauber basiert also auf dem Feuerball“, murmelte er. „Und dann… Das ist genial! Wie hast du das hinbekommen?“
    „Ja, schon seltsam, nicht?“ Femo schien sich etwas gefasst zu haben und war wieder in seine übliche Tonlage verfallen. „Wie hat der dumme Bauer das nur hinbekommen?“
    Mit einem Mal drückte Barthos Femo den Stein wieder in die Hand. „Kannst du einmal, nur ein einziges Mal ein ganz normales Gespräch führen? Weißt du, was ich glaube? Du fühlst dich ständig ungerecht behandelt und benachteiligt. Du glaubst, alle Welt hätte sich gegen dich verschworen. Und deshalb gibst du niemandem eine Chance und denkst, alle wollten dir nur Schlechtes. Deshalb reagierst du auf jede Frage wie auf einen Angriff.“
    Femo schnaubte. „Danke. Das nächste Mal frage ich, wenn ich ein psychologisches Gutachten brauche.“
    „Du machst es einem wirklich nicht leicht“, seufzte Barthos. Er zögerte, bevor er fortfuhr: „In Ordnung, vielleicht wirst du wirklich teilweise ungerecht behandelt. Ich gebe es zu, ich hätte nicht gedacht, dass du so was kannst. Eine Rune herstellen oder zaubern, meine ich. Aber du lässt ja auch niemanden an dich heran, sodass er sich ein richtiges Bild von dir machen könnte. Du führst dich die meiste Zeit wie ein beleidigtes Kind auf.“
    Femo hatte ihm stumm zugehört und ihn weiterhin mit seinem Blick durchbohrt. Nun ergriff er wieder das Wort, langsam sprechend, wie mit einem Kind, dem er einen komplizierten Sachverhalt erklären musste: „Vielleicht will ich das alles ja gar nicht. Du hältst dich für furchtbar schlau, Barthos. Du denkst, du hast durchschaut, was in mir vorgeht. Wahrscheinlich kommst du dir unheimlich toll vor und denkst auch noch, du würdest mir einen Gefallen tun, indem du mich darüber aufklärst, wie kindisch und unvernünftig ich mich doch verhalte. Aber was du nicht kapierst und wahrscheinlich auch gar nicht kapieren willst: Ich will niemanden, der mich versteht. Ich will keine Anerkennung weil ich irgendeinen tollen neuen Zauber entwickelt habe – der im übrigen auch nicht mehr kann, als Dinge anzuzünden. Ich will keine Freunde. Ich will meine Ruhe. Ich will, dass man mich mit meinen Problemen in Ruhe lässt, solange ich nicht um Hilfe frage. Ich komme dir nämlich auch nicht in die Quere, falls dir das entgangen sein sollte.“ Femo wandte sich ab. Mit einem tiefen Seufzen senkte er den Kopf und stützte die Stirn in die Hand.
    Barthos blickte ihn verständnislos an. Er konnte und wollte einfach nicht begreifen, was dieser Kerl für ein Problem mit ihm hatte. Was machte er denn bitteschön falsch, dass Femo sich so aufregen musste? War er nicht nett und freundlich? Hatte er ihm nicht einen guten Rat gegeben? „Ich weiß ja nicht, wie du dir das vorstellst“, hob er an, seine Wut mühsam unterdrückend. „Deine Ruhe.“ Er betonte das Wort, als handle es sich um etwas Böses, Widerwärtiges. „So wie du dich benimmst, ist es ziemlich schwer, dich in Ruhe zu lassen. Anstatt zu fragen, stiehlst du die Bücher, die du lesen willst einfach – wahrscheinlich hast du noch viel mehr aus der Bibliothek gestohlen; woher sonst weißt du, wie man Runen herstellt? Runensteine stiehlst du auch. Was du da geschaffen hast, ist beeindruckend, aber das hättest du auch im Unterricht machen können. Du hättest fragen können, ob du mitmachen darfst, zeigen können, was du kannst. Aber du kannst doch nicht einfach Runen entwenden und erwarten, dass niemand sich dafür interessiert. Dafür sollte ich dich wirklich beim Rat melden. So toll dieser neue Zauber auch sein mag, du kannst nicht für deine Spielereien…“
    „Spielereien?!“ Nun wurde Femo laut. Mit einem Mal war er herumgeschnellt. „Du denkst, das wäre alles nur ein großer Spaß, ja? Aber ich sag dir mal was: Du hat keine Ahnung. Du urteilst einfach, aber du hast in Wahrheit keine Ahnung, was das alles eigentlich soll. Ich werde es dir sagen, vielleicht gibst du dann wenigstens Ruhe: Ich bin…“ – er zögerte einen winzigen Moment – „krank. In Ordnung? Da hast du’s. Ich bin krank. Die Alchemie kann es erträglicher machen, aber sie kann mich nicht heilen. Deswegen brauche ich einen Heilzauber. Und deswegen experimentiere ich mit diesen Runen rum. Glaubst du wirklich, ich stehle einen Runenstein und riskiere so viel, nur um ein bisschen mit Feuerzaubern rumzuspielen? Das ist nur ein Nebenprodukt. Zufällig dabei entstanden. Aber dafür mache ich das nicht, verdammt!“
    Barthos erschlaffte. All die tollen, vernünftigen Worte, die er sich zurechtgelegt hatte, um sie Femo an den Kopf zu werfen und ihm zu zeigen, wie lächerlich er sich aufführte, waren vergessen. Damit hatte er nicht gerechnet. „Tut mir leid“, stammelte er. „Ich wusste nicht…“
    Femo schüttelte niedergeschlagen den Kopf und winkte ab. „Erzähl einfach niemandem davon und lass mich in Zukunft in Ruhe, ja?“, bat er matt, schob die Feuersturmrune in eine Tasche seiner Robe und schlurfte auf den Höhlenausgang zu.
    „Können dir die Magier nicht helfen?“, fragte Barthos, der sich plötzlich schuldig fühlte.
    „Nein.“ Femo drehte sich nicht um und hielt auch nicht an. „Wenn es ein normaler Heilzauber tun würde, hätte ich so einen hergestellt und nicht mit neuen Zaubern experimentiert. Meine Krankheit kann man nicht so einfach heilen. Sie ist angeboren.“
    Barthos lief Femo nach. Mit schnellen Schritten schloss er zu ihm auf. Am Höhleneingang erreichte er ihn. „Aber vielleicht kennen sie die Krankheit. Du bist sicher nicht der einzige, der daran leidet. Es muss ein Heilmittel…“
    „Nein, es gibt keins!“, fuhr Femo ihn wütend an und blieb endlich stehen. „Andere, die darunter leiden, leben mit der Krankheit. Ich kann das nicht. Nicht hier. Und ich hatte dich gebeten, mich einfach in Ruhe zu lassen. Aber das kannst du einfach nicht.“ Femo schien nun den Tränen nahe und Barthos wandte den Blick ab. Er konnte nicht länger in diese Augen schauen. „Ich kümmere mich allein darum. Das geht niemanden sonst etwas an. Und ich will auch nicht, dass irgendjemand sonst davon erfährt, klar?“
    Femo wartete keine Antwort ab. Er drehte sich herum und verschwand zwischen den Bäumen.
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    Der Runentisch surrte leise, während er sich immer schneller zu drehen begann. Barthos begutachtete den Runenstein kritisch. Wenn er alles richtig gemacht hatte, hatte er soeben eine Feuerballrune erschaffen. Aber das wäre nicht seine erste gewesen. Mit einem Feuerball würde er sich nicht zufrieden geben. Nicht heute. Er wollte einmal schauen, ob er die Symbole auf Femos Rune wirklich richtig abgelesen hatte.
    „Reichst du mir mal den Schwefel?“
    „Schwefel?“ Florentius gluckste herablassend. „Man benötigt keinen Schwefel für einen Feuerball.“
    „Weiß ich“, entgegnete Barthos ohne den Blick zu heben. „Bekomme ich jetzt den Schwefel?“
    Wortlos reichte Florentius ihm den kleinen Becher mit dem gelblichen Pulver darin. Barthos nahm ihn ebenso wortlos entgegen und ließ den Inhalt dann vorsichtig über seinen Runenstein rieseln. Er stellte das Behältnis neben sich ab und fuhr damit fort, weitere Symbole in den Stein einzugravieren.
    „Was tust du da, junger Novize?“
    Die schwere, schleppende Stimme Scolons ließ Barthos aufschrecken. „Äh… ich habe nur etwas herumexperimentiert“, antwortete er rasch.
    „So?“ Der Magier nahm eine Zange zur Hand und hob den Stein aus dem Runentisch. Mit seinen kleinen, müden Augen begutachtete er ihn. „Dies ist kein Feuerball. Du hattest klare Anweisungen, Novize.“
    „Es ist eine neue Rune“, sagte Barthos zögerlich. „Ein Feuersturm.“
    „Das ist unerhört!“, keifte der Magier wütend und versprühte dabei Tropfen von Speichel auf Barthos’ Brust. „Ihr seid hier um zu lernen; in Demut. Nicht, um herumzuspielen. Ein Runenstein ist etwas sehr Wertvolles. Ich dachte, ich hätte euch gelehrt, nicht leichtfertig damit umzugehen.“
    Inzwischen hatten auch die anderen Novizen ihre Arbeit unterbrochen und sahen interessiert dabei zu, wie Scolon zu einer längeren Standpauke ansetzte.
    „Aber Meister…“
    „Wage es nicht, mir ins Wort zu fallen, Novize! Ich habe den Eindruck, dass du noch nicht bereit bist, in die Geheimnisse der Magie eingewiesen zu werden. Vielleicht solltest du dich vorerst bei der Arbeit auf den Feldern in Demut und Gehorsam üben.“
    „Aber Ihr versteht nicht. Seht doch.“ Barthos riss dem überraschten Magier die Rune aus der Hand, ging mit schnellen Schritten auf die gegenüberliegende Wand zu und stellte sich an den Eingang des kleinen Raumes, der hinter dieser lag und der dazu diente, die neu erschaffenen Runen zu erproben, ohne die Bücher zu gefährden. Während er den Stein hob, hoffte er inständig, alles richtig gemacht zu haben. Es war seine einzige Möglichkeit, der Bestrafung zu entkommen.
    Wärme durchströmte seinen Körper, fuhr über die Fingerspitzen in den Stein und löste sich in Form eines Feuerballs aus diesem, der an die bereits rußgeschwärzte Wand auftraf und dort in acht kleinere Feuerbälle zersprang.
    Stille.
    Barthos spürte die erstaunten Blicke der Anwesenden auf sich ruhen.
    Dann nahm ihm Scolon die Rune plötzlich aus der Hand. „Hast du diesen Zauber geschaffen, Novize?“, fragte er stockend.
    „Die Rune, ja, aber…“
    „Unglaublich.“ Der alte Magier starrte den Stein in seiner Hand an, bevor er den Kopf hob und Barthos mit einer Handbewegung bedeutete, dass er ihm folgen sollte. „Der Rat muss hiervon erfahren.“

    „Hast du etwas, das du beichten musst, Sohn?“
    Barthos überlegte einen winzigen Moment. Durfte er verraten, dass Femo die beiden Runensteine gestohlen hatte? Er hätte es tun müssen. Femo verdiente eine Bestrafung. Und vielleicht war es besser, ihn von weiteren Experimenten abzuhalten, bevor er noch einen Feuerregen über dem Innenhof zündete. Doch nach dem, was er in der Höhle gehört hatte, konnte Barthos das einfach nicht mehr. „Nein, Vater“, sagte er leise.
    „Bist du sicher, mein Sohn?“, fragte die schleppende Stimme von der anderen Seite des Gitters. „Was ist mit den Sünden des Fleisches? Hast du der Versuchung nachgegeben? Hast du Hand an dich selbst gelegt?“
    Barthos rollte mit den Augen. Es war doch immer dasselbe. Er wusste, warum er schon als Kind die wöchentliche Beichte verabscheut hatte und es auch hier im Kloster noch tat. Gehöre diese krankhafte Fixierung auf diese Art der Sünde zum Gelübde eines Feuermagiers oder war sie einfach Resultat des Zölibats? Und vor allem: War irgendjemandem bewusst, dass solche Fragen vieles bewirkten, doch sicherlich nicht, dass der Beichtende ein Leben in Keuschheit führte? Barthos erinnerte sich noch gut, dass er als Kind nicht einmal auf die Idee gekommen war, Hand an sich zu legen, bis die allwöchentliche Frage im Beichtstuhl danach ihn schließlich dazu animiert hatte, einmal auszuprobieren, was an dieser Sünde so besonderes war. Und darauf, wie angenehm der Ausblick von der richtigen Position aus sein konnte, wenn die junge Luise sich bückte, um seine Kammer zu schrubben, hatte auch erst ein Feuermagier im Beichtstuhl ihn gebracht.
    Aber diese Kerle ließen ja doch nicht locker, und so gestand Barthos schließlich die Sünde, ohne sie begangen zu haben, und fügte dann zur Sicherheit hinzu, dass er auch noch gelogen habe – Letzteres interessierte den Magier zwar weniger als die erste Sünde, aber Barthos konnte mit reinem Gewissen die Kirche verlassen.
    Er schlenderte über den Hof. Die Novizen, die ihm über den Weg liefen, tuschelten aufgeregt oder beglückwünschten ihn lautstark. Barthos verzog das Gesicht. Zwei Tage war es nun her und mittlerweile wusste das ganze Kloster, dass er einen neuen Zauber entwickelt hatte. Natürlich hatte er versucht, den Irrtum aufzuklären, doch niemand hatte ihm wirklich zuhören wollen. Stattdessen hatte der Rat ihn beglückwünscht und ausgezeichnet und von den ohnehin schon wenigen Arbeiten freigestellt, damit er sich ganz seinen Forschungen widmen konnte. Seine Chancen stünden gut, hatte Lumones ihm zudem mitgeteilt, in den nächsten zwei, drei Jahren von Innos erwählt und in den Kreis des Feuers aufgenommen zu werden.
    Er betrat einen der schmaleren Seitengänge am Rande des Hofes, von dem er mittlerweile wusste, dass es sich um eine Abkürzung zur Bibliothek handelte.
    „Na, sind wir auf dem Weg in die Bibliothek, um einen neuen Spruch zu entwickeln?“, schallte plötzlich eine Stimme durch den steinernen Gang und ließ Barthos zusammenzucken. Langsam drehte er sich herum. Der Gang war leer, bis auf eine einzelne Gestalt, die lässig und mit verschränkten Armen in einer kleinen Tür lehnte.
    „Femo…“ Barthos schluckte. Seit der Rückkehr aus Brabern hatten sie nicht mehr geredet. Er hatte Femo kaum zu Gesicht bekommen. Wie üblich war sein Zimmergenosse früh aufgestanden und erst spät zu Bett gegangen. So oder so hatte Barthos meist geschlafen. Ihm war dies ganz recht gewesen, denn er hatte nicht gewusst, wie er Femo die Sache erklären sollte. Genau genommen wusste er es auch jetzt nicht.
    „Bitte!“ Femo machte ein gequältes Gesicht. „Erspar mir irgendwelche Ausflüchte. Ich will keine Entschuldigungen hören. Weißt du…“ Er stieß sich von der Wand ab und stellte sich gerade vor Barthos hin. „Im Grunde ist es mir egal“, erklärte er. „Ich brauche keinen Ruhm. Meinetwegen sollen sie Barthos von Laran in den Geschichtsbüchern den Erfinder des Feuersturms nennen. Ist sogar das, womit alle Beteiligten am zufriedensten sein dürften. Du hast deinen Ruhm und dein Name wird in irgendwelchen Büchern veröffentlicht. Und ich habe meine Ruhe. Und all die alten, verkalkten Männer, die ihre Hintern kaum noch aus den Stühlen kriegen, werden sich auch freuen, dass ein Blaublütiger darauf gekommen ist und kein Bürgerlicher. Es geht mir nur ums Prinzip.“ Er grinste schief. „Du hättest ja fragen können, bevor du meine Erfindung als deine ausgibst.“
    „Aber das habe ich nicht“, versuchte Barthos sich zu verteidigen. „Es tut mir leid. Aber ich wollte das nicht, ehrlich. Mir hat keiner die Möglichkeit gelassen, es zu erklären.“
    Femo seufzte tief. „Weißt du, was mich an dir ankotzt? Wie du ständig versuchst, dir selbst vorzumachen, du seiest der Tollste, und damit auch noch Erfolg hast. Da ist mir Flora doch wesentlich lieber. Der ist einfach ein Arschloch. Du bist ein Arschloch, das sich für das genaue Gegenteil hält.“
    „Was soll denn das wieder heißen?“, fragte Barthos ärgerlich und seufzte innerlich. Es hatte ja so kommen müssen. Jetzt spielte Femo sich wieder auf. Dabei gab es doch dieses Mal wirklich keinen Grund, wütend zu sein. Zumindest nicht auf Barthos.
    Femo lachte jedoch nur freudlos auf. „Ja, klar, du bist völlig unschuldig. Du wolltest das alles nicht. Du genießt es nicht, dass alle dich plötzlich für ein Genie halten. Du lachst dir nicht heimlich ins Fäustchen, weil du wahrscheinlich nach nur zwei, drei Jahren im Kloster zum Magier wirst, während andere zehn Jahre oder länger warten müssen. Und dir geht auch keiner ab beim Gedanken, dass dein Name bald in Dutzenden Büchern stehen und noch in hundert Jahren jeder Gelehrte der Welt ihn kennen wird.“
    Barthos öffnete den Mund, doch ihm fiel nichts ein, was er erwidern sollte. Er hatte es zu verdrängen versucht, aber selbstverständlich hatte Femo Recht: Das Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen, von den Novizen bewundert und den Magiern verhätschelt zu werden, war großartig.
    „Machen wir uns nichts vor“, fuhr Femo erbarmungslos fort. „Du kannst dir noch so sehr einreden, das nicht gewollt zu haben, aber allzu heftig kannst du ja wohl nicht widersprochen haben.“
    „Hör zu“, sagte Barthos langsam und ruhig. „Es tut mir leid. Aber ich werde für dich mit Scolon sprechen. Er soll dich auch unterrichten.“
    Sein Gegenüber schnaubte. „Willst du jetzt dein Gewissen reinwaschen? Ohne mich. Ich kann schon Runen herstellen, danke.“
    „Und was soll dieses Gehabe jetzt?“, fragte Barthos und verschränkte trotzig die Arme. Es war doch wirklich nicht zu fassen! Beinahe glaubte er, Femo habe einfach Spaß daran, sich mit ihm zu zanken.
    „Habe ich doch schon gesagt: Du kotzt mich an. Du hältst dich für etwas ganz Besondere, aber das bist du nicht, Barthos. Du bist genauso wie Dutzende andere adlige Novizen auch. Ja, du bist wahrscheinlich das biederste, stereotypste, unindividuellste, was mir je untergekommen ist. Du denkst, du wärst aller Welt überlegen. Nicht nur dem einfachen Volk – das versteht sich ja von selbst – sondern auch den anderen Adligen. Du verachtest Kerle wie Theo, weil sie Kerlen wie Flora in den Arsch kriechen, ohne zu merken, dass du genau dasselbe machst. Du verachtest Kerle wie Flora, weil sie auf alles und jeden herabblicken und machst dabei genau dasselbe. Du hältst dich für unheimlich liberal, weil du dich im Stillen darüber mokierst, wie Flora mit mir oder anderen umspringt, hast aber nicht die Eier in der Hose, ihm das ins Gesicht zu sagen. Am Ende kuschst du nämlich genauso vor ihm und allen anderen Höhergestellten wie Theo. Du siehst dich als Nabel der Welt, als einzigen vernünftigen Menschen und oberste moralische Instanz. Du denkst, du wärst furchtbar schlau, weil du studiert und so viele Bücher gelesen hast. Du denkst, du hättest den vollkommenen Durchblick. Und die anderen sind nicht so großartig wie Barthos von Laran. Die anderen sind tumbe, ungebildete Bauern oder arrogante, konservative Adlige, die nicht merken, wie arrogant sie sind. Aber soll ich dir mal was sagen? Du bist keinen Deut besser. Du bewertest die Menschen doch auch nur nach ihrer Herkunft, genau wie Flora, ist es nicht so? Du hast mich gleich als Bauern abgestempelt und mir damit jede Intelligenz abgesprochen.“
    „Aber du bist nun einmal ein Bauer. Und ein solcher hat einfach nicht den gleichen Zugang zu Bildung. Ich gebe ja zu…“
    „Bitte!“ Femo machte ein gequältes Gesicht. „Erspar’s mir. Du tust es schon wieder. Ja, ja, du konntest nicht ahnen. Dich trifft keine Schuld. Ich verrate dir ein Geheimnis: Ich bin kein Bauer. Ich habe nicht mehr Ahnung von Feldarbeit als du.“
    Barthos stutzte. „Aber du hast doch selbst gesagt…“
    „Nein, Flora hat gesagt. Und du hast es einfach hingenommen, ohne mich selbst mal danach zu fragen. Und er wiederum hat das einfach so angenommen, weil für ihn eh alle Bürgerlichen nur dumme Bauern sind. Nur um das klarzustellen: Mein Vater ist Hufschmied. Aber da muss man nicht groß differenzieren. Er arbeitet. Er schwitzt. Er ist dreckig und arm. Wo ist da schon der Unterschied zu einem Bauern?“
    „Das habe ich nie…“
    Barthos’ Versuch, zu Widersprechen, war nur schwach und wurde von Femo, der inzwischen völlig in Rage geraten war, sofort hinweggefegt: „Und nur zur Info: Du bist nicht allwissend, nur weil du in Geldern ein paar Bücher gewälzt hast. Im Gegenteil. Du hast doch keine Ahnung vom Leben oder von der Welt. Du hast immer in deiner eigenen kleinen, perfekten Welt gelebt. Und mit richtigen Menschen, die nicht in seidene Windeln kacken durften und die arbeiten mussten, um zu leben, hattest du doch nie Kontakt.“ Der Novize schnaubte abfällig und fügte hinzu: „Na ja, vielleicht hast du ein paar Dienstmädchen gevögelt.“
    Barthos schluckte. Das alles kam der Wahrheit erschreckend nahe. Bis hin zu den Dienstmädchen. Trotzdem wollte er nicht so schnell einlenken. Im Moment war es ja wohl Femo, der überheblich und herablassend war. Er musste sich gewiss nicht erzählen lassen, was er alles falsch machte, schon gar nicht von diesem Kerl, der selbst derart unfreundlich, starrköpfig und uneinsichtig war, wie sonst niemand, den Barthos kannte. „Danke“, sagte er abfällig. „Nächstes Mal frage ich, wenn ich ein psychologisches Gutachten brauche.“
    „Sehr witzig.“
    „Das war kein Witz“, sagte Barthos ernst. „Als ich dir deine Fehler aufgezeigt habe, hast du dich beschwert. Jetzt machst du genau dasselbe.“ Der kurze Moment der Zustimmung für Femos Worte war wieder vergessen. Barthos war nun nur noch wütend und ging in die Offensive. Diesem ungehobelten Kerl würde er es zeigen!
    „Meine Fehler? Ich brauche niemanden, der mir meine Fehler aufzeigt. Die sind meine Sache.“
    „Da sind wir ausnahmsweise einer Meinung. Dann behalt in Zukunft doch für dich, was du über mich denkst, und kümmere dich um dich selber.“
    Einen Moment funkelte ihn Femo zornig an, dann sagte er: „Vielleicht ist es besser, wenn wir beide uns um uns selbst kümmern und den anderen in Ruhe lassen.“ Er drehte sich herum. „Lass dich für den Feuersturm feiern“, sagte er im Weggehen. „Mir ist es egal. Hauptsache, du hältst dich in Zukunft von mir fern.“
    Geändert von Jünger des Xardas (26.03.2011 um 15:47 Uhr)

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    Die Prüfung des Feuers


    „Ah, Barthos, dachte schon, du kommst nicht mehr!“ Theodor klopfte auf den freien Platz neben sich. Barthos nickte abwesend. Sein Interesse galt in diesem Moment nicht seinem Zimmergenossen, sondern dem Eingang der Kirche. Er drehte sich auf der Bank herum und verrenkte sich den Hals, um ihn im Blick behalten zu können, und musste erkennen, dass die anderen Novizen es ihm gleich taten. Das ganze Kloster war heute hier versammelt und sie alle beschäftigte nur eine Frage: Wen von ihnen hatte Innos wohl erwählt? Vor drei Tagen war es endlich soweit gewesen: In einer Vision hatte ihr Gott dem Rat mitgeteilt, welche Novizen er für würdig erachtete, sich in der Prüfung des Feuers zu bewähren. Ein wenig hoffte Barthos darauf, selbst zu diesen Novizen zu gehören. Gewiss, er war jung. Er lebte kaum ein Jahr im Kloster. Aber andererseits war er der Liebling der Magier, seit diese von ihm glaubten, er hätte den Feuersturm erfunden.
    Und dann endlich kamen sie: Lumones, Kratius und Justranis. Bedächtig und erhaben schritten sie zwischen den Bänken entlang und auf die Kanzel zu, so wie sie es an jedem Morgen taten. Gespannt folgten alle Augenpaare ihnen.
    Es schien unendlich lange zu dauern, bis die Ratsmitglieder endlich Platz genommen hatten und sich Lumones erhob. Sein strenger Blick schweifte durch den Raum und nach einem kurzen Moment begann er zu sprechen: „Innos belohnt die, die seine Gebote befolgen. Die, die arbeiten und die, die ihm und seinen Erwählten Gehorsam entgegenbringen. Und so wisset, dass die Entscheidung des Gleißenden immer gerecht ist, denn er ist Herr über die Gerechtigkeit. Wer unter euch glaubt, er habe es verdient, die Prüfung abzulegen, einzig weil er schon viele Jahre in diesen geheiligten Mauern verbracht hat, der ist noch nicht bereit, denn er hat nicht verstanden, was es heißt, zu dienen. Zwei aber unter euch haben dies verstanden und sie wurden für würdig erachtet, die Prüfung des Feuers abzulegen. Sie mögen nun vortreten. Der erste von ihnen ist Karl Gustav Franz Joseph von Vahon.“
    Ein Novize in einer der vorderen Reihen auf der anderen Seite des Mittelganges erhob sich und schritt mit einer Haltung und einem Gesichtsausdruck nach vorn, die daran zweifeln ließen, ob er das Gebot der Demut tatsächlich verinnerlicht hatte.
    „Der zweite ist Florencius Arturius Ludovico Ferdinand von Kavaros.“
    Barthos rollte mit den Augen und sah Femo zwei Plätze weiter dasselbe tun. Er hatte es gewusst.
    Sein Blick blieb an Femo hängen. Der andere Novize sah nicht gut aus heute Morgen. Das hieß, natürlich sah er gut aus, er sah immer gut aus – Nein! Barthos schüttelte sich. Was war das schon wieder für ein Gedanke gewesen? Er versuchte sich wieder auf das zu konzentrieren, was er eben wahrgenommen hatte. Es war Unruhe oder Nervosität, die Femos Gesicht zeichnete. Sekunden später wusste Barthos, warum:
    „Nicht jeder hat die Gebote des Herrn verinnerlicht. Doch Innos ist gnädig und gestattet seinen Novizen, ihre Lektion selbst zu lernen. Es ist einer unter euch, der die Dreistigkeit besaß, die Prüfung zu fordern, ohne erwählt worden zu sein. Der Novize Femo wird an der Prüfung teilnehmen und durch sein Scheitern hoffentlich Demut lernen.“
    Barthos riss die Augen auf. „Man kann die Prüfung fordern?“, stieß er überrascht aus.
    „Hättest du wohl nicht gedacht“, flüsterte Femo grinsend zurück, während er sich erhob. „Der Trick ist halt nicht, viele, sondern die richtigen Bücher zu lesen.“ Mit diesen Worten wandte der Novize sich von seinem Zimmergenossen ab und zwängte sich aus der Bankreihe heraus und zum Mittelgang durch.
    Entgeistert blickte Barthos ihm nach. Man konnte die Prüfung einfach fordern und sie wurde einem gewährt? Langsam wandelte sein Unglaube sich in Trotz. Ein Idiot wie Florencius wurde erwählt, nur weil er dem Hochadel angehörte, und Femo wurde für seine Dreistigkeit belohnt anstatt bestraft. Was war da mit ihm, Barthos? Auch wenn er es damit nach Lumones’ Definition nicht war, hielt Barthos sich für mehr als bereit, die Prüfung abzulegen. Er sah gar nicht ein, warum er noch weitere Jahre das Leben eines Novizen führen sollte, wenn es wirklich so einfach war.
    Ohne wirklich darüber nachzudenken, was er tat, sprang Barthos auf und folgte Femo. Dass alle Blicke dabei auf ihm ruhten, merkte er gar nicht.
    „Was tust du da, Novize?“, blaffte Kratius, als Barthos neben dem überraschten Femo zu Füßen der Kanzel zu stehen kam.
    „Ich will die Prüfung ablegen“, hörte Barthos sich selbst sagen, als kämen die Worte aus dem Mund eines anderen.
    Ein Raunen ging durch die Menge, verstummte jedoch sofort, als Lumones sich erhob. „Strapaziere unsere Gutmütigkeit nicht zu sehr, Novize!“, mahnte er gebieterisch.
    „Ich…“ Barthos kam sich mit einem Mal furchtbar klein vor und fragte sich, was er hier eigentlich machte.
    „Dir scheint deine Entdeckung zu Kopf gestiegen zu sein“, sagte nun Justranis. „Du bist noch nicht bereit, Novize. Begib dich auf deinen Platz zurück.“
    „Nein!“ Barthos war selbst über die Festigkeit seiner Stimme überrascht. „Femo hat die Prüfung gefordert, dann darf ich das auch.“
    Lumones’ Mund war nicht mehr als ein schmaler Strich. „Du enttäuschst mich“, sagte er ruhig. „Wir hielten dich für vielversprechend, würdig in einigen Jahren erwählt zu werden. Stattdessen entpuppst du dich als ungestüm und unreif.“ Er hob den Kopf und ließ seinen Blick über die übrigen Novizen schweifen. „Die Anmaßung scheint sich wie eine Seuche zu verbreiten. Vergesst nicht, dass Hochmut eine der Todsünden ist. Die Klausel, die es einem Novizen gestattet, die Prüfung zu fordern, wird aus gutem Grunde nicht öffentlich bekannt gemacht. Sie verleitet allzu leicht zu schändlicher Selbstüberschätzung und Eitelkeit. Ich hoffe wahrlich, dass nicht noch mehr von euch sich ein Beispiel an eurem Bruder Femo nehmen, sondern ihr vielmehr die Weisheit besitzt, ihm und Barthos bei ihrem Scheitern zuzusehen und daraus zu lernen.“ Tatsächlich wagte niemand mehr, sich zu erheben. Lumones’ Blick mochte einiges dazu beitragen.
    „So höret denn die Prüfungen“, wandte Justranis sich nach einigen Momenten an die vier Novizen zu Füßen der Kanzel. „Beweist euren Glauben, indem ihr dem Pfad der Gläubigen folgt.“
    „Beweist eure Demut und erlangt so, was ihr am Ende des Pfades findet“, sagte Kratius.
    „Und beweist eurer Wissen und erschafft eine Rune des Lichts“, forderte Lumones. „Und nun geht! Die Prüfung des Feuers hat begonnen!“

    Da stand er nun und wusste nicht so recht, was da eben eigentlich geschehen war. Inzwischen hatte jeder die Kirche wieder verlassen. Und die Blicke der anderen Novizen sagten alle nur eins: „Damit hast du alles verspielt, Trottel.“
    Barthos gab ihnen insgeheim Recht. Was war nur in ihn gefahren? Nur weil Femo dumm genug war, die Prüfung einfach zu fordern, musste er doch nicht dasselbe tun. Er war sich sicher, dass er schon bald nach seinem Versagen den Zorn der Magier zu spüren bekommen würde. Mit den vielen Privilegien war es vorerst wohl vorbei.
    Barthos gab sich einen Ruck. Nun gab es kein Zurück mehr. Und er wollte es wenigstens versuchen. Also setzte er sich in Bewegung. Der Novize Karl war auf der Suche nach den Materialien für die Rune in der Bibliothek verschwunden. Femo und Florencius hatten das Kloster jedoch verlassen und Barthos beschloss, ihnen zu folgen. Was es mit dem Pfad der Gläubigen auf sich hatte, war klar. Es handelte sich um einen schmalen Pfad hinauf in die Berge, wo ein alter Steinkreis stand. Schon einmal war Barthos dort oben gewesen, als das Kloster dort das Sonnwendfest gefeiert hatte.
    Der Weg hinauf zum Steinkreis begann auf der anderen Seite des Sees, sodass Barthos zunächst den Pfad zum Kloster hinabsteigen und am Ufer entlanglaufen musste, bevor er hinauf in die Berge steigen konnte. Der Pfad war lang und steil und wandt sich um zahlreiche Felskanten. Und umso weiter er hinaufstieg, umso mehr verließ Barthos der Mut, umso sicherer wurde er, dass die anderen das Ziel längst schon erreicht hatten.

    Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als er endlich ein kleines Plateau weit oberhalb des Klosters erreichte und vor dem großen Steinkreis in dessen Mitte stand. Seine Aufregung wuchs. Die erste Prüfung war bestanden, doch wie sollte es nun weitergehen? Beim besten Willen vermochte er nicht zu sagen, wie er sich nun am besten in Demut üben sollte. Erwartete man von ihm etwa ein Gebet zu Innos? Nein, das konnte unmöglich funktionieren. Barthos musste gestehen, dass er nie sehr fromm gewesen war. Ungünstig für jemanden, der gerade die Prüfung zum Magier ablegte, mochte man meinen, doch Barthos bezweifelte, dass die drei übrigen Novizen ihm hier viel voraus hatten. Letztlich entschied das Gold, wer im Kloster aufgenommen wurde, nicht die Stärke des Glaubens.
    Doch er durfte seine Zeit jetzt nicht mit Nachdenken verschwenden. Er musste sich auf seine Aufgabe konzentrieren. Mit festem Schritt setzte er sich in Bewegung, passierte die großen Monolithen und trat in die Mitte des Steinkreises. Und jetzt sah er es: Ein großes Loch in der nahen Felswand. Barthos war sich sicher, dass es bei der Sonnenwendfeier noch nicht dort gewesen war. Dunkel erinnerte er sich an eine schwere Steinplatte voller alter Runen, die Innos und sein Licht priesen und die Lumones bei den Feierlichkeiten rezitiert hatte. Als er sich das Loch genauer besah, stellte er fest, dass jene Platte nun im Boden versunken war. Offensichtlich gehörte dies zur Prüfung. Doch als er über die Schwelle schritt und den Berg betrat, kam ihm ein anderer Gedanke, bei dem sein Herz vor Schreck für den Bruchteil einer Sekunde stehenblieb. Was, wenn einer der anderen Novizen die Platte auf irgendeine Weise bewegt hatte und nicht die Magier? Was wenn einer seiner Konkurrenten ihm zuvor gekommen war?
    Barthos dachte nicht mehr lange nach. Er begann zu rennen, stürmte eine schmale Treppe hinab und einen langen Gang entlang. Dann erreichte er eine größere Kammer, an deren Rückseite sich eine Innosstatue erhob. In ihrer Mitte erkannte er einen Runentisch. Und eine Gestalt, die sich daran zu schaffen machte. Er erstarrte. Es konnte sich nur um einen der anderen Novizen handeln. Und dies bedeutete, dass er zu spät war. Doch was war das? Während sein Konkurrent den Runenstein mit der Zange aus der Halterung hob, um das Ergebnis seiner Arbeit zu begutachten, löste sich ein Schatten aus der Dunkelheit hinter einer Säule. Die Gestalt hatte den am Eingang stehenden Barthos offensichtlich nicht bemerkt, sondern schlich auf den Novizen am Runentisch zu, der ihnen beiden den Rücken zugekehrt hatte. Barthos sah, wie eine Hand des Schattens kurz in dessen roter Robe verschwand und dann etwas Kurzes, Silbernes daraus hervorzog. Unendlich langsam hob er nun die Hand. Barthos erschrak, als er sah, was der Schatten vorhatte. Ohne nachzudenken riss er sich seinen Kampfstab vom Rücken, durchmaß die Höhle mit wenigen Schritten und ließ die hölzerne Waffe mit aller Kraft herabsausen.
    Der Novize am Runentisch ließ Zange und Rune fallen und fuhr herum. Der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er aus zwei weit aufgerissenen grünen Augen auf Barthos, der noch immer dastand, den erhobenen Stab in seinen Händen, dann auf den Angreifer, der reglos am Boden lag, sein Messer neben sich, dann wieder auf Barthos starrte. Einen Moment schauten sie sich stumm in die Augen, dann senkte Femo wieder den Blick auf den am Boden Liegenden. „Flora“, sagte er leise. „Ist… ist er?“
    Barthos ließ seinen Stab sinken, beugte sich hinab und griff mit zitternder Hand nach Florencius’ Arm. Hatte er soeben einen Menschen ermordet? Selbst wenn er Florencius nicht mochte, selbst wenn dieser offensichtlich bereit gewesen war, für den eigenen Erfolg über Leichen zu gehen – das war das Letzte, was Barthos gewollt hatte. Er zögerte einen Moment, dann griff er zu. Als er den Puls des Novizen fühlte, schloss er für einen Moment erleichtert die Augen. „Nein“, sagte er dann. „Nein, er lebt.“
    Femo nickte nur wie benommen. Nach einem Moment bückte er sich und hob die Rune auf. Barthos erkannte, dass sie bereits fertig war. Femo hatte die dritte Prüfung gemeistert. „Ich würde sagen, wir gehen zum Kloster zurück“, schlug Barthos zögernd vor.
    „Und Flora?“
    „Na ja, er wird schon wieder aufwachen und den Weg zurück finden.“
    Femo nickte unsicher.

    „Barthos?“
    „Hm?“
    „Danke.“
    „Schon in Ordnung. Immerhin hast du mir auch schon das Leben gerettet, schon vergessen? Jetzt sind wir also quitt.“
    „Hm, stimmt.“
    Schweigend stiegen sie den gewunden Pfad hinab, während die Sonne sich langsam dem Horizont näherte.
    „Weißt du“, ergriff Femo wieder das Wort. „Ich bin schon länger im Kloster als du. Ich habe schon ein paar Prüfungen miterlebt. Es ist schon einmal ein Novize nicht wiedergekommen. Ich weiß nicht, was derjenige, der damals bestanden hat, dem Rat erzählt hat, aber offenbar hat es die Magier nicht weiter gekümmert. Ich habe mir damals meinen Teil gedacht. Aber ich hätte einfach nie damit gerechnet, dass…“ Er stockte. Barthos stellte bei einem schnellen Seitenblick fest, dass Femo noch immer kreidebleich war. Nie zuvor hatte er den anderen Novizen derart unsicher erlebt. Nicht einmal als Barthos ihn als Dieb des Runensteins enttarnt hatte. Florencius’ Angriff schien den Novizen stark mitgenommen zu haben.
    Kurz verspürte Barthos den Impuls, Femo einen Arm um die Schulter zu legen, doch er unterdrückte ihn und verdrängte den Gedanken schnell wieder. Stattdessen sagte er: „Ich auch nicht. Mir war klar, dass Florencius unbedingt die Prüfung bestehen wollte, aber dass er soweit geht…“
    „Tja, er ist nicht der einzige, der unbedingt Magier werden will.“ Femo lächelte schwach. „Wollten wir uns nicht aus dem Weg gehen? Langsam habe ich das Gefühl, du kannst mich gar nicht in Ruhe lassen. Du scheinst wirklich nichts Besseres zu tun zu haben, als mir hinterherzulaufen und dich über mich aufzuregen.“
    Barthos seufzte innerlich. „Muss das sein, Femo? Es tut mir leid, wirklich. Aber wir müssen doch nicht direkt wieder damit anfangen, oder?“
    Femos Lächeln erstarb. „Nein, nein, so meinte ich das gar nicht!“, versicherte er hastig. „Das war nur ein dummer Scherz. Ich habe auch keine Lust, mich bis an mein Lebensende mit dir zu streiten. Aber ich muss auch zugeben, ich war vorhin ziemlich sauer. Ich hatte das Gefühl, dass du mir gar nichts gönnen kannst, dass du einfach unbedingt besser sein musst als der dumme Bauer.“
    „Na ja, vielleicht stimmt das ja sogar.“ Barthos schaute nachdenklich in die Ferne. „Ich hätte wirklich noch warten können. Niemand wird nach einem Jahr Magier. Und ich hätte zufrieden sein können mit dem, was ich hatte. Seit alle denken, ich hätte den Feuersturm erfunden, gibt es wirklich nichts, worüber ich mich beklagen könnte. Eigentlich habe ich ja nicht einmal das verdient. Aber du, du hast zwei der Prüfungen bestanden.“
    „Drei“, berichtigte Femo. „Was glaubst du, wie ich die Platte da oben wegbekommen habe?“
    „Wie denn?“
    „Ich habe mich in Demut geübt.“ Femo grinste leicht.
    „Dann meinen Glückwunsch. Du verdienst es mehr als ich. Du hast nicht nur die Prüfung bestanden, du bist auch der bessere Magier. Und das, obwohl du dir alles selbst beibringen musstest.“
    „Ich… danke.“ Barthos sah aus dem Augenwinkel, wie Femo zu Boden starrte.
    Wieder schwiegen sie eine lange Weile. Irgendwann spürte Barthos eine sanfte Berührung an seiner Hand. „Barthos, ich will, dass wir diese Rune gemeinsam dem Rat übergeben. Und ich will, dass wir ihm sagen, wir hätten die Höhle gleichzeitig erreicht und das Rätsel am Eingang zusammen gelöst.“
    „Aber…“
    „Jetzt wag es ja nicht, den edlen Paladin zu spielen.“ Ein Grinsen huschte über Femos Gesicht. „Wenn du nicht machst, was ich sage, erinnere ich mich wieder daran, dass du ein dummer arroganter Adliger bist, gebe den Runenstein allein ab und werde dir dann als Magier so viele Arbeiten aufhalsen, dass du dir wünschst, du hättest mich da oben nicht vor Flora gerettet.“
    Barthos lachte und spürte ein angenehmes, ja befreiendes Gefühl der Wärme in seinem Bauch. „Sieht aus als hätte ich keine Wahl. Und noch mehr, als wir es schon getan haben, können wir den Rat sowieso nicht mehr erzürnen, schätze ich.“
    Geändert von Jünger des Xardas (27.03.2011 um 18:32 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Ungewisse Zukunft


    „Meister Matrus! Meister Barthos!“
    Die beiden jungen Feuermagier hoben gleichzeitig die Blicke in Richtung Kajüteneingang. Dort stand Tim, der kleine Schiffsjung und atmete schwer. Er war offensichtlich über das halbe Deck gerannt. „Kapitän Drekka lässt Euch ausrichten, dass wir in einer knappen Stunde im Hafen von Vengard einlaufen. Er rät Euch, Eure Sachen zu packen.“
    Femo nickte. „Danke, Junge. Wir brauchen nicht lange.“ Während Tim wieder die Treppe hinaufstürmte und die Kajütentür hinter sich zuwarf, richtete der Magier seinen Blick wieder auf die Tischplatte, auf der ein großes Schachbrett lag. „Wo waren wir?“
    „Du warst dran.“
    „Ja, ich weiß, aber was hatte ich… Ach ja, richtig!“ Femo schob seinen Bauern nach vorne und vereitelte somit Barthos’ Angriff, den er nun schon seit neun Zügen plante. „Tja, wie schon gesagt“, fuhr er fort, als sei nichts gewesen. „Ich habe es in diesem Dorf einfach nicht mehr ausgehalten. Zu allem Überfluss wollte mein Vater mich dann auch noch verheiraten.“
    „Und das Mädchen war nicht nach deinem Geschmack, nehme ich an?“ Barthos brachte seinen Springer vor dem gegnerischen Turm in Sicherheit.
    „Äh… so in etwa.“ Hastig senkte Femo den Blick auf das Schachbrett. „Also habe ich, wie gesagt, mein Erspartes genommen und bin abgehauen. Erst mal in die Stadt. Dort habe ich mich irgendwie durchgeschlagen, Geld verdient… Und als ich genug hatte, bin ich ins Kloster. Weißt du, ich wollte einfach nicht ewig in diesem Dorf versauern, verheiratet mit jemandem, den ich nicht ausstehen kann, mich um ein Dutzend Bälger kümmern müssen… Schach!“ Barthos biss sich auf die Lippe. Während er nach einem Ausweg aus der für ihn brenzligen Situation suchte, redete Femo hastig weiter. „Das Kloster war natürlich nur Mittel zum Zweck. Innos ist mir ziemlich egal. Aber wo sonst hätte ich mich bilden und vor allem Magie lernen sollen? Ich war ziemlich enttäuscht, als ich sah, dass alles ganz anders war, als ich mir das vorgestellt hatte. Aber das Leben war für mich selten einfach. Und ich hatte mir immer zu helfen gewusst.“
    „Also hast du angefangen, Bücher aus der Bibliothek zu klauen und heimlich zu lesen.“ Barthos beschloss, einen Turm zum Schutze seines Königs zu opfern. „Ja. Ja, da waren wir schon mal.“
    „Na ja, viel mehr gibt’s da auch nicht zu erzählen. So spannend ist meine Lebensgeschichte wirklich nicht. Schachmatt.“ Femo erhob sich, während Barthos noch überrascht auf das Spielfeld starrte und erst langsam realisierte, dass er ausgerechnet einen einfachen Bauern völlig ignoriert hatte, der ihm nun zum Verhängnis geworden war. Im nächsten Moment grinste er über die Ironie dieses Spielausgangs und begann die Figuren in ihre Schachtel zurückzupacken. „Wir sollten uns langsam fertig machen“, meinte Femo.
    Barthos nickte nur, hob den Blick und beobachtete den anderen Magier, wie er seine im Zimmer verstreuten Habseligkeiten auflas. Die weite, rote und aus schwerem Stoff gefertigte Robe eines Magiers stand ihm wirklich hervorragend. Und Femos Gesicht wirkte entspannter als sonst, was es gleich noch schöner wirken ließ.
    „Was starrst du denn so?“
    „Was…?“ Barthos schreckte auf. „Äh… nichts.“ Er sprang in die Höhe und begann ebenfalls, seine Sachen zusammenzusuchen.
    „Vengard, wie ist das so?“, hörte er Femo in seinem Rücken. „Du warst doch schon mal dort, oder?“
    „Ja, aber nur ein paar Tage. Und das ist Jahre her. Ich war schließlich nur auf der Durchreise nach Geldern. Aber ich sag dir, du wirst staunen. Vengard ist riesig. Und das königliche Schloss erst!“ Barthos ergriff seinen an der Wand lehnenden Kampfstab und hängte ihn sich auf den Rücken, bevor er sich wieder zu Femo herumdrehte. Die beiden waren im Laufe des letzten Monats gute Freunde geworden und zu seiner Schande musste Barthos gestehen, dass er Femo wirklich Unrecht getan hatte. Er war nicht nur ein fabelhafter Schachspieler und Magier, nein, man konnte sich auch hervorragend mit ihm unterhalten. Und dennoch ertappte Barthos sich ab und zu dabei, wie er Femo noch immer unterschätzte. Doch er versuchte, dies nicht zu häufig vorkommen zu lassen.
    „Bist du soweit?“
    „Ja“, antwortete Barthos und warf sich seine Tasche über den Rücken.
    Gemeinsam stiegen sie die schmale Treppe hinauf, die aus ihrer Kajüte ans Deck des Schiffes führte. Sofort schlug ihnen salzige Seeluft entgegen, in die sich das Geschrei von Möwen mischte.
    „Ah, da sind die Herren Magier ja!“ An der Reling des Steuerdecks, unweit ihrer Kajütentür, stand Kapitän Joseph Drekka.
    Femo riss die Augen auf. „Das ist Vengard?“ Ungläubig deutete er auf die mächtige, auf einer Klippe in einer Flussmündung thronende Burg, neben der rechterhand, auf einer zweiten Klippe am nördlichen Flussufer, eine gewaltige Kathedrale aufragte, während sich zu ihrer Linken, am Südufer des Flusses, riesige Hafenanlagen erstreckten.
    Der Kapitän lachte. „Habt wohl noch nie so’ne Stadt gesehen, was? Ja ja, das ist schon ein anderes Kaliber als diese Fischerdörfer bei Euch auf’m Archipel. Sogar Laran sieht dagegen ziemlich armselig aus, was? Aber jetzt entschuldigt mich bitte, Meister Matrus. Und ihr auch, Meister Barthos. Einer muss dieses Schiff schließlich in den Hafen manövrieren.“
    Während der Kapitän lachend davonging, fiel Barthos’ Blick wieder auf Femo. Der andere Magier hatte sich noch immer nicht an seinen neuen Namen gewöhnt, das verriet ein kaum wahrnehmbares Zucken seiner Augenbrauen, wenn dieser fiel. Es war üblich, dass ein Novize, der zum Magier geweiht wurde, seinen alten Namen ablegte und sich einen neuen wählte. Femo hatte dies umgehend getan. Er hatte schon seit einigen Monaten vorgehabt, die Prüfung zu fordern. Somit hatte er auch genug Zeit gehabt, sich einen passenden Namen für sein zukünftiges Leben zu überlegen. Barthos dagegen war in keiner Weise auf die Prüfung vorbereitet gewesen und hatte dies einmal mehr feststellen müssen, als Lumones ihn nach seinem neuen Namen gefragt hatte. Ihm war erst in diesem Moment eingefallen, dass er einen solchen wählen musste. Und weil er auf die Schnelle keine bessere Idee gehabt hatte, hatte er spontan seinen bisherigen Namen genannt. Das war keinesfalls verboten, aber das war das Fordern der Prüfung auch nicht. Beliebt machte man sich beim Rat mit beidem nicht.
    „So hatte ich mir das alles allerdings nicht vorgestellt“, nahm Femo den Gesprächsfaden vom Schachspiel wieder auf, während er gedankenverloren auf die vor ihnen liegende Stadt blickte. „Ich hatte gehofft, wenigstens als Magier könnte ich mich etwas mehr auf das konzentrieren, was ich eigentlich im Kloster finden wollte: Wissen, Magie… Stattdessen haben sie uns dahin geschickt, wo das Sumpfkraut wächst.“
    Barthos nickte grimmig. Die Magier verstanden sich darauf, diejenigen loszuwerden, die ihnen ein Dorn im Auge waren. Und nachdem sie die Prüfung nicht nur gefordert, sondern auch noch gemeinsam zuende gebracht hatten, hatten Femo und Barthos wohl endgültig das Wohlwollen des Rates verspielt. So war es kaum überraschend gewesen, als man den beiden jungen Magiern nur kurz nach ihrer Weihe eröffnet hatte, dass sie das Kloster würden verlassen müssen, um in den Landen der Heiden als Missionare zu dienen. „Glaub mir“, sagte Barthos. „Ich hatte auch nicht vor, die nächsten Jahrzehnte in irgendeinem Dorf am Rand der Zivilisation zu verbringen.“
    Femo schnaubte. „Das bin ich zur Genüge gewohnt. Aber… genau das wollte ich nicht mehr. Ich wollte mehr sein als meine Eltern und Geschwister waren. Aber vielleicht ist das ja gar nicht möglich. Vielleicht gibt es wirklich keine Chance für einen Bürgerlichen, einfach die Magie zu studieren und sein Wissen zu erweitern. Vielleicht muss man wirklich mit einem silbernen Löffel im Mund geboren sein. Zumindest habe ich langsam das Gefühl, dass ich tun kann, was ich will, mir werden jedes Mal nur neue Steine in den Weg gelegt.“
    „Ich glaube, du stellst dir das Leben für einen Adligen viel zu einfach vor“, warf Barthos ein. „Wir sind auch an das gebunden, was unsere Geburt uns vorgibt. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich das Kloster nie betreten, sondern bis an mein Ende in Geldern studiert.“
    „Aber auch nur, weil du der Zweitgeboren bist.“
    Nun war es an Barthos, zu schnauben. „Und wenn ich der Erstgeborene wäre? Dann dürfte ich meinen Vater beerben, mich auf Banketten langweilen, vor Leuten wie Florencius buckeln und mich mit Politik herumschlagen.“
    „Ach, das ist doch nicht dasselbe!“, stieß Femo wütend aus. „Wenigstens hätte man dich nicht einfach so verheiratet und von dir erwartet, für den Rest deines Lebens deinem…“
    Der Magier brach plötzlich ab, doch Barthos bemerkte dies kaum. Er lachte nur auf. „Femo, du bist doch sonst nicht so naiv. Du weißt genau, dass ich mir meine Gattin nicht hätte aussuchen können.“
    „Schon, aber… Ach, das kannst du nicht verstehen. Glaub mir, du würdest mir zustimmen, wenn ich es dir nur erklären würde.“
    „Warum tust du es nicht?“
    „Weil…“ Femo mied Barthos’ Blick und knetete unruhig die Hände. „Das ist kompliziert. Bitte, ich kann nicht darüber sprechen. Ich würde gerne, aber es geht nicht, glaub mir bitte einfach.“
    Barthos war überrascht über den flehenden Ton, der plötzlich in Femos Stimme lag. Er nickte nur unsicher. So ganz verstand er nicht, was dies zu bedeuten hatte und wie ihr Gespräch sich in diese Richtung hatte entwickeln können.
    Femo wandte sich unterdessen seufzend wieder dem Hafen zu. „Ganz Unrecht hast du nicht“, murmelte er. „Vielleicht kann sich in dieser Welt niemand so wirklich aussuchen, was er gerne tun möchte. Wo sie uns wohl hinschicken?“, fügte er nach kurzer Pause hinzu.
    Ja, in der Tat, diese Frage stellte sich auch Barthos. Als Missionare sollten sie arbeiten. Heiden bekehren. Doch wo, das würden sie erst in Vengard erfahren. Vielleicht im Norden bei Feste von Folklung, in den an der Grenze gelegenen Dörfern der nordmarer Barbaren? Oder in Nemora, im Süden der Westmark? Oder gar im ferne Varant?
    Geändert von Jünger des Xardas (28.03.2011 um 21:30 Uhr)

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    Intellektuelles Geschwätz


    Je stärker ein Mensch auf einen anderen angewiesen ist, desto stärker muss er seine Affekte im Umgang mit diesem zurückhalten. Eine solche Angewiesenheit besteht vor allem zwischen zwei Individuen, die derselben Gesellschaft angehören. Hinzu kommt, dass die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft vom Individuum verlangt, einen Großteil seiner Macht an die die Gesellschaft beherrschende Instanz abzutreten. Aus dem Zwang zur Zurückhaltung und der Monopolisierung der Macht innerhalb einer Gesellschaft folgt, dass jede Gesellschaft in ihrem Inneren pazifiziert ist. Die Ursache der Kriege liegt also in der Koexistenz mehrerer paralleler Gesellschaften, welche wiederum gezwungen sind, zu expandieren, also einander zu bekämpfen, da sie im Spiel der Mächte andernfalls zwangsläufig untergingen. Deutlich macht dies die Entwicklung Myrtanas. Stand früher noch auf jedem zweiten Hügel eine kleine Burg, von der aus ein Ritter als Grundbesitzer über einige Hektar Land gebot, ließ sich in den letzten Jahrhunderten eine – lässt man kleinere Schwankungen außer Acht – kontinuierliche Entwicklung hin zu immer größeren und immer stärker zentralisierten Territorien beobachten. Um sich gegen die angrenzenden Fürstentümer zu behaupten, mussten die kleinen Feudalherren der frühmyrtanischen Epoche ihr Gebiet in Kriegen verteidigen und fremdes Gebiet erobern. Der Lauf der Geschichte brachte es jedoch mit sich, dass es einigen Feudalherren gelang, den Sieg über ihre Nachbarn davonzutragen und sich deren Gebiete einzuverleiben, was zur Vergrößerung des eigenen Gebiets und der Bildung der heutigen Territorien führte. Was sich an frühen Kleinfürstentümern beobachten lässt, ist damit auf die heutige Zeit zu übertragen, findet nun jedoch in einer anderen Größenordnung statt. Die neuen großen Territorien streiten untereinander wiederum um die Vorherrschaft – als Beispiel seien die Herzogtümer und Grafschaften des Östlichen Archipels genannt, deren Herren allesamt nach dem Titel des Erzherzogs trachten – im Innern aber sind sie, schon weil sie andernfalls zwangsläufig untergingen, pazifiziert. Selbstverständlich folgt aus der Vergrößerung der Gebiete auch eine Vergrößerung der Kriege und ihrer Schrecken. Und so scheint dies die Folge des Fortschritts zu sein: Größerer Friede und größere Kriege, hervorgerufen durch ein Anwachsen einiger weniger Herrschaften und das auf der Strecke Bleiben der meisten anderen. Es steht außer Frage, wie diese Entwicklung voranschreiten wird: Aus den großen Fürsten werden die größten hervorgehen. Die zu Territorien geeinten Gebiete werden zu Reichen geeint werden. Schon jetzt gibt es sowohl in Myrtana als auch in Varant Bestrebungen einer Einigung und es scheint nur eine Frage der Zeit, bis es in beiden Nationen einem mächtigen Herrscher gelingt, eben dies zu erreichen. Und wie es der Lauf der Dinge ist, werden in der Folge die Reiche aufeinanderprallen, wie zuvor die Territorien. Gewiss erwartet uns noch viel Morden, doch der verständige Leser wird erkennen, dass dies der Weg zum pax orbi und dieser keinesfalls Utopie, sondern schlicht logische Folge der natürlichen Entwicklungen ist. Was uns in ferner Zukunft erwartet, ist nichts weniger als ein weltumspannendes, vollkommen befriedetes Imperium.
    Barthos legte die Feder auf seinem Schreibtisch ab und hob den Kopf. „Der wievielte ist heute?“
    „Der vierte“, antwortete Femo, ohne von seiner Lektüre aufzublicken.
    Noch einmal nahm Barthos die Feder zur Hand, um seine Arbeit mit dem heutigen Datum zu versehen. Dann, als in der rechten oberen Ecke in frischer Tinte die Worte 4.9. Anno Igni 860 glitzerten, legte er die Feder endgültig beiseite und schraubte sein Tintenfass zu.
    „Willst du mal probelesen?“
    „Willst du je über die Einleitung hinauskommen?“, fragte Femo und hob noch immer den Kopf nicht.
    „Aber…“
    „Seit fast drei Wochen lese ich mir das jetzt immer wieder durch, nur damit du es jedes Mal wegwirfst und von vorne anfängst. Danke, da bleibe ich lieber bei dem Buch hier. Das ist nämlich fertig.“
    Barthos verschränkte entrüstet die Arme. „Darf ich dich daran erinnern, dass du es bist, der jedes Mal etwas auszusetzen hat und wegen dem ich immer wieder von vorne anfange?“
    Ein Grinsen huschte über Femos Gesicht. „Ich kann ja nichts dafür“ – er befeuchtete seinen Daumen mit der Zunge und blätterte zur nächsten Seite – „dass du nichts Vernünftiges zu Papier bringst.“
    „Aber das ist vernünftig! Und das ist ein Thema, was jeden Menschen dieser Tage beschäftigen sollte! Myrtana ist jetzt schon seit sechzig Jahren zerfallen und der Adel von der Westmark bis zum Östlichen Archipel hat nichts anderes im Kopf, als die Abwesenheit eines Königs zu nutzen, die eigenen Gebiete so weit wie möglich auszudehnen oder am Ende gar zum neuen König gekrönt zu werden.“
    „Und nun kommt der große Barthos daher, beschreibt in seiner tollen Staatstheorie, wie man es richtig macht und schwups leben wir in Utopia.“
    „Jetzt machst du dich über mich lustig.“
    Femo klappte sein Buch zu und legte es auf dem Tisch neben sich ab. „Entschuldige. Aber du bist nun mal ein Intellektueller und ich – Innos sei Dank – nur ein dummer Bauer. Was du da machst, ist für meinen Geschmack einfach zu viel theoretisches Gelaber.“
    Verständnislos runzelte Barthos die Stirn. „Du hast dich doch ständig mit mir über die politische Lage unterhalten, seit wir in Vengard sind. Und das nicht, weil ich dich genötigt hätte.“
    „Aber das ist etwas völlig anderes. Du hast da ein paar ganz interessante Ideen. Aber trotzdem wirst du zugeben müssen, dass das wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat. Und wenn du jemals fertig werden und das veröffentlichen solltest, dann werden dir vielleicht ein paar von deinen Freunden aus Geldern begeistert zustimmen, aber davon abgesehen wird dein Buch in den Bibliotheken verstauben. Weil die Wirklichkeit unabhängig davon funktioniert. Und wenn du an der tatsächlich etwas ändern wolltest, würdest du kein theoretisches Werk verfassen.“
    „Du hältst das also für Schwachsinn?“, fragte Barthos leicht gekränkt.
    „Du hast mir nicht zugehört. Mach das ruhig. Aber mach es, weil es dich interessiert und dir Spaß macht. Und versprich dir nicht zu viel davon. Es wird nämlich nicht jedem, der es ließt, die Erleuchtung bringen. Und die Welt wird es auch nicht verändern. Wenn du das erwartest, lass es lieber bleiben. Wie dem auch sei.“ Der Magier erhob sich. „Ich muss mal aufs Necessarium.“
    Barthos blickte ihm kurz nach, wandte sich aber wieder seinem Manuskript zu, als die Tür ins Schloss fiel. Vermutlich hatte Femo Recht. Doch sie waren jetzt schon ein halbes Jahr in Vengard und ihr Leben schien nur noch aus dem morgendlichen Unterricht und abendlichen Schachpartien zu bestehen. Barthos sehnte sich danach, etwas Sinnvolles zu tun. Und er hatte schon während seiner Zeit an der Universität das Bedürfnis verspürt, der Welt einmal seine Gedanken zu ihrem Zustand in Form eines Buches mitzuteilen. Die Lage in Vengard hatte schließlich den entscheidenden Anstoß gegeben.
    Nirgendwo im Reich wurde die Lage, in der sich Myrtana befand, deutlicher. Hier, in diesem Stadtstaat, der für sich noch immer beanspruchte, der Mittelpunkt des zerfallenen Reiches zu sein und der schon in dritter Generation von einem Truchsess regiert wurde, der im Dienste eines nicht existierenden Königs stand, spürte man deutlicher als irgendwo sonst die Spaltung und die daraus resultierenden Machtkämpfe der Adligen und den verzweifelten Versuch der Reichskirche, ihre eigene Machtposition zu behaupten und nicht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Gleichzeitig spürte man aber auch, dass die Gesellschaft einem Wandel unterworfen war, dass der Handel und die Städte gegenüber der Landwirtschaft und den Dörfern an Bedeutung gewannen und dass Wohlstand und Bildung stärker wuchsen als je zuvor – zumindest für einige wenige. Viele Menschen sehnten sich nach einer Einigung des Reiches durch einen neuen, starken König, nach einem Ende der lokalen Kriege, der Hungersnöte und der Piratenplage an der Küste. Dies alles hatte Barthos dazu animiert, die aktuelle Lage zu analysieren und – vor allem – darüber nachzudenken, wie eine Einigung des Reiches vonstatten gehen und wie ein besserer, gerechter Staat, der seinen Einwohnern das bestmögliche Leben ermöglichte, aussehen konnte.
    Aber Femo hatte Recht, dachte er seufzend. Das alles war intellektuelles Geschwätz. Davon hörten die Kriege nicht auf, die Kornkammern wurden nicht voll und die Piraten verschwanden nicht.
    Der junge Magier erhob und streckte sich. Erst jetzt nahm er wahr, dass auch er einen gehörigen Druck auf der Blase verspürte. Kurzerhand verließ er ihre Kammer und machte sich ebenfalls auf den Weg zum Necessarium. Nachdenklich betrachtete er unterwegs die Wandteppiche an den Wänden der dunklen Korridore, die vornehmlich Paladine im Kampf mit finsteren Dämonen zeigten. Dies war ihre vorletzte Nacht im Kloster von Vengard. Vermissen würde er es nicht sonderlich. Man merkte hier schnell, dass man sich nicht in einem der drei berühmten Erzklöster befand und die Bibliothek wirkte lächerlich verglichen mit der von Laran. Aber es war wahrscheinlich immer noch besser als das, was sie erwartete, dachte er mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen. Ihr Aufenthalt hier hatte dem Zweck gedient, sie auf ihre Missionarsarbeit vorzubereiten, ihnen Sprache und Sitten der Einheimischen, aber vor allem auch die Verbreitung des heiligen Wortes zu erklären. Übermorgen aber würden sie aufbrechen und mittlerweile wussten sie beide, wohin: Nicht in die Barbarendörfer an den Gebirgshängen nördlich von Vengard. Auch nicht nach Nemora im Süden von Trelis. Ja, nicht einmal ins ferne Varant. Ihnen war das denkbar schlimmste Los von allen zugefallen, denn sie würden auf die Südlichen Inseln reisen. Der einzige Lichtblick war hierbei, dass sie nicht getrennt werden würden.
    Barthos öffnete die Tür des Necessariums und wäre beinahe mit Femo zusammengeprallt, der gerade im Begriff war, dieses zu verlassen. „Oh!“, stieß der andere Feuermagier überrascht aus, wich dann aber zur Seite.
    Barthos, trat an diesem vorbei, schloss die Tür hinter sich, raffte seine Robe und – erstarrte. Dort in dem schmalen Wasserlauf, der die Exkremente der Klosterbewohner in Richtung Meer trug, schwamm eine Flüssigkeit. Doch sie war nicht etwa gelb sondern von dunklem rot. Einen Moment schaute er ihr entsetzt nach, wie sie davongetragen wurde, dann ließ er den Saum seiner Robe fallen und riss die Tür wieder auf. „Femo!“
    Der Angesprochene hatte sich bereits auf den Rückweg gemacht und das Ende des Ganges fast erreicht, zuckte nun, da sein Name gerufen wurde, aber zusammen und fuhr herum.
    „Da ist Blut!“
    Barthos sah Femo erbleichen. „Das ist nichts!“, versicherte der Feuermagier rasch.
    „Nichts? Femo, damit ist nicht zu spaßen. Du bist krank!“
    Kurz starrte Femo Barthos ins Gesicht. Seine Miene war schwer zu deuten. „Natürlich bin ich krank!“, stieß er dann hervor. „Und das weißt du auch.“
    Ja, das wusste er eigentlich. Seit er Femo in jener Höhle vor Brabern gestellt hatte. Doch wenn er ehrlich war, hatte er es im letzten halben Jahr völlig vergessen. Beschämt senkte Barthos deshalb den Kopf. „Tut mir leid, ich vergaß…“
    Ein schweres Seufzen entwich Femos Lippen. „Ich wünschte, es wäre so geblieben. Wirklich Barthos, das ist meine Sache. Ich… komme schon klar.“
    „Aber…“ Nun hob er wieder den Kopf. „Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Wir…“
    „Ist es nicht“, fiel Femo ihm ins Wort. „Ein bisschen Blut im Harn hat noch keinen umgebracht. Das kommt bei dieser Krankheit öfter vor. Aber bitte, mach dir keine Sorgen deswegen.“
    „… müssen etwas dagegen tun“, fuhr Barthos unbeirrt fort. „Es muss doch irgendein Heilmittel geben. Und wenn wir alle Alchemisten von Vengard aufsuchen oder meinetwegen auch nach Geldern reisen müssen.“
    „Die haben alle kein Heilmittel, glaub mir. Aber mir wäre schon geholfen, wenn du das einfach wieder vergisst und dich da nicht einmischst. Bitte, Barthos. Du verstehst das nicht. Aber das ist komplizierter als es aussieht. Ich werde nicht dran sterben, das verspreche ich dir.“ Femos Worte klangen aufrichtig. Dennoch war Barthos sich nicht sicher, ob sein Freund ihn nicht einfach beruhigen wollte. Doch dieser ließ ihm wenig Zeit, zum Nachdenken, sondern drehte sich wortlos herum und setzte schnellen Schrittes seinen Weg zu ihrer Kammer fort.

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    Wechselvolle Geschichte


    Rumpelnd wackelte der Ochsenkarren über die Landstraße. Barthos versuchte die Gemüsesäcke, auf denen er saß, und deren Inhalt ihm schmerzhaft in den Hintern drückte, zu ignorieren, und stattdessen die Aussicht zu genießen. Viel sah man nicht mehr von der Landschaft der Westmark, seit sie das kleine Wäldchen vor Trelis erreicht hatten, und somit beschränkte er sich auf den Teil der Aussicht, der ohnehin am sehenswertesten war: Femos Gesicht. Sein Freund war in Barthos’ Manuskript vertieft. Nachdem er nach ihrem Gespräch die Einleitung belassen hatte, wie sie war, und einfach weitergeschrieben hatte, hatte sich Femo seiner erbarmt. Und nun wartete Barthos gespannt auf sein Urteil.
    Doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab und er grübelte über die zahlreichen Dinge nach, die ihm durch den Kopf gingen.
    Da war Femos Krankheit, über die sie zwar nicht mehr gesprochen hatten, die er aber auch nicht mehr vergessen konnte. So beruhigend die Worte seines Freundes auch sein mochten, er machte sich Sorgen. Große Sorgen. Und er wünschte, Femo würde ihn ins Vertrauen ziehen, ihm wenigstens sagen, um was für eine Krankheit es sich handelte. Stattdessen bestand er darauf, allein damit fertig zu werden. Und das kränkte Barthos, wenngleich er sich dies nur ungern eingestand.
    Und dann war da natürlich noch ihre Reise. Sie hatten Vengard gen Westen verlassen. Über die Feste von Faring und durch das Land der Paladine bei Gotha waren sie nach Montera gezogen, wo sie einen Händler getroffen hatten, der nach Trelis fuhr und bereit gewesen war, sie auf seinem Karren mitzunehmen. Von dort aus würden sie ihren Weg ins nahe Trelhaven fortsetzen und dort schließlich ein Schiff besteigen, dass sie auf die Südlichen Inseln bringen würde.
    „Ein Philosophenkaiser?“, prustete Femo plötzlich los und riss Barthos damit aus seinen Gedanken. „Also bitte. Das kannst nicht mal du ernst meinen.“
    „Warum denn nicht? Der Herrscher des Weltreichs sollte der Klügste und Bedachteste unter den Menschen sein. Oder ist dir ein gewöhnlicher Adliger lieber? Willst gerade du jetzt plötzlich jemanden wie Florencius an der Spitze des Staates sehen?“
    „Ich will niemanden an der Spitze des Staates sehen!“, sagte Femo bestimmt und reichte Barthos sein Manuskript. „Ich brauche keinen Unterdrücker, schon gar nicht einen weltfremden Schwätzer, der mich im Namen der Vernunft unterdrückt.“
    Nun lachte Barthos. Höhnisch und herablassend. „Du möchtest die Welt also in Anarchie versinken lassen?“
    „Es gibt nicht nur Extreme, Barthos. Wie der Zufall es so will, kommen wir gleich nach Trelis. Du bist doch mit Geschichte vertraut, oder? Dann weißt du sicher, wie es in der Antike regiert wurde, nicht wahr?.“
    „Volksherrschaft?“, stieß Barthos aus. „Du willst die Geschicke des Staates in die Hände irgendwelcher dummen Bauern legen?“ Die Worte hatten seinen Mund noch nicht verlassen, da erkannte er, was er gerade gesagt hatte. „Femo, so hab ich das nicht gemeint!“, beteuerte er rasch.
    Der andere Magier schnaubte. „Natürlich, das war nur ein kleiner Ausrutscher. Schon klar.“
    „Nein, nein, du musst das anders sehen“, versuchte Barthos rasch, sich zu erklären. „Schau, ich sage ja gar nicht mehr, dass die Bauern dumm sind, weil sie Bauern sind. Das ist Unsinn, das habe ich inzwischen gelernt. Aber die meisten von ihnen sind nun einmal nicht wie du. Sie haben keinen Zugang zur Bildung und werden nie welchen haben. Es liegt nicht an ihrer Geburt und ist nicht ihre Schuld, aber du kannst es trotzdem nicht leugnen.“
    „Dann gib ihnen doch Zugang zur Bildung.“
    „Aber…“
    Wüten verschränkte Femo die Arme und sein Gesichtsausdruck machte Barthos froh, dass Blicke nicht töten konnten. „Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, du hast es immer noch nicht kapiert. Du schaffst es nach allem, was passiert ist, nicht mehr, dir einzureden, dass ich nur ein dummer ungehobelter Bauer sei. Aber wirklich geändert hat sich an deiner Haltung nichts. Du hältst dich immer noch für ach so überlegen. Wegen deiner Bildung und deiner Vernunft. Und du traust anderen außer euch Adligen und einigen wenigen Auserwählten, zu denen ich mich jetzt auch zählen darf, immer noch nicht zu, dass sie auch intelligent sein können, dass sie auch Verantwortung übernehmen oder auch Magier werden könnten.“
    „Das stimmt einfach nicht!“, widersprach Barthos erbost. „Das redest du dir ein, weil du nicht damit zurecht kommst, dich nicht mehr hinter deiner Opferrolle verstecken zu können.“
    „Ach nein?“ Femo zog die Brauen hoch. „Dann sag mir mal, Barthos von Laran: Traust du einem Bauern zu, die Politik eines Landes mitzubestimmen?“
    „Ich…“
    Femo ließ ihn nicht zu Wort kommen, sondern fuhr unbarmherzig fort: „Denkst du, ein Barbar aus Nordmar könnte ebenso gebildet und intelligent sein wie du?“
    „Das kann man doch alles nicht…“
    „Glaubst du, eine Frau könnte die Geheimnisse der Magie meistern?“, fragte Femo mit bereits triumphierenden Gesichtsausdruck.
    „Jetzt ist aber Schluss!“, brach es plötzlich aus Barthos heraus. „Du machst dich gerade lächerlich und merkst es nicht einmal. Wir sprachen von einfachen Bauern. Gut und schön, vielleicht bin ich da immer noch etwas voreilig. Aber Frauen? Also bitte. Bauern mögen sich nur durch ihre Geburt von den Adligen unterscheiden. Aber die Unterschiede zwischen Frauen und Männern sind doch wohl kaum zu übersehen. Warum also nicht gleich Orks? Oder vielleicht Goblins?“
    Dieses Mal grenzte es bereits an ein Wunder, dass der Blick, mit dem Femo Barthos bedachte, nicht tödlich war. Umso überraschender kam die ruhige Stimme, mit der der andere Feuermagier antwortete, wenn auch eine Spur von Abscheu darin lag: „Du hast nichts verstanden. Gar nichts.“
    „Ich…“
    „I’ möcht’ de’ Herr’n Magier ja nur un’ern untabrech’n“, ließ sich der Händler vernehmen, „aba wir sin’ da.“
    Beide blickten sie gleichzeitig auf. Tatsächlich, sie hatten den Rand des Waldes und damit auch den eines kleinen Dorfes erreicht. Auf der anderen Seite der Siedlung ragte, jenseits eines schmalen Kanals, die alte Trutzburg der Westmark auf: Trelis.
    Obwohl er die Festung nicht zum ersten Mal sah, bot der Sitz des Markgrafen in Barthos’ Augen einen stolzen Anblick. Und jedes Mal fühlte Barthos sich unweigerlich an die wechselhafte Geschichte Trelis’ erinnert, die er in seiner frühen Jugend mit so viel Interesse verschlungen hatte.
    Trelis galt vielen als Wiege der myrtanischen Kultur. Zu einer Zeit, als sich nördlich der Westmark noch ein mächtiger Urwald erstreckt und kleine Barbarenstämme beheimatetet hatte und als in der Wüste von Varant nur einige vereinzelte Sippen der Nomaden gelebt hatten, hatte hier die erste Hochkultur Midlands existiert. Und Femo hatte nicht gelogen: Die antike Stadt Trelium, auf deren Ruinen die heutige Burg stand, war von einer Volksversammlung regiert worden, die die Regierungsbeamten nicht nur kontrolliert sondern auch aus ihrer Mitte gewählt hatte. Früher hatte Barthos diese Vorstellung fasziniert. Doch er war schnell zu der Erkenntnis gekommen, dass ein solches System auf Dauer nicht funktionieren konnte. Und die Geschichte hatte ihm Recht gegeben: Trelium war schließlich, wie die gesamte Westmark, vom Alten Volk von Varant erobert worden. Noch heute zeugte der große, in den Berg geschlagene Innostempel an der Küste einige Meilen östlich davon, dass diese Region einst der äußerste Rand des Reiches von Varant gewesen war. Nördlich von Trelium hatten die Varanter einen großen Schutzwall errichtet gehabt, der die zivilisierte Welt von den Barbarenstämmen getrennt hatte. Doch letztlich war die Stadt wie der Rest des Großreiches der Flut zum Opfer gefallen, die das Ende der Antike eingeläutet hatte.
    Schweigend und ohne einander anzusehen durchquerten Barthos und Femo das kleine Dorf. Femos Wut war beinahe körperlich zu spüren. Barthos bereute seine unbedachten Worte bereits. Nicht unbedingt, weil er sie für falsch hielt, sondern vielmehr, weil er nicht das Gefühl hatte, dass Femo das in einer halben Stunde schon wieder vergessen haben würde. Auch er war wütend. Femo hatte überreagiert, wie er es bei diesen Themen immer zu tun pflegte. Dennoch wünschte Barthos, er hätte seine Worte umsichtiger gewählt. Er war sogar kurz davor, sich bei seinem Freund zu entschuldigen. Aber das unterließ er dann doch. Dafür war er zu stolz und immerhin hatte er Recht, auch wenn er sich unglücklich ausgedrückt haben mochte.
    Sie überquerten nun den Kanal und passierten das Burgtor. Um sich abzulenken, betrachtete Barthos die Mauern und Türme, die Zinnen und die Erker. Die Burg war in ihrer mehr als tausendjährigen Geschichte mehrmals ausgebaut, die Mauern waren mehrmals verstärkt worden. Und so mischten sich hier viele Gesteinsfarben und Baustile. Doch der Ursprung der Festung war noch zu erkennen. Gerade die Fundamente waren unverkennbar nicht myrtanischer Herkunft. Tatsächlich war es der Emir von Braga gewesen, der, nachdem er die heutige Westmark erobert gehabt hatte, die Überreste Treliums hatte abtragen und daraus das Kastell Al Trelia errichten lassen. Erst knapp zweihundert Jahre nach der Einigung der übrigen myrtanischen Fürstentümer, war es den myrtanischen Königen gelungen, auch die Westmark ihrem Reich einzuverleiben. Sie waren es auch gewesen, die der Burg ihren heutigen Namen gegeben und sie zu einer mächtigen Festung ausgebaut hatten. Oft hatten die Varantiner versucht, Trelis wieder zu erobern und von dort aus in den Rest Myrtanas einzufallen. Und ebenso oft waren die Mauern der Festung besungen worden, an denen die feindlichen Heere abprallten wie die Wogen des Meeres an den Klippen von Ardea. Erst dem Geschlecht der Mehmedanen war es, auf dem Höhepunkt seiner Macht, gelungen, Myrtana die Burg wieder abzuringen. Und noch heute spürte man überall in der Westmark, aber vor allem in der Region Nemora, direkt am Pass, den varantinischen Einfluss, zu dem nicht zuletzt der weitverbreitete Adanosglaube zählte.
    Der Markgraf selbst aber war wie alle Fürsten Myrtanas ein Anhänger der Kirche des Feuers, wie der Tempel der Burg unschwer erkennen ließ. Und dieser war es auch, auf den sie nun zuhielten. Hier verwies man sie an einen Feuermagier namens Alvito, der sie freundlich begrüßte und auf einen Wein in sein Gemach einlud.

    „Sagt, wurdet Ihr diesem Dienst zugeteilt?“, fragte Alvito und nippte an seinem Weinglas. Er hätte einen hervorragenden Junker abgegeben und gut in einen Salon gepasst, dachte Barthos sich, während er die feinen Züge des Magiers musterte, dessen Gesicht unverbraucht schien, wenngleich er sicher schon auf die vierzig zuging. Das nach hinten gekämmte schwarze Haar und der graumelierte Bart standen ihm hervorragend und unterstrichen seine Eleganz. Doch anders als ein Junker es getan hätte, trug Alvito diese nicht zur Schau. Er wirkte streng und zurückhaltend, wie in ein enges Korsett gespannt. Und in seinem Blick lag etwas Berechnendes.
    „Wurden wir“, antwortete Femo kurzangebunden.
    Barthos ließ seinen Blick nun durch die Kammer schweifen. Sie war luxuriös eingerichtet verglichen mit den Kammern der Novizen, doch eher spärlich für einen Feuermagier. Sie wirkte mehr wie ein Gästezimmer als wie ein Ort, der über längere Zeit einem Menschen als Wohnstatt diente.
    „Ah, ja, das dachte ich mir!“, sagte Alvito gedehnt. Lächelnd schwenkte er sein Glas etwas in der Hand. „Das ist in den meisten Fällen so, wie Ihr Euch sicherlich denken könnt. Nur die wenigsten wählen freiwillig ein Leben so fern der Heimat, selbst wenn es mit einer heiligen Mission verbunden ist. Nun, was mich angeht, so habe ich mich schon in sehr jungen Jahren freiwillig für die Missionierung der Südländer gemeldet. Ja, ich habe vermutlich mein halbes Leben auf Ariabia verbracht. Mein Aufenthalt in Trelis ist auch nur von kurzer Dauer. Ich werde gemeinsam mit Euch in See stechen. Deshalb fiel wohl auch mir die Aufgabe zu, mich Eurer anzunehmen.“
    Damit fühlte Barthos sich in seiner Vermutung, was das Zimmer betraf, bestätigt. Femo fragte unterdessen neugierig: „Wie ist es so auf Ariabia?“
    „Lasst Euch nicht von ihren prächtigen Palästen und Häfen blenden. Ihr müsst Euch eines stetig vor Augen führen, wenn Ihr mit den Menschen dort verkehrt: Dass sie Heiden und Wilde sind. Gerade die Bewohner der Savannen im Süden. Und eben dort in den Dörfern befinden sich die meisten unserer Missionare und treiben ihnen ihre blasphemischen Götzenkulte aus. Im Norden Ariabias ist unsere Arbeit ungleich schwerer. Dort herrscht der Glaube an Adanos vor. Doch in den letzten Jahren haben wir uns sehr um die Gunst des Moguls bemüht und mittlerweile werden wir sogar an seinem Hof geduldet.“ Alvito unterbrach seinen Vortrag und nahm einen Schluck Wein. Barthos sah aus dem Augenwinkel, dass Femo die Brauen leicht zusammengezogen hatte. Ihm schien nicht zu gefallen, was er hörte. „Der Visitator, das werdet Ihr sehen, ist ein verständiger Mann. Er versteht es, unseren Einfluss auszuweiten. Er hat erkannt, dass gerade die Konkubinen des Moguls und seiner Vasallen sehr empfänglich für das heilige Wort sind. Und diese wiederum haben einen starken Einfluss auf ihre Herren.“ Der Missionar machte ein bedauerndes Gesicht und betrachtete mit leicht geöffnetem Mund das Weinglas in seiner Hand. „Es ist natürlich eine Schmach, dass wir das Wort des Herrn auf diese Weise verbreiten müssen“, fuhr er nach kurzer Pause fort. „Doch der Zweck heiligt die Mittel. Und der Zweck, um den es hier geht, meine Brüder, ist so manches Opfer wert.“
    „Das bedeutet also, dass die Kirche schon einigen Einfluss auf Ariabia hat?“, fragte Femo vorsichtig.
    „Nicht so viel wie die heilige Kirche haben sollte. Doch die derzeitigen Entwicklungen sind zweifellos erfreulich. Wir führen viele Menschen ihrem Seelenheil zu. Viele der Wilden erkennen, dass sie nur dann Seligkeit erlangen, wenn sie sich von ihrem materiellen Besitz entsagen und diesen der Kirche übergeben. Und die großen Kauffahrer sind uns wohlgesonnen.“
    „Ah ja, natürlich.“ Mit zweideutigem Lächeln leerte Femo sein Glas. „Ja, die Kauffahrer hatte ich beinahe vergessen. Die Ariabische Liga ist im Grunde nichts anderes als ein großes Handelsimperium, nicht? Man sagt, die Südländer bräuchten keine Armeen, solange sie ihre Händler haben. Tatsächlich, es wäre eine Schande, ihnen den Verkauf ihrer Stoffe und Gewürze einfach zu überlassen.“
    Gerne hätte Barthos Femo unterm Tisch einen Tritt versetzt. Alvitos Stirnrunzeln verriet, dass er den Sarkasmus in der Stimme des anderen Magiers durchaus gehört hatte. Doch Barthos erinnerte sich rechtzeitig daran, dass er und Femo momentan noch immer nicht miteinander sprachen. Ein unauffälliger Tritt war also nicht möglich. Stattdessen beschloss er, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. „Ich hörte, Magier sind auf Ariabia keine Priester?“
    „Das ist richtig. Ihr seid gut informiert.“ Alvito nickte anerkennend. Dann verzog er missmutig das Gesicht und erklärte: „Die Magier dort sind uns ein besonderer Dorn im Auge. Die meisten von ihnen verachten und bekämpfen uns – nicht öffentlich, versteht sich.“
    „Durchaus verständlich“, ergriff Femo zu Barthos’ Bestürzung erneut das Wort. „Immerhin erlaubt die Schrift nur Priestern Innos’ das Wirken von Magie. Es ist nur allzu nachvollziehbar, dass die dortigen Magier die Einführung solcher Gesetze wie sie hier in Myrtana gelten, zu verhindern suchen.“
    „Gewiss“, pflichtete Alvito bei. „Nichtsdestotrotz steht fest, dass sie sich uns und dem Gerechten werden beugen müssen. Vorerst aber sind sie ein nicht zu unterschätzender Gegner. Viele von ihnen sind hohe Beamte im Dienste des Moguls und genießen großes Ansehen. Das macht es schwierig, unsere Interessen durchzusetzen. Aber wie dem auch sei.“ Alvito trank den letzten Schluck Wein aus. „Wir sollten nun zu Bett gehen. Unser Schiff legt morgen Nachmittag ab und wir werden einige Stunden bis Trelhaven brauchen.“
    Geändert von Jünger des Xardas (08.04.2011 um 21:22 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Klärende Gespräche


    Auf die Reling der Erasmus gestützt, betrachtete Barthos das geschäftige Treiben am Hafen, in dem sie vor Anker lagen. Hier schien sich die gesamte Welt zu treffen. Ein buntes Gewirr von Menschen aller Länder tummelte sich am Kai. Kauffahrer aus Kitai, Schiffer von der Küstenregion, Matrosen vom Östlichen Archipel, Händler von den Khorinseln, Sklaven aus Ariabia und sogar einige Nomaden aus dem Innern der Wüste. Ja, Bakaresh war tatsächlich eine Weltstadt. Und der gewaltige Sultanspalast, der über der Metropole aufragte, ließ keinen Zweifel daran, dass dies der Mittelpunkt des Mehmedanenreiches war, des größten Reiches, das sich auf Midland erstreckte.
    „Beeindruckend, nicht wahr?“ Ohne dass Barthos es bemerkt hatte, war Alvito an ihn herangetreten, die Hände in den Ärmeln seiner Robe und in steifer Haltung. Nun seufzte er. „Eine Schande allerdings, was aus der heiligen Stadt geworden ist. Einst empfing hier der Ewige Wanderer dass Zepter von Varant. Hier kam der wahre Glaube über die Menschen? Und nun? Eine Heimstatt des Götzenkults. Noch dazu eine, die uns die Entsendung von Missionaren verbietet.“
    Barthos runzelte die Stirn. „Ich dachte immer, die Mehmedanen wären Anhänger Innos’.“
    „Was sie hier betreiben, ist bestenfalls eine pervertierte Form des wahren Glaubens“, erklärte Alvito mit einer Stimme voller Abscheu. „Sie beten die Sonne an, in der Annahme, sie sei kein Geschenk des Herrn, kein Zeichen seiner rechtmäßigen Herrschaft über diese Welt sondern nichts weniger als der Gleißende in Person.“ Der Magier hob einen Arm und machte eine ausladende Geste nach Westen, die den gesamten Ozean zu umfassen schien. „Ebenso gut könnte ich behaupten, dieses Meer sei Adanos. Aber natürlich glauben die Sultane von Bakaresh, bereits dem wahren Glauben anzuhängen und lassen deshalb keine Missionierungen zu. Sollte dereinst Myrtana unter einem neuen König wiedervereint werden, wäre es seine Pflicht, diese Stadt in einem heiligen Krieg zu erobern und den falschen Sonnenkult auszumerzen.“
    Barthos seufzte innerlich. Er war weder religiös noch geduldig genug für derartiges Geschwätz und hatte zeitlebens wann immer möglich versucht, Fanatikern aus dem Weg zu gehen, um eben so etwas nicht ertragen zu müssen. Ein heiliger Krieg. Als hätte Myrtana keine eigenen Sorgen. Als könnte sinnloses Schlachten und Rauben etwas Heiliges sein.
    Mit einem Mal nickte Alvito zur breiten Planke, die das Schiff mit dem Ufer verband. Barthos sah eine Gestalt in einer roten Robe die Erasmus verlassen, im Gewirr der Menschenleiber untertauchen und in einer Gasse auf der anderen Seite der Kaimauer verschwinden. „Meister Matrus scheint dringende Geschäfte in Bakaresh tätigen zu müssen.“
    „Er wird schon wieder hier sein, bevor wir ablegen.“ Barthos blickte Femo nach. Ob er wohl wieder einen Alchemisten aufsuchte? Sein Zustand schien sich, nach allem, was Barthos sagen konnte, gebessert zu haben. Doch für wie lange?
    „Gewiss. Allerdings hege ich meine Zweifel, ob er wirklich für diese heilige Mission geeignet ist. Er wirkt auf mich etwas… ungestüm und nicht so fromm wie man es von einem Magier des Feuers zu erwarten hätte.“
    „Ich schätze, Eure Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit“, entgegnete Barthos kalt. Ihm gefiel Alvitos Ton nicht. Ebenso wenig sein bohrender Blick, sein leicht hochmütiges Lächeln, seine steife Haltung. Irgendwie schien Alvito neben und gleichsam über den Dingen zu stehen. Ja, er erweckte geradezu den Eindruck, von Innos selbst gesandt worden zu sein, um die übrige Menschheit mit seinen tadelnden Blicken zu strafen. Vermutlich hielt er auch genau das für seine heilige Pflicht.
    „Nun, Meister Matrus ist jung, der Robe eines Novizen kaum entwachsen. Dennoch… Einiges von dem, was er sagt, oder vielmehr was er zu denken scheint, ist nicht unbedingt innosgefällig.“
    „Ist das eine Drohung?“, wollte Barthos wissen.
    „Eine Warnung.“ Bedächtig stieß Alvito die Luft aus. „Seht ihr“, begann er langsam, „was uns erwartet, ist nichts weniger als eine heilige Mission. Es ist unsere Pflicht, die Wilden zu bekehren und der Welt so die Ordnung zu geben, die sie verdient.“
    „Und dann, Alvito?“ Barthos wandte dem anderen Magier das Gesicht zu. „Was dann? Dann sind sie noch immer Wilde. Aber Wilde, die unter unserem Einfluss stehen?“
    Meister Alvito seufzte. Er stützte sich auf die Reling und blickte hinauf zum Palast des Sultans. „Ihr verkennt die Lage – und auch meine Ansichten. Deshalb möchte ich mich deutlicher wiederholen: Meister Matrus scheint mir für diese Mission nicht geeignet. Er ist ein ungestümes Kind, das die Welt, in der es lebt, nicht versteht, sich ihrer Ordnung widersetzt und ihr eben dies zum Vorwurf macht. Ein kurzsichtiger, kleingeistiger Bauer, auch wenn er einige Bücher gewälzt haben mag. Ihr dagegen seid ein kluger Mann. Von adligem Geblüt, gebildet, mit den feinen Umgangsformen vertraut. Aber Ihr seid jung. Und ich möchte nicht, dass Ihr vom rechten Pfad abfallt, dass Ihr Eurem Bruder Gehör schenkt.“
    „Meister Matrus ist ein größerer Magier als Ihr oder ich“, sagte Barthos deutlich. Er fühlte sich plötzlich verpflichtet, sich für Femo einzusetzen.
    „Das habe ich nie bezweifelt. Aber das ist gewiss auch so mancher Schwarzmagier. Bei einer moralischen Betrachtung kann dies kein Kriterium sein. Aber ich fürchte, Ihr unterliegt einem schwerwiegenden Missverständnis.“ Alvito richtete sich wieder auf und schaute Barthos in die Augen. Dieser zuckte unwillkürlich zusammen und senkte den Blick. „Ich möchte nicht, dass Ihr wie Meister Matrus zulasst, dass Eure Vorurteile Euch blenden.“
    „So wie Eure Vorurteile den Heiden gegenüber?“
    „Es ist diese Art von jugendlichem Übermut, die ich Euch auszutreiben versuche. Lasst Euch eines gesagt sein: Ich bin frei von Vorurteilen. Die Wilden, seien es die Barbaren des Nordens oder jene, die wir bekehren werden, sind Innos’ Kinder so wie Ihr und ich. Und wir würden ihnen nicht den wahren Glauben bringen, wenn es für sie keine Hoffnung auf Erlösung gäbe. Wenn ich Euch davor warne, Euch nicht von ihren Bauten blenden zu lassen, dann eben deshalb, weil sie nicht Wilde sind weil sie in Barbarei leben sondern weil sie Wilde sind ob ihres Heidentums. Gewiss können wir vielerlei von den Ariabiern lernen. Ihre Baukunst ist unübertroffen. Sie verstehen sich auf die Alchemie, die Astronomie und die Mathematik wie nicht einmal die Meister von Geldern. Und doch fehlt ihnen jeder Ansatz von Zivilisation. Denn ihnen fehlt der wahre Glaube.“
    „Und wenn sie diesen empfangen haben?“ Barthos zog skeptisch die Brauen hoch. „Dann sind sie uns ebenbürtig?“
    „Alles andere wäre Heuchelei und eine Beleidigung des Gerechten.“
    „Demnach glaubt Ihr nicht an die natürliche Ordnung der Dinge? Daran, dass es der Wille Innos’ ist, dass die einen Menschen über den anderen stehen?“
    „Natürlich tue ich das!“, fuhr Alvito ihn ungeduldig an. „Ich bin kein Tor. Wenn der eine als Herr geboren ist, der andere als Diener, dann lässt sich das wohl schwerlich als Zufall abtun. Wenn der eine die Ausbildung der Universität zu Geldern genießt und der andere als Barbar in der Eiswüste von Nordmar aufwächst, ist das wohl kaum eine unglückliche Fügung. Und wenn der Mann mit Kraft zur Arbeit gesegnet ist, das Weib aber mit der Gabe, ihm Kinder zu gebären, ist auch das sicherlich keine Laune der Natur. Innos hat für jeden von uns einen Platz in der Welt vorgesehen. Doch er erwartet auch, dass wir diesem gerecht werden. Tun wir dies, werden wir ins Himmelreich aufgenommen werden, tun wir dies nicht, erwartet uns die Verdammnis. Letztlich ist es unser Glaube, der darüber entscheidet. Lasst mich konkreter werden“, fuhr der Missionar fort, während Barthos schon den Mund öffnete, um etwas zu erwidern. „Zweifelsohne steht der Adel über dem dritten Stand. Was der Adel dieser Tage jedoch gerne vergisst, ist, dass er von Innos’ Gnaden herrscht. Ist nun etwa ein Graf nicht fromm, handelt nicht innosgefällig und missbraucht die ihm gegebene Macht, wird er seine gerechte Strafe empfangen. Ebenso wird sein Untertan, wenn er stets ein redlicher und gläubiger Mann war, belohnt werden.“
    „Und das ist, was die Kirche vertritt?“ Nun wagte Barthos es wieder, seinem Gesprächspartner ins Gesicht zu schauen. „Sie schickt uns nach Ariabia, um die Menschen zu bekehren und ist bereit, sie danach als Gleiche zu betrachten? Sie hat keinerlei Hintergedanken, wenn sie sich in die dortige Politik einmischt?“
    „Danke, dass Ihr mir aufzeigt, dass ich Euch noch etwas vor Augen führen muss: Die Kirche wird von Menschen geführt. Wir aber sind Magier des Feuers. Wir dienen nicht den Menschen sondern dem Gleißenden Höchstselbst. Deshalb sind wir der erste Stand.“
    Nun überraschte Alvito ihn tatsächlich, das musste Barthos zugeben. „Gefährliche Worte“, sagte er langsam.
    „Die Wahrheit ist immer gefährlich“, erwiderte der andere Magier gleichmütig. „Wohlverstanden“, fügte er dann jedoch hinzu. „Ich bin ein treuer Anhänger der heiligen Kirche. Viele fromme Menschen befinden sich in ihren Diensten. Und große Teile ihrer Politik in Ariabia sind durchaus gutzuheißen. Der Götzenkult dort muss ausgemerzt werden. Und die dortigen Magier sind Ketzer.“
    Barthos nickte langsam und lehnte sich dabei gegen die Reling. „Ich gebe zu, ich hatte Euch tatsächlich falsch eingeschätzt. Dennoch, ich habe so meine Zweifel an unserer Mission. Und Ihr widersprecht Euch. Ihr behauptet, es gäbe eine natürliche, innosgewollte Ordnung. Dennoch wollt Ihr den Menschen dort einen neuen Platz zuweisen.“
    Nun, da war sich Barthos sicher, war es Bedauern, das in Alvitos Gesicht trat. „Für einen Magier und Gelehrten beweist Ihr eine erstaunliche Unkenntnis der heiligen Schrift. Ihr vergesst, dass diese Welt nicht die Welt Innos’ ist. Ihr Erschaffer und Beherrscher ist Adanos. Innos aber ist ihr Erlöser. Derjenige, der sie vor der Zerstörung durch den Finsteren bewahrt und der sie dereinst mit der seinen Welt vereinigen und so das Paradies bringen wird. Ja, es gibt eine innosgewollte Ordnung der Dinge. Doch ebenso wie Innos übt auch Beliar Einfluss auf die Welt der Sterblichen aus und bringt diese Ordnung ins Wanken. Ich bin also ein bescheidener Diener des Strahlenden, der seinen Teil beiträgt zum Ende des göttlichen Krieges, indem er Beliars Einflüsse bekämpft und den Menschen die Ordnung aufzeigt, die für sie bestimmt ist. Und das ist, was ich versuchte, Euch zu erklären. Myrtana bestand achthundert Jahre, doch die Könige haben den Glauben an Innos immer nur in ihrem eigenen Reich verbreitet und beschützt. Nun, seit einigen Jahrzehnten, verbreiten wir ihn endlich in aller Welt. Nun kann das Himmelreich auf Erden bald kommen.“
    Barthos’ Lippen kräuselten sich belustigt. „Ihr glaubt, dass wir beide den jüngsten Tag noch erleben?“
    Alvito lachte. Hoch und verhalten. Eher ein Hüsteln. „Nein. Aber nichtsdestotrotz ist er nahe. Doch was sind ein paar Jahrzehnte im Angesicht der Götter? Sagt, welches Jahr schreiben wir?“
    „860 nach dem Jahr des Feuers.“
    „Richtig. Somit müssen wir noch einhundertundvierzig Jahre warten.“
    „Ah, natürlich.“ Barthos schmunzelte in sich hinein. Er hätte es ahnen können. Es war vorhersehbar. Nicht zum ersten Mal wurde er mit dieser Ansicht konfrontiert. „Die Jahrtausendwende.“
    „Euer Blick spottet mir. Aber ich bin kein Narr, der schlicht an die Symbolik der Zahlen glaubt. Ich bin jemand, der die Zeichen deutet. Das erste Reich Innos’ wurde gegründet vor über zweitausenddreihundert Jahren. Hier, in Varant. Es ging unter in der großen Flut. Im Jahr des Feuers entstand das zweite Reich des Strahlenden. Und es dauerte lange, bis ganz Myrtana geeint und zum wahren Glauben bekehrt war. Nun aber ist dieses Reich zerfallen. Doch unsere Epoche wird nur eine kurze Phase der Zersplitterung sein. An ihrem Ende wird ein neuer Erwählter stehen, ein heiliger König, der Myrtana von neuem eint und das dritte Reich Innos’ schafft. Und in dieser Zeit wird der Glauben an den Gerechten in alle vier Enden der Welt getragen werden. Nichts anderes tun wir. Unsere Mission ist ein Vorzeichen dessen, was kommen wird. Dann aber, wenn alle Welt unter dem Erwählten geeint ist, wird Beliar sein letztes Aufgebot wider die Rechtschaffenen schicken. Eine Zeit schwerer Prüfungen wird anbrechen. Und wenn diese Prüfungen bestanden sind, wird der Retter kommen. Und er wird das vierte Reich Innos’ einläuten. Dann aber wird Innos selbst auf die Erde kommen und diese in seine Sphäre erheben. So steht es geschrieben und die Zeichen sind eindeutig. Alle Astronomen sagen große Veränderungen und große Schrecken für das kommende Jahrhundert voraus. Es besteht kein Zweifel, was an seinem Ende stehen wird.“
    Dieses Mal verkniff Barthos sich jede Erwiderung. Er kannte die Verheißungen und Offenbarungen der Propheten. Aber er war ein Mann der Vernunft. Er glaubte weder an die Macht der Sterne noch an apokalyptische Prophezeiungen. Die Welt würde nicht nur die kommende Jahrtausendwende sondern auch die darauffolgende erleben, ohne sich dabei entscheidend zu wandeln. Dennoch hatte das Gespräch ihn nachdenklich gemacht. Er musste zugeben, dass er sich in Alvito stark getäuscht hatte. Ob ihm der Mann, der der Missionar tatsächlich zu sein schien, lieber war als der, für den er ihn gehalten hatte, konnte er allerdings nur schwer sagen.
    Er hatte kaum bemerkt, wie viel Zeit vergangen war, doch es dauerte nicht lange und alle Kisten, die an der Kaimauer gestanden hatten, waren verladen und die Taue wurden gelöst. Wenige Minuten vor Einholen der Planke hastete Femo auf das Schiff zurück. Barthos bemerkte es sofort. Die ganze Zeit über hatte er gewartet und den Hafen beobachtet. Wenn er an diesem Tag eines verstanden hatte, dann, dass ihm tatsächlich einiges an Femo lag und dass er ihn, bürgerlich oder nicht, für einen hervorragenden Magier und einen weit besseren Menschen als alle ihre Ordensbrüder hielt. Er hatte beschlossen, seinen Stolz zu überwinden und sich bei ihm für seine unbedachten Worte zu entschuldigen. Er folgte ihm kurz mit den Augen über das Deck, dann setzte er sich in Bewegung. An der Tür seiner Kajüte holte er ihn ein.
    „Hast du nach einem Heilmittel gesucht?“ Innerlich verfluchte Barthos sich für diese Eröffnung, nachdem sie zwei Tage lang nicht miteinander gesprochen hatten.
    Somit war es auch kaum verwunderlich, dass von Femo nur ein knappes „Es gibt kein Heilmittel“ kam.
    „Hör mal, das ist doch unsinnig, dass wir uns jetzt anschweigen. Ich wollte sagen, dass es mir leid tut.“
    Nun drehte Femo sich herum und schaute ihn direkt an. Überraschung stand in seinem Gesicht. „Das sind ja ganz ungewohnte Töne von dir.“ Er lächelte leicht, was in Barthos sofort ein Gefühl der Wärme und das Bedürfnis, ebenfalls zu lächeln, auslöste. „Aber ich hatte auch schon längst mit dir reden wollen. Mir tut es auch leid.“
    „Dir?“, fragte Barthos überrascht. „Du hast doch gar nichts falsch gemacht.“
    „Doch, ich habe überreagiert. Ich hätte die Sache wenigstens am nächsten Morgen wieder gut sein lassen können. Aber das war halt so eine Phase, wo es besonders schlimm war mit meiner Krankheit. Da bin ich manchmal nur schwer zu ertragen. Und du hattest mich ziemlich getroffen mit dem, was du da gesagt hast.“
    „Es tut mir leid“, wiederholte Barthos. „Du hast ja Recht mit den Bauern. Es gibt ja wirklich keinen echten Unterschied zwischen denen und uns Adligen.“
    Nun seufzte Femo mit einem Mal. „Es ging nicht einfach um die Bauern, Barthos. Ich bin nicht mal einer, falls du das vergessen hast.“
    „Worum dann?“, wollte Barthos leicht verwirrt wissen. Dann fügte er grinsend hinzu: „Du bist ja auch kein Goblin, oder?“
    Femo seufzte ein weiteres Mal, tiefer als davor, und rollte mit den Augen. „Vergiss es. Du verstehst es ja doch nicht. Und ich will nicht wieder damit anfangen. Entschuldigst du mich jetzt? Ich würde jetzt gern baden und da brauche ich wirklich keine Zuschauer.“
    Etwas perplex nickte Barthos und sah dabei wie durch einen Schleier, wie Femo seine Tür eilig schloss. Eigentlich hatte er erwartet, sich nach diesem Gespräch besser zu fühlen. Irgendwie tat er das wohl auch. Aber dann auch wieder nicht. Er wurde aus seinem Freund einfach nicht schlau. Und aus seiner eigenen Gefühlswelt bald auch nicht mehr.
    Geändert von Jünger des Xardas (09.04.2011 um 10:32 Uhr)

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    Das Ende der Reise


    Die Kinder des Dorfes kamen ihnen lachend und schreiend entgegen, als sie sich näherten. Sie umringten sie, schüttelten ihnen die Hände und zupften an ihren Roben. Barthos fühlte sich leicht überrumpelt; mit so einer Begrüßung hatte er nicht gerechnet. Femo schien es ebenso zu gehen, doch er setzte rasch ein Lächeln auf und erwiderte die stürmischen Begrüßungen der Kinder. Alvito dagegen bewahrte seine steife Haltung. Wahrscheinlich hatte er so etwas schon öfter erlebt.
    Sie hatten eine lange Reise hinter sich. Zunächst waren sie im Hafen Bandar Abadana im Nordosten der Insel eingelaufen. Hier hatten Barthos und Femo erstmals die exotische Pracht Ariabias erlebt, hinter der alle Erzählungen nur verblassen konnten. Die einfachen Menschen und selbst die meisten Gelehrten Myrtanas machten kaum einen Unterschied zwischen Varant und den Südlichen Inseln. Für jemanden, der in so kurzer Zeit von Bakaresh nach Ariabia gereist war, war dieser Unterschied jedoch offenkundig. Die dunkle Haut, die bunten, aufwändig bestickten Gewänder und die großen Turbane der Menschen ließen sich in keiner Weise mit dem vergleichsweise hellen Teint der Varantiner, ihren dagegen schlicht wirkenden Stoffen und den in Bakaresh verbreiteten Kufiyas vergleichen. Und was die Pracht der ariabischen Bauwerke anging, hatte Alvito nicht gelogen.
    Tatsächlich erinnerten nur die Temperaturen des Landes unangenehm an Varant. Doch Ariabia war keinesfalls eine Wüste. Der Norden war ein felsiges Gebirgsland, in dem es jedoch auch einige fruchtbare Täler gab. Das größte davon war eine lange Schneise, die sich der Araz, der größte Fluss der Insel, durch die Berge gegraben hatte. Diesem Fluss, an dem die meisten Siedlungen der Insel lagen, waren sie landeinwärts gefolgt. Schließlich hatten sie sein Tal jedoch verlassen und waren weiter nach Süden gezogen. Sie waren den Anhängern des hier vorherrschenden Adanoskults auf einer alten Pilgerstraße zur Stadt Sharidi gefolgt, dem wichtigsten Wallfahrtsort des Landes. Die Reise allein war ein beeindruckendes Erlebnis gewesen, denn schon viele Meilen vor der Stadt, waren alle Straßen so voller Pilger, dass man unweigerlich weiter auf die heilige Stätte zugetragen wurde, ob man nun wollte oder nicht. Doch sie hatten sich nicht lange in der großen Stadt aufgehalten. Sharidi erhob sich am Fuße des Arakusch, eines mächtigen Gebirgszug, der sich in der Mitte der Insel erhob und den Norden vom Süden trennte. Da der Weg durch die Pässe beschwerlich und das Wetter dort unberechenbar war, entschieden die drei Feuermagier sich dafür, der Küste zu folgen und den Arakusch so zu umgehen. Dies kostete sie zwei Wochen, doch verlief ihre Reise so zumindest ohne Zwischenfälle.
    Und dann hatten sie endlich ihr Ziel erreicht: Die große Savanne, die den flachen Süden der Insel bedeckte. Und es war ihnen als wären sie in ein anderes Land gekommen. Nicht nur Klima und Vegetation waren hier völlig anders. Sie begegneten fremdartigen Tieren, sogar den gestreiften Pferden, von denen Barthos als Jugendlicher einmal gelesen hatte. Aber selbst die Menschen unterschieden sich stark von denen des Nordens. Sie lebten nicht in prächtigen Städten sondern in kleinen, schlichten Dörfern. Auch verehrten sie nicht etwa Adanos sondern irgendwelche Naturgeister und Götzen – so genau wusste Barthos das auch nicht. Was er wusste, war, dass dieses Land zwar nominell ebenfalls zum Herrschaftsgebiet des Moguls von Ariabia gehörte, das in der Praxis jedoch weder die Einwohner noch den Mogul selbst interessierte. Die Savanne war arm an Rohstoffen und dünn besiedelt. Hier gab es nichts, was für einen Herrscher von Interesse hätte sein können. Und deshalb kamen hier auch keine Beamten oder Soldaten her, um die Herrschaft des Moguls geltend zu machen. Aus diesem Grunde störten sich die Einwohner wiederum nicht an ihr – sofern sie überhaupt wussten, dass in der fernen Stadt Agadir ein Mogul residierte und dass dieser offiziell ihr Herr war.
    Beides, die politische Lage und die hiesige Religion, waren wohl der Grund, weshalb man es ihrem Orden gestattet hatte, die Bewohner der Savanne zu missionieren, während man sie in den Städten des Nordens bereits ob ihrer Roben misstrauisch beäugte.
    Und nun waren sie also endlich am Ziel. Sie hatten das Dorf erreicht, dessen Einwohner sie bekehren sollten. Barthos kannte seinen Namen nicht. Vermutlich hatte es nicht einmal einen. Doch nach allem, was er bisher über diesen Teil der Welt sagen konnte, musste es sich wohl um eines der größten Dörfer der Savanne handeln. Nicht, dass das viel bedeutet hätte.
    Nun betraten sie die Siedlung. Und jetzt kamen auch die Erwachsenen aus ihren Hütten und umringten sie. Sie schienen nicht weniger fasziniert von den drei Magiern als die Kinder. Wahrscheinlich hatten sie noch nie Menschen aus Myrtana gesehen. Und richtige Kleidung auch nicht. Barthos schluckte schwer. In diesem Dorf schien niemand mehr am Leib zu tragen als einen Lendenschurz, egal ob Mann oder Frau.
    Sie kamen auf einen großen Platz, um den herum sich die Hütten gruppierten. In seiner Mitte ragte ein großer Baumstamm auf, wohl ein Totem. Die Spitze war zu einem annähernd menschlichen Gesicht zurechtgeschnitzt, das breit grinste und dabei zwei einzelne, große Zähne zeigte und von dem zwei überproportionierte Ohren abstanden. Darunter waren zahlreiche weitere Muster und Bilder in den Stamm geschnitzt. Und auch weitere Gesichter von Tieren oder seltsamen Fabelwesen.
    Die Menschen vor ihnen traten nun ehrfurchtsvoll zurück und gaben damit den Blick frei auf eine kugelrunde Frau, die lächelnd zu Füßen des Totems saß. Ihr krauses, schon leicht ergrautes Haar war kurz geschnitten – wie im Übrigen das aller Dorfbewohner, auch der Frauen. Ihre großen Brüste ruhten schwer auf dem dicken Bauch. Und um ihren Hals lag eine große Kette, auf die Steine, Perlen und kleine Tierknochen aufgereiht waren.
    „Willkommen!“, begrüßte sie die drei Feuermagier. Barthos atmete erleichtert auf. Kurz hatte er befürchtet, sie würden sich nicht einmal mit diesen Menschen verständigen können. Doch so sehr sie sich von denen nördlich des Arakusch unterschieden, sie sprachen doch die gleiche Sprache, wenn auch mit starkem Akzent.
    „Ich nehme an, du bist die Älteste dieses Dorfes, Weib?“ Alvito war vorgetreten und blickte nun auf die rundliche Frau herab.
    „Die Älteste?“ Die Frau lachte. „Nein! Das ist Wamweru.“ Sie wies auf eine in der Menge stehende Frau mit schneeweißem Haar und zerfurchtem Gesicht, das keinen Zweifel daran ließ, dass sie die mit Abstand Älteste hier war. „Aber ich bin die Mama. Mama Mafunda. Das hier“ – sie machte eine ausladende Handbewegung – „sind meine Kinder.“
    Ein kleiner Vogel – was für einer vermochte Barthos nicht zu sagen, denn in Myrtana gab es keine solchen Vögel – flog über ihre Köpfe hinweg und ließ sich auf dem Totem nieder.
    Mama Mafunda lachte herzhaft. Es war ein warmes und freundliches Lachen, das den Wunsch auslöste, darin einzustimmen. „Ombhu’Ombhoku heißt euch auch willkommen.“
    Barthos sah, dass Alvito ein Gesicht machte, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Es war Femo, der neugierig fragte, „Ombhu’Ombhoku, ist er das?“ und dabei zu der Fratze des Totems hinaufdeute.
    Mama Mafunda schüttelte lächelnd den Kopf, was auf Ariabia eine bejahende Geste war, so viel wusste Barthos bereits. „Er ist der Geist des Dorfes. Er beschützt uns und erfreut sich an unserem Anblick. Zum Dank machen wir ihm Geschenke und nehmen seine Freunde in unserem Dorf auf.“ Sie wies auf eine andere Fratze in dem Totem, die entfernt an einen Löwen erinnerte. „Das war Kilu, der König der Savanne. Mein Ururgroßvater hat ihn bezwungen und seitdem leistet sein Geist Ombhu’Ombhoku Gesellschaft. Das dort“, sie wies auf eine abstoßende Dämonenfratze etwa auf halber Höhe des Totems, „ist Tiki’mai. Er kam aus dem Arakusch, wo alle Geister herstammen. Er kam, um uns zu quälen. Er vertrieb die Gazellen und tötete die Kinder bei der Geburt. Aber ein Kind überlebte seine Streiche und sein Lachen erwärmte Tiki’mais Herz. Seitdem ist er Ombhu’Ombhokus Freund und wacht über uns, wenn unser Geist einmal schläft. Dies dort unten…“
    „Genug!“ Alvitos schneidende Stimme ließ die Dorfbewohner mit Ausnahme Mama Mafundas zusammenzucken. „Dieser frevelhafte Götzenkult muss aufhören! Höret. Wenn dort im Gebirge tatsächlich Geister leben und in die Ebenen hinabsteigen, sind sie Dämonen, nicht mehr. Schändliche Ungeheuer, erschaffen vom Dunklen, um die Menschen zu verführen und in die Irre zu leiten. Es gibt nur einen Namen, den ihr anrufen dürft. Und das ist der Name des Gleißenden. Das ist Innos, der Herr des Feuers und der Gerechtigkeit, der euch die große Sonne zum Geschenk machte.“ Zur Bekräftigung seiner Worte wies Alvito gen Himmel. Barthos musste zugeben, dass der Missionar sich auf sein Handwerk verstand. Sein Vortrag – die Art wie er die Stimme erhob, die ehrfurchtgebietenden Gesten – machte selbst auf ihn Eindruck. Was mochte er wohl in diesen ungebildeten Wilden auslösen?
    Mama Mafunda jedoch lachte nur. „Als unsere Jäger euch kommen sahen, sagten sie, die Geister aus den Bergen hätten Boten geschickt. Nun sehe ich, dass ihr keine der ihren seid. Ihr seid Menschen und ich glaube, euer Weg war noch wesentlich weiter als meine Kinder es sich vorstellen können. Aber“, sie zwinkerte in die Runde ihrer Leute, „das heißt nicht, dass nicht die Geister der Berge euch geleitet haben. Ihr kommt also im Auftrag von I’hos-oku, dem Geist, der unsere Feuer entzündet, ja?“
    „Nein!“, stieß Alvito wütend aus. „Wir sind Diener des Strahlenden, des Herrn der Gerechtigkeit. Wir sind demütige Verkünder des heiligen Wortes des einzigen Gottes.“
    Wieder lachte die Älteste. „Sei es wie es sei. Ihr seid willkommen in unserem Dorf. Die Geister erlauben sich einen Spaß mit uns, gönnen wir ihnen die Freude.“
    Als wäre dies eine geheime Formel, schienen alle Furcht und alles Misstrauen von den Umstehenden abzufallen. Die Menschen entspannten sich sichtlich und einige stimmten in Mama Mafundas Lachen ein.
    Barthos und Femo wechselten einen Blick. Und Barthos war nicht überrascht, im Antlitz seines Freundes das zu sehen, was auch sein eigenes vermutlich ausdrückte: Verwirrung und Skepsis – und Unwillen beim Gedanken daran, die nächsten Jahre damit zu verbringen, diese Menschen den Glauben an Innos zu lehren.
    Geändert von Jünger des Xardas (10.05.2011 um 18:55 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Ombhokus Kampf mit dem Feuergott


    Herba perutilis, im Volksmund Kronstöckel; Vorkommen: selten; Bevorzugter Bodentyp:
    „Was machst du da?“
    Vor Schreck ließ Barthos seine Notizzettel und die Feder fallen. Hastig sammelte er beides wieder auf, während er den Kopf hob und in das Gesicht eines jungen Mannes blickte, der, den Speer locker über die Schulter gelegt, zu ihm hinab sah. Es war einer der Jäger. Rahin oder so ähnlich hieß er. Genau konnte Barthos sich die seltsamen Namen der Dorfbewohner nicht merken.
    „Ich katalogisiere die hiesige Flora“, erklärte er und ordnete die Pergamente in seiner Hand wieder.
    „Was?“ Verständnislos blickte der Jäger ihn an.
    „Ich untersuche die Pflanzen, die hier wachsen.“
    „Oh!“ Ein breites Lächeln trat auf das Gesicht des Jägers, dem nun ein Licht aufzugehen schien. „Ich weiß, wo du die Brüder von dieser Pflanze findest.“
    „Brüder?“ Zweifelnd blickte Barthos zu dem Jäger auf.
    Dieser jedoch nickte eifrig. „Komm mit!“
    „Eigentlich wollte ich…“ Weiter kam er nicht, denn Rahin, oder wie immer er heißen mochte, packte ihn am Arm und zog ihn mit sich. Und Barthos fügte sich. Während sie durch das hohe Gras der Savanne schritten und sich dabei langsam weiter vom Dorf entfernten, bewunderte Barthos den Gang seines Führers. Es war ihm in seiner Heimat nie aufgefallen, doch nun im direkten Vergleich mit den Bewohnern dieses Dorfes, hatte er erkannt, dass die Einwohner Myrtanas sich beim Gehen leicht vorzubeugen pflegten. Als wollten sie zum Sprint ansetzen. Die Menschen hier aber schienen völlig aufrecht zu sein. Selbst wenn sie rannten, neigten sie den Oberkörper nicht nach vorn. Und doch waren sie um einiges schneller als er, ohne sich dafür auch nur anstrengen zu müssen. Als er einem der älteren Jäger diese Entdeckung mitgeteilt hatte, hatte dieser nur gelacht. „Ihr lasst euch bei jedem Schritt nach vorne fallen. Ihr müsst in einem sicheren Land leben. Wir müssen den vorderen Fuß bis zuletzt zurückziehen können, um nicht auf eine Schlange oder einen Skorpion zu treten“, hatte er erklärt. Seitdem versuchte Barthos, seine Gehweise an die der Dorfbewohner anzupassen, denn er hatte wenig Lust, sich von einer giftigen Schlange beißen zu lassen. Da seine Versuche kläglich scheiterten, konnte er nur froh sein, bisher noch keiner begegnet zu sein.
    „Hier!“ Der Jäger deutete auf ein unscheinbares Kraut, das zwischen dem hohen braunen Gras wuchs.
    Stirnrunzelnd sank Barthos auf die Knie und griff mit einer Hand nach dem Stängel der Pflanze. Mit den Fingern fuhr er daran hinauf, rieb über die Blätter. „Das ist doch kein Kronstöckel.“
    „Das ist der Bruder von deiner Pflanze!“, beteuerte Rahin.
    Zweifelnd blickte Barthos ihm ins Gesicht. Dann seufzte er, nahm das kleine Messer zur Hand, das er in seinem Gürtel trug, schnitt den Stängel über dem Boden ab und verstaute die Pflanze umsichtig in der großen Tasche, die er um die Schulter trug und in der schon diverse andere Kräuter ruhten. Das hier war nichts als wertloses Unkraut, doch das wollte er dem Jäger nicht ins Gesicht sagen. Schnaufend erhob er sich wieder. Für heute hatte er genug getan. Er nickte Rahin noch einmal zu, zog den Gurt der Tasche fest und machte sich auf den Rückweg ins nahe Dorf.

    Femo lag in der Hütte der drei Magier. Das Licht, das durch die schmalen Ritzen zwischen den hölzernen Stäben fiel, die die Hüttenwand bildeten, malte helle Streifen auf seinen Körper. Barthos schritt an ihm vorbei auf den Tisch auf der anderen Hüttenseite zu. Dort standen eine Vielzahl von Körben und Töpfen, gefüllt mit Erde und voller Pflanzen. „War die Suche mal wieder ergiebig?“ Nur ein Tauber hätte den Sarkasmus in Femos Stimme nicht bemerkt.
    Barthos seufzte. Er hatte die Versuche aufgegeben, seinen Freund aufzumuntern. Femo wollte nicht hier sein. Er wollte keine Einheimischen missionieren. Und das war ihm deutlich anzumerken. Im Grunde ging es Barthos ganz ähnlich, doch gelang es ihm, sein Missfallen über die Situation zu verdrängen und sich diversen wissenschaftlichen Projekten zu widmen, von denen seine neuentdeckte Liebe zur Alchemie, deren Grundlagen er noch aus der Zeit seines Studiums in Geldern kannte, nur eines war. Femo jedoch konnte sich auch dafür nicht begeistern. Und Alvitos fanatischen Eifer teilte er erst recht nicht. Er wollte nur weg.
    „Hast du weitergelesen?“, fragte Barthos, um das Schweigen zu brechen, während er den Dreifuß und den kleinen Messingkessel unter dem Tisch hervorholte.
    „Immer noch dasselbe wie bei deiner letzten Version“, kam es genervt aus Barthos’ Rücken. „Seit du deine Theorie auch noch mit deinen tollen Erkenntnissen aus dem Leben der Wilden untermauerst, ist das Ganze noch lächerlicher geworden.“
    „Ich verstehe immer noch nicht, was dich daran stört“, erwiderte Barthos und entzündete nun mit einer seiner Runen ein kleines Feuer unter dem Kessel.
    „Deine Theorie der Affektkontrolle. Du behauptest, mit dem Grad der Zivilisation steige auch der der Tabus, des Peinlichkeitsempfindens, der Umgangsformen. Das ist Blödsinn.“
    „Blödsinn? Es ist so offensichtlich, dass sogar du mir mal zustimmen musst!“, widersprach Barthos, ohne sich dabei umzudrehen. Stattdessen gab er einige Blätter eines ihm unbekannten Krautes, das er in der Savanne gepflückt hatte, in den Kessel und beobachtete Interessiert, wie sich an der Wasseroberfläche nach kurzer Zeit kleine Blasen bildeten. „Ich meine“ – er tastete nach seinem Notizblock, ohne den Blick vom Kessel abzuwenden – „schau dir nur mal an, wie die Menschen hier rumlaufen. Praktisch nackt. Daran zeigt sich doch deutlich, dass ihr Peinlichkeitsempfinden kaum ausgeprägt ist im Vergleich zu unserem.“
    „Nein, daran zeigt sich, dass sie ein anderes Peinlichkeitsempfinden haben. Das ist deswegen aber nicht weniger stark.“
    Barthos schnaubte. „Ich habe das Gefühl, du widersprichst mir nur noch des Widerspruchs Willen.“ Nachdenklich begutachtete er die Kräuter in seiner Tasche. Als er eines entdeckte, das er nicht einordnen konnte, griff er stirnrunzelnd danach und hielt es sich vor die Augen. Nach einigen Augenblicken hatte er es erkannt. Rahins Unkraut. „So etwas wie Familie kennen die hier auch nicht. Wenn du die Kinder fragst, wer ihre Eltern sind, hörst du nur „Mama Mafunda.“ Mama Mafunda hier, Mama Mafunda da. Man könnte meinen, sie wäre wirklich die Mutter aller Dorfbewohner hier. Tatsächlich ist es doch aber so, dass Liebe oder Ehe hier einfach völlig unbekannt sind. Die Menschen leben ihre Trieb aus wie Tiere und ziehen die Kinder in der Gemeinschaft groß. Da kannst du mir doch nichts davon erzählen, sie hätten so etwas wie ein Peinlichkeitsempfinden.“
    „Du bist unverbesserlich!“, stieß Femo aus. „Wie wär’s, wenn du zur Abwechslung mal mit den Menschen redest und sie dir genau anschaust, anstatt dir irgendwelche Theorien auszudenken? Vielleicht hättest du dann gemerkt, dass diese Menschen genauso prüde sind wie die daheim. Sie mögen sich oben rum etwas freizügiger kleiden, aber hast du schon mal einen von ihnen seinen Lendenschurz abnehmen sehen? Machen sie genauso wenig, wie wir ohne unsere Roben rumlaufen würden. Davon abgesehen fallen hier nicht hemmungslos alle übereinander her. Bei den Tieren übrigens auch nicht, aber das nur am Rande. Hättest du besser hingeschaut oder gar mit den Leuten geredet, wüsstest du, dass sie durchaus so etwas wie Ehe kennen.“
    Barthos schnaubte. „Mach dich nicht lächerlich. Diesen einen Knaben aus meiner Klasse, Baku, habe ich jetzt schon in den Betten dreier verschiedener Mädchen erwischt. Und die drei wiederum in denen zweier weiterer Burschen.“
    „Wobei dir entgangen ist, dass alle drei Jungen Brüder waren. Und dass alle drei Mädchen Schwestern waren.“ Mit gelangweilter Stimme führte Femo weiter aus: „Dir ist auch entgangen, dass sie eine Gruppenehe führen. Außerhalb dieser Ehegruppe vergnügen sie sich aber eben nicht wahllos mit jedem. Wie gesagt, sprich zur Abwechslung mal mit den Dorfbewohnern. Oder nein, tu’s lieber nicht. Am Ende könnte sich noch dein Horizont erweitern und das wollen wir ja nicht, stimmt’s?“
    Femos letzte Worte nahm er gar nicht mehr wahr. Barthos starrte auf den Inhalt des Kessels, der langsam einen violetten Farbton annahm, gleichzeitig aber unheimlich klar wurde. Eine Wirkung, die sonst nur beim Erhitzen von Kronstöckel auftrat.
    „So kann es nicht weitergehen!“
    Barthos schrak zusammen und fuhr herum. Auch Femo hatte den Kopf gehoben. Beide starrten sie zum Eingang, in dem ein vor Wurt kochender Alvito stand. „Wir müssen dieser Gotteslästerei ein Ende setzen!“, verkündete er.
    „Was ist denn los?“, fragte Barthos verständnislos.
    „Diese Wilden wollen sich dem Wort des Herren nicht beugen. Es ist gleich, wie oft wir sie die Worte der heiligen Schrift lehren, sie werden nicht von ihrer Blasphemie weichen.“ Schnaufend ließ der Missionar sich auf einen ihrer beiden Hocker fallen. „Ich erzählte ihnen von den drei Göttern. Und einer von ihnen fragte, warum wir dem dienen, der im Sommer das Gras entzündet und das Land verwüstet, anstatt dem, der die Wolken schickt und Regen spendet.“
    Barthos hörte Alvito stumm zu, darauf bedacht, eine ernste Mine zu bewahren. Die Frage war allerdings berechtigt. Und gewiss war dies einer der Gründe, warum der Adanosglaube in den heißen Regionen der Welt, in Varant und Ariabia, weiter verbreitet war als der Innosglaube.
    „Und zu allem Überfluss sind diese Menschen unfähig, unsere Worte zu begreifen“, fuhr Alvito fort. „Sie glauben, Innos, Adanos und Beliar seien mächtige Geister. Sie verstehen nicht, dass sie im Gegensatz zu ihren Götzen real sind.“
    Auch dieses Mal enthielt Barthos sich eines Kommentars.
    „Nicht einmal die Gebote halten sie ein.“
    „Wieso sollten sie auch, wenn sie Innos weder verstehen, noch ihm folgen?“, sagte Femo achselzuckend.
    Alvito schaute ihn kurz unter zusammengezogenen Brauen an, dann nickte er. „Ja.“ Er schien nachzugrübeln und starrte dabei mit halb offenem Mund zu Boden. „Vielleicht“, begann er dann zögerlich. „Vielleicht sollten wir ein Zeichen setzen. Vielleicht müssen wir ihnen zeigen, dass Innos mächtiger ist als ihre Götzen.“ Mit einem Mal sprang er in die Höhe. Sofort schien er den ganzen Raum einzunehmen, wirkte wieder wie Innos’ strahlender Prophet. „Kommt mit mir. Wir dürfen nicht zögern.“
    Barthos und Femo wechselten einen Blick und er war geradezu froh, in den grünen Augen seines Freundes ebenfalls nichts als Ratlosigkeit und Resignation zu entdecken.

    Das Gesicht eine Maske der Entschlossenheit und mit einem Blick, der die vorbeikommenden Dorfbewohner angstvoll zurückweichen ließ, stapfte Alvito auf das Totem zu, gefolgt von den beiden anderen Magiern, die eher halbherzig hinter ihm herschlurften.
    Mama Mafunda begrüßte sie lächelnd und breitete freundlich die Arme aus. „Was kann ich für euch tun?“
    „Du kannst diesem Götzenkult endlich ein Ende setzen, Weib!“, fauchte Alvito.
    Ein fragender Ausdruck trat auf das Gesicht der Dorfältesten, ohne dabei das Lächeln zu vertreiben.
    „Beinahe einen Monat versuchen wir nun schon, euch die Lehren Innos’ nahe zu bringen und euch eine redliche Lebensweise zu lehren. Mein Wille war es, dass ihr die Falschheit eures Götzenkultes, eurer Unzucht, eurer Weiberherrschaft, eures gesamten Lebens selbst erkennt. Mein Wille war es, dass ihr euch zu Innos bekennt und von euren Götzen abschwört, eure Blöße bedeckt, euch vorm Herrn trauen lasst und fortan eure Kinder nur noch von ihren leiblichen Eltern großziehen lasst, und dass ihr Weiber den Platz in der Gesellschaft einnehmt, den Innos für euch vorgesehen hat. Doch offenbar seid ihr nicht fähig, zu erkennen. Uns bleibt also keine Wahl, als euch die Falschheit eurer Lehren nicht mit Worten, sondern mit Taten vor Augen zu führen.“ Der Missionar griff sich an den Gürtel und zog eine Rune hervor, die er auf das Totem richtete.
    Sanft, aber bestimmt ergriff die Dorfälteste seinen Arm. Nun hatte er es tatsächlich geschafft, ihr Lächeln verschwinden zu lassen. „Du darfst Ombhu’Ombhoku kein Leid zufügen. Er ist ein freundlicher Geist, aber auch launisch und rachsüchtig. Greifst du ihn an, wird er dich strafen.“
    „Ha!“ Verächtlich blickte Alvito hinab in das Gesicht der vor dem Totem sitzenden Frau. „Euer Götze hat keine Macht. Bestraft werdet nur ihr. Und zwar wenn ihr euch nicht zum Gerechten bekennt.“
    Mafunda nickte ernst. Barthos brauchte einen Moment, ehe er begriff, dass die Geste als Kopfschütteln zu verstehen war. Daran würde er sich wohl nie gewöhnen. „Du verstehst nicht“, sagte sie eindringlich. „Dein Gott straft nicht. Er droht es nur an. Meine Kinder folgen seinen Regeln nicht, weil sie keinen Sinn in ihnen sehen. Und ihnen geschieht nichts. Doch als ich jung war, verrichtete einst ein Mann aus unserer Mitte seine Notdurft an Ombhu’Ombhokus Füßen. Er wurde von einer Schlange gebissen und verstarb.“
    Alvito stieß den Arm der Ältesten beiseite. „DU begreifst nicht, Weib. Innos bestraft jene, die ihm nicht folgen. Doch nicht mit dem Tod. Erst nach dem Tod wird er sie richten. Und dann wird er sie hinabstoßen in Beliars Reich. Dein Götze aber hat keinerlei Macht über mich oder den Strahlenden. Und ich werde es dir beweisen.“ Mit diesen Worten hob der Priester die Rune und das Totem ging in Flammen auf.
    Die Dorfbewohner, von denen sich zuvor einige versammelt und Alvitos Worten gelauscht hatten, schrieen nun entsetzt auf. Einige rauften sich die Haare. Andere fielen jammernd und klagend auf die Knie. Und wieder andere brachen in hemmungsloses Schluchzen aus. Barthos war überrascht über derartige Reaktionen und auch leicht betreten. Das Gebaren der Dorfbewohner erinnerte ihn eher an das von Kindern und war ihm seltsam unangenehm. Gleichzeitig konnte er nicht umhin, Alvitos bestechende Logik zu bemerken. Der Missionar hatte die Machtlosigkeit des Götzen bewiesen, denn ihn biss keine Schlange ins Bein und kein Blitz kam vom Himmel und erschlug ihn. Innos’ Strafe aber sollte erst nach dem Tod kommen und war damit genauso wenig widerleg- wie beweisbar.
    „Seht ihr nun, dass der Dämon, den ihr verehrt, keine Macht über den Herrn der Gerechtigkeit besitzt?!“, donnerte Alvito ungerührt über den Platz.
    „Das ist widerwärtig“, hörte Barthos Femo neben sich murmeln und sah aus dem Augenwinkel, wie sein Freund sich umdrehte und sich auf den Rückweg zu ihrer Hütte machte.

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    Die Geister müssen verrückt geworden sein


    Müde und erschöpft klappte Barthos die heilige Schrift zu und schob sie in seine Umhängetasche, in der er daraufhin auch seine Pergamente, seinen Federkiel und sein Tintenfass verstaute. Seine Schüler, denen er nun mehrere Stunden lang das Wort Innos’ gepredigt hatte, verließen schweigend die Hütte, die Köpfe gesenkt, den Blick zum Boden gerichtet.
    Die Dorfbewohner begegneten den drei Magiern nicht mehr mit derselben freundlichen Neugier, die sie zu Anfang an den Tag gelegt hatten. Sie waren distanziert und ängstlich geworden. Sie wagten nicht mehr, sie ungefragt anzusprechen, im Unterricht nicht zuzuhören oder ihren Worten nicht Folge zu leisten. Barthos konnte nicht sagen, dass ihm dieser Wandel gefiel. Vor allem, da nicht er sondern Alvito den Dorfbewohnern ihren Gott genommen hatte. Andererseits – verhindert hatte er es auch nicht. Und nun tat er genau, was Alvito wollte: Er erzog diese Menschen zu guten Dienern Innos’.
    Seufzend schwang Barthos sich seine Tasche über die Schulter. Er verließ die Hütte und trottete über den Dorfplatz, den die Abendsonne in rotgoldenes Licht tauchte. Die Menschen, die sich hier aufhielten, wichen vor ihm zurück. Ihre Gespräche verstummten, wenn er in ihre Nähe kam. Wieder seufzte er.
    Er war froh, als er die Hütte der Magier erreichte und damit die Einwohner des Dorfes zumindest für diesen Tag hinter sich ließ. Sein Blick fiel beim Eintreten, wie er es immer zu tun pflegte, automatisch in Femos Ecke. Doch diese war leer. Barthos runzelte leicht die Stirn, marschierte dann aber zu seiner Lagerstatt und legte seine Tasche dort ab. Femo würde sicher jeden Moment kommen. Er beschloss, an seinem Manuskript weiterzuarbeiten. Er zog Feder, Tinte und Pergament aus der Tasche, lehnte sich gegen die Rückwand der Hütte und begann zu schreiben.
    Die myrtanische Gesellschaft hat in den Jahrhunderten seit ihrer Entsehung mehrere entschei
    Nein! Barthos strich den begonnen Satz durch und verwarf seinen Ansatz. Er schaute auf den staubigen Boden der Hütte, die Feder versonnen zwischen den Fingern drehend.
    Im Laufe ihres Bestehens hat die Gesellschaft des myrtanischen Kulturkre
    Nein! Das war auch nichts.

    Barthos ertappte sich selbst dabei, dass er gedankenverloren die Wand anstarrte. Er rief sich zur Ordnung und setzte wieder zum Schreiben an.
    Wie bereits aufgezeigt, wurde die myrtanische Gesellschaft stets von den widerstreitenden Prinzipien der durch die Könige angestrebten Zentralisierung und der zentrifugalen und nach Individ
    Barthos knüllte das Pergament zusammen und warf es frustriert beiseite. Es war zum Verzweifeln. Weder war er heute Abend mit seinen Formulierungen zufrieden, noch konnte er sich selbst dazu zwingen, mehr als einen Satz zu Papier zu bringen, ohne gleich darauf mehrere Minuten Pause einzulegen.
    Er hörte Schritte und sah aus dem Augenwinkel jemanden die Hütte betreten. Hoffnungsvoll blickte er auf. Doch es war nur Alvito. „Habt Ihr Fe… äh, ich meine, Meister Matrus gesehen?“
    „Nein, das habe ich nicht.“ Alvito schritt an ihm vorbei, ließ sich auf seinem Lager nieder und vertiefte sich wortlos in die Seiten eines kleinen Gebetbüchleins.
    Barthos ertappte sich nach einige Zeit dabei, dass er schon wieder die Wand angestarrt hatte. Sein Blick schweifte durch die Hütte und er sah, dass Alvito schlief. Er musste wirklich sehr zerstreut sein heute Abend, wenn er so lange auf die Wand stierte, ohne zu merken, wie die Zeit verging.
    Noch immer kein Zeichen von Femo.
    Barthos zögerte kurz, dann erhob er sich. Er würde ihn suchen gehen. Er spürte, dass es nichts bringen würde, sich hinzulegen. Er würde doch nur wach liegen. Also schlich er sich leise, um Alvito nicht zu wecken, aus der Hütte. Draußen war es stockfinster. Niemand war mehr auf den Beinen um diese Zeit. Etwas ziellos wanderte Barthos über den Dorfplatz. Wo konnte Femo nur sein?
    „Guten Abend.“
    Barthos zuckte zusammen. Mehr aus Überraschung, denn aus Schreck, denn die Stimme, die ihn angesprochen hatte, klang freundlich und heiter. Er fuhr herum und erblickte Mama Mafunda, die ihn anlächelte. Wie konnte ein so dicker Mensch sich so mühelos an einen heranschleichen?
    „Äh… guten Abend.“ Eine peinliche Pause trat ein, in der Mama Mafunda ihn weiterhin lächelnd anstarrte. Barthos fühlte sich unbehaglich. „Ähm, ich suche Meister Matrus. Hast du ihn gesehen?“
    Mafunda schüttelte den Kopf. „Ja, aber du nicht.“
    „Richtig“, sagte er zögernd. „Darum suche ich ihn ja.“
    „Nein“, widersprach sie nickend. „Ihr Menschen von hinter den Bergen seid seltsam. Ihr schaut euch an, aber ihr seht euch nicht. Ihr drei verbringt so viel Zeit zusammen. Trotzdem sehen du und Meister Alvito nicht, was jeder im Dorf sieht.“ Nachdenklich schaute die Älteste in den Nachthimmel. „Vielleicht“; überlegte sie. „Vielleicht liegt es an den Haaren.“
    „Den Haaren?“ Barthos verstand beim besten Willen nicht, wovon diese verrückte Alte sprach.
    Diese jedoch schüttelte ernst den Kopf. „Ja, die Haare.“ Dann lachte sie mit einem Mal laut ihr herzhaftes Lachen. „Aber du suchst Meister Matrus. Ich kann dir helfen.“ Sie deutete nach Norden. „Dort findest du, was du suchst.“
    „Wo dort?“
    „Hinter den Bergen.“
    Barthos’ Augen weiteten sich. „Moment. Er ist… weg?“
    „Meister Matrus war sehr unglücklich hier. Ich kann das verstehen. Ich glaube, wir werden auch bald sehr unglücklich sein.“ Mafunda blickte auf die Stelle, an der das Totem gestanden hatte, und erstmals sah Barthos in ihrem Gesicht so etwas wie Traurigkeit. „Es wird nie mehr wie früher. Auch nicht, wenn ihr alle wieder weggeht und wenn keine mehr von euch kommen. Die Geister kehren zurück in ihre Heimat. In die Berge. Neue Geister kommen. Geister aus eurer Heimat. Aber sie sind anders als unsere Geister. Ihr habt sie selbst geschaffen, nachdem ihr eure ursprünglichen Geister vertrieben habt, wie ihr nun unsere vertreibt.“ So schnell wie die Trauer gekommen war, so schnell kam auch die Freude wieder und plötzlich lachte die alte Frau: „Die Geister müssen verrückt geworden sein. Allesamt.“
    „Wo ist Femo hin?“, fragte Barthos eindringlich. „Hat er etwas gesagt?“
    „Nicht zu mir. Aber zu dir.“ Mafunda reichte ihm einen kleinen, sorgsam zusammengefalteten Zettel, den Barthos zögernd entgegennahm. Während er das Pergament auseinanderfaltete, schlenderte sie langsam davon. „Mach’s gut“, hörte er sie noch sagen. „Mögen die Geister lächelnd auf dich herabschauen, auch wenn sie alle verrückt sind.“ Ihr lautes Lachen schallte durch die Nacht, doch Barthos beachtete es nicht mehr. Er hatte den Brief entfaltet und erkannte sofort die leicht fahrige Handschrift Femos.
    Ich kann nicht mehr. Keinen einzigen Tag schaue ich mir noch an, was Alvito mit diesen Menschen treibt.
    Du weißt, der Orden war für mich immer nur Mittel zum Zweck. Ich wollte die Magie erlernen, mich bilden, nicht predigen und nicht missionieren. Ich glaube aber, mittlerweile alles gelernt zu haben, was der Orden mir beibringen kann. Und es reicht mir nicht. Ich habe erkannt, dass die Feuermagier nicht so mächtig sind, wie das einfache Volk denkt, wie auch ich lange dachte. Was ist schon ein Feuerball oder meinetwegen auch ein Feuerregen? Viel mehr als Dinge in Brand stecken, können wir nicht. Aber das ist nicht, wonach ich suche. Deshalb möchte ich die wahre Magie erlernen. Die Magie der Altvorderen, der Wassermagier und der Südlichen Inseln. Die Magie, die nicht begrenzt ist und keine Hilfsmittel braucht. Wenn du das hier liest, werde ich gegangen sein, um genau diese Magie zu erlernen.
    Ich weiß, was du jetzt denkst. Ich kenne dich schließlich. Aber du liegst falsch. Doch, man kann!! Ich weigere mich, wie du einfach alles hinzunehmen. Mich kümmert mein Status nicht. Ja, ich kehre dem Orden einfach den Rücken. Ja, ich nehme in Kauf, exkommuniziert zu werden. Was bedeutet das schon auf den Südlichen Inseln? So weit reicht die Macht der Innoskirche hier nicht. Und ich habe kein Problem damit, vielleicht niemals nach Myrtana zurückzukehren. Es gibt nichts, was mich dort hält. Aber selbst wenn ich es doch vorhaben sollte, wird es frühestens in einigen Jahren geschehen, wenn die Kirche diesen einen unbedeutenden Ketzer längst vergessen hat. Zudem weiß ich, mich zu verkleiden. Du siehst, Sorgen brauchst du dir keine zu machen. Ich weiß, was ich tue.
    Ich hatte überlegt, mich einfach davonzustehlen, und hätte es auch getan, wäre nur Alvito hier gewesen. Aber ich dachte mir, du verdienst einen Abschiedsbrief. Du bist ein anständiger Kerl, auch wenn du dir oft Mühe gibst, es zu verbergen. Du wirst sicher in einigen Jahren zurückkehren dürfen und ich habe keine Zweifel, dass jemand wie du es noch zu etwas bringt in der Kirche. Um mich solltest du dich am Besten gar nicht weiter kümmern. Wenn du je in der Hierarchie des Ordens aufsteigen willst, ist jemand wie ich kein guter Umgang für dich. Und umgekehrt passe ich im Gegensatz zu dir einfach nicht zu dem Haufen, noch weniger, als du ahnst.

    Fassungslos ließ Barthos den Zettel sinken. Das konnte er doch nicht wirklich getan haben. Er konnte nicht einfach so alles hinter sich lassen und… Barthos lachte bitter. Femo musste ihn wirklich gut kennen. Doch, er konnte. Wenn jemand das tun konnte, dann Femo.
    Da war eine seltsame Leere in seiner Magengegend. Ein Gefühl, das er nicht zuordnen konnte. Wie hatte Femo das nur tun können? Wie hatte er ihn einfach so zurücklassen können?
    Nein, Femo hatte Recht, musste Barthos sich mit einem tiefen Seufzen eingestehen. Er hatte sich so davonstehlen müssen, denn Barthos hätte nur versucht, ihn aufzuhalten. Er hätte versucht, die Stimme der Vernunft zu sein. Was Femo tat, war ganz sicher unvernünftig, aber es war auch, das musste Barthos sich erschrocken eingestehen, richtig. Noch mehr erschreckte ihn aber Femos Prognose, denn auch diese traf zu, da war er sich ziemlich sicher. Er würde die nächsten Jahre hier auf Ariabia missionieren. Es würde ihm nicht gefallen, aber dennoch würde er tun, was man von ihm erwartete, und er würde es gut tun. Dafür würde man ihn eines Tages aufs Östliche Archipel zurückbeordern und er würde für seine Verdienste in den Reihen des Ordens aufsteigen. Vielleicht würde er als grauer, alter Mann sogar Hochmagier werden. Das war alles, was in seinem Leben noch auf ihn wartete. Und dann wurde es Barthos voll bewusst: Auch sein höchstes Ziel im Leben, so hatte er sich immer gesagt, war das Sammeln von Wissen. Auch er hatte im Orden vor allem die Möglichkeit gesehen, die Magie zu erlernen, auch wenn er im Gegensatz zu Femo nicht deshalb und nicht freiwillig ins Kloster eingetreten war. Von beiden Zielen war er hier, am Ende der Welt weit entfernt. Und was tat er? Er nahm sein Schicksal einfach hin, während Femo das seine selbst in die Hand nahm.
    Trotzdem, er konnte nicht auch einfach davonlaufen. Im Gegensatz zu Femo war er seiner Heimat und seinem Stand in dieser gegenüber nicht gleichgültig. Er konnte doch nicht den Rest seines Lebens auf den Südlichen Inseln verbringen, Bildung und Magie hin oder her. Er konnte doch nicht sein ganzes Leben hinter sich lassen. „Kleingeistiger Trottel!“, schalt er sich selbst leise. Sein Leben. Was war das denn? Was hatte er denn zu verlieren, außer einem Dasein als Priester eines Gottes, an den er nicht glaubte, unter Menschen, die ihm entweder gleichgültig oder gar zuwider waren?
    Doch am Ende waren es nicht all diese Überlegungen, war es nicht der Wunsch, es Femo gleichzutun und die Alte Magie zu erlernen, der Barthos dazu brachte, hastigen Schrittes in ihre Hütte zurückzukehren, seine Habseligkeiten zusammenzupacken und dann dem schlafenden Alvito und dem Dorf den Rücken zu kehren. Nein, es war der Wunsch, seinen Freund wiederzufinden.
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    Die Stadt der goldenen Kuppeln


    Hielt man Vengard oder Laran für gewaltige Metropolen, war man von den Prachtbauten Bakareshs beeindruckt oder sah man Geldern als bedeutendes Zentrum von Kultur und Wissenschaft – sie mussten einem wie unbedeutende Kuhdörfer in der tiefsten Provinz vorkommen, hatte man erst einmal die Tore Agadirs, der Stadt der goldenen Kuppeln, passiert.
    Letztere Bezeichnung hatte Barthos immer für eine Übertreibung gehalten. Gewiss mochte der Mogul einen beeindruckenden Palast haben, doch goldene Kuppeln besaß auch der Sultanspalast von Mora Sul, soweit er wusste. Es gab also keinen Grund, gerade im Fall Agadirs diesen Sachverhalt besonders hervorzuheben. Nun aber sah Barthos sich eines besseren belehrt. Die Dächer der Flügel und Türme des Palastes strahlten so hell in der Sonne, dass man kaum hinschauen konnte. Und nicht nur sie wurden von goldenen Kuppeln gekrönt, auch die Türme der Stadtmauer, die Akademie der Magier oder die Halle der Einhundert Reiche. Letztere war der Versammlungsort, an dem die Vertreter der Ariabischen Liga zusammentraten und damit das wohl wichtigste Gebäude der Südlichen Inseln.
    Gerne hätte Barthos sich in der Stadt umgesehen, doch er durfte nicht vergessen, weshalb er hier war. Er war dem einzigen Anhaltspunkt gefolgt, den er hatte, und hatte den beschwerlichen Rückweg in den zivilisierten Norden der Insel auf sich genommen, weil er hoffte, Femo in der Magierakademie in Ariabias Hauptstadt zu finden. Er wusste, dass diese Akademie auf den ganzen Südlichen Inseln, ja in der ganzen Welt berühmt war. Sie sollte einige der mächtigsten Magier aller Zeiten, sowie große Alchemisten und Denker hervorgebracht haben. Befand man sich auf Ariabia und wollte die Alte Magie erlernen, war dies die logische Anlaufstelle. Die Unsicherheit, die Angst, vielleicht meilenweit von Femo entfernt zu sein und ihn nie wieder zu finden, konnte ihm das nicht nehmen. Denn trotz allem war er alles andere als sicher, dass er Femo in der Akademie finden würde. Ja, wenn er ehrlich war, erschien ihm das viel zu einfach, um wahr zu sein. Doch was für Alternativen hatte er schon?
    So lenkte er seine Schritte in Richtung magische Akademie. Es handelte sich um einen breiten, kreisrunden Bau mit goldener Kuppel, an dessen Rücken zwei niedrige, ebenfalls runde und von goldenen Kuppeln gezierte, Türme aufragten und mit zwei langen Seitenflügeln. Barthos konnte nur staunend an der reich mit Ornamenten und Mosaiken verzierten Fassade hinaufblicken. In diesem Bau hätte die Universität von Geldern sicherlich dreimal Platz gehabt.
    Er stieg eine kurze aber breite Treppe hinauf, durchquerte ein Portal, das nicht für Menschen sondern für Schwarze Trolle gemacht schien, und fand sich in einer gewaltigen Eingangshalle wieder. Marmorne Säulen hielten eine mit Fresken bemalte Decke, die Wellenmuster, Tiger und Elefanten, Phönixe und Dschinn und Krieger im Kampf mit Dämonen und Drachen zeigte. Zwei schwere Türen aus Zedernholz führten linker- und rechterhand in die Seitenflügel. Ein prächtiger Brunnen mit sieben übereinanderliegenden Becken, von denen jedes sein Wasser in das jeweils tiefergelegene und etwas größere ergoss, erhob sich in der Mitte der Halle. Und schließlich führten zwei Treppen, die sich sanft an die runde Wand schmiegten, auf eine niedrige Empore hinauf, welche das hintere Viertel der Halle einnahm und an deren Rückwand zwei kleinere Portale in die Türme führten.
    Sicher fünf Minuten stand Barthos einfach mit leicht geöffnetem Mund im Eingang und beachtete dabei auch nicht die abfälligen Blicke, die ihm die zahlreichen Magier zuwarfen, die die Halle in allen möglichen Richtungen durchquerten und das Gebäude oder seine Flügel betraten oder verließen. Diese Magier waren keine Priester wie die Myrtanas oder Varants. Es waren Gelehrte und Wissenschaftler. Hier auf den Südlichen Inseln hatten sich Religion und Magie niemals vollends verbunden. Hier konnte jeder zum Magier werden, der das Zeug dazu besaß, ohne ein Gelübde ablegen zu müssen. Dementsprechend trugen die Magier auch dieselbe Kleidung wie die übrige Bevölkerung, Kaftans und lange Gewänder, sowie prächtige Turbane in allen Farben, an Stelle von einheitlichen Roben.
    Endlich kam Barthos aus dem Staunen heraus. Seine Ehrfurcht wich Ratlosigkeit. Wie hatte er sich das vorgestellt? Diese Akademie war riesig. Selbst wenn Femo hier war, würde es praktisch unmöglich sein, ihn zu finden. Barthos rief sich zur Ordnung. Nein, er würde Femo finden, und wenn er jeden dieser Magier fragen und jeden Raum dieser Akademie durchsuchen musste. Er hatte nicht alles hinter sich gelassen und die gesamte Insel durchwandert, um jetzt aufzugeben. Umkehren konnte er ohnehin nicht mehr. Alvito hatte wahrscheinlich schon einen Scheiterhaufen für ihn aufgehäuft. Und überhaupt, versuchte er sich Mut zu machen, so schwer konnte es nicht sein, die wahrscheinlich einzige blonde und hellhäutige Person in dieser Stadt zu finden – vorausgesetzt, sie war in dieser Stadt…

    Doch Barthos’ Suche in der Akademie sollte erfolglos bleiben. Die Magier, die er ansprach, hatten Femo entweder nicht gesehen oder würdigten ihn nicht einmal einer Antwort. Und in weite Teile des Gebäudes wurde er ohne hier zu studieren gar nicht erst vorgelassen.
    Den Teil in ihm, der fürchtete, Femo sei gar nicht in Agadir, versuchte er damit zu beruhigen, dass es doch völlig unwahrscheinlich war, ihn gleich am ersten Tag und beim ersten Versuch zu treffen.
    Also suchte er sich eine billige Herberge in den unteren Bezirken der Stadt. Als er sie betrat, hegte er die ganz leise Hoffnung, Femo hier anzutreffen. Irgendwo musste dieser schließlich auch untergekommen sein. Aber ihm war selbst klar, dass er sich hier nur vergebliche Hoffnungen machte. Und er sollte rechtbehalten damit.
    Am nächsten Tag kehrte er in die Akademie zurück. Heute gab er sich nicht dem Staunen hin. Heute wollte er sich ganz auf seine Suche konzentrieren. Doch diese ergab wieder nichts und am Abend kehrte er abermals mit gedrückter Stimmung und schwindender Hoffnung in seine Herberge zurück.
    Erst am dritten Tag kam er auf die Idee, sich nach den Namen derer zu erkundigen, die sich kürzlich auf der Akademie eingeschrieben hatten. Zu diesem Zweck suchte er den Schreiber der Akademie auf, der sein Büro im Erdgeschoss eines der beiden Türme hatte, wo Barthos sich zu seinem Schrecken am Ende einer nicht enden wollenden Schlange aus vornehmlich jungen Anwärtern wiederfand.
    „Euer Gold“, forderte der Mann, der am Ende der Schlange hinter einem langen Tisch saß, gelangweilt, als Barthos ihn nach Stunden des Wartens endlich erreichte.
    „Was? Welches Gold?“
    „Eure zweitausend Goldmünzen, die ihr an die Akademie zu entrichten habt.“
    „Bitte was?“, fragte Barthos leicht verwirrt.
    Sein Gegenüber zog kaum merklich die Brauen zusammen. „Euch ist bewusst, dass das Einschreiben an der magischen Akademie zu Ariabia zweitausend Goldstücke kostet?“
    „Ähm, ich glaube, das ist ein Missverständnis.“
    „So?“ Die Augenbrauen des Schreibers näherten sich einander noch ein Stück weiter an.
    „Ich habe nicht vor, der Akademie beizutreten.“
    „Dann halt’ doch nicht den Betrieb auf und mach Platz für Leute mit Geld in der Tasche!“, rief jemand aus der Schlange hinter ihm wütend. Zustimmendes Gemurmel erklang in seinem Rücken und Barthos glaubte jemanden „Dämliche myrtanische Barbaren“ zischen zu hören.
    Er spürte, wie er unwillkürlich den Kopf ein Stück zwischen die Schultern zog. Die wütenden Blicke, die ihn von hinten geradezu zu durchbohren schienen, waren ihm mehr als unangenehm. „Ich möchte nur eine Auskunft“, erklärte er etwas kleinlaut.
    „Ich gebe keine Auskünfte“, entgegnete der Beamte nun kalt. „Meine Aufgabe ist es einzig, das Gold der Anwärter entgegenzunehmen. Und diese Aufgabe würde ich nun gerne wieder aufnehmen.“
    Barthos zögerte kurz, dann nickte er betreten und drehte sich herum, um an der Schlange vorbei zum Ausgang zu schlurfen.
    „Du kannst ja übermorgen zu Meister Arathus gehen, wenn du für die Akademie kein Gold hast. Der nimmt dich bestimmt!“, rief ihm jemand nach und erntete hämisches Gelächter, das Barthos bis in die große Eingangshalle verfolgte.
    Geändert von Jünger des Xardas (22.07.2011 um 09:46 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Neue Hoffnung


    Am nächsten Morgen setzte Barthos seine Suche fort, doch nur noch halbherzig, denn er hatte die Hoffnung fast vollständig aufgegeben. Dass einige der jungen Anwärter vom Vortag ihn erkannten und hinter seinem Rücken mit ihren Kameraden tuschelten, machte es nicht besser. Und so verließ er die Akademie schon am Nachmittag.
    Ziellos streifte er nun durch die Straßen. Vage hatte er das Ziel, zu seiner Herberge zurückzukehren. Aber für viele Nächte dort würde sein Geld nicht mehr reichen. Er hätte sich ohrfeigen können für seine Dummheit. Gerade er, der die Vernunft als höchstes Gut betrachtete und sein Handeln von nichts anderem abhängig machen wollte, war wie der letzte Trottel losgestürmt. Ohne einen Plan. Ohne nachzudenken. Und das hatte er nun davon. Er war allein, ohne Perspektive, gestrandet in dieser riesigen, fremden Stadt. Zurück konnte er nicht. Und nach vorne? So etwas wie vorne gab es gar nicht. Selbst wenn er das Geld für eine Überfahrt nach Myrtana gehabt hätte: Sein dortiges Leben hatte er in einem einzigen unbedachten Moment davongeworfen.
    Er schlurfte über einen kleinen Basar, ohne den Händlern Beachtung zu schenken, die es nur darauf abgesehen zu haben schienen, sich gegenseitig niederzubrüllen. Auf der einen Seite des Platzes hatte sich eine kleine Traube aus Kindern gebildet, die begeistert klatschend einem jungen Mann zusahen, der kleine Feuerkugeln durch Ringe schoss, die er zuvor in die Luft warf. Seine Trefferquote schien eher bescheiden zu sein, was die Kinder wohl weit mehr belustigte als die eigentliche Vorführung.
    Barthos stockte. Feuerkugeln? Sein Kopf fuhr herum und er erblickte einen hellblonden Haarschopf. Ungläubig starrte er den Gaukler an, der in eine weite rote Robe gekleidet war, dann trugen ihn seine Füße wie von alleine auf diesen zu. „Femo!“ Er bahnte sich seinen Weg zwischen den Kindern hindurch auf seinen Freund zu, der beim Klang seines Namens die Rune hatte sinken lassen und ihm nun das Gesicht zuwandte. Ja! Er war es!
    „Barthos?“ Die ungläubige Frage hatte kaum Femos Mund verlassen, da hatte Barthos ihn auch schon erreicht und schloss ihn in die Arme. Femo schien leicht überrumpelt, ließ es sich dann aber gefallen. „Was machst du hier?“, fragte er. Die Überraschung stand ihm noch immer ins Gesicht geschrieben.
    „Dich suchen natürlich.“
    „Weitermachen!“, quengelte eines der Kinder, ehe Femo etwas erwidern konnte.
    „Verschwindet, ihr Rotznasen!“, harschte er sie an. „Na los. Hier gibt’s nichts mehr zu sehen. Kommt morgen wieder!“ Ohne weiter auf die Kinder zu achten, die sich nun murrend davonstahlen, wandte er sich Barthos zu und umarmte ihn nun seinerseits. „Schön, dich wiederzusehen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber ich habe angefangen, dich zu vermissen.“
    Barthos lächelte leicht verlegen.
    „Aber sag mal, du bist doch nicht einfach auf Gutglück nach Agadir gewandert und hast Alvito sitzen lassen?“, fragte Femo nun.
    „Doch, genau das. Gleich nachdem Mafunda mir deinen Brief gegeben hatte.“
    Femo lachte. „Ich wollte vermeiden, dass du mir nachläufst. Ich hatte sogar überlegt, ob ich dir vielleicht besser keine Nachricht hinterlassen sollte. Aber dann bin ich zu dem Schluss gekommen, dass du niemals so was Unüberlegtes machen würdest.“ Er klopfte Barthos auf die Schulter. „Ich bin froh, dass ich falsch lag.“
    „Was sollte die Vorstellung hier?“, fragte Barthos nun. Auch, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, denn er war sich nicht sicher, was er bei Femos Worten spürte, doch es war ihm auf jeden Fall unangenehm.
    „Ach“, Femo seufzte und das Lächeln schwand aus seinem Gesicht. „Ich war ziemlich naiv. Ich hätte es besser wissen sollen. Die Magier hier sind kaum besser als die Feuermagier bei uns. Die nehmen auch nicht jeden.“
    „Soweit ich gehört habe, schon.“
    „Ja“, sagte Femo tonlos. „Du denkst ja auch nicht soweit. Du wirst es gar nicht merken. Wie auch immer“, fügte er dann hastig hinzu. „Selbst, wenn sie jeden nehmen würden, bleibt das Problem, dass das verdammt teuer ist. Wesentlich teurer noch als die Aufnahme im Kloster damals. Deswegen versuche ich mir hier ein wenig Geld zu verdienen.“
    Zweifelnd blickte Barthos seinem Freund in die Augen. „Indem du mit deinen Runen Kunststückchen vorführst? Das bringt dir doch höchstens ein paar Kupferstücke ein. Wenn überhaupt.“
    „Weiß ich selbst. Aber erst mal brauche ich was zum Leben, solange ich keine Möglichkeit gefunden habe, schneller Geld zu verdienen. Aber wenn es sein muss mache ich das hier fünfzig Jahre, wenn ich dann genug Geld zusammenkriege.“
    Ein entschlossenes Funkeln trat in Femos Augen. Es erschreckte Barthos. Ihm wurde klar, dass Femo wirklich um jeden Preis die Magie erlernen wollte. Im Grunde gab es, wenn Barthos so darüber nachdachte, nicht viel anderes in Femos Leben. Schon zum zweiten Mal hatte er dafür alles geopfert. Und wahrscheinlich hatte er auch beim ersten Mal jahrelang arbeiten müssen, bis er sich den Eintritt ins Kloster hatte leisten können. Andererseits war es durchaus verständlich. Das Leben, in das Femo geboren worden war, gab wenig her. Er hatte sich irgendein Ziel wie das Erlernen der Magie suchen müssen.
    „Was ist mit dir?“, fragte Femo nun. „Wie verdienst du deinen Lebensunterhalt?“
    „Ich bin noch nicht lange in der Stadt. Noch reicht, was ich dabei habe. Aber du hast Recht, ich werde mich auch nach was umschauen müssen.“
    „Das wird nicht einfach“, meinte Femo ernst. „Wir brauchen Essen und eine Unterkunft. Das allein wird auf Dauer schon eine Menge Geld verschlingen. Und wenn wir beide an die Akademie wollen, sind das insgesamt viertausend Goldstücke. Allein für die Anmeldung. Dann kommen noch die monatlichen Studiengebühren.“
    „Monatliche Studiengebühren?!“ Er hätte es sich eigentlich denken können. In Geldern war es nicht viel anders gewesen. Doch er war so beschäftigt mit der Suche nach Femo gewesen, dass er nicht wirklich darüber nachgedacht hatte, was passieren sollte, wenn er ihn erst einmal gefunden hätte, und wie sie es an die Akademie schaffen sollten. „Gibt es denn wirklich keinen anderen Weg?“, fragte er leicht verzweifelt. „Du hast dich doch sicher umgehört.“
    „Habe ich. Aber die werden für uns wohl kaum eine Ausnahme machen. Ohne Geld kein Studium an der Akademie. Ich schätze, wenn die die Leute umsonst ausbilden würden, hätten die auch kaum goldene Kuppeln auf ihren Dächern.“
    Da war etwas dran. Barthos musste sich eingestehen, dass seine Frage ziemlich naiv gewesen war.
    „Ich habe rumgefragt“, fuhr Femo fort. „Es soll vorkommen, dass Magier sich Schüler nehmen, die sie dann ausbilden. Also quasi privat. Abseits der Akademie. Aber meistens kostet das noch mehr. Das ist nur was für die besonders Reichen und Mächtigen, die sich für die Akademie zu schade sind. Ganz selten soll auch mal ein Magier einen Schüler umsonst aufnehmen. Aber das ist dann meist ein unfähiger Möchtegernzauberer, der sich nur keinen Sklaven leisten kann und dich die meiste Zeit den Boden schrubben lässt. Die Chancen, einen fähigen Lehrer zu finden, der einen Schüler umsonst nimmt und ihm wirklich was beibringt, tendieren wohl gegen null.“
    „Hm.“ Barthos starrte zu Boden. Das klang alles ziemlich aussichtslos. Was sollten sie nur tun? Gab es für sie überhaupt eine Chance, auf irgendeinem Weg doch noch die Alte Magie zu erlernen? Oder sollte er Femo sein Vorhaben ausreden und sollten sie stattdessen versuchen, sich irgendwie über Wasser zu halten? Da fiel ihm plötzlich etwas ein. Er wusste gar nicht, warum er mehr als einen Gedanken daran verschwendete und es auch noch laut aussprach, aber vermutlich wollte er einfach irgendetwas vorschlagen: „Als ich gestern in der Akademie nach dir gesucht habe, meinte irgendjemand, da wäre jemand, der mich vielleicht umsonst ausbildet. Wie hat er ihn noch genannt? Meister Aratrus oder so ähnlich…“
    „Und weiter?“
    „Nichts weiter. Er meinte nur, ich solle mich übermorgen bei dem melden… Also morgen inzwischen.“
    „Hm.“ Femo gab sich keine Mühe, seine Skepsis zu verbergen und Barthos konnte es ihm nicht verübeln – vor allem, wenn er daran dachte, wie und in welcher Situation er diesen Hinweis erhalten hatte. Wahrscheinlich war jeder Gedanke daran verschwendet.
    „Komm“, sagte er. „Ich bin nicht weit von hier untergekommen. Und ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber ich habe Hunger.“

    Nur wenig später saßen sie in der kleinen Herberge und ließen sich vom Wirt eine ziemlich schale und nur lauwarme Suppe servieren.
    „Ich hätte da eine Frage“, hielt Barthos den Wirt, einer plötzlichen Eingebung folgend, zurück.
    „Ja?“, brummte dieser verstimmt. Gespräche mit seinen Gästen gehörten offenbar nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Vielleicht lag es aber auch nur an ihrer Herkunft und er hielt Myrtaner für ungebildete Barbaren, wie es in dieser Stadt sogar der ärmste Bettler zu tun schien.
    „Hast du je von einem Magier mit Namen Aratrus gehört?“ Einen Versuch war es ja Wert. Zu verlieren hatten sie nichts.
    „Meinst du Arathus?“
    „Ja, das war’s!“ Barthos spürte Hoffnung in sich aufkeimen. Dieser Mann war offenbar nicht ganz unbekannt, wenn auch ein Wirt von ihm gehört hatte, der sich ganz offensichtlich nicht in magischen Dingen auskannte.
    Der Wirt brach jedoch nur in schallendes Gelächter aus. „Fragt mich, ob ich von Arathus gehört habe! Frag doch gleich, ob ich was vom Mogul weiß!“
    Barthos kniff verärgert die Lippen zusammen. „Also? Wer ist dieser Meister Arathus nun?“, fragte er ungeduldig.“
    „Haha, niemand, nur der mächtigste Magier, der je gelebt hat!“ Der Wirt hielt sich den Bauch. „Ach ja und nebenbei noch ehemaliger Großwesir.“
    Barthos und Femo blickten sich an. Ihr Entschluss stand sofort fest. Und es brauchte keine Worte, um dies dem anderen mitzuteilen.
    Geändert von Jünger des Xardas (22.07.2011 um 09:45 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Arathus ben Yussuf


    Es war nicht schwer gewesen, herauszufinden, wo sie Meister Arathus finden würden. Sie hatten nur kurz in der Eingangshalle der Akademie herumgefragt, dann hatten sie alles gewusst, was sie wissen mussten: Meister Arathus ben Yussuf, der vier Moguln als Großwesir gedient und sich vor Jahren vom Hof und aus der Akademie zurückgezogen hatte, würde zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einen Schüler ausbilden. Die Kandidaten hatten sich in einem Raum in der Spitze eines der beiden Türme versammelt. Arathus hatte keine Bedingungen genannt, die sein neuer Schüler erfüllen musste. Dennoch waren die meisten der Anwesenden keine blutigen Laien wie Femo und Barthos sondern junge, ehrgeizige Männer, die schon viele Jahre an der Akademie studierten und wahrscheinlich zu den besten ihrer Jahrgänge zählten. Sie bedachten die beiden Myrtaner mit spöttischen Blicken und Kommentaren. Und Barthos konnte es ihnen nicht verübeln. Längst hatte er wieder alle Hoffnung verloren. Warum sollte eine derart mächtige und bedeutende Person wie dieser Arathus ausgerechnet sie beide zu seinen Schülern machen?
    „Welches ist die höchste aller Tugenden?“
    Die Gespräche erstarben und alle Anwesenden wandten ihre Blicke der Eingangstür zu, als die tiefe, ehrfurchtgebietende Stimme erklang. Dem Mann, der dort stand und mit ernster, unbewegter Miene in den Raum starrte, glaubte man sofort, dass er der mächtigste lebende Magier der Welt sein musste. Seine schwere purpurne Robe mit den weiten Ärmeln war über und über mit Sternen, Runen und geometrischen Figuren bestickt. An dem großen Turban in der gleichen Farbe steckte vorne eine goldene Brosche in Form eines Pentagramms. Darunter befand sich ein strenges, von tiefen Falten zerfurchtes Gesicht, das von einem schneeweißen Vollbart gekrönt wurde. Von dem Mann ging eine seltsame Kraft aus, die den ganzen Raum zu erfüllen schien, einen jeden spüren ließ, wie klein und unbedeutend er war und in deren Gegenwart gewiss nicht einmal ein Staubkorn wagte, zu Boden zu fallen.
    Die buschigen Brauen des Magiers zogen sich ungehalten zusammen. „Na, was ist? Meine Zeit ist begrenzt. Ich gedenke noch heute die Heimreise anzutreten.“ Er setzte sich in Bewegung. Sofort wichen alle Anwesenden ehrfurchtsvoll zurück, sodass eine Schneise entstand, durch die Arathus den Raum durchquerte. „Ich habe eine simple Frage gestellt. Wenn ihr nicht fähig seid, sie zu beantworten, frage ich mich, weshalb ihr euch hier eingefunden habt.“ Er kam auf der anderen Seite des Raumes zum Stehen und drehte sich herum. „Also?“
    „Gehorsamkeit!“, rief eine Stimme aus der Menge und das Gesicht ihres Besitzers ließ keinen Zweifel daran, dass er bereit war, Arathus diesen bedingungslos entgegenzubringen.
    Dieser jedoch zog die Brauen nur noch weiter zusammen. „Gehorsamkeit? Akbar I. machte mich nicht zu seinem Großwesir, weil ich gehorsam war!“, bellte er, was die Menge zusammenzucken ließ. „Na los! Ich sagte doch, meine Zeit ist begrenzt!“
    „Gelehrsamkeit“, versuchte es einer der Anwärter.
    „Geh zurück in die Unterrichtsräume. Dort ist Platz für deine Gelehrsamkeit!“
    „Pflichtbewusstsein.“
    „Ich suche einen Schüler, keinen Soldaten.“
    „Fleiß.“
    Arathus’ Brauen schienen nun zu einer einzigen geworden zu sein. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und sagte dann mit leiser Stimme, die noch weit bedrohlicher wirkte als sein vorheriges Gebell: „Mir scheint, die magische Akademie zu Agadir ist seit meiner Zeit zu einem Ort verkommen, an dem man den Schülern nur noch beibringt, stumm den Worten ihrer Lehrmeister zu lauschen und am Ende mit magischen Blitzen um sich zu werfen. Ich muss mich doch sehr wundern, dass anscheinend kein Wert mehr auf die Ausbildung des Geistes gelegt wird.“ Er machte nachdenklich einige Schritte, wobei ihm die Augen aller Anwesenden vorsichtig folgten, wie einem Tiger, der jeden Moment angreifen konnte und den man nicht aus den Augen lassen durfte, der aber auch zu furchteinflößend war, um davonzulaufen. „Es scheint, dass die heutige Jugend nicht mehr beigebracht bekommt, Sekundärtugenden als solche zu erkennen.“ Der alte Magier blieb stehen und wandte sich wieder den Anwesenden zu. „Wer einen ernsthaften Vorschlag für mich hat, soll ihn äußern. Allen anderen rate ich, zu ihren Meistern in die Unterrichtsräume zurückzukehren.“
    „L-l-liebe“, stotterte jemand irgendwo in den hinteren Reihen und zuckte gleich darauf zusammen, als Arathus’ Blick ihn traf.
    „Liebe?“ Der Magier schritt auf den jungen Mann zu und wieder wichen die anderen vor ihm zurück, bis der Anwärter völlig allein und zitternd im Raum stand. „Liebe?“, wiederholte Arathus nachdenklich und kam nun direkt vor dem jungen Mann zu stehen. „Nun, wenn du die Liebe für die höchste unter den Tugenden hältst, dann gehe hinaus und liebe.“ Er griff sich an den Gürtel, löste von diesem einen kleinen Lederbeutel ergriff dann den Arm seines Gegenübers und drückte ihm den Beutel in die zitternde Hand. „Hier, ich gebe dir genug Gold, um die beste Hure von ganz Agadir zu lieben. Und jetzt verschwinde.“ Als der Angesprochene sich nicht vom Fleck rührte, fuhr Arathus ihn an: „Na los doch! Worauf wartest du? Verschwinde schon!“ Der junge Mann zuckte zusammen und rannte dann wie von der Blutfliege gestochen nach draußen. „Weitere Vorschläge?“, fragte Arathus, sich wieder der Menge zuwendend.
    „Glaube.“
    „Nur die Barbaren des Nordens mischen Glauben mit Magie. Ich erwarte vieles von meinen Schülern, doch Glaube gehört nicht dazu.“
    „Was ist mit Intelligenz und Wissbegierde?“, versuchte es ein anderer.
    „Es muss wirklich schlimm stehen um die Jugend“, seufzte Arathus, „wenn sie nicht fähig ist, EINE Tugend zu nennen, wenn man auch nur nach EINER fragt. Aber vermutlich denkst du armer Narr, Intelligenz und Wissbegierde seien das selbe. Wisse, dass sie nichts miteinander zu tun haben. Und jetzt verschwinde von hier. Immerhin hast du alles von mir gelernt, was ich dir beibringen kann und deshalb bist du doch erst hergekommen, oder?“ Arathus wartete, bis auch dieser Anwärter sich aus seiner Starre gelöst hatte und durch die Tür verschwunden war.
    „Gerechtigkeit“, war das Nächste, womit einer der Anwesenden versuchte, Arathus’ Gunst zu erlangen.
    „Gerechtigkeit ist Krieg“, entgegnete dieser nur kalt.
    „Mäßigung.“
    Nun lachte der Magier erstmals, doch seltsamerweise war dies keine Erleichterung sondern ließ ihn nur noch bedrohlicher wirken. „Vielleicht solltest du besser zu den Mönchen von Burjaki gehen, wenn Mäßigung oder gar Askese sind, was du suchst.“
    „Ist es Verständigkeit?“, wollte jemand wissen.
    „Es ist die höchste unter den Tugenden“, entgegnete Arathus schlicht.
    „Also eine Tugend, die andere in sich vereint?“ Barthos war selbst überrascht, als er sich sprechen hörte. Bis eben hatte er keinerlei Idee gehabt, was Arathus meinen könnte, und seine Hoffnung war mit jeder abgeschmetterten Idee eines der anderen gesunken. Als der Magier sich zu ihm umdrehte und sich sein Blick in ihn hineinbohrte, zuckte Barthos zusammen.
    Nach einigen Momenten breitete sich ein höhnisches Lächeln auf dem alten Gesicht aus. „Sieh an. Was haben wir hier? Einen Barbaren aus dem kalten Norden! Und noch dazu ein Feuermagier, der Kleidung nach zu schließen. Und auch noch in Begleitung.“ Sein Blick sprang kurz zu Femo hinüber, bevor er ihn wieder auf Barthos richtete. „Nur zu, Myrtaner! Ich bin gespannt auf deinen Vorschlag. Welche Tugend vereint deiner Meinung nach denn die anderen in sich?“
    „Nun ja…“ Barthos zögerte. Er hatte eine Idee, doch eine solche hatten schon vor ihm viele in diesem Raum gehabt und hatten damit daneben gelegen.
    „Ich warte“, sagte Arathus ungeduldig.
    Andererseits hatte er auch nichts zu verlieren… „Nun, Verständigkeit und Intelligenz und… und Liebe und…“ Er schluckte schwer. In seinem Hals saß ein dicker Kloß. Was er jetzt sagte, konnte alles entscheiden. Die Blicke der übrigen Anwesenden sprachen Bände: Wenn sie es nicht errieten, wie sollte es diesem myrtanischen Barbaren gelingen? „All diese Tugenden“, fuhr Barthos mit belegter Stimme fort. „Vereint doch die Weisheit in sich, ist es nicht so?“
    Einen Moment herrschte Stille, dann wandte Arathus sich von ihm ab. Schon glaubte Barthos, etwas Falsches gesagt zu haben, doch dann sagte der alte Meister laut: „Die Weisheit ist es, die alle bedeutenden Tugenden vereint. Die Weisheit ist die einzige Tugend, die es verdient, als göttlich bezeichnet zu werden. Die Weisheit ist der Schlüssel zu vollkommener Erkenntnis. Ein Magier, der wahrhaft mächtig werden, der die Magie wahrhaft verstehen will, muss deshalb zugleich Philosoph sein. Und ich spreche nicht von einem verkalkten Schwafler und Theoretiker, der mit dem Leben, über das er zu philosophieren meint, nie in Berührung kommt, ich spreche von einem Philosophen im eigentlichen Sinne des Wortes.“ Er legte eine kurze Pause ein, in der keiner auch nur zu atmen wagte, dann sagte er: „Damit habt ihr alle mehr über die Magie gelernt, als eure Meister in der Akademie euch je beibringen werden. Und nun verschwindet, ich habe meinen Schüler.“ Die lauten Äußerungen von Wut und Enttäuschung nicht beachtend, wandte sich Arathus wieder Barthos zu. „Besitzt du irgendwelche Habseligkeiten, die du mitzunehmen wünschst?“
    „Was?“ Barthos, der noch gar nicht wirklich glauben konnte, was hier gerade passiert war, blickte den Magier verwirrt an. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Nein, ich habe nichts.“
    „Das ist gut, denn ich möchte so schnell wie möglich aufbrechen. Wenn wir jetzt losreiten, erreichen wir morgen Abend mein Heim. Komm mit mir.“ Arathus wirbelte herum und rauschte in Richtung Ausgang.
    „Ähm, Meister Arathus…“, hob Barthos zögernd die Stimme.
    Der Magier blieb stehen und wandte sich herum. „Ja?“ Ungeduld lag in seiner Stimme. Eine Augenbraue hatte er bedrohlich angehoben.
    „Kann mein Freund mitkommen?“ Er deutete auf Femo, der ebenso wie Barthos erst dabei war, das gerade Geschehene zu begreifen und bei diesen Worten aus einer Trance zu erwachen schien.
    „Nein.“ Arathus wandte sich um und strebte wieder dem Ausgang zu.
    „Aber…“
    „Er hat meine Frage nicht beantwortet. Außerdem bin ich hierher gekommen, um EINEN Schüler aufzunehmen, nicht zwei“, sagte Arathus kalt, ohne stehen zu bleiben und fügte dann murmelnd hinzu: „Offenbar bringt man den Kindern heute nicht einmal mehr das Zählen bei.“
    Barthos zögerte kurz, dann, als Arathus gerade die Tür erreicht hatte, sagte er mit fester Stimme: „Wenn mein Freund nicht mitkommen darf, komme ich auch nicht mit.“
    Der Magier drehte sich herum. Langsam, wie in Zeitlupe. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich. Er musterte erst Barthos von Kopf bis Fuß, dann Femo, dann wieder Barthos. Dann lächelte er. „Ich sehe, ich habe eine gute Wahl getroffen. Es sollte eine interessante Zeit werden mit euch beiden.“
    Geändert von Jünger des Xardas (23.07.2011 um 11:56 Uhr)

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    Arathus’ Heim


    Arathus lebte knappe zwei Tagesreisen westlich von Agadir. In Abgeschiedenheit, um sich auf die Wesentlichen Dinge konzentrieren zu können, wie er sagte. Unterwegs sprachen sie nicht. Er erklärte knapp, dass er auf Reisen wenig gesprächig sei und sich noch früh genug mit Barthos und Femo befassen würde. Ihre Namen waren das einzige, wonach er sie gefragt hatte.
    Die Sonne stand tief und warf nur noch einen violetten Streifen auf den ansonsten schwarzen Himmel, als sie ihr Ziel erreichten: Den nördlichsten Ausläufer des Arakusch, an dessen steilen Hang sich Arathus’ Heimstatt befand. Offenbar war die Behausung des Magiers in den Berg hineingehauen worden, denn sie schien nur aus einer mächtigen, von Säulen gesäumten Fassade zu bestehen, die an einen antiken Tempel erinnerte.
    Sie ritten mit ihren Kamelen eine in den Fels gehauene Rampe hinauf. Als sie näherkamen, stellte Barthos staunend fest, dass die Fassade komplett aus dem Fels gehschlagen war, selbst die davor aufragenden Säulen.
    „Lassen wir die Kamele einfach hier stehen?“, fragte Femo, als sie abgestiegen waren und Arathus schon die wenigen Stufen zum im Vergleich zur mächtigen Fassade recht kleinen Eingangsportal hinaufschritt.
    „Ja. Sie werden gleich in den Stall geführt werden. Macht euch darüber keine Gedanken“, erklärte der Magier, ohne sich umzuwenden.
    Barthos und Femo wechselten einen Blick.
    „Er hat Diener hier?“
    „Was hast du erwartet?“, entgegnete Barthos. „Ich will gar nicht wissen, wie groß das Teil von innen ist.“ Er grinste. „Einer muss da ja saubermachen.“
    Sie folgten ihrem neuen Meister die Treppe hinauf und durch das Eingangsportal in einen rechteckigen Vorraum mit niedriger Decke. Die Heimstatt des Magiers war tatsächlich in den Berg gehauen. Barthos und Femo sahen sich um. Öllampen tauchten den Raum in ein behagliches Licht. Ein kostbarer Teppich lag ausgebreitet auf dem völlig glatten Steinboden.
    Plötzlich öffnete sich die Tür vor ihnen und eine sehr kleine Frau – sie konnte nicht viel größer sein als anderthalb Meter – trat heraus. „Meister Arathus!“ Sie verbeugte sich leicht und lächelte dabei überglücklich. „Endlich seid Ihr zurück!“
    „Ich freue mich auch, wieder hier zu sein, Shirin.“ Erstmals sah Barthos den Magier lächeln.
    Doch sein Blick galt viel eher der Frau, die Arathus als Shirin angesprochen hatte. Nie zuvor hatte er eine solche Frau gesehen. Wenn die Worte „wunderschön“, „hinreißend“ oder „perfekt“ für eine bestimmte Person erfunden worden waren, dann ganz gewiss für diese Frau. Ihre Füße steckten in hölzernen Sandalen mit hohen Sohlen, deren genaue Höhe sich nicht abschätzen ließ, da die Füße selbst bereits von dem schlichten Gewand aus türkiesgrüner Seide verhüllt wurden, das die Frau am Leib trug und dessen lange Ärmel ihre kleinen, zierlichen Hände halb verdeckten. Ihr tiefschwarzes Haar, von dem ein intensiver Patschuliduft ausging war zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt. Ihr dunkler, cremefarbener Teint verriet, dass sie nicht aus Ariabia kam sondern vermutlich Varantinerin war. Und schließlich waren da ihre strahlenden braunen Augen, die sie bei ihrem glücklichen Lächeln leicht zusammenkniff.
    „Wie du siehst, habe ich mich entschlossen, zwei Schüler bei uns aufzunehmen“, erklärte Arathus der Frau, während Barthos sie noch musterte. „Ich wünsche, dass sie beide gebadet und ordentlich eingekleidet werden. In einer Stunde werden wir gemeinsam speisen. In der Zwischenzeit werde ich mich in meine Gemächer zurückziehen.“
    Shirin verbeugte sich ein weiteres Mal. „Sehr wohl“, sagte sie, noch immer lächelnd. Während Arathus an ihr vorbeischritt, wandte sie sich Barthos und Femo zu und verbeugte sich nun auch vor ihnen. „Ich freue mich, euch willkommenheißen zu dürfen. Mein Name ist Shirin.“
    „Femo. Freut mich.“ Barthos’ Freund neigte leicht das Haupt und streckte die Hand aus.
    „Barthos, sehr erfreut.“ Auch er streckte die Hand aus.
    Shirins Lächeln wandelte sich in ein schelmisches Grinsen, als sie nacheinander Femos und Barthos’ Hand schüttelte. „Bitte folgt mir“, forderte sie die beiden dann auf.
    Sie taten, wie ihnen geheißen, und folgten Shirin durch die Tür, durch die sie gekommen war, auf einen parallel zur Felswand verlaufenden Gang mit vielen Türen zu beiden Seiten. Hier wandten sie sich nach rechts. Während sie durch weitere Gänge schritten, ruhte Barthos’ Blick auf dem mehr als wohlgeformten Hintern ihrer Führerin. Schließlich erreichten sie einen großen, gekachelten Raum, dessen Wände von Mosaiken verziert wurden und in dessen Mitte sich ein großes, wassergefülltes Becken befand. Shirin zog an einer Kordel, die direkt neben dem Eingang von der Decke hing. Das Bimmeln eines Glöckchen erklang. „Ich muss jetzt in die Küche und Bescheid sagen, dass wir zwei Gäste haben“, erklärte sie. „Wir haben mit nur einem Schüler gerechnet. Bitte habt einen Moment Geduld.“ Und schon war sie durch die Tür verschwunden.
    Femo und Barthos blieben leicht unschlüssig zurück, beide etwas überfordert mit der Situation. Was sie hier vorfanden, entsprach nicht annährend ihren Vorstellungen von der Behausung eines mächtigen Magiers, der sich in die Einsamkeit zurückgezogen hatte.
    Sie mussten keine Minute warten, da öffnete sich eine zweite Tür auf der anderen Seite des Raumes und zwei weitere Frauen traten ein. Beide waren größer als Shirin, standen ihr aber an Schönheit in nichts nach. Sie trugen die gleichen Gewänder, wenn auch in himmelblau und korallrot. Beide waren jedoch offensichtlich keine Varantinerinnen. Die Frau in dem blauen Gewandt hatte weiße, blasse Haut und rotes Haar wie die Menschen aus Nordmar. Die andere Frau war dunkelhäutig, doch ihren Gesichtszügen nach zu urteilen, die eher den hellhäutigen Menschen Midlands ähnelten, stammte sie aus Kitai. Beide verbeugten sich. „Herzlich willkommen“, begrüßte sie die Nordmarerin. „Mein Name ist Swanhild.“
    „Und ich heiße Indrakshi“, stellte sich die zweite Frau vor. „Wir wurden mit der Aufgabe betraut, euch zu baden.“
    „Äh, uns baden?“ Barthos spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg.
    „Ja, so hat es Meister Arathus angeordnet“, bestätigte Swanhild lächelnd.
    „Ich würde gerne allein baden“, sagte Femo hastig.
    „Oh, aber es gibt kein Problem“, versicherte Indrakshi. „Wir haben viel Erfahrung. Du wirst zufrieden mit unseren Diensten sein.“
    „Ich behalte trotzdem gerne meine Privatsphäre, wenn es nicht ausmacht. Macht ihr nur. Ich wasche mich dann schnell alleine, wenn ihr fertig seid.“ Ohne den beiden Frauen eine Möglichkeit zur Antwort zu lassen, stürmte Femo nach draußen und schloss die Tür hinter sich.
    Die fragenden Blicke der beiden richteten sich auf Barthos. „Stimmt etwas mit ihm nicht?“, wollte Swanhild wissen.
    „Ich… äh, keine Ahnung.“ Tatsächlich wusste Barthos nicht, was mit Femo los war. Er war aber momentan auch nicht in der Lage, weiter über Femos Verhalten nachzudenken. Sein Verstand schien nämlich mit seinem Freund durch die Tür verschwunden zu sein.
    „Nun, wenn es sein Wunsch ist.“ Die Nordmarerin zuckte mit den Schultern. „Dann werden wir uns eben beide um dich kümmern.“
    Ehe er wusste, wie ihm geschah, hatte sie seinen Gürtel gelöst und nahm ihm seine lederne Schärpe ab. Barthos spürte, wie sein Blut dieses Mal in andere Regionen seines Körpers schoss. „Äh, ich kann das auch alleine“, sagte er hastig und schob sanft ihren Arm beiseite, als sie ihm die Robe über den Kopf ziehen wollte.
    „Oh. Ganz wie du meinst.“
    Barthos wartete einen Moment, um den beiden Frauen Zeit zu geben, den Raum zu verlassen. Schließlich geziemte es sich nicht, sich vor Damen zu entkleiden. Die beiden dachten jedoch nicht daran, zu gehen. Stattdessen musste er mit ansehen, wie sie sich nun selbst ohne jede Scham auszogen. Ihm stockte der Atem bei dem, was sie ihm da offenbarten.
    „Sollen wir dir vielleicht doch helfen?“, fragte Indrakshi lächelnd, als sie beide völlig nackt vor ihm standen, während er noch immer keine Anstalten gemacht hatte, sich seiner Robe zu entledigen. Ohne eine Antwort abzuwarten, streifte sie sie ihm über den Kopf und befreite ihn dann auch von seinem Unterkleid. Die beiden Frauen kicherten wie kleine Mädchen, als sie sahen, dass ihn das Geschehen nicht kalt ließ. Sein Gesicht lief unterdessen puterot an. Die Reaktion seines Körpers war ihm mehr als peinlich. Indrakshi und Swanhild schienen sich jedoch nicht weiter daran zu stören, nahmen ihn zwischen ihre Mitte und bugsierten ihn mit sanfter Gewalt in das Becken. Barthos leistete keinen Widerstand. Längst war er zu keinem klaren Gedanken und zu keiner eigenen Handlung mehr fähig. Das Wasser war angenehm warm und er genoss, wie es seinen Körper umschmeichelte. Die beiden Frauen hatten plötzlich duftende Seifen in den Händen und begannen ihn so gründlich zu waschen, wie es nicht einmal seine Amme vor so vielen Jahren getan hatte. Er ließ es sich gefallen und schloss sogar wohlig die Augen, bis er plötzlich eine Berührung zwischen seinen Beinen spürte. Er schlug die Augen auf und sah direkt in Indrakshis Gesicht. „Äh… du musst das nicht…“
    Sie lächelte lasziv. „Gefällt es dir nicht?“, fragte sie mit verführerischer Stimme.
    „Doch, schon aber…“ Er stöhnte auf, als Indrakshi ihre Arbeit grinsend fortsetzte.
    „Mach dir nicht so viele Gedanken und genieße es einfach“; vernahm er Swanhilds Stimme an seinem Ohre, während ihre Hände sanft seinen Rücken wuschen.
    Barthos folgte der Aufforderung. Abermals schloss er die Augen. Schnell vergaß er seine Scham und entspannte sich unter den wohltuenden Berührungen. Er genoss, wie sie den Schmutz und damit auch alle Strapazen der letzten Monate von ihm abwuschen. Er ließ sich von ihnen wieder aus dem Becken und auf eine Liege führen, wo Indrakshi ihn zu massieren begann, während Swanhild ihn mit duftenden Ölen einrieb. Barthos war gar nicht bewusst gewesen, wie verspannt seine Muskeln gewesen waren. Doch als die beiden Frauen mit ihrer Behandlung fertig waren und ihn in einen bequemen mit Blumenmustern verzierten Umhang kleideten, fühlte er sich wie neugeboren.
    „Ich hoffe, du bist zufrieden mit unseren Diensten?“, fragte Swanhild, während sie sein Haar bürstete und dabei eine wohlriechende Salbe in dieses einarbeitete, die es, wie sie gesagt hatte, geschmeidig und fest machen würde.
    Barthos lächelte. „Soll das ein Witz sein? Ihr habt nicht übertrieben vorhin.“ Ihm kam ein Gedanke, der ebenso naheliegend wie unangenehm war. „Sagt mal… macht ihr das häufiger? Also mit Arathus?“
    Indrakshi kicherte. „Täglich.“
    Das hatte er befürchtet. Er verfluchte sich dafür, dass er die Frage überhaupt gestellt hatte, denn nun hatte er ein Bild vor seinem inneren Auge, auf das er gut und gerne hätte verzichten können.

    Femo saß im Korridor, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Als die Tür sich öffnete, sprang er in die Höhe. „Und, hast du dich amü…?“ Er brach ab und musterte Barthos von oben bis unten. „Hey, du siehst…“ – er zögerte, dann sagte er mit veränderter Stimme: „…gut aus! Und… du riechst gut.“
    „Danke“, sagte Barthos zögernd und spürte, wie er errötete.
    „Bist du sicher, dass du allein baden möchtest?“, fragte Swanhild, die hinter Barthos durch die Tür getreten war.
    „Ganz sicher“, antwortete Femo und verschwand durch die Tür.

    Wenig später führten die beiden Frauen die frischgewaschenen Feuermagier durch die Korridore zum Speisesaal. Barthos beschloss, dass „Palast“ wohl die treffendste Bezeichnung für dieses Gebäude war, das zwar klein wirkte verglichen mit Agadirs Prachtbauten, aber jeden Fürsten Myrtanas vor Neid hätte erblassen lassen.
    Der Speisesaal war ein großer, behaglicher Raum, dessen Wände von bunten Mosaiken geschmückt wurden. Die beiden Frauen ließen sie an einer großen Tafel in der Mitte des Raumes Platz nehmen und verschwanden dann.
    Kaum waren sie weg, öffnete sich eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Shirin trat ein, gefolgt von Arathus. Als der Hausherr am Ende der Tafel Platz genommen hatte, klatschte sie in die Hände. Sofort betraten drei weitere Frauen den Raum. Die erste von ihnen hatte lockiges blondes Haar und himmelblaue Augen und war in ein tiefgrünes Gewandt gekleidet. Ihr folgte eine schwarzhaarige Schönheit mit olivefarbenem Teint und gelber Kleidung. Das Schlusslicht bildete eine dunkelhäutige Ariabierin in violettem Gewandt. Alle drei trugen Tablette mit erlesenen Speisen darauf, die sie auf der Tafel abstellten. Dann verbeugten sie sich und traten zurück.
    „Meine Herren.“ Arathus hob den Kopf und blickte Femo und Barthos in die Gesichter. „Es ist angerichtet.“
    Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen. Nach den recht gewöhnungsbedürftigen Speisen der Steppenbewohner und dem Fraß in den billigen Herbergen Agadirs wäre ihnen sogar das Essen, welches man den Novizen im Kloster vorsetzte, wie eine Offenbarung vorgekommen. Hier jedoch durften sie die berühmte ariabische Küche genießen. Da gab es Reis in allen Farben und Geschmacksrichtungen, geräucherten Fisch, Goblinbeersalat, Fleischsoßen und Sirup aus Walnüssen und Granatäpfeln. Dazu roten Tränenpfeffer, Orangensaft, Safran und gemahlene Drachenwurzeln als Gewürze.
    Während sie sich über die Speisen hermachten, entfernten sich die Frauen bis auf Shirin, die sich hinter Arathus stellte, die Pentagrammbrosche an seinem Turban entfernte und diesen dann langsam und umsichtig aufwickelte, ohne dass dieser sich davon stören ließ.
    „Ich möchte einige Dinge klarstellen, bevor ich morgen früh mit eurem Unterricht beginne“, ergriff Arathus nach einer Weile das Wort. „Dass ich von euch erwarte, dass ihr meinen Anweisungen Folge leistet und dass ich Faulheit nicht dulde, dürfte sich von selbst verstehen und bedarf im Grunde keiner Erwähnung. Ich verlange ferner absolute Ehrlichkeit. Es ist legitim, dass jeder von uns seine kleinen Geheimnisse hat und eure kümmern mich nicht, genauso wie ich erwarte, dass euch die meinen nicht kümmern. Ehrlichkeit bedeutet nicht Offenheit. Ich habe kein Problem damit, wenn man etwas vor mir verbirgt, was mich nichts angeht. Wenn ihr mir aber etwas erzählt, erwarte ich, dass es sich um nichts anderes als die Wahrheit handelt – oder zumindest, was ihr dafür halten mögt. Selbstverständlich werde ich es umgekehrt genauso halten. Ein Lehrer sollte seine eigenen Regeln nicht brechen.“ Shirin hatte den Turban vollständig aufgewickelt und einen völlig kahlen Schädel zum Vorschein gebracht. Sie zückte nun ein kleines Fläschchen, das sie wer weiß woher nahm, und träufelte daraus vorsichtig drei Tropfen einer klaren Flüssigkeit auf Arathus’ Glatze. Dieser zuckte schon beim ersten zusammen und verzog das Gesicht. „Verdammt, du sollst mich doch vorwarnen! Kleines Miststück!“, fügte er zischend hinzu, als Shirin nur schadenfroh kicherte.
    „Was ist das für ein Mittel?“, fragte Femo interessiert, während Shirin begann, es ihn Arathus’ Kopfhaut einzumassieren.
    „Es hält die Haut jung“, erwiderte der Magier schlicht und schob sich etwas Reis in den Mund. Er lachte, als er die zweifelnden Gesichter seiner Schüler sah. „Es vollbringt keine Wunder. Aber ihr wollt nicht wissen, wie meine Kopfhaut ohne es aussähe. Leider“ – er verzog das Gesicht – „ist es eiskalt. Aber das lässt sich nicht vermeiden. Wie dem auch sei. Ich möchte noch weitere Dinge unmissverständlich klarstellen: Meine Konkubinen sind nicht Teil des Inventars. Ich schätze sie sehr und sie werden Teile eures Unterrichts übernehmen. Ich erwarte also, dass ihr ihnen mit dem nötigen Respekt begegnet.“
    Beim Wort „Konkubinen“ waren Barthos’ und Femos Blicke zu Shirin gehuscht, die noch immer mit ihrer Arbeit an Arathus’ Schädel beschäftigt war. Nach dem Bad hatte Barthos etwas Derartiges geahnt, dennoch wollte und konnte er sich nicht vorstellen, wie der alte Arathus sich mit diesen jungen Frauen vergnügte, von denen eine schöner war als die andere – ganz gleich, in welcher Reihenfolge man sie betrachtete.
    „Zudem möchte ich nicht, dass bei euch falsche Vorstellungen entstehen, etwa aufgrund dessen, was bei eurem Bad geschehen sein mag.“ Arathus fixierte sie mit seinen Augen und wieder einmal ließ dieser durchdringende Blick sie unwillkürlich zusammenzucken. „Meine Konkubinen stehen nicht zu eurer freien Verfügung. Sie wissen das, doch ich sage es euch, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen und für den Fall…“ Sein Blick wanderte hinauf zu Shirin, die scheinbar abwesend seine Kopfhaut massierte, und seine Stimme nahm einen etwas schärferen Ton an: „…dass sie selbst es vergessen sollten.“ Shirins Mundwinkel zuckten schalkhaft, doch sie hob weder den Blick, noch unterbrach sie ihre Arbeit.
    „Wenn ich fragen dürfte…“, ergriff Barthos nach einer Weile das Wort, in der sie alle schweigend weitergegessen hatten. Er brach ab und wartete auf Arathus’ Erlaubnis. Es schien ihm klüger, im Gespräch mit diesem Mann nicht zu vergessen, dass er nur der Schüler war.
    Er hatte sich jedoch getäuscht. Arathus aß erst schweigend weiter und blickte dann, nach mehreren Minuten auf. „Ja?“, fragte er und seine Augenbrauen hatten sich wieder ungeduldig erhoben. „Was ist? Wartest du auf eine Erlaubnis, zu sprechen? Ich hoffe nicht, denn dann müsste ich meine Wahl überdenken. Ich brauche keine ergebenen Diener, die vor Ehrfurcht erstarren, wenn ich den Raum betrete. Stünde mir danach der Sinn, würde ich an der Akademie unterrichten oder in den Staatsdienst zurückkehren. Wenn ihr eine Frage habt, dann stellt sie.“
    Barthos schluckte. Er wollte es Arathus recht machen, ihm keinen Grund geben, mit seinem Schüler unzufrieden zu sein. Doch das war offenbar nicht so einfach, wie gedacht. „Nun, ich wollte eigentlich nur wissen, wie viele Menschen hier leben“, beeilte er sich, zu erklären. Vor allem wollte er wissen, auf wie viele betörendschöne Frauen er sich noch gefasst machen musste.
    „Genau zehn Personen. Ich, ihr beide und meine sieben Konkubinen.“ Als er den Ausdruck in den Gesichtern seiner Schüler sah, grinste er nur. „Der Mogul hat eine Frau für jeden Tag im Jahr. Ich war schon immer ein bescheidener Mann und begnüge mich als solcher mit einer für jeden Tag in der Woche.“
    Offensichtlich galt auf Ariabia eine andere Definition des Wortes „Bescheidenheit“, dachte Barthos sich stumm. Gleichzeitig huschte sein Blick wieder zu Shirin, die ihre Arbeit stumm fortführte und entweder nicht bemerkte, dass er sie anstarrte, oder zumindest so tat.
    Schweigend beendeten sie das Mahl. Am Ende fühlte Barthos sich so satt wie noch nie zuvor in seinem Leben und ein Seitenblick auf Femo sagte ihm, dass es seinem Freund ähnlich gehen musste.
    Arathus erhob sich als erster. Augenblicklich klatschte Shirin in die Hände, woraufhin die drei Frauen von vorhin eintraten und den Tisch abräumten. Arathus hielt die schwarze Konkubine zurück. „Nasrin, komm bitte gleich in mein Gemach. Du weißt, ich musste fast zwei Wochen im Palast von Agadir zubringen und die Frauen, die der Mogul seinen Gästen zur Verfügung stellt, sind einfach nicht, was sie noch unter seinem Großvater waren.“
    Lächelnd drückte die Ariabierin dem Hausherrn einen Kuss auf die Wange. „Nun seid Ihr ja wieder in guten Händen.“ Mit diesen Worten verschwand sie hinter ihren Gefährtinnen.
    „Shirin, du wirst meine Schüler zu ihren Gemächern führen“, wandte sich Arathus an die verbliebene Konkubine. „Vorher ist da allerdings noch eine letzte Sache.“ Er richtete den Blick wieder auf Barthos und Femo. „Euch wird in den nächsten Tagen gewiss eine eiserne Tür in diesem Haus auffallen. Was sich dahinter befindet, zähle ich zu den kleinen Geheimnissen, die euch nicht zu kümmern haben. Ich erwarte, dass diese Tür nicht angerührt wird. Ihr werdet feststellen, dass mein Heim auch ohne diesen einen Raum mehr als groß genug ist, um sich die Beine zu vertreten.“ Obwohl dies wohl ein Scherz sein sollte und er dabei lächelte, lag in Arathus’ Stimme eine Schärfe, die sie beim Vortragen der übrigen Regeln nicht gehabt hatte. Doch Barthos war viel zu satt und viel zu müde, um darüber nachzudenken.
    Arathus ging ohne ein weiteres Wort und ließ sie mit Shirin zurück, die die beiden zu ihren Schlafzimmern führte. Beide wären sicherlich auch für den Erzmagier mehr als gut genug gewesen. Barthos hatte sich kaum in sein riesiges Bett gelegt, da war er auch schon eingeschlafen.
    Geändert von Jünger des Xardas (23.07.2011 um 16:47 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Barthos erwachte, als sich etwas zwischen seinen Beinen zu schaffen machte. Einen Moment genoss er das Gefühl, dann erwachte auch sein Verstand und erfasste die Situation. Er riss die Augen auf und sah vor sich neben dem Bett Shirin stehen. Sie lächelte ihn mit diesem wunderbar unschuldigen Lächeln an, das ihn schon gestern Abend verzaubert hatte. „Guten Morgen. Es ist Zeit zum Aufstehen.“
    Barthos ließ seinen Blick vorsichtig nach unten wandern, um zu sehen, ob sie nicht vielleicht eine Hand unter die Bettdecke geschoben hatte. Verwundert hätte es ihn nach dem letzten Abend nicht. Doch da war nichts.
    Die Konkubine blickte ihn verwundert an. „Stimmt etwas nicht?“, fragte sie noch immer völlig unschuldig.
    „Nein, nein, alles in Ordnung“, sagte er hastig. Hatte er sich das nur eingebildet? Er beschloss, Shirin lieber nichts davon wissen zu lassen, und erhob sich aus dem Bett. Auf einer kleinen Kommode daneben waren frische Kleider für ihn ausgebreitet worden. Gerade wollte er sich diesen zuwenden, da hörte er hinter sich in leises Kichern. Er fuhr herum und erblickte eine Frau mit mandelfarbenem, leicht welligem Haar in seinem Bett. Sie musste direkt hinter ihm gelegen haben. Auch Shirin brach nun in mädchenhaftes Gekicher aus. Während die beiden Frauen noch um die Wette feixten, wandte Barthos sich wieder den Kleidern zu. Das konnte ja noch eine lustige Zeit werden…
    „Oh, ich mache das schon für dich.“ Die brünette Konkubine schwang sich aus dem Bett und begann ihn aus den Kleidern vom vorigen Abend zu schälen. Jetzt aus der Nähe fielen ihm ihre grauen Augen und die besonders feinen Wimpern auf. Wie zu erwarten, war die letzte der Konkubinen ebenso schön wie die sechs anderen. „Ich musste mich gestern Abend um die Kamele kümmern. Aber ich will doch auch mal meine Landsleute kennen lernen“, sagte sie, als sie ihm ein seidenes Tuch als Gürtel um die Hüfte wickelte.
    „Landsleute?“
    „Ja, ich komme auch vom Archipel. Aus Parthalan. Ich heiße Geneviève.“
    „Ich bin Barthos.“
    „Ich weiß. Das haben mir die anderen schon erzählt. Und alles Übrige auch.“ Sie zwinkerte zweideutig.
    „Ihr habt noch genug Zeit zum Plaudern“, meldete sich Shirin, die nun ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden trommelte. „Meister Arathus wartet nicht gern. Wenn du also vor dem Unterricht noch Frühstücken willst, dann kommst du jetzt.“
    Auf sein Frühstück wollte Barthos nicht verzichten, also folgte er Shirin zum Speisesaal. Irgendwie gefiel ihm das klackernde Geräusch ihrer hölzernen Sohlen auf dem Steinboden. Fast so sehr wie das leichte Schwingen ihrer Hüften.
    Femo saß bereits essend an der großen Tafel, die heute morgen zwar nicht ganz so reich, aber noch immer mehr als üppig gedeckt war. „Morgen“, wünschte Barthos fröhlich und ließ sich auf seinem Platz nieder, während sich das Klackern von Shirins Schuhen langsam wieder entfernte.
    „Mohen“, nuschelte Femo mit vollem Mund.
    „Sag mal…“ Barthos sah sich um, ob niemand in der Nähe war, und beugte sich dann leicht vor. „Wie haben sie dich geweckt? Lag bei dir auch eine von ihnen in deinem Bett?“
    Femos Gesichtsausdruck verfinsterte sich kaum merklich. Er nickte. „Ich hoffe, die Türen lassen sich verschließen.“
    „Na ja.“ Barthos grinste. „Ganz unter uns: Ich könnte mich schon dran gewöhnen.“
    Ein Kichern erklang in Barthos’ Rücken. Erschrocken fuhr sein Blick zur Tür, die, wie er nun feststellte, nur leicht angelehnt gewesen war. Schnelles Klackern von zwei Paar Schuhen verriet ihm, dass zwei der Konkubinen gelauscht haben mussten und jetzt davonrannten. „Scheint, als wäre man vor denen nie sicher.“ Grinsend wandte Barthos sich wieder seinem Essen zu. Ja, er würde sich schon an die sieben Konkubinen gewöhnen. Die anfängliche Scham war bereits von ihm abgefallen. Die war bei diesen Frauen völlig fehl am Platz, so viel hatte er bereits begriffen.
    „Ich weiß noch nicht ganz, was ich von diesen Konkubinen halten soll“, gab Femo zu. „Sie scheinen ganz nett zu sein. Etwas… albern vielleicht. Aber ganz geheuer sind sie mir nicht. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie Magierinnen sind.“
    Verwirrt blicke Barthos auf. „Wieso sollten sie das auch sein?“
    „Arathus meinte doch, sie würden einen Teil unserer Ausbildung übernehmen.“
    „Meinte er?“
    Femo rollte mit den Augen. „Du bist nicht nur ein typischer Adliger sondern auch ein typischer Kerl. Kaum wackelt ein süßer Arsch vor deiner Nase rum, hörst du nur noch jedes dritte Wort, was?“
    Barthos senkte beschämt den Blick und konzentrierte sich ganz auf sein Essen. Er konnte nicht leugnen, dass Femo Recht hatte.
    Ein Klackern hinter der noch immer nur angelehnten Tür kündigte Shirins Rückkehr an. Barthos fragte sich, ob sie eine der beiden Lauscherinnen gewesen war. Zwar trug sie wieder ihr unschuldiges Lächeln, aber er hatte bereits gelernt, dass das nicht viel heißen musste. Anstatt weiter darüber nachzusinnen, kam er jedoch zu dem Schluss, dass es völlig egal war, wer sie nun belauscht hatte. Er war sich ziemlich sicher, dass sich die Konkubinen ohnehin alles erzählten, vor allem nach Genevièves Aussage vorhin.
    „Meister Arathus erwartet euch in seinem Studienzimmer“, erklärte Shirin ohne Umschweife. Barthos hatte zwar noch nicht aufgegessen, doch ihr Blick machte deutlich, dass der Meister nicht gewillt war, zu warten.

    Das Studienzimmer war ein großer, behaglicher Raum, dessen Wände bis auf den letzten Zentimeter mit Bücherregalen vollgestellt waren. Arathus saß auf einem Lager aus Kissen in der Raummitte, das Ende einer Wasserpfeife im Mund, und forderte seine beiden Schüler mit einer Handbewegung auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Shirin entfernte sich wortlos.
    „Nun denn“, ergriff Arathus das Wort. „Beginnen wir mit der Frage, was zwei Feuermagier dazu treibt, in Agadir nach einem Lehrmeister zu suchen, der ihnen die wahre Magie beibringt. Ich gebe zu, eure Anwesenheit in der Akademie hat mich überrascht. Das war einer der Gründe, weshalb ich gerade euch wählte.“
    Barthos zögerte, denn er musste selbst erst über die Antwort auf diese Frage nachdenken. So kam Femo ihm zuvor: „Ich komme vom Östlichen Archipel. Aus einem kleinen, armen Dorf. Mein Vater ist Hufschmied. Ich will nicht das Leben meines Standes führen. Ich will mir nicht durch meine Herkunft mein Schicksal vorschreiben lassen. Ich will es zu etwas bringen. Deshalb will ich so viel wie möglich lernen. Und deshalb will ich lernen, die Magie zu beherrschen. Ins Kloster bin ich nur deswegen eingetreten, nicht aus religiösen Gründen. Aber sie haben uns beide in die Steppen südlich des Arakusch geschickt. Als Missionare. Das war nicht, was ich mir vorgestellt hatte. Und ich habe erkannt, dass ich es mit den Runen nicht zu mehr bringe als zu ein paar Taschenspielertricks. Also habe ich den Orden kurzerhand verlassen.“
    Arathus lächelte ein unergründliches Lächeln. „Ich verstehe“, sagte er langsam. Ein nachdenklicher Ausdruck trat in sein Gesicht. „Ich riet dem Großvater des amtierenden Moguls seinerzeit, die Missionare allesamt außer Landes zu werfen. Leider zog er es vor, seiner elften Nebenfrau Gehör zu schenken, die sich bereits zum Innosglauben hatte bekehren lassen. Eure Kirche ist mir bis heute ein Rätsel.“
    „Inwiefern?“, wollte Barthos wissen.
    „Nun, ich bin als ehemaliger Großwesir vier unterschiedlicher Herrscher durchaus mit politischen Ränkespielen vertraut. Die Feuerkirche aber legt, obwohl – oder vielleicht weil – sie aus ungebildeten Barbaren besteht, eine erschreckende Rücksichtslosigkeit an den Tag. Während die meisten Personen oder Gruppierungen, die auf den Mogul Einfluss zu nehmen suchten, nur die eigene Position stärken wollten, trachtet diese Kirche danach, nicht im Rahmen des bestehenden Systems an Macht zu gewinnen, sondern es völlig umzuformen. Dabei nimmt sie auch die daraus möglicherweise erstehende völlige Zerstörung dessen in Kauf, was innerhalb des bestehenden Systems existiert. Sie geht dabei derart kurzsichtig vor, dass sie gar auf die eigene Zerstörung hinarbeitet.“ Er nahm nachdenklich einen Zug an seiner Wasserpfeife und blies dann den Rauch versonnen in die Luft. „Zudem ist ihr religiöser Eifer bemerkenswert. Es mag an der religiösen Vielfalt der Südlichen Inseln liegen, doch ein solcher Fanatismus ist uns hier fremd. Ich habe – schon vor vielen, vielen Jahren – dieses Thema mit kitaischen Gelehrten erörtert, die die These aufstellten, dieser Fanatismus sei Teil ihres Monotheismus, ihres universellen Geltungsanspruchs, der keinen anderen Glauben dulden kann. Ich denke, dass dies den Eifer der Feuerkirche unterstützt, aber nicht erklärt, denn der ariabische Monotheismus hat weniger Fanatiker hervorgebracht, auch wenn die Kitaier das übersehen mögen. Wie dem auch sei.“ Sein Gesicht nahm wieder den gewohnten festen Ausdruck an und er richtete seinen Blick auf Femo. „Du sollst wissen, dass auch ich aus einfachen Verhältnissen stamme. Wie übrigens viele Beamte und Würdenträger am Hofe des Moguls dieser Tage. Auch ich war einst sehr ehrgeizig. Deine Motive sind… verständlich, aber nicht weise. Und Weisheit ist der Schlüssel zur Magie, das werdet ihr noch begreifen oder aber an meinem Unterricht scheitern. Ich rate dir, dir ein anderes Ziel zu setzen, als dir selbst oder anderen beweisen zu wollen, dass auch ein Mensch aus einfachen Verhältnissen ein mächtiger Magier oder großer Gelehrter werden kann. Dieses Ziel wäre gleich in mehrerlei Hinsicht fragwürdig. Und“ – er zog an der Wasserpfeife – „nur, damit wir uns verstehen: Ich erwarte von dir nicht, deine Magie für irgendwelche noblen, selbstlosen Ziele einzusetzen. Ihr seid schließlich hier, um mächtig und weise zu werden, nicht um Ritter zu spielen. Und dies hier ist kein burjakisches Kloster.“ Femo schwieg. Er hatte den Kopf leicht gesenkt und blickte nachdenklich auf die Muster des Teppichs zwischen ihnen und Arathus. Barthos vermochte nicht, zu erraten, was sein Freund dachte. Auch wurde seine Konzentration auf anderes gelenkt, als Arathus’ Blick sich nun in ihn bohrte und ihr Meister fragte: „Und weshalb bist du hier?“
    „Ich bin kein einfacher Mann. Ich bin von Adel, wenn auch von geringem. Mein Vater gab mich ins Kloster und wie Femo wurde ich als Missionar nach Ariabia gesandt. Weder im Kloster, noch hier war ich freiwillig. Am liebsten wäre ich in Geldern verblieben und hätte dort studiert. Aber hier sehe ich nun die Möglichkeit, mein Studium wieder aufzunehmen, wenn auch in anderer Form. Und die Magie hat mich schon immer fasziniert. Die Philosophie auch“, fügte er rasch hinzu.
    Arathus nickte, die Pfeife im Mund. Er stieß etwas Rauch aus, dann sagte er: „Dir rate ich, nicht immer gefallen zu wollen. Ich wette, du warst auf deiner Universität der Primus, doch wir sind weder in Geldern, noch in Ariabia. Du hast es mit mir zu tun und ich werde keine Noten verteilen, sondern Ergebnisse erwarten. Weder erfüllt es mich mit irgendeiner Art von Genugtuung, wenn meine Schüler mich nicht anzusprechen wagen, noch kann man bei mir punkten, indem man mir in allem zustimmt oder vorgibt, meinen Idealen anzuhängen.“ Barthos öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, doch Arathus ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Ich glaube dir aufs Wort, dass dein Interesse für Philosophie ehrlich ist. Dennoch hast du es nur erwähnt, weil ich zuvor erklärt hatte, dass ein Magier Philosoph sein muss, und weil du nun auf ein Lob oder Ähnliches hoffst. Und eben das wünsche ich nicht.“ Er machte eine Pause, in der er an der Pfeife zog. Dieses Mal wagte Barthos es nicht, zu einer Erwiderung anzusetzen. „Zudem hast du vergessen, dass ich sagte, dass ich mit Philosophie ausdrücklich nicht das Geschwätz weltfremder Männer meine, für das du zweifellos schwärmst, sondern die schlichte Liebe zur und damit das Streben nach Weisheit.“ Barthos verfluchte sich innerlich für seine Torheit. Arathus hatte Recht, er versuchte ihm zu gefallen – und genau damit missfiel er ihm.
    Eine lange Zeit des Schweigens trat ein, in der Arathus in unregelmäßigen Abständen an der Wasserpfeife zog. „Habt ihr keine Fragen?“, wollte er nach einiger Zeit wissen. „Wenn ja, so ist nun die Zeit, sie zu stellen. Wenn nicht, so werde ich fortfahren.“
    „Na ja.“ Femo hob das Gesicht und blickte Arathus an. „Ihr wolltet wissen, warum wir Eure Schüler werden wollen. Da wäre es doch passend, zu fragen, warum Ihr einen Schüler wollt.“
    Arathus lächelte. „Das wäre es. Aber es gibt mehrere Antworten auf diese Frage. Ich war lange Zeit Großwesir. Mehrere Jahrzehnte lang. Drei Moguln hatte ich überlebt und auch einem vierten jahrelang gedient, bevor ich aus seinen Diensten austrat. Seitdem statte ich dem Hof nur noch unregelmäßige Besuche ab, wenn der Mogul meinen dringenden Rat erbittet.“
    „Warum habt Ihr Euch zurückgezogen?“, wollte Barthos wissen.
    Arathus’ Brauen zogen sich wütend zusammen. „Der Reihe nach!“, blaffte er. „Das ist schon die zweite Frage, für die eine einzige Antwort nicht ausreicht.“ Seine Züge entspannten sich wieder. „In meiner Zeit bei Hofe lehrte ich gleichzeitig an der Akademie. Auch von ihr zog ich mich zurück, als ich den Dienst als Großwesir aufgab. Seitdem habe ich niemanden mehr zum Magier ausgebildet. Dies soll sich nun ändern. Zu forderst, weil ich etwas Unterhaltung suche und ein Schüler mir diese bieten kann. Ich habe schlicht Lust, einmal wieder mein Wissen weiterzugeben. Dieses Mal frei von den Zwängen der Akademie und gewappnet mit der Weisheit, die ich in den letzten Jahren erwarb. Hinzu kommt, dass ich Wissenschaftler bin. Meine Leidenschaft ist das Forschen. Und kluge Schüler könnten mir dabei helfen.“ Wieder zog er an der Pfeife. Nachdenklich den Rauch ausstoßen, sagte er: „Bestimmte Probleme kann ein Einzelner nicht lösen…“ Ein weiterer Zug folgte, bevor er wieder das Wort ergriff: „Was meinen Rückzug vom Hof und aus der Akademie angeht: Ich war beides nach all den Jahrzehnten schlicht leid. Das politische Geschäft, die Ränke zwischen all den Adligen und Beamten und dann auch noch den Mätressen und Eunuchen, das hatte ich Jahrzehnte ertragen. Ich hatte genug. Gleichsam verhielt es sich mit den Narren, die an der Akademie lehren und lernen. Lieber wollte ich mich ganz meinen Forschungen widmen. Der Alchemie, die Astronomie und natürlich der Magie. Dies alles wurde dadurch unterstützt, dass ich bereits sehr alt war und fühlte, dass ich nur noch wenige Jahre zu leben hatte. Die wollte ich nicht auch noch mit Belanglosem verschwenden.“
    Barthos erschrak. Obwohl Arathus zweifellos alt war, machte er nicht den Eindruck, als stünde er bereits mit einem Bein im Grabe. „Wie lange ist es denn her, dass Ihr Euch zurückgezogen habt?“, fragte er.
    „Dreißig Jahre.“
    Damit stand es wohl fest. Arathus hatte mit seiner Einschätzung, bald sterben zu müssen, gewaltig danebengelegen.
    Geändert von Jünger des Xardas (25.07.2011 um 09:50 Uhr)

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