Klosterleben


Auch in den folgenden Tagen ließ Tenzin sie weiter mit den Pfählen üben. Mal ließ er sie stundenlang auf einem Bein balancieren, dann wieder ließ er sie zwischen drei oder vier Pfählen hin und her hüpfen und gab das Kommando zum Weiterspringen, noch ehe sie wirklich gelandet waren. Das einzige System, das offenbar dahinter steckte, war, dass es kein System gab. Sie sollten Gegenwärtigkeit lernen, nicht wie man stumpf einem Rhythmus folgte, an den man sich einmal gewöhnt hatte.
Obwohl ihnen die Übungsstunden noch viele weitere Blutergüsse und Schürfwunden einbrachten, wurde es doch nicht mehr so schlimm wie am ersten Tag. Barthos hatte das Gefühl, dass er nun, da er sich nicht mehr auf all die übrigen Pfähle konzentrierte, die hier, in der Gegenwart, ohnehin keine Rolle spielten, anders an die Übung heranging. Er litt noch, aber er litt nur noch in der Gegenwart, ohne sein eigenes Leiden dadurch zu verstärken, dass er sich vorstellte, was in der Zukunft noch alles auf ihn zukommen würde. Ein zweiter, weitaus banalerer Grund dafür, dass die Übung sie nicht mehr gar so sehr in Mitleidenschaft zog wie am ersten Tag, war aber sicherlich, dass sie kein zweites Mal einen vollen Tag lang übten. Mal dauerte es nur eine halbe Stunde, mal vier Stunden. Aber Tenzin ließ sie nicht mehr von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf den Pfählen balancieren.
Das bedeutete freilich nicht, dass man sie den Rest des Tages selbst gestalten ließ. Jeden Tag mussten sie sitzen. Auch hier änderten sich die Zeiten jeden Tag aufs Neue. Mal saßen sie nur kurz, bevor ein Gong sie wieder aus ihrer Starre riss, dann wieder ließ man sie den halben Tag in irgendeiner Kammer sitzen. Manchmal gab ihnen Gyatso ein Gleichnis, eine Weisheit oder eine Frage mit, über die sie sitzen sollten. Das meiste davon erschien ihnen völlig sinnlos. „Kennt ein Sandkorn das Wesen des Erwachten?“, fragte Gyatso sie eines Abends, ehe er sie zum Sitzen allein ließ. „Spürt der einäugige Hund in der Gosse den Stockhieb des Stallknechts im Palast?“, fragte er am nächsten Morgen im Vorbeigehen. „Der fertige Schmetterling entsinnt sich nicht des Lebens als Raupe“, verkündete er anderntags, während er bei einem Gang über den Hof kurz stehen blieb, um ihnen zuzusehen, wie sie auf ihren Pfählen standen. Barthos hatte manchmal das Gefühl, dass der Abt sich all dieses Wirre Zeug einfach nur ausdachte und das nur eine weitere Art war, sie zu pisacken. Dennoch, er gewöhnte sich mehr und mehr an das tägliche Sitzen. Es gelang ihm dabei zur Ruhe zu kommen, sich zu sammeln, seine Gedanken und Gefühle zu ordnen – im Gegensatz zu Kendra, die, wie sie ihm gestand, sich beim Sitzen meist langweilte und zeitweise sogar einnickte und deren Gedanken andernfalls immer wieder darum kreisten, wie sinnlos diese ganzen Übungen doch waren und wann man sie wohl endlich Magie lehren würde. Barthos hingegen hatte mit der Zeit das Gefühl, dass er beim Sitzen tatsächlich lernte. Er entsann sich manchem, das er schon lange vergessen hatte, und vor allem: Er fing an, manches aus ganz neuen Blickwinkeln zu sehen. So erinnerte er sich nach einer ihrer Übungen in Gegenwärtigkeit beim Sitzen an ihre Zeit in der ariabischen Steppe, an den so anderen Gang der dortigen Menschen und an den alten Jäger, der ihm erklärt hatte, dass im hohen Gras der Savanne stets Schlangen lauern konnten, dass man dort also so laufen musste, dass man den Fuß selbst im letzten Moment noch zurückziehen konnte, dass man es sich also nicht leisten konnte, sich bei jedem Schritt nach vorne fallen zu lassen, wie es so viele der zivilisierten Menschen taten. Etwas sagte Barthos, dass Gyatso den Bewohnern der Savanne deutlich mehr Gegenwärtigkeit zugesprochen hätte als ihm und Kendra.
Neben den körperlichen Übungen erhielten sie auch geistige Übungen. Fast jeden Tag studierten sie nun heilige Schriften mit anderen Mönchen und Nonnen. Mal diskutierten sie das Gelesene, dann wieder sollten sie es nur auswendig lernen und verinnerlichen. Auch über diese Übungen sollten sie immer wieder sitzen.
Aber sie waren nicht nur zum Sitzen und Üben hier. Jeder der Mönche und Nonnen, selbst Gyatso, musste arbeiten und damit seinen Teil zum Klosterleben beitragen. Mal mussten sie den Reis und den Tee kochen und servieren. Dann mussten Roben geflickt und Kammern gefegt werden. Das Kloster hielt drei Yaks, die geschoren und gemolken und außerdem jeden Tag hinausgeführt werden mussten, damit sie am Berghang weiden konnten (Barthos war fasziniert, dass so große Tiere von den spärlichen Grasbüscheln leben konnten, die zwischen den Felsen sprossen). Zudem musste der Stall ausgemistet werden und auch der Mist des Orang-Utans, der sein Geschäft einfach mitten im Hof oder in den Gängen verrichtete, wo immer er sich gerade befand, musste entfernt werden. Und als wäre das alles noch nicht genug, stellten die Bewohner des Klosters auch noch Gebetsteppiche, kleine Götterstatuen, Glücksbringer und anderen Tand her. Auch hierbei mussten Barthos und Kendra helfen. Und einmal die Wochen wurden ein oder zwei Bewohner des Klosters ins Dorf hinab geschickt, um ihre Erzeugnisse dort zu verkaufen und Spenden entgegenzunehmen.
Das mit den Spenden war eine interessante Sache. Natürlich spendeten die Menschen auch in Myrtana Bettlern oder der Kirche Geld. Und natürlich versprachen sie sich auch dort oft ihr Seelenheil davon. Selbst so mancher große Fürst gab seinen Besitz im Alter auf und trat in ein Kloster ein und es gab kaum einen reichen Kaufmann, der nicht ein Spital für die Kranken, Bettler und Wahnsinnigen oder wenigstens ein Altarbild im Tempel gestiftet hätte oder zum Lichterfest die Armen speiste. Aber dennoch schwang immer ein Hauch von Überlegenheit mit, wenn jemand einem weniger Betuchten etwas abgab. Dennoch wurde die Spende als ein Akt der Gnade verstanden, für die ihr Empfänger dankbar zu sein hatte und gewissermaßen in der Schuld des Spendenden stand. Hier auf Burjaki war es andersherum: Das Entgegennehmen der Almosen war der Gnadenakt. Wer anderen ermöglichte, ihm zu spenden und so Gutes zu vollbringen, ermöglichte ihnen auch eine vorteilhafte Wiedergeburt.
Die Bewhner von Gurja begneten ihnen völlig anders als beim ersten Mal, als sie durchs Dorf gekommen waren. Damals hatte niemand mit ihnen gesprochen. Man hatte sie nur von weitem angestarrt. Misstrauisch. Fast feindselig. Nun begegnete man ihnen mit einer Ehrfurcht, wie sie selbst die Feuermagier in Myrtana nicht oft genossen. Menschen verbeugten sich vor ihnen, küsten die Säume ihrer Roben, baten um ihren Segen und gaben ihnen Almosen, obwohl sie wahrscheinlich selbst nicht viel hatten.
Auch in die andere Richtung verließen die Mönche und Nonnen ihr Kloster manchmal: So wie jede Woche einer oder zwei von ihnen ins Dorf hinabstiegen, erklommen einmal im Monat fünf von ihnen die Spitze des Berges. Gyatso war sets einer dieser fünf. Als Kendra ihn fragte, was es damit auf sich habe, antwortete Gyatso, dass sie dort oben eine besondere Meditation praktizierten, für die sie und Barthos aber noch nicht bereit waren. Insgeheim aber wunderten sie sich, warum große Mengen an Essen zu dieser Meditation gehörten.
Langsam aber sicher lebte Barthos sich im Kloster ein. Sein Körper schien sich an die stete Kühle zu gewöhnen. Bald hatte er den Dreh raus, wie er die Essstäbchen handhaben musste, und konnte mit ihnen so sicher umgehen wie mit Messer und Gabel. Und selbst die Mönche erschienen ihm mit der Zeit nicht mehr so uniform, weder in ihrem Aussehen, noch in ihrem Verhalten. Plötzlich fiel ihm auf, dass das Gesicht des alten Tarang doch einige Falten mehr aufwies als andere Gesichter, während das Ardashs, der keine sechzehn Lenzen zählte, noch etwas Runderes und Kindlicheres hatte. Er entwickelte einen Blick für die weiblichen Züge im Gesicht Asthas, auch wenn sie so kahl sein mochte, wie die Männer. Bald wusste er, dass Pema eine ziemlich geschickte Näherin war und Sonam hervorragend mit den Yaks umgehen konnte, aber ein schlechtes Gedächtnis hatte und kaum die heligen Schriften rezitieren konnte. Das Kloster war nicht so streng, wie es auf den ersten Augenblick erscheinen mochte, stellte er bald fest: Darshana und Gyatso, den alle nur den kleinen Gyatso nannten, um ihn von Gyatso dem Abt zu unterscheiden, mit neun und elf Jahren die jüngsten Bewohner des Klosters, mussten zwar ebenso bei den anfallenden Arbeiten helfen wie alle anderen, aber als es in einer besonders kalten Nacht im Kloster schneite, beschwerte sich niemand, als die beiden am nächsten Morgen auf dem Hof einander und auch jedem anderen, der vorbeikam, Schneebälle um die Ohren warfen. Selbst Gyatso der Abt bekam von seinem jungen Namensvetter einen gegen den kahlen Kopf gepfeffert, worauf Barthos schon glaubte, er würde mit seiner Rute auf den Jungen losgehen. Stattdessen lachte er nur herzhaft und schritt weiter – nur um dann, als der Junge sich schon wieder abgewandt hatte, herumzufahren und seinerseits auf höchst unerleuchtete Weise einen Schneeball zu werfen.
Langsam kam Barthos in engeren Kontakt mit den anderen Bewohnern des Klosters und lernte sie besser kennen. Er erfuhr, dass Darshana von ihrer Familie ins Kloster gegeben worden war, weil diese nicht noch ein achtes Kind hatte ernähren können, während Keshika hierher gekommen war, um nicht den Mann heiraten zu müssen, den ihre Eltern für sie vorgesehen hatten. Dawa dagegen kam aus einer sehr religiösen Familie, die sie von Anfang an mit den Lehren des Erwachten aufgezogen hatten und es als große Ehre sahen, dass ihre Tochter nun eine Nonne des Klosters war. Ihr strenger Lehrmeister Tenzin hatte sein halbes Leben dem Druk Gyalpo als Soldat gedient, bis er beschlossen hatte, seine alten Sünden hinter sich zu lassen und ein neues Leben im Kloster zu beginnen.
Und was Barthos über die Leute nicht in Gesprächen mit ihnen selbst erfuhr, das erfuhr er im Getuschel mit anderen, denn auch darüber waren die Bewohner Shangri Las ebenso wenig erhaben wie die Menschen anderswo. Über den Abt sprachen dabei jedoch alle nur mit dem allergrößten Respekt. Von allen Klosterbewohnern lebte er schon am längsten hier. Er sei ein mächtiger Magier und sehr weise und er habe die Lehren des Erwachten tiefer verstanden als jeder andere, darin waren sich alle einig. Aber mehr als das: Einige waren überzeugt, er habe selbst bereits den Zustand der Erleuchtung erreicht und sein Ich abgestreift – nur um freiwillig in den ewigen Kreislauf aus Leben, Tod und Wiedergeburt zurückzukehren, bis auch alle anderen Kreaturen aus diesem befreit wären. Boddhisatva nannten sie solche Seelen, die selbstlos vorübergehend auf die eigene Erleuchtung verzichteten, um allen anderen als Lehrer und Führer zu dienen.