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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Die erste Aufgabe


    „Beginnen wir also endlich mit dem Unterricht.“ Der Magier erhob sich. „Was wisst ihr über den Ursprung der Magie?“
    „Ich habe gelernt, dass sie die göttliche Essenz ist. Das Material, aus dem Dämonen und Engel und letztlich auch die Götter selbst geschaffen sind“, wiederholte Barthos, was er in Geldern gelesen hatte. „Und sie lagert sich in magischem Erz ab, das sich dann zu Runen formen lässt.“
    „Und diesen Haufen Halbwahrheiten vergisst du ganz schnell wieder“, forderte Arathus barsch. „Mit göttlichen Essenzen oder anderen Sphären werde ich mich nicht befassen. Weder können wir darüber irgendeine Aussage treffen, die über bloße Spekulation hinausgeht, noch ist es von Bedeutung. Wir wollen uns auf die Magie hier in unserer Welt konzentrieren. Magie oder, um bei den Fachtermini zu bleiben, Mana ist der Grundstoff allein Seins. Mana ist die Urkraft, die alles erfüllt und umgibt. Eine Kraft, die allem seine Form gibt, und die Bewegung jeglicher Art erst ermöglicht. Eine Kraft, die wir nicht sehen, aber zu einem gewissen Grad spüren und nutzen können. Viele Gelehrte halten das Mana für ein Element oder eine Naturgewalt. Ich würde jedoch sagen, es IST die Natur, das Universum, manche würden sagen Gott, doch ich selbst bin nicht sehr religiös. Wollt ihr das Mana wirklich nutzen lernen, müsst ihr zunächst seine Natur begreifen. Und ihr müsst euch direkt von einer gängigen Vorstellung verabschieden: Magie, also Mana lässt sich nicht beherrschen. Wenn ihr das versucht, werdet ihr scheitern. Die Mönche von Burjaki würden sagen, ihr müsst dem Mana dienen, aber ich bin nicht ganz so spirituell. Vielmehr würde ich meinen, dass ihr seine Natur annehmen und schöpferisch darauf einwirken müsst. Ihr müsst es für euch arbeiten lassen, aber ihr könnt es nicht dazu zwingen.“ Er hielt kurz inne und kratzte sich am Bart, dann hellte sich sein Gesicht auf und ihm schien eine Idee zu kommen: „Vergleichen wir das Mana mit einem Ozean, in dem wir schwimmen. Diesen Vergleich halte ich für halbwegs treffend, denn auch der Ozean umgibt uns und wir sind ihm völlig unterworfen. Der Ozean ist mächtiger als ihr. Ihr könnt ihn nicht zwingen, euch zu tragen. Ihr müsst euch also seinen Gesetzen anpassen und euch ihnen unterwerfen. Dann könnt ihr ihn nutzen und auf seiner Oberfläche schwimmen. Das alles setzt wie gesagt keinen spirituellen Blödsinn voraus. Weder ist der Ozean ein lebendiges Wesen, noch müsst ihr eure Seele mit ihm in Einklang bringen oder dergleichen.“
    Das alles klang einleuchtend und leicht verständlich. Offenbar steckte auch hinter der wahren Magie kein großes Geheimnis. Barthos’ Brust schwoll leicht an vor Stolz, dass er Arathus’ Ausführungen so mühelos verstand, und er war sich sicher, dass er das Zaubern schnell meistern würde.
    „So viel zu den simpelsten Grundlagen“, fuhr ihr Meister nun fort. „Jetzt kommen wir zu eurer ersten Aufgabe: Ich möchte, dass ihr die Bedeutung der Eins ergründet.“
    Einen Moment herrschte Totenstille. Arathus blickte sie mit völlig steinerner Miene an, während Barthos sich fragte, ob er sich nicht verhört hatte. Schließlich ergriff Femo neben ihm das Wort. Er hatte die Brauen angehoben und seiner Stimme war deutlich anzumerken, dass er nicht so recht glaubte, was er gerade gehört hatte. „Die Bedeutung der Eins?“, wiederholte er.
    „Ganz recht.“ Als seine beiden Schüler ihn noch immer völlig perplex ansahen, erklärte Arathus: „Ich könnte euch täglich stundenlange Vorträge über das Wesen und die richtige Anwendung der Magie halten. Doch ich habe die Akademie nicht umsonst verlassen. Zudem könnte ich meine kostbare Zeit dann auch auf anderes verwenden und euch irgendwelche Bücher in die Hand drücken. Ich will euch aber nichts vorkauen, ich will, dass ihr etwas lernt. Und das tut ihr, indem ihr es euch selbst erarbeitet. Wenn ihr das nicht könnt, werdet ihr es auch nie zu ordentlichen Magier bringen. Mein Unterricht wird also so ablaufen, dass ich euch Aufgaben stelle, die ihr dann zu lösen habt. Wie, ist mir dabei egal. Wenn ich euch für bereit halte, werde ich euch die jeweils nächste Aufgabe stellen.“
    „Aber…“ Barthos konnte nicht so recht glauben, was er da hörte. Das konnte Arathus doch unmöglich ernst meinen. So brachte man doch niemandem etwas bei. Wenn sie alles selbst machen sollten, wozu waren sie dann überhaupt seine Schüler? „Aber Ihr gebt uns ja gar keinen Anhaltspunkt!“, protestierte er. „Ich meine, die Bedeutung der Eins, was soll das überhaupt heißen?“
    „Eben das sollt ihr ja herausfinden, Dummkopf!“, bellte Arathus. „Das ist der Grund, weshalb ihr Weisheit benötigt. Und was heißt, ich hätte euch keinen Anhaltspunkt gegeben? Ich habe euch gerade die Grundlagen der Magie erklärt. Köpfe zum Denken habt ihr auch. Wie ihr das Problem zu lösen versucht, ist euch freigestellt. Ihr dürft jedes dieser Bücher zu Rate ziehen – ihr werdet feststellen, dass ich alle bedeutenden religiösen und philosophischen Schriften hier habe. Meinetwegen könnt ihr sogar nach Agadir oder aufs Festland reisen, wenn ihr glaubt, die Lösung dort zu finden. Es ist mir völlig gleich.“ Er grinste Barthos herausfordernd an. „Es ist eine philosophische Frage. Das sollte dir doch gefallen.“
    Barthos wandte Femo das Gesicht zu. Sein Freund schaute genauso ratlos drein wie er selbst. Langsam wandte er den Kopf wieder Arathus zu. „Dann… geht es nicht weiter, bis wir die Lösung haben?“
    „Richtig. Wenn ihr auf tägliche Unterrichtsstunden gehofft habt, muss ich euch enttäuschen. Ich gedenke nicht, euch jeden Tag Blitze durch die Gegend schießen zu lassen und euch dann zu erzählen, was ihr falsch macht.“
    „Was, wenn wir Eure Aufgabe nicht lösen können?“, wollte Femo wissen.
    Arathus öffnete leicht den Mund, begleitet von einem leisen Schnalzen seiner Zunge. „Lasst mich Folgendes klarstellen“, sagte er langsam. „Ich weiß nicht, ob ihr irgendwelche Pläne für die Zukunft und daher nur begrenzte Zeit habt. Ich weiß nicht, ob ihr in einem Jahr wieder zuhause sein wollt oder an einer tödlichen Krankheit leidet und nur noch wenige Monate zu leben habt. Es interessiert mich auch nicht. Wie viel Zeit ich habe, weiß ich zufällig sehr genau. Und nach meiner Zeit werde ich eure Ausbildung einteilen. Solltet ihr für diese simple Frage zehn Jahre brauchen, so ist dies eure vertane Zeit. Ich habe diese Zeit und werde eure Ausbildung dann eben in zehn Jahren fortsetzen. Mit der nächsten Aufgabe. Ihr könnt euch so viel Zeit lassen, wie ihr braucht. Schließlich sollt ihr etwas lernen und nicht auf eine Prüfung vorbereitet werden. Bevor jedoch ein falscher Eindruck entsteht: Ich werde Faulheit nicht dulden. Ihr seid hier, um zu lernen, nicht um euch an Annehmlichkeiten und dem Anblick meiner Konkubinen zu erfreuen. Wenn ihr für eure Aufgabe Jahre braucht, weil sie euch jahrelang beschäftigt, werde ich euch diese Jahre geben. Wenn ihr Jahre braucht, weil ihr nicht mit aller Kraft versucht, eure Aufgabe zu lösen, und weil ihr lieber den Luxus dieses Hauses genießt, dann werde ich keine Sekunde zögern, eure Ausbildung zu beenden und euch vor die Tür zu setzen.“
    „Dann ist das vorerst alles, oder?“, fragte Barthos. „Dann müssen wir jetzt versuchen, diese Aufgabe zu lösen und vorher werden wir nicht weiter unterrichtet?“
    „Nicht ganz.“ Arathus ließ sich wieder auf den Kissen nieder und ergriff wieder den Schlauch der Wasserpfeife. „Ihr seid nicht nur hier, um die Magie selbst zu erlernen. Von meinen Schülern erwarte ich eine weit umfassendere Bildung. Ich selbst werde jedoch nur euren magischen Unterricht übernehmen. Alles übrige lernt ihr von meinen Konkubinen. Ihr werdet feststellen, dass auch sie sehr bewandert auf ihren Gebieten sind.“ Ein Grinsen huschte über sein Gesicht und bevor er sich die Pfeife wieder in den Mund steckte, sagte er: „Und keine Sorge, ihr Unterricht wird vermutlich nicht ganz so unkonventionell ablaufen.“
    Geändert von Jünger des Xardas (25.07.2011 um 09:49 Uhr)

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    Teestunde


    Gemeinsam verließen Femo und Barthos das Studienzimmer und schlurften ratlos durch die Korridore. Beide schwiegen sie, denn keiner von ihnen wusste, wie sie ihre Aufgabe angehen sollten. Sie achteten nicht darauf, wohin sie gingen. Wahrscheinlich hätte es ihnen auch nicht viel gebracht, denn sie hätten sich ohnehin nicht in dem Labyrinth aus Gängen zurechtgefunden. So kamen sie, ehe sie es sich versahen, in eine Sackgasse. Ein kleiner, quadratischer Raum mit völlig kahlen Wänden und auch ohne einen Teppich auf dem Boden lag vor ihnen. Das einzige, was sich in diesem Raum befand, war eine kleine eiserne Tür.
    Abrupt blieben die beiden Freunde stehen.
    „Das ist die Tür, von der Arathus gesprochen hat, oder?“
    Femo nickte. „Ich denke schon.“ Er machte einen Schritt nach vorne. „Ich frage mich, was…“
    Leises Klackern ließ sie herumfahren. „Habt ihr euch verlaufen?“ Shirin lächelte zuckersüß und Barthos fragte sich unwillkürlich, ob sie vielleicht schon so viel gelächelt hatte, dass sie gar nicht mehr anders konnte.
    „Wir, äh… Ja, irgendwie schon“, stotterte er unbeholfen.
    „Soso. Dann wird es das Beste sein, ich zeige euch den Weg, was?“ Shirin machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte klackernd davon. Barthos blickte Femo an. Dieser zuckte nur mit den Schultern. Sie hatten ohnehin kein Ziel. Also folgten sie der Konkubine.
    Shirin führte sie durch die Gänge des Palastes, eine Treppe hinauf, durch weitere Gänge und schließlich zu einem Türrahmen, der von einem Vorhang aus Perlenketten verhangen war. Als sie diese beiseite schob, wehte ihnen ein intensiver Jasmin- und Rosenduft entgegen. Sie folgten ihr durch den Vorhang in einen Raum mit besonders flauschigem Teppich und zahlreichen bunten Kissen, die in kleinen Gruppen an den Wänden verteilt waren. „Setzt euch.“ Shirin deutete auf einen niedrigen aber großen Tisch in der Raummitte, der keine Stühle besaß, um den herum jedoch weitere Kissen drapiert waren. Während sie der Aufforderung nachkamen, verschwand Shirin durch eine Tür auf der anderen Seite des Raumes. Barthos sah, dass es insgesamt acht Pforten in der Wand gab. Die perlenverhangene, durch die sie eingetreten waren, und sieben weitere, richtige Türen. Er brauchte einige Momente, doch dann fiel ihm wie Schuppen von den Augen, dass dies die Gemächer der Konkubinen sein mussten.
    Sie warteten einige Minuten, dann kehrte Shirin zurück, ein kleines Tablett mit drei Tassen und einer Kanne aus Porzellan darauf, allesamt mit Blumenmustern verziert. Sie hatte sich ihre hölzernen Schuhe ausgezogen und wie Barthos feststellte, war sie ohne die hohen Sohlen noch um einiges kleiner. Als Shirin die Tassen vor ihnen abstellte, sahen sie, dass in jeder eine große Blüte einer ihnen unbekannten Pflanze lag. Als Shirin nacheinander jede Tasse mit kochendheißem Wasser aus der Kanne füllte, öffneten sich die Blüten langsam. Staunend beobachteten Femo und Barthos, wie sie kleine Partikel in das Wasser entließen und es sich langsam grünlich verfärbte.
    „Was ist das?“, wollte Femo wissen.
    „Tee.“ Shirin hatte die Kanne auf einem kleinen Stövchen abgestellt und ihnen gegenüber Platz genommen. Ihre zierlichen Finger schlossen sich um den Henkel ihrer Tasse. Mit der anderen Hand stützte sie das Trinkgefäß von unten, als sie es zu ihrem Mund führte. Barthos beobachtete genau, wie sie ihre herrlichen Lippen spitzte und einige Male auf die Oberfläche der heißen Flüssigkeit pustete, bevor sie vorsichtig daran nippte. Gleichzeitig legte er die Arme in den Schoß und beugte sich leicht vor, damit niemand die leichte Beule in seinem Gewand sah. Er konnte es sich nicht erklären, aber jede noch so kleine Bewegung Shirins sprühte geradezu vor Erotik und brachte ihn beinahe um den Verstand. Wahrscheinlich hatte Femo Recht und er war schlicht ein triebgesteuerter Lüstling, doch fragte er sich, wie sein Freund dem Charme der Konkubinen widerstehen konnte. „Nun trinkt schon. Wenn ich Gift reingetan hätte, würde ich es euch sagen, versprochen.“ Es war bemerkenswert, wie schnell Shirins Lächeln von einem Ausdruck scheuer, mädchenhafter Unschuld zu einem verschmitzten, schelmischen Grinsen werden konnte – und umgekehrt.
    Zögernd hoben Barthos und Femo ihre Tassen. Langsam führte Barthos seine an die Lippen und nippte an dem fremden Getränk. Sofort zog er den Kopf zurück, stieß einen zischenden Laut aus, biss sich auf die Zunge und fluchte. Er hatte sich fürchterlich verbrannt.
    „Ach ja…“ Shirins Grinsen wurde breiter. „Vorsicht, heiß.“
    Femo gluckste belustigt über Barthos’ Missgeschick und pustete eine Weile auf seinen Tee ein, bevor er einen Schluck nahm. „Hmmm! Das schmeckt gut!“, entfuhr es ihm begeistert.
    „Und wie!“, pflichtete Barthos ihm bei, nachdem er vorsichtig einen weiteren Schluck probiert hatte.
    Shirin lächelte. Nun wieder freundlich und scheu. Sie nahm einen größeren Schluck aus ihrer eigenen Tasse, dann sagte sie beiläufig: „Ach übrigens, wir haben uns erlaubt, uns eure Taschen anzusehen.“
    „Nett, dass ihr vorher fragt.“ Barthos schaffte es nicht, seine Stimme so säuerlich klingen zu lassen, wie er gerne gewollt hätte. Irgendwie konnte er diesen bezaubernden Geschöpfen nicht böse sein. Ja, er war tatsächlich völlig triebgesteuert.
    „Wir wollten nur behilflich sein“, versicherte Shirin, auch wenn ihre Mundwinkel schon wieder spitzbübisch zuckten. „Wir haben euren Kram in die Schränke in euren Zimmern geräumt und ein wenig geordnet. Dieses eine gesprungene Reagenzglas habe ich dir ersetzt.“
    „Danke“, entgegnete Barthos etwas überrascht. Seine wenigen alchemistischen Gerätschaften, mit denen er die Savannenflora erforscht hatte, waren in seiner Tasche in der Tat arg in Mitleidenschaft gezogen worden.
    Shirin winkte ab. „Meister Arathus hat genug von den Dingern.“
    „Was habt ihr mit dem gemacht, was ihr in meiner Tasche gefunden habt?“, fragte Femo vorsichtig. Barthos meinte, einen Anflug von Furcht in seiner Stimme zu hören.
    „Diese alten Fetzen und Binden, meinst du? Die haben wir weggeworfen.“
    „Was?!“ Femo erbleichte.
    „Die waren voller Flecken. Ist doch sicher nicht angenehm.“
    „Ihr versteht das nicht. Ich brauche die. Ich…“ Femo zögerte lange, bevor er etwas leiser sagte: „Ich bin krank und ich brauche diese Stoffe.“
    „Ach was, erzähl keinen Unsinn. Wir haben viel Besseres für dich. Ich zeig’s dir später.“ Shirin offenbarte, dass sie auch noch einen dritten Gesichtsausdruck besaß. Natürlich lächelte sie noch immer. Doch ein seltsamer Ausdruck war in ihre Augen getreten, mit denen sie Femo direkt in die seinen blickte. Barthos vermochte ihn nicht zu deuten und blickte verwirrt zwischen ihr und seinem Freund hin und her. Auch Femos Blick hatte plötzlich etwas Seltsames an sich. Worum ging es hier? Was für alte Fetzen hatte Femo in seiner Tasche gehabt?
    Femo schien Barthos’ Verwirrung zu bemerken und lenkte das Gespräch rasch in eine andere Richtung, indem er fragte: „Was ist das hier eigentlich für ein Bau? Ich meine, ich sehe nirgendwo Arbeitsspuren.“
    Damit gelang es ihm tatsächlich, Barthos abzulenken. Denn diesem fiel nun erstmals auf, wie unnatürlich glatt die Wände waren. Nein, dieses Gebäude konnte unmöglich in den Fels geschlagen worden sein. Vielmehr sah es aus, als wäre es vom Wind oder von Wasser ausgehöhlt worden. Aber das war natürlich Unsinn.
    Shirin zuckte mit den Schultern. „Meister Arathus hat diesen Palast geschaffen, kurz nachdem er den Hof des Moguls verlassen hatte. Mit irgendeinem Zauber, nehme ich an. Aber er wollte uns nie mehr darüber sagen. Euch wird er es also auch nicht erzählen. Als ich herkam, sah es hier jedenfalls schon genauso aus wie heute. Na ja“ – sie grinste – „die Einrichtung war nicht ganz so geschmackvoll. Dafür hat er einfach kein Händchen.“
    Schweigend tranken sie ihren Tee. Als sie die Tassen geleert hatten, goss Shirin neuen nach. Dieses Mal war Barthos vorsichtiger und wartete, bis der Inhalt seiner Tasse abgekühlt war.
    Es war Femo, der nach einigen Minuten wieder das Wort ergriff. „Was weißt du über die Bedeutung der Eins?“
    „Gar nichts.“
    „Du lügst“, entwich es Barthos sofort. Im nächsten Moment tat es ihm leid. Das hatte unfreundlicher geklungen, als beabsichtigt.
    Doch Shirin schien es ihm nicht übel zu nehmen. „Vielleicht.“ Da war wieder ihr schalkhaftes Lächeln. „Aber vorsagen ist doch langweilig, oder?“ Offenbar wusste sie, worum es ging.
    „Ach komm“, flehte Barthos. Fieberhaft überlegte er, wie er Shirin entlocken konnte, was immer sie wusste. Zu seinem Leidwesen fiel ihm nichts ein, was er ihr hätte bieten können.
    „Hm.“ Shirin tippte sich mit dem Zeigefinger auf den Mundwinkel und presste die Lippen zusammen, wobei sich ihre Backen leicht aufblähten. Sie gab ein unheimlich süßes Bild ab, wie sie da saß und tat, als dächte sie angestrengt nach. „Na gut, ich gebe euch einen Tipp: Tongror ek urg.“
    „Bitte was?“ Femo klang, als wolle er sich vergewissern, dass er sich nicht verhört hatte.
    „Oh, ihr könnt kein Orkisch? Wie schade.“ Dieses Mal drückte ihr Lächeln unverhohlene Schadenfreude aus. Im nächsten Moment sprang sie auf. „Tja, dann habt ihr ja schon mal einen Anreiz, euch ordentlich anzustrengen.“
    „Bei was?“, wollte Barthos stirnrunzelnd wissen.
    „Bei meinem Unterricht. Aber damit ihr nicht zu schnell dahinterkommt, fangen wir erst mal mit eurem Ariabisch an. Es ist verständlich, aber einige eurer Formulierungen sind sehr ungelenk und ihr habt einen furchtbaren Akzent. Wenn wir euch das ausgetrieben haben, lernt ihr Kitaisch. Und wenn ihr dann irgendwann mal die Nomadensprache und die altnordmarischen Dialekte beherrscht, dann bringe ich euch Orkisch bei.“ Ihr Grinsen wurde noch ein Stück breiter. „Vielleicht.“
    Geändert von Jünger des Xardas (26.07.2011 um 16:41 Uhr)

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    Ein Stückchen Alltag


    Schnell kehrte für die beiden ehemaligen Feuermagier so etwas wie Routine ein.
    Morgens wurden sie von den Konkubinen geweckt und nahmen dann gemeinsam ihr Frühstück ein. Es folgte der Unterricht, der einen Großteil des Tages einnahm. Das Mittagessen nahmen sie meist im Gemeinschaftsraum der Konkubinen zu sich, wo auch ein Großteil ihres Unterrichts stattfand. Den Nachmittag verbrachten sie über Arathus’ Aufgabe brütend und seine Bücher durchwälzend; nie ohne einige Tassen von Shirins Tee. Irgendwann holten sie dann die Konkubinen zum Baden ab. Femo weigerte sich auch weiterhin, gemeinsam mit ihnen zu baden. Warum, war Barthos schleierhaft, aber er hatte nie lange Zeit, darüber nachzudenken, ehe seine Aufmerksamkeit von den ihn badenden und massierenden Frauen beansprucht wurde. Spät Abends aßen sie dann gemeinsam mit Arathus, was auch meistens die einzige Gelegenheit war, bei der sie ihn noch zu Gesicht bekamen. Mit der Außenwelt kamen sie nur in Berührung, wenn in regelmäßigen Abständen eine Karawane aus Agadir neue Vorräte brachte.
    Trotzdem kam nie Langeweile auf und kein Tag verging wie der andere, was vor allem den Konkubinen zu verdanken war. Zu Barthos’ Enttäuschung weckten sie ihn zwar nicht jeden Tag, wie sie es an seinem ersten Morgen bei Arathus getan hatten, dennoch ließen sie sich immer neuen Schabernack einfallen und wurden es auch nicht leid, ihn immer mal wieder mit ihren Reizen um den Verstand zu bringen.
    Nicht nur damit hielten sie Barthos und Femo aber auf Trapp. Auch ihr Unterricht brachte ständig Abwechslung – nicht nur, weil ihnen die verschiedensten Dinge beigebracht wurden, sondern auch, weil sie vieles lernten, wofür man in Myrtana leicht auf dem Scheiterhaufen gelandet wäre.
    Fiona, wie die blonde Konkubine hieß, die ihnen am ersten Abend ihr Essen serviert hatte, kam aus Mittelmyrtana und hatte einige Zeit beim Waldvolk verbracht. Sie war eine begnadete Kräuterkundige und Heilerin, die ihnen Eigenschaften und Wirkung unzähliger Pflanzen beibrachte und sie ständig neue Salben und Tränke herstellen ließ. „Alles in der Natur gehört zusammen“, wurde sie nicht müde, zu betonen. „Alle Wesen sind miteinander verbunden und wirken aufeinander ein. Ihr müsst lernen, dies zu eurem Vorteil zu nutzen.“
    Auch bei Geneviève brauten sie Tränke und Mixturen, doch nicht mit dem Ziel der Heilung. Hier lernten sie die Kunst der Alchemie. Sie lernten, wie sie aus Pflanzen und Mineralien die Grundelemente extrahierten, aus denen die Welt, wie Geneviève sagte, aufgebaut war, und wie sie dieser wiederum verwenden konnten, um Färbemittel, Schwarzpulver oder Legierungen herzustellen. „Alles lässt sich auf dieselben Grundbausteine reduzieren“, war ihre liebste Floskel. „Einzig ihre Anordnung und Zahl macht den Unterschied zwischen den Dingen aus.“
    Nasrin brachte ihnen die großen Wissenschaften ihrer ariabischen Heimat nahe: Astronomie, Geometrie und Mathematik. Zu ihrem Leidwesen platzte sie manchmal mitten in der Nacht in Barthos’ und Femos Zimmer, weckte die beiden und führte sie begeistert und ohne jedes Zeichen von Müdigkeit aufs Dach, um ihnen Sternschnuppen oder besondere Konstellationen der Gestirne zu zeigen und ihnen zu erklären, dass „alle Gestirne denselben Ursprung haben und alles einst auf einen Punkt konzentriert war, von dem es sich immer weiter in alle Richtungen ausgebreitet hat.“
    Swanhild teilte mit ihnen die Geheimnisse ihres Volkes: Die moderne und die antike Runenschrift der Nordmarer und das Wissen um die energetischen Kräfte der Steine und Kristalle und die Bedeutung ihrer Anordnung. „Sie alle kommen aus derselben Erde, aber sind von unterschiedlichen Energien erfüllt“, war ihre Auffassung. „Bringt den richtigen Kristall mit der richtigen Energielinie in Berührung, die die Erde durchzieht, und ihr könnt durch diese Kraft ganz ohne herkömmliche Magie auf eure Umwelt einwirken.“
    Die schwarzhaarige Konkubine mit der olivefarbenen Haut, die ihnen am ersten Abend mit das Essen serviert hatte, hieß Milana und stammte aus Khorelius. Ihre Fachgebiete waren Geschichte und Ethnologie und sie ließ ihre Schüler alles lernen, was diese Fächer hergaben, von den zweihundertsiebenundfünfzig großen orkisch-nordmarischen Grenzkonflikten über die Entwicklung der Bestattungsriten der varantinischen Nomaden bis hin zu den Listen der Nebenlinien des Mogulhauses von Ariabia. Dabei lehrte sie sie auch den Ursprung der Menschheit, der „in der Südariabischen Savanne liegt. Alle nördlich davon lebenden Stämme der Menschen sind irgendwann einmal aus diesem Lande ausgewandert.“
    Als besonders angenehm empfand Barthos den Unterricht bei der begnadeten Masseurin Indrakshi, die ihnen die menschliche Physiologie näherbrachte, ihnen den Aufbau des Körpers und die Bedeutung seiner einzelnen Organe schilderte, und sie mit Massagetechniken und Akupunkturpunkten vertraut machte. „Das Geheimnis“, so Indrakshi, „liegt darin, das Zusammenspiel der Organe und Körperteile zu unterstützen und die Teile wieder zusammenzufügen, wenn sie sich einander entfremden. Schließlich kann der Körper nicht funktionieren, wenn seine Bestandteile nicht zusammenarbeiten.“
    Und schließlich war da natürlich Shirin, die, obwohl die kleinste unter den Frauen, so etwas wie die Oberkonkubine war und sich ständig über die Fortschritte ihrer Schüler informieren ließ, während sie selbst es sich in den Kopf gesetzt zu haben schien, ihnen jede noch so tote Sprache und jeden noch so unbedeutenden Dialekt beizubringen, die je ein Mensch gesprochen hatte. Sie schien großen Spaß daran zu haben, ihren Unterricht von Mal zu Mal schwerer zu gestalten. Bald schon paukte sie keine Vokabeln mehr mit ihnen, sondern verlangte, dass sie sich die Bedeutung der Wörter einer neuen Sprache aus den Sprachen erschlossen, die sie schon kannten. Als Femo und Barthos an der altnordmarerischen Zunge verzweifelten, grinste sie nur. „Milana hat euch doch alles beigebracht, was ihr dafür wissen müsst: Die Nordmarer sind vor langer Zeit aus Myrtana ausgewanderte Stämme. Ihre und eure Sprache haben denselben Ursprung. Ihre Nordwanderung fand nur vor der großen Flut in Varant und der Flucht der nordvarantischen Bevölkerung nach Myrtana statt. Ihre Sprache wurde also nicht durchs alte Varantisch beeinflusst. Und sie hat auch nicht die große Lautverschiebung mitgemacht. Das sind die beiden einzigen großen Unterschiede. Kann also nicht so schwer sein, oder?“
    Barthos war immer öfter hin- und hergerissen. Einerseits war dies genau, was er sich immer erträumt hatte, und jede neue Erkenntnis sah er als Bereicherung seines Wissens und seines Weltbildes, andererseits rauchte ihm oft der Schädel und er fragte sich, wie und vor allem warum er dieses oder jenes jemals lernen sollte. Die Konkubinen jedenfalls zeigten sich von ihrer weniger sanften Seite und erwiesen sich als strenge und fordernde, wenn auch immer freundliche und verständige Lehrmeisterinnen.

    Resigniert schlug Barthos das dicke Buch zu. Nichts. Nun war er alle Bände der heiligen Schriften des südkitaischen Drachenkults durchgegangen, ohne dass es ihm etwas gebracht hatte. Zwar wusste er nun, dass ein Drache mit dem einhundertvierundvierzigsten Lebensjahr den Zustand der Heiligkeit erreichte und man ihm ab diesem Zeitpunkt bei Vollendung jedes Mondzyklus eine Jungfrau als Opfer darbringen musste, und dass die Schlange die heilige Dienerin der Drachen und aus dem abgeschlagenen Schwanz des Urdrachen Vritra entstanden war, doch der Lösung des Rätsels um die Eins war er kein Stück nähergekommen. „Wie läuft’s bei dir?“, fragte er müde.
    Femo lehnte mit dem Rücken an einem der Bücherregale im Studienzimmer. Die Beine hatte er angezogen, ein Buch lag aufgeschlagen auf seinen Oberschenkeln: Die Lehren des antiken treliumer Philosophen, Naturforschers und Mathematikers Kontragorididas. „Hier steht, x hoch eins ergibt immer x.“
    Barthos schnaubte. „Das habe ich schon in Geldern gelernt und Nasrin hat es uns so oft eingebläut, dass ich es sicher nicht mehr vergessen werde. Irgendwas Nützliches?“
    Femo schüttelte den Kopf. „Das ist alles, was er dazu zu sagen hat. Oder nein, warte! Er ordnet jeder Zahl eine geometrische Figur zu…“
    „Lass mich raten: Der Fünf das Fünfeck, der Vier das Viereck, der Drei, das Dreieck…“
    „Genau so.“ Femo klang nicht weniger erschöpft und entnervt als Barthos. „Na ja und der Eins den Kreis. Den sieht er wiederum als perfekte Form und Grundlage aller natürlichen Gesetzmäßigkeiten, weil für ihn auch die Bahnen der Planeten um die Sonne völlig kreisrund sind.“
    „Womit er aber Unrecht hat. Sie sind elliptisch.“
    „Richtig.“ Femo schlug das Buch zu und warf es auf einen kleinen Berg aus weiteren Wälzern, die sie bereits für nutzlos befunden hatten, inmitten des Raumes. „Hilft uns also auch nicht weiter. Was hast du?“
    Barthos winkte müde ab. „Im Grunde nichts. Höchstens…“ Er zögerte, denn es hatte kaum etwas mit ihrer Aufgabe zu tun. Aber er wollte auch irgendetwas sagen, auch wenn es völlig nutzlos war: „Die haben so eine krude Farbenlehre. Da gehört zu jeder Farbe eine Zahl. Die Eins ist rot. Darum waren die Feuerdrachen auch die ersten Drachen, die aus Vritras Eiern schlüpften.“
    „Vritra?“
    „Der Urdrache. Oder Urdrächin.“
    „Hm.“ Femo schlang die Arme um die Knie und zog sie noch ein Stück weiter zu sich heran. „Auf die Weise finden wir nie was raus, stimmt’s?“
    „Stimmt.“
    Mit einem wütenden Fußtritt beförderte Femo das Traktat wider die unheilbringende Institution der Ehe, welches zu seinen Füßen gelegen hatte, auf den kleinen Haufen achtlos zu Boden geworfener Bücher. „Langsam hab ich’s satt. Ich bin hergekommen, um die Magie zu erlernen, und wir beherrschen noch keinen einzigen Zauber! Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen, Arathus erlaubt sich einen üblen Scherz mit uns.“
    Barthos kam nicht zum Antworten, denn die Tür wurde geöffnet und Fiona trat ein. „Genug gearbeitet für heute!“, flötete sie fröhlich. „Barthos, dein Bad ist eingela…“ Sie stockte, als ihr Blick auf den Bücherhaufen fiel, und ihre Miene wandelte sich in die einer Mutter, die feststellen muss, dass ihr kleines Kind schon wieder mit seinem Brei die Wände beschmiert hat. „Meister Arathus wird noch wirklich böse werden, wenn ihr seine Bücher weiter so behandelt.“ Sie durchquerte den Raum, kniete sich neben dem Haufen auf den Boden und begann, die Bücher zu sortieren und die geknickten Seiten wieder zu glätten.
    „Ich bin jetzt schon böse.“ Femo erhob sich missmutig und schlurfte auf den Ausgang zu.
    „Kann ich ja verstehen“, versicherte Fiona beschwichtigend, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. „Aber das könnt ihr doch nicht an den Büchern ausla…“ Sie brach ab, als Femo die Tür hinter sich zuknallte, und biss sich auf die Unterlippe. „Ich mach das hier schon“, sagte sie, dieses Mal an Barthos gewandt. „Geh du ruhig. Indrakshi wartet schon auf dich.“
    Barthos nickte nur, ohne zu bedenken, dass sie das wahrscheinlich gar nicht sah, da sie voll und ganz damit beschäftigt war eine Seite der Betrachtungen über den Einfluss des ersten varantinischen Goldrausches auf die myrtanische Philosophie glatt zu streichen. Rasch schob er das Buch über die Drachenkulte in eines der Regale zurück, dann folgte er Femo durch die Tür.
    Sein Freund bog gerade am Ende des Ganges um eine Ecke und schlug den Weg Richtung ihrer Schlafgemächer ein. Barthos beschleunigte seine Schritte und schloss zu ihm auf. „Arathus treibt bestimmt keine Späße mit uns“, versuchte er, Femo zu beruhigen. „Wir gehen es wahrscheinlich nur falsch an. Vielleicht sollten wir es morgen mit den historischen Abhandlungen der alten Varanter…“
    „Was bei Beliar hat die Geschichte des alten Varants mit der Eins zu tun?!“, brach es aus Femo heraus. Er hielt an, wirbelte herum und stierte Barthos so wütend in die Augen, dass dieser unwillkürlich einen kleinen Satz nach hinten machte. „Das ist doch alles komplett sinnlos! Die Werke, in denen wir suchen, werden immer abwegiger!“ Keuchend starrte Femo ihn an, dann bohrte er ihm plötzlich den Finger in die Brust. „Und du! Du bist überhaupt keine Hilfe! Machst irgendwelche abwegigen Vorschläge, aber die richtige Arbeit bleibt dann an mir hängen! Während dir einer abgeht, weil du eine Ausrede hast, die ganze Zeit irgendwelche antiken Philosophen zu studieren, muss ich mir überlegen, wo wirklich was stehen könnte, muss ich die ganzen Werke durchgehen, die dir zu langweilig sind, um sie auch nur in die Hand zu nehmen! Und jetzt lässt du dich wieder von Indrakshi baden!“
    „Was hat denn das damit zu tun?“, fragte Barthos, weil es das einzige war, was ihm in den Sinn kam. Er war völlig überrumpelt von Femos plötzlichem Wutausbruch.
    „Was das damit zu tun hat?! Du könntest mir helfen, anstatt deinen pubertären Fantasien zu frönen!“ Femos Stimme überschlug sich vor Wut. Sie war nun eher ein hilfloses Krächzen.
    „Aber du hörst doch auch immer auf um die Zeit“, versuchte Barthos sich zu verteidigen, ohne wirklich zu verstehen, was plötzlich los war. „Ist ja nicht so, als würdest du weiterarbeiten, während ich bade…“
    „Du hast doch gar keine Ahnung, was ich mache, während du mit Indrakshi planschst! Dich interessiert doch schon lange nicht mehr, was ich tue!“ Femo stampfte wütend mit dem Fuß auf. Er schien nun den Tränen nahe. „Du hast doch nur noch Augen für Arathus’ Konkubinen!“
    „Ich…“
    „Spar’s dir“, sagte Femo, nun ruhiger, doch voller Abscheu. „Ich will’s gar nicht hören.“ Femo wirbelte abermals herum und schritt, nein stampfte, in Richtung seines Zimmers davon. „Ich hoffe, Indrakshi macht’s dir wenigstens gut!“, spie er noch mit vom Schreien bereits heiserer Stimme über die Schulter.
    Barthos blieb zurück. Völlig perplex schaute er Femo nach, auch, als dieser längst um eine weitere Ecke verschwunden war. Er hatte sich dran gewöhnt, dass Femo alle paar Wochen etwas gereizt war, aber so wütend war er nicht mehr auf Barthos gewesen, seit ihrem Streit damals in der Westmark. Über ein halbes Jahr war das her. Barthos kam es vor, als seien Jahrzehnte verstrichen. Und er hatte geglaubt, Femo und er hätten die Phase des ewigen Zankens hinter sich gehabt. Offenbar hatte er sich getäuscht. Doch dieses Mal verstand er wirklich nicht, womit er Femo so wütend gemacht haben konnte. Ja, gut, natürlich beanspruchten die Konkubinen einen nicht gerade kleinen Teil seiner Aufmerksamkeit. Er musste, wenn er so darüber nachdachte, zugeben, dass alles, was er in letzter Zeit noch mit Femo tat, das gemeinsame Lernen und Recherchieren war. Ein Gespräch, dass nicht ihren Unterricht oder ihre Aufgabe betraf, hatten sie lange nicht mehr geführt. Tatsächlich musste Barthos zugeben, dass Femo für ihn irgendwie in den Hintergrund getreten war, seit sie Arathus’ Heim bewohnten. Aber war das ein Grund für einen solchen Ausbruch? Und wieso störte sich Femo an Barthos’ Bädern mit den Konkubinen?
    „Du bist ja immer noch hier.“ Fiona war von hinten an ihn herangetreten. Er musste so in Gedanken vertieft gewesen sein, dass er das Klackern ihrer hölzernen Sohlen ignoriert hatte. „Alles in Ordnung?“, fragte sie leicht besorgt, als sie ihm ins Gesicht blickte. Barthos konnte sich vorstellen, dass er gerade alles andere als fröhlich aussah.
    „Ja, ja, alles klar“, entgegnete er rasch.
    „Gut.“ Sie lächelte lasziv. „Tja, wie’s aussieht, willst du ohne mich heute nicht baden gehen. Immerhin hast du extra auf mich gewartet. Da bleibt mir wohl nichts anderes, als mitzukommen, was?“
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    Berührung mit der Realität


    Es war nicht wie nach ihrem letzten Streit. Sie sprachen noch miteinander, doch nie mehr als nötig. Und Femos Stimme war stets kalt, wenn er mit Barthos redete. Dieser wiederum hätte vieles dafür getan, sich wieder mit Femo zu versöhnen. Doch er verstand noch immer nicht, weshalb Femo überhaupt wütend auf ihn war. Und so wusste er auch nicht, wie er ihn wieder versöhnlich stimmen sollte. So ging das Leben in Arathus’ Palast augenscheinlich weiter wie zuvor. Mit dem Unterschied, dass Barthos stetig eine bleierne Schwere fühlte, die auf seiner Brust lastete. Auch die Bäder mit den Konkubinen waren nicht mehr wie früher. Jedes Mal musste er nun an Femo denken, was ihn daran hinderte, die sanften Berührungen der Konkubinen voll zu genießen.
    Barthos blieb nichts, als sich in die Arbeit zu stürzen. Er durchsuchte die Bibliothek nach orkischen Lexika, um Shirins Hinweis zu durchschauen. Er ging sämtliche Rechenaufgaben Nasrins mehrmals durch, wandelte die Formeln ab und schuf eigene Aufgaben, um das Wesen der Eins zu ergründen. Er verglich die Sprachen, die sie gelernt hatten, miteinander, um vielleicht in den unterschiedlichen Bezeichnungen für die Zahl Eins irgendeinen Hinweis zu entdecken. Ohne Erfolg.
    Irgendwann verzweifelte er vollständig. Nachdem er in einem Wutausbruch beinahe die Dramen des Helrion gegen die Wand gefeuert hätte, gab er seine Versuche, die Bedeutung der Eins zu ergründen, auf. Von da an zog er sich nach dem Unterricht in sein Zimmer zurück, wo er wieder begann, an seinem Manuskript zu schreiben, das er so lange vernachlässigt hatte. Das Schreiben tat ihm gut, denn es nahm ihn vollkommen ein und lenkte ihn ab. Zudem war er endlich einmal rundum zufrieden mit dem, was er zu Papier brachte. Es mochte daran liegen, dass er etwas von Femos Kritik umsetzte und seine Theorien noch einmal auf Grundlage dessen überarbeitete, was er bereits alles gelernt hatte, seit sie bei Arathus waren. Bald schon war er ganz in seiner Arbeit versunken und dachte in jeder freien Minute daran, wie er sein Werk fortsetzen oder wie er eine bereits fertige Passage überarbeiten und ergänzen wollte. Einzig, dass Femo es nicht mehr las, versetzte ihm schmerzhafte Stiche, wann immer er daran dachte, obwohl Femos Kritik nicht gerade wohlwollend gewesen war.
    Etwa eine Woche zog so ins Land. Dann war Barthos’ Manuskript plötzlich verschwunden. Er war gerade vom Unterricht bei Swanhild gekommen, wo er die letzten drei Stunden lang alte Runentexte übersetzt hatte, und eine leichte Müdigkeit hatte sich seiner bemächtigt. Zunächst glaubte er nur, sein Manuskript verlegt zu haben. Beim Durchsuchen seines Zimmers reifte jedoch der Verdacht in ihm, dass es irgendjemand an sich genommen haben musste. Und als er nach, wie er glaubte, mehreren Stunden noch immer nichts gefunden, dafür aber Bücher, Reagenzgläser, Kleidungsstücke und seine Bettdecke auf dem Boden verteilt hatte, wurde der Verdacht zur Gewissheit. Aber wer sollte seine Texte gestohlen haben? Und warum? Er dachte an Femo, verwarf diesen Gedanken aber gleich wieder. Sein Freund mochte wütend auf ihn sein, aber so etwas würde er nicht tun. Das wäre ja kindisch. Die Konkubinen? Er dachte daran, wie sie nach ihrer Ankunft irgendwelche Tücher aus Femos Tasche entwendet und ungefragt weggeworfen hatten. Hatten sie nun etwa auch bei ihm zugeschlagen? Aber warum erst jetzt? Seine Tasche hatten sie doch schon kurz nach seiner Ankunft durchsucht.
    Er fragte Nasrin, als diese an seine Tür klopfte, um ihm zu sagen, dass es Zeit für sein Bad war. Doch sie wusste von nichts, oder gab es wenigstens vor. Barthos war gewillt, ihr zu glauben – wie konnte man einem derart zauberhaften Geschöpf unterstellen, zu lügen? Doch so stand er wieder am Anfang, ohne jede Spur. Wenn weder Femo noch die Konkubinen seine Sachen angerührt hatten, wer dann? Arathus würde es wohl kaum gewesen sein.

    Barthos war mehr als ratlos, als er sich an diesem Abend zu Femo und ihrem Meister an den Tisch setzte. Sie aßen schweigend. Femo hatte ein völlig steinernes Gesicht aufgesetzt und sah ihn nicht an. Arathus war ganz in sein Essen vertieft und schien sie zu ignorieren. Nicht so wie Femo Barthos ignorierte. Nicht auf eine gespannte Art, die in Wahrheit weit entfernt davon war, zu ignorieren, sondern auf eine selbstverständliche Weise, die wirklich den Eindruck erweckte, er habe sie nicht bemerkt. Ganz ähnlich verhielt sich Shirin, die wie an jedem Abend Arathus’ Kopfhaut einrieb. Und er, Barthos, stocherte halbherzig in seinem Essen herum.
    Sie waren bereits bei der Nachspeise, da nahm er allen Mut zusammen, räusperte sich und fragte vorsichtig: „Meister Arathus, ich habe die letzten Tage an einem Manuskript gearbeitet und…“
    „Ich habe es verbrannt“, unterbrach ihn der Magier scharf, ohne von dem Granatapfeleis aufzusehen, das die Konkubinen für sie zubereitet hatten.
    „Ihr habt was?!“ Vieles hätte Barthos als Erklärung akzeptiert, aber das konnte er kaum glauben. „Aber… aber… warum?“
    „In erster Linie, weil es ein Haufen ausgemachter Blödsinn war.“ Arathus’ Miene blieb unbewegt, doch aus den Augenwinkeln sah Bartho Femos Lippen leicht zucken. „Und zweitens, weil meine Konkubinen mir berichtet haben, dass du in deiner freien Zeit an nichts anderem mehr arbeitest.“ Der Magier hob den Blick und wie so oft ließ das Funkeln seiner Augen Barthos zusammenzucken. „Ich hatte euch gesagt, dass ich euch mit eurer Aufgabe so viel Zeit gebe, wie ihr benötigt, aber erwarte, dass ihr diese Zeit auch nutzt.“ Sein Blick zuckte nun auch zu Femo hinüber. „Ihr habt in der letzten Woche eure Aufgabe sträflich vernachlässigt. Und alles, was ihr bisher zustande gebracht habt, sind ein paar beschädigte Bücher. Ein paar äußerst wertvolle Originale“, fügte er mit noch mehr Schärfe in der Stimme hinzu. „Lasst euch das eine Mahnung sein. Ich erwarte von euch nicht, dass ihr Tag und Nacht arbeitet und euch keinen eigenen Projekten widmet, aber solltet ihr noch einmal eine ganze Woche lang nichts tun, um die euch gestellte Aufgabe zu lösen, werde ich nicht zögern, eure Ausbildung zu beenden.“
    „Aber musstet ihr es gleich verbrennen?“ Barthos konnte es noch immer nicht fassen. Es war jetzt gut ein Jahr her, dass er die Arbeit an diesem Buch – seinem Erstlingswerk! – begonnen hatte. Und auch, wenn Femo ihm mehrmals geraten hatte, aufzuhören, hatte er einiges Herzblut in seine Arbeit investiert.
    Arathus zuckte ungerührt mit den Schultern. „Wie gesagt, es war schlecht. Ich ließ es mir von meinen Konkubinen bringen, weil ich wissen wollte, was so viel wichtiger ist als deine Ausbildung. Ich habe es gelesen und war… enttäuscht.“ Er sah Barthos mit einem tadelnden Blick an, der unmissverständlich sagte: „Wenn du wenigstens etwas Brauchbares zustande gebracht hättest, könnte ich ja noch drüber hinwegsehen, dass du deine eigentliche Aufgabe vernachlässigt hast.“
    „Aber wieso?“
    Nun endlich blickte der Magier auf. „Du schlägst ein absolutistisches Staatsmodell unter einem Philosophenkaiser vor. Tatsächlich finde ich ein derartiges Maß an Naivität beängstigend.“
    „Was ist daran naiv?“, versuchte Barthos sich zu verteidigen. „Ein Herrscher, dessen Handeln einzig von Moral und Vernunft bestimmt ist, der das Wohl aller im Sinne hat…“
    „Das Wohl aller.“ Arathus schnaubte. „Große Worte. Was du vorschlägst, ist eine Diktatur der Tugend. Dein Philosophenkaiser wäre ein Mann deines Schlages. Hochgebildet, doch ebenso hochmütig. Davon überzeugt, zu wissen, was gut für seine Untertanen ist. Besser als sie selbst, die er im günstigsten Falle wie Kinder behandeln würde. Er würde versuchen, die Menschen vor sich selbst zu schützen. Er würde ihnen ihre Freiheit nehmen, weil er davon ausginge, nur er selbst sei gebildet und verständig genug, um mit einer solchen umgehen zu können, ohne zu beachten, dass Freiheit nichts mit Bildung oder Vernunft zu tun hat. Kurz gesagt: Du lässt dein theoretisches Gedankengebäude nicht mit der Realität in Berührung kommen.“
    Barthos fühlte sich geohrfeigt. „Dann seid Ihr auch für eine Volksherrschaft?“
    Arathus gluckste. „Habe ich das gesagt?“
    „Welche Staatsform würdet Ihr denn dann vorziehen?“ Femos Frage überraschte Barthos. Sein Freund schien sogar seine Wut vergessen zu haben. Seine Stimme klang unbeschwert; neugierig. Ihr fehlte der kalte Ton, den sie die letzten Tage gehabt hatte.
    „Eine zeitgemäße.“ Arathus schob die leere Schale Speiseeis von sich und lehnte sich zurück, ohne dass Shirin ihre Arbeit unterbrach. „Vor…“ Sein Blick glitt für einen Moment zur Seite, seine Stirn legte sich in Falten. Er schien angestrengt zu überlegen. „… ungefähr fünfzig Jahren. Ja, ich glaube, es war 809 – nach eurer Zeitrechnung, versteht sich –, aber letztlich ist das ja belanglos. Jedenfalls gab es damals einen Raja im östlichen Kitai, der sehr um seine Untertanen bemüht war. Unter anderem führte er eine allgemeine Schulpflicht für alle Kinder ein.“
    „Ein weiser Herrscher“, sagte Barthos. „Auch wenn ich nicht sehe, was das mit unserem Thema zu tun hat.“
    „Nein, kein weiser Herrscher, ein kurzsichtiger Narr!“, bellte Arathus wütend. „Und du bist es offensichtlich auch. Sein Gesetz zwang die Kinder in die Schulen. Sie konnten nicht mehr bei der Reisernte helfen. Nach mehreren Missernten rebellierte das Volk schließlich und stürmte den Palast des Rajas, der es so gut mit ihnen gemeint hatte. Der Maharadscha selbst musste eingreifen und ein Heer entsenden, um den Aufstand niederzuschlagen.“
    Femo beugte sich mit gerunzelter Stirn vor und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. „Wollt Ihr damit sagen, Kinder sollten nicht zur Schule gehen?“
    „Unter den gegebenen Umständen? Nein. Ein Land ist von bestimmten Lebensumständen und einer bestimmten Mentalität geprägt. Wer ein Land regiert und Gesetze für es entwirft, ohne genau das zu beachten, ist ein törichter Narr und schaufelt sich oder gar dem Land selbst das eigene Grab. Die Demokratie funktionierte im Stadtstaate Trelium. Sie geriet ins Wanken, als sich Treliums Macht auf die umliegenden Gebiete ausweitete. Sie ist unmöglich in einem derart großen Gebiet wie der Ariabischen Liga, dem Mehmedanenreich oder auch nur den myrtanischen Fürstentümern.“
    „Will heißen, sie funktioniert in Stadtstaaten, ist aber für größere Staaten ungeeignet?“, wollte Femo zweifelnd wissen.
    „Momentan, ja. Aber Lebensumstände und Mentalität sind ständigem Wandel unterworfen. Es würde mich nicht wundern, wenn dereinst auch Staaten dieser Größenordnung demokratisch regiert werden könnten. Doch dafür muss sich vieles wandeln. Vor allem, denke ich, verlangt eine Volksherrschaft ein gewisses Maß an Kommunikation und Information. In einem Stadtstaat können sich die Bürger auf dem Marktplatz versammeln. In einem großen Reich gestaltete sich das schwieriger. Momentan jedenfalls leben wir in Ariabia in einer Zeit des Absolutismus und jeder Versuch, daran etwas zu ändern, ohne auch etwas an dem zu ändern, was diesen Absolutismus herbeigeführt hat, wäre zum Scheitern verurteilt. Eine Staatsform muss im Verlauf der Geschichte wachsen, sie kann nicht aufgezwungen werden. Ich hatte gehofft, das hättet ihr durch Milanas Unterricht bereits verstanden. Momentan sind der Adel, der die Hofämter bekleidet, auf der einen und die Bürger und Magier, die die Staatsämter bekleiden auf der anderen Seite ungefähr von gleicher gesellschaftlicher Stärke. Die Macht des Moguls über sie, der eigentlich von beiden komplett abhängig ist, liegt darin, dass keiner der beiden Stände den anderen übertrumpfen kann und der Mogul so die Möglichkeit hat, zwischen ihnen die Waage zu halten und sie gegeneinander auszuspielen. Das wird nicht ewig gehen. Lange lag die Macht allein beim Adel, gut möglich, dass sie zukünftig allein beim Bürgertum liegen wird. Aber dieser Tag ist noch nicht gekommen.“
    Weder Barthos noch Femo wussten darauf etwas zu antworten. Beide starrten sie Arathus schweigend an und versuchten seine Worte zu verarbeiten.
    Der Magier erhob sich unterdessen in einer fließenden Bewegung. „Ich werde mich nun zurückziehen, ehe Swanhild sich noch fragt, wo ich bleibe“, verkündete er.
    Shirin klatschte in die Hände und Indrakshi, Fiona und Nasrin erschienen, um die Tafel abzuräumen.
    „Ach, Shirin.“ Arathus wandte sich in der Tür noch einmal herum. „Morgen beehrt uns die Dame Manizheh mit ihrem Besuch.“
    „Ich werde alles vorbereiten.“ Die Konkubine verbeugte sich lächelnd.
    Arathus ging ohne ein weiteres Wort. Auch Femo erhob sich rasch von der Tafel und verschwand. Die Konkubinen hatten den Tisch abgeräumt. Und ehe Barthos sich versah, war er mit Shirin alleine.
    „Wer ist die Dame Manizheh?“, wollte er wissen und trank dabei den letzten Rest Wein aus seinem Glas aus.
    „Meister Arathus’ Frau.“
    Barthos prustete den Wein über den Tisch. „Seine was?“
    Shirin zog einen Lappen aus einem Ärmel hervor. Grinsend drückte sie ihn Barthos in die Hand. „Was denn?“, fragte sie, als er sich nicht rührte, weil er ganz offensichtlich nicht verstand, was er mit dem Lappen sollte. „Erwartest du, dass ich das jetzt aufwische?“
    „Ich…“ Das hatte er tatsächlich. Er war es gewohnt, dass die Konkubinen sich um alles kümmerten. Shirin schien heute jedoch wieder Gefallen daran zu finden, ihn zu ärgern. Noch immer grinste sie ihn schelmisch an. Er seufzte und begann mehr schlecht als recht über die Tischplatte zu wischen.

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    Die Dame Manizheh


    Barthos hatte versucht, mehr aus Shirin herauszubekommen: „Was weißt du über diese Manizheh?“
    „Sie ist bedeutend jünger als Meister Arathus. Aber inzwischen ist auch sie schon eine alte Frau. Die beiden haben vor langer Zeit geheiratet. Da waren wir alle noch nicht geboren. Der Mogul selbst hat die Ehe arrangiert, soweit ich weiß. Arathus selbst war von niederer Geburt. Und als er Großwesir wurde, entstammten die Staatsbeamten noch nicht alle dem Bürgertum wie heute. Viele Adlige protestierten. Der Mogul verheiratete ihn deshalb mit der Tochter eines angesehenen Hauses.“
    „Eine reine Zweckehe also?“
    Shirin lächelte. Dieses Mal ein völlig unergründliches Lächeln. „Welche Ehe ist das nicht?“, fragte sie, nachdem sie an ihrem Tee genippt hatte.
    Sie saßen an dem Tischchen im Gemach der Konkubinen. Barthos hielt eine Tasse Tee in der Hand. Sein Oberkörper war entblößt und Indrakshi, die hinter ihm stand, massierte ihm die Schultern. Er gab sich keine Mühe, zu verbergen, dass sich nicht nur seine Schultern über diese Behandlung freuten. Das hatte er lange aufgegeben. Und solange Femo nicht in der Nähe war, hatte er seltsamerweise auch keine Probleme damit, sich gehen zu lassen.
    „Schon.“ Barthos wusste nur zu gut, dass man, gerade in so hoher Position, nur selten aus Liebe heiratete. Die Ehe seiner Eltern war eine ebensolche Zweckehe gewesen gewesen, ebenso die seines Bruders. „Ich… hätte es nur irgendwie nicht erwartet. Bei Arathus, meine ich.“
    Die Oberkonkubine kicherte belustigt. „Auch Meister Arathus ist ein ganz gewöhnlicher Mensch. Es ist übrigens auch nicht so, dass er die Dame Manizheh nur geheiratet hat, weil es von ihm verlangt wurde. – Das heißt, doch, hat er. Freiwillig wäre er wohl keine Ehe eingegangen. Aber was ich sagen möchte, ist, dass er seiner Braut gegenüber nicht abgeneigt war. Die Dame Manizheh ist sehr gebildet und soll damals auch sehr schön gewesen sein.“
    „Also so wie ihr.“
    Shirin ließ ein verschämtes Kichern hören wie ein halbwüchsiges Mädchen, dem ihr großer Schwarm zum ersten Mal ein Kompliment gemacht hatte, und nippte wieder an ihrem Tee.

    Die Dame Manizheh kam in einer Sänfte, begleitet von einer ganzen Karawane aus Kamelen und Dienern.
    Arathus hatte sie sich zur Begrüßung alle vor dem Eingang seines Palastes versammeln lassen. Er selbst stand ganz vorn, gehüllt in seinen purpurnen Umhang. An seinem Turban steckte neben der Pentagrammbrosche heute auch eine prächtige Pfauenfeder.
    Seine beiden Schüler standen in einigem Abstand hinter ihm. Barthos und Femo trugen golddurchwirkte, traditionelle ariabische Gewänder und hatten beide einen Fes mit blauer Quaste auf dem Kopf.
    Direkt hinter ihnen standen die sieben Konkubinen in ihren üblichen bunten Gewändern.
    Die Sänfte wurde am Fuße der Rampe abgestellt, die zu ihnen hinaufführte. Zwei Eunuchen traten vor und zogen die Vorhänge mit gesenkten Köpfen beiseite. Zum Vorschein kam eine Frau in feinen grünen und roten Gewändern. Ihr ergrautes Haar, das ihr bis über die Hüften reichte, wurde von einem perlenbesetzten Schleier gehalten und war am Ende durch ein goldenes Band locker zusammengebunden. Mit anmutigen Bewegungen erhob sich die Frau aus der Sänfte und schritt lächelnd die Rampe hinauf. Sie war alt. Sehr alt. Barthos konnte kaum glauben, dass sie viele Jahrzehnte jünger sein sollte als Arathus. Doch vielleicht wirkte das Mittel, das Shirin allabendlich auf dem Kopf ihres Meisters verteilte, besser, als er vermutet hatte.
    „Es ist mir eine große Freude.“ Arathus verbeugte sich tief.
    „Die Freude ist ganz meinerseits.“ Auch die Dame Manizheh verbeugte sich. Auf ihrer Brust ruhte ein sehr fein gearbeitetes goldenes Amulett in Form eines gleichschenkligen Dreiecks mit einer Triskele in der Mitte, deren Spiralen sich in die Ecken des Dreiecks fügten. „Und dies sind dann wohl deine Schüler?“ Sie schaute an Arathus vorbei auf Barthos und Femo. „Zwei Feuermagier aus Myrtana“ – Manizheh ließ ein glockenhelles Lachen erklingen – „Arathus, also wirklich!“ Ihr Blick glitt wieder zu ihrem Mann hinüber. „In Agadir zerreißen sie sich schon das Maul über dich. Sie sagen, der alte Zausel ist endgültig verrückt geworden.“
    „Sie werden Recht haben“, entgegnete Arathus gleichmütig. „Aber lass uns nicht hier draußen stehen bleiben. Drinnen ist es angenehmer.“
    „Ich war anderthalb Tage in dieser Sänfte. Ein wenig frische Luft wird mich jetzt nicht umbringen. Aber du hast Recht. Gehen wir hinein.“
    Manizheh hakte sich bei Arathus unter und ließ sich ins Innere des Palastes führen. Wie auf ein stummes Kommando setzten sich auch die Konkubinen in Bewegung. Shirin, Milana und Swanhild schritten die Rampe hinab zur Karawane, wohl, um sich um deren Unterbringung zu kümmern. Die übrigen Frauen verschwanden wieder nach drinnen, wo sie mit den Vorbereitungen für das Abendessen begannen. Barthos und Femo blieben etwas ratlos zurück.

    Einige Stunden später saßen sie zu viert am Tisch und aßen zu Abend. Barthos hatte das Gefühl, dass sich die Konkubinen heute besondere Mühe mit dem Essen gegeben hatten. Andererseits schmeckte einfach alles göttlich, was sie ihnen vorsetzten. Shirin war heute nicht zugegen. Und Arathus trug auch noch immer seinen Turban mit der Pentagrammbrosche und der Pfauenfeder. Doch das war nicht der einzige Unterschied zu sonst. Ein leichtes Lächeln umspielte die Lippen des alten Magiers. Die Strenge und Härte, die sein Gesicht normalerweise zeichnete, war verschwunden.
    Barthos wurde einfach nicht schlau aus alledem. Er war noch immer völlig überrumpelt davon, dass Arathus überhaupt eine Frau hatte. Es wollte einfach nicht zu ihm passen. Gut, Shirins Erklärung ließ Barthos sich gefallen. Aber wenn diese Ehe nicht mehr als ein politisches Manöver gewesen war, was sollte dann das hier? Hätte er es nicht besser gewusst, Barthos hätte gesagt, Arathus sei tatsächlich in diese Frau verliebt. Aber das konnte er sich einfach nicht vorstellen. Nicht Arathus. Und wenn doch, wieso lebte sie dann nicht bei ihm? Wieso verbrachte er seine Zeit dann lieber mit sieben Konkubinen?
    „Was schaut ihr so verwirrt drein?“ Manizheh blickte Barthos und Femo fragend an. Sie hatte überaus wache Augen, die im Gegensatz zu ihrem Körper jung und unverbraucht wirkten. Ihr Blick war völlig anders als der ihres Mannes, doch nicht von minder starker Wirkung. Anders als Arathus’ Augen hielten ihre einen gefangen, wenn sie einen anschaute und ließen einen nicht zusammenzucken und ausweichen.
    „Nun ja…“ Barthos senkte den Blick. Er wollte nicht unhöflich sein und schon gar nicht Arathus’ Zorn heraufbeschwören.
    Auch Femo druckste herum: „Es ist nur… Also…“
    „Ich sehe, du jagst deinen Schülern noch immer Angst ein“, wandte sich Manizheh belustigt an Arathus.
    Dieser zuckte mit den Schultern. „Du siehst, es ihnen austreiben zu wollen, ist vergebene Mühe.“
    Sie aßen schweigend weiter. Barthos war sich nicht sicher, ob das Thema damit vom Tisch war, doch er traute sich nicht, es noch einmal anzusprechen. Umso überrumpelter war er, als Manizheh wieder den Kopf von ihrem Teller hob, Arathus anblickte und lächelnd sagte: „Ich weiß, dass du auf deine alten Tage recht geduldig geworden bist verglichen mit früher, aber ich muss zugeben, ich bin beeindruckt. Es mit Schülern auszuhalten, die derart lange für die Beantwortung einer simplen Frage benötigen.“
    Arathus lachte. „Wenn du wüsstest. Mit nichts anderem sind sie beschäftigt, seit sie hier sind.“
    „Es…“ Femo zögerte. „Es ist nur… Nun, Ihr seid verheiratet, doch Ihr lebt getrennt und… Und Meister Arathus…“
    „Hält sich seinen privaten kleinen Harem?“ Manizheh lächelte noch immer hintergründig.
    „Äh… genau.“
    „Nun, ich pflege gerne zu sagen, in einer guten Ehe, sind beide Partner ein Stückchen unverheiratet.“
    „In unserem Falle ein großes Stückchen“, ergänzte Arathus und fügte dann, die Augen schon wieder auf sein Essen gerichtet, hinzu: „Getrennte Schlafzimmer reichen mitunter eben nicht aus.“
    Manizheh ergriff wieder das Wort, während sie ihren Fisch zerschnitt: „Ich kenne viele der Balladen eurer Minnesänger und viele Erzählungen über die Bräuche und die Menschen in eurem Land. Ich muss sagen, mir erschien eurer Verhältnis zur Liebe schon immer höchst ungesund.“
    Sie ließ diese Aussage so im Raum stehen und wandte sich wieder ganz ihrem Mann zu. Femo und Barthos schwiegen, während die beiden sich angeregt unterhielten. So beendeten sie ihr Mahl, bis Arathus heute einmal selbst in die Hände klatschte und drei der Konkubinen hereinkamen, um den Tisch abzuräumen. Arathus und Manizheh zogen sich derweil gemeinsam zurück.

    Die Dame Manizheh blieb für zwei Wochen. Während dieser Zeit war in Arathus’ Heim beinahe nichts wie sonst. Das lag in erster Linie daran, dass die Konkubinen alle Hände voll zu tun hatten. Sie mussten sich nicht nur um Manizheh selbst kümmern, sondern auch die Versorgung ihres Gefolges gewährleisten.
    Barthos wünschte sich schon bald, die Frau seines Meisters würde rasch wieder abreisen, damit wieder Normalität einkehren konnte. Er langweilte sich zu Tode, denn es gab nun nichts mehr, womit er seine Zeit totschlagen konnte. Femo war noch immer wütend auf ihn, die Suche nach der Bedeutung der Eins hatte er aufgegeben und an seinem Manuskript konnte er auch nicht weiterschreiben. Zudem vermisste er einfach das Leben bei Arathus, wie es gewesen war und an das er sich gewöhnt hatte. Er vermisste den Unterricht der Konkubinen. Er vermisste die mittäglichen Teestunden in ihrem Gemach. Vor allem vermissten er ihre Bäder und Massagen.
    Das war nicht alles. Barthos wusste nicht, ob die Konkubinen sich langweilten, weil Arathus sie nicht mehr auf sein Zimmer nahm, oder ob sie sich einfach nach etwas Ablenkung sehnten, aber er hatte den dringenden Verdacht, dass sie einigen der jungen Männer in Manizhehs Gefolge nicht nur durch ihre Kochkunst angenehme Stunden bereiteten. Der Verdacht erhärtete sich, als er eines Tages durch die Gänge des Palastes lief, als direkt vor ihm einer von Manizhehs Männern stark verschwitzt aus einer Kammer trat, gefolgt von einer kichernden und zerzausten Milana. Barthos störte sich nicht daran, dass die Konkubinen sich etwas Abwechslung von Arathus gönnten. Doch zu seiner Schande musste er sich eingestehen, dass er sich sehr wohl daran störte, dass sie dies nicht mit ihm taten. Unwillig fragte er sich, was diese Männer hatten, was er nicht besaß.
    Femo schien es ganz anders zu ergehen. Weder verspürte er irgendwelchen Neid, noch wurde ihm langweilig. Zumindest konnte Barthos weder das eine noch das andere an ihm entdecken. Stattdessen bemerkte er, wie Femo an dem vierten Tag ihres Besuches anfing, sich in den wenigen Momenten, die sie nicht mit ihrem Mann verbrachte, mit Manizheh zu unterhalten. Barthos wusste nicht, worüber, doch es schienen sehr angeregte Konversationen zu sein. Gerne hätte er gewusst, wie man mit Arathus’ Frau ins Gespräch kam, aber fragen konnte er Femo nicht, solange dieser noch wütend war. Und er selbst traute sich nicht so recht an Manizheh heran, da er immer noch nicht wusste, was er von ihr zu halten hatte.

    Die Abreise der Dame Manizheh glich ihrer Ankunft. Wieder hatten sie sich in ihren besten Kleidern vor dem Eingang versammelt. Dieses Mal jedoch, um sie zu verabschieden, nicht um sie zu begrüßen. Arathus geleitete seine Frau, die sich bei ihm eingehakt hatte, persönlich zu ihrer Sänfte.
    Barthos schaute ihnen nach, als ihm plötzlich jemand auf die Schulter tippte. Er erschrak und sein Kopf fuhr herum. Es war Femo und sein Gesicht strahlte vor gespannter Freude. „Ich weiß vielleicht, wie wir das mit der Eins rausfinden.“ Als Barthos ihn nur leicht perplex ansah, fuhr er fort: „Der Anhänger, den die Dame Manizheh um den Hals getragen hat. Ist er dir nicht aufgefallen?“
    „Äh, doch, aber was hat das mit der Eins zu tun?“
    „Weiß ich nicht. Eben das müssen wir herausfinden!“
    Barthos hob zweifelnd die Brauen. War sein Freund nun verrückt geworden? Das ergab doch keinerlei Sinn.
    „Ich habe sie nach Arathus’ Aufgabe gefragt“, erklärte Femo. „Und nach Shirins Hinweis. Sie schien Bescheid zu wissen, wollte es mir aber nicht erklären. Aber sie sagte, ich müsse das verstehen, wofür das Zeichen steht, was sie trägt, dann verstünde ich auch die Eins.“
    „Hm.“ Das klang recht vage und nicht viel besser als Shirins orkischer Tipp. Aber es war besser als nichts und je länger er ihm ins Gesicht blickte, desto mehr ließ Barthos sich von Femos Euphorie anstecken. Es war schön, ihn wieder Lächeln zu sehen. Ob es an der Aussicht auf Lösung des Rätsel lag? Vielleicht hatte Femo seine Wut auf ihn nur vergessen und er Trottel erinnerte ihn nun wieder daran, aber er musste sich Gewissheit verschaffen: „Du bist mir nicht mehr böse?“
    Das Lächeln in Femos Gesicht erstarb. Doch es nahm auch nicht wieder diesen eisigen Ausdruck an. Vielmehr lag Bedauern darin. „Nein. Tut mir leid. Ich habe etwas überreagiert.“
    „Woher der plötzliche Sinneswandel?“
    „Durch ein Gespräch mit Manizheh.“
    „Was hat sie dir gesagt? Und warum warst du überhaupt sauer?“
    Femo biss sich auf die Lippe. „Ich bin es nicht mehr. Das kann dir doch reichen, oder?“, sagte er dann wieder etwas schroffer, als wolle er unmissverständlich klarmachen, dass er das Thema für abgeschlossen hielt. „Konzentrieren wir uns lieber auf dieses Zeichen, das sie trug.“
    „Worauf wartet ihr denn noch? Na los, rein! Ihr habt genug gefaulenzt in den letzten Tagen!“ Arathus stand vor ihnen. Seine Stimme klang wieder barsch und ungeduldig, seine Brauen hatte er wütend zusammengezogen. Fast hätte Barthos gelächelt, denn alles war wieder wie vorher.
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    Die Bedeutung der Eins


    „Ich hab es!“
    „Zeig her!“ Barthos ließ das Buch, das er durchsucht hatte, aus den Händen fallen, schnellte in die Höhe und lief zu Femo hinüber.
    „Es ist das Zeichen des Rakultes.“
    „Rakult?“
    „Du weißt schon, Ra. Am Anfang erschien Ra und wandelte durch die Weiten des Morgrad. Und Ra teilte sich in Innos, Adanos und Beliar. Und so weiter, und so fort.“
    „Ich weiß, wer Ra ist.“ Barthos kniete sich neben Femo und versuchte über seine Schulter in das Buch zu sehen.
    „Hier steht, der Rakult ist recht verbreitet auf der Insel Aman“, fuhr Femo fort. „Aber er hat auch noch Anhänger im Nordwesten Ariabias. Stammt wahrscheinlich aus der Zeit, als dieses Gebiet unter Herrschaft Amans stand.“
    Das musste Femo nun wirklich nicht erwähnen. Milana hatte sie die Geschichte der Südlichen Inseln auswendig lernen lassen. Barthos wusste, dass das nahe Aman einst kleine Teile Ariabias erobert hatte. Aber im Augenblick interessierte ihn das wenig. „Was hat es jetzt mit diesem Symbol auf sich? Viel wichtiger: Was hat es mit der Eins zu tun?“
    „Ich bin ja dabei“, entgegnete Femo leicht ungehalten. Seine Augen glitten suchend über die Seiten. „Okay… sie sagen, Ra habe sich nicht wirklich geteilt in drei unterschiedliche Gottheiten, er habe nur drei Wesen. Ein dreifaltiger Gott quasi.“ Femo blätterte zwei Seiten weiter. „Und hier… hier wird das Symbol erklärt, siehst du? Drei miteinander verbundene Spiralen in einem Dreieck… Hm, das soll die drei Gesichter des Ra symbolisieren. Also im Prinzip unsere drei Götter, nur eben als Einheit. Deswegen das Dreieck als Rahmen. Nur wo ist da der Zusammenhang mit Arathus’ Aufgabe?“
    Schweigend saßen sie da. Dachten nach. Resignierten. Sie hatten auf eine simple Lösung gehofft, darauf, die Antwort würde einfach in einem Buch stehen und sie müssten es nur finden. Dann begriff Barthos, dass sie die genaue Antwort nie finden würden. Dass sie sie sich würden erschließen müssen. Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. „Ich hab’s!“
    „Was hast du?“
    „Na die Antwort! Die Antwort lautet, alles ist eins!“
    „Hä?“ Verwirrt und leicht mit dem Kopf schüttelnd, als könne er so seine Gedanken ordnen, blickte Femo zu ihm auf.
    „Na das ist das, was wir lernen, seit wir hier sind! Das ist das, was uns die Konkubinen die ganze Zeit beibringen. Überleg doch mal! Nasrin hat uns beigebracht, dass das ganze Universum aus einem einzigen Punkt heraus entstanden ist. Es ist im Grunde eins und hat sich nur in seine Bestandteile aufgespaltet. Genauso wie in diesem Rakult die drei Götter eins sind. Milana sagt, alle Menschen und damit alle Kulturen haben ein und denselben Ursprung. Shirin hat uns beigebracht, dass alle Sprachen voneinander abstammen und sich nur auseinanderentwickelt haben. Indrakshi hat immer wieder betont, dass der Körper eine Einheit ist und nur als solche funktionieren kann. Sie sagte, wenn Teile des Körpers diese Einheit vergessen und sich vom Rest abspalten, entsteht Krebs. Fiona und Milana haben uns gezeigt, dass alles in der Natur und in der Gesellschaft aufeinander einwirkt. Jede Isolation ist Illusion. Beziehungsweise, was sagte Milana noch mal?“
    „Isolation bedeutet Stagnation!“, nahm Femo den Faden auf, nun ebenso begeistert wie Barthos. „Sie sagte, eine völlig isolierte Kultur könne sich kaum weiterentwickeln. Sie sagte, alle Kulturen beeinflussen einander. Selbst wenn wir es nicht gleich sehen. Sie hat uns erklärt, inwiefern Ariabia Einfluss auf Nordmar hatte und umgekehrt. Sie hat gesagt, alles ist miteinander verknüpft, aber teilweise so kompliziert, dass wir es nicht erkennen.“
    „Genau! Und ich glaube, das ist die Antwort. Ich glaube, das ist, was Arathus uns die ganze Zeit klarmachen wollte! Die Eins ist der Ursprung von allem und alles lässt sich auf die Eins reduzieren, genau wie in der Mathematik!“

    „Und wisst ihr auch, was das für das Wirken von Magie bedeutet?“, fragte Arathus mit nicht weniger Schroffheit in der Stimme als sonst auch. Er hatte ihrer beide Ausführung stumm gelauscht, ohne die kleinste Regung oder das geringste Anzeichen von Zufriedenheit mit seinen Schülern.
    „Ihr hattet es eigentlich schon ganz zu Anfang erklärt“, sagte Barthos. Auch darüber hatten sie sich noch Gedanken gemacht, bevor sie ihren Meister aufgesucht hatten. „Ihr sagtet, wir müssten die Natur des Mana begreifen, bevor wir es nutzen könnten. Und, nun, das IST seine Natur, richtig? Mana ist allgegenwärtig, gibt allem seine Form, ermöglicht Bewegung jeglicher Art. Das waren Eure Worte. Alles ist eins. Und alles ist verbunden durch das Mana.“
    „Ja, richtig, das waren MEINE Worte.“ Arathus hatte die Stirn ungehalten in Falten gelegt. Seine Augenbrauen waren wieder zu einer einzigen verschmolzen. „Es freut mich, dass ihr sie euch gemerkt habt, doch wenn ich sie selbst vergessen sollte und wünsche, dass man sie wiederholt, dann sage ich das auch. Ich möchte wissen, was das alles konkret für euch als Magier bedeutet. Wir betreiben hier keinen Philosophiekurs und wir sitzen auch nicht in einem burjakischen Kloster und Ergründen das Wesen allen Seins, erkennen, dass alles Illusion ist und nur das Mana existiert. Wir wollen zaubern. Und ich versuche noch immer, euch die Grundlagen beizubringen.“
    Barthos senkte den Kopf. Wieder war es, als hätte ihm Arathus eine Ohrfeige versetzt. Er hatte geglaubt, sie hätten das Rätsel endlich gelöst. Er hatte geglaubt, ihr Meister würde wirklich einmal zufrieden mit ihnen sein.
    Doch Femo ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Mit in Bartos’ Augen geradezu beeindruckender Ruhe und Selbstverständlichkeit sagte er: „Es geht um den Unterschied zwischen unserem myrtanischen Magieverständnis und dem, was Magie wirklich ist, und was man begreifen muss, um sie ohne Hilfsmittel zu benutzen, richtig? Es geht darum, uns zu zeigen, dass Barthos’ erster Versuch, Magie zu definieren falsch war. Sie ist nicht die göttliche Essenz, zumindest nicht göttlich im Sinne unseres Götterbegriffs. Vielleicht im Sinne des Götterbegriffs des Rakults. Aber das ist egal. Und sie lagert sich nicht in Magischem Erz ab. Sie ist überall. In uns und um uns. Das müssen wir verstehen, weil wir sonst nie lernen werden, dass wir das Mana, das wir nutzen, nicht aus Runen aus Magischem Erz ziehen müssen, sondern aus uns selbst oder unserer Umgebung beziehen können.“
    Arathus nickte wohlwollend. „Ja. Magisches Erz besitzt ganz besondere Eigenschaften, die sich noch niemandem vollends erschlossen haben. Es ist nicht einfach ein stärkerer Magiespeicher als alle anderen Stoffe, es gibt sie vielmehr leichter wieder ab. Man kann das darin enthaltene Mana leicht auf anderes lenken. Noch leichter, wenn entsprechende Runenzeichen in das Erz eingelassen sind, die, wie ihr von Swanhild wissen dürftet, alle das Mana auf ganz eigene Art kanalisieren. Aber nur weil Zaubern mithilfe von Erz oder Runen leichter ist, ist das nicht der einzige Weg. Und es mag schwerer sein, euer eigenes Mana auf anderes zu lenken, es ist, zur Perfektion gebracht, aber auch eine weit machtvollere Kunst. Ihr könnt nun endlich dazu übergehen, sie tatsächlich zu erlernen.“
    „Ist es nicht mal wieder Zeit für Fragen, bevor wir fortfahren?“, wollte Femo wissen.
    Was sollte nun das? Was gab es zu fragen? Barthos verstand nicht, was sein Freund wollte, und Arathus schien ebenfalls überrascht. Eine seiner Brauen zuckte leicht in die Höhe. Dennoch willigte er ein: „Wenn du eine Frage zu stellen wünschst, stell sie.“
    „Ich frage mich seit einiger Zeit, wie alt Ihr tatsächlich seid, wenn das gestattet ist. Seit dem Besuch der Dame Manizheh, um genau zu sein. Sie ist sehr alt. Und sie soll mehrere Jahrzehnte jünger sein als Ihr.“
    „Ich bin einhundertvierundzwanzig Jahre alt.“
    Barthos’ Mund klappte auf. Er hatte immer gewusst, dass Arathus alt war, doch mit einem so hohen Alter hatte er nicht gerechnet. Nun verstand er, dass der Magier vor dreißig Jahren geglaubt hatte, seinen Tod nahen zu fühlen. Er verstand auch, dass Arathus gesagt hatte, sie wollten gar nicht wissen, wie seine Haut ohne das Mittel, mit dem Shirin sie einrieb, aussähe.
    Auch Femo schien überrascht, fing sich jedoch schneller. „Sind es die Mittel Eurer Konkubinen, die Euch so ein langes Leben ermöglichen?“
    „Nein.“ Arathus’ Blick verfinsterte sich langsam und ihm war deutlich anzusehen, dass ihm dieses Thema nicht gefiel. „Die Welt sähe anders aus, wenn ein paar Salben und Tinkturen das Leben verlängern könnten. Sie bewirken lediglich, dass ich nicht aussehe und nicht so gebrechlich bin, wie ich es als Hundertvierundzwanzigjähriger sein sollte.“
    Kurz zögerte Femo, dann fragte er: „Ist es das, was hinter der Eisentür ist, was Euch so lange am Leben hält?“
    Die Miene des Magiers erstarrte zu Stein. Dann schnellte er plötzlich in die Höhe und schrie: „HINAUS!“
    Barthos schrak zusammen. Dann sprang er auf die Beine und hastete zur Tür. Die Stimme des Magiers ließ für ihn keinen Zweifel daran, dass Arathus ihnen Feuerbälle hinterjagen würde, wenn sie nicht sofort taten, was er sagte. Femo schätzte die Lage wohl ähnlich ein wie er und rannte ihm nach. Als er wenige Meter auf den Gang hinausgerannt war, hörte Barthos ihren Meister die Tür hinter ihnen zuschlagen.

    An diesem Abend brachten die Konkubinen Barthos nach dem Baden nicht in den Speisesaal. „Er will nicht mit euch zu Abend essen“, erklärte Milana entschuldigend. „Ich habe ihn selten so wütend erlebt.“ Sie führte ihn gemeinsam mit Femo ins Gemach der Konkubinen, wo sie sie allein zurückließ, weil sie das Abendessen auftragen musste. Die beiden Freunde sprachen nicht miteinander. Beide stellten sie sich stumm dieselbe Frage: Würde Arathus ihre Ausbildung beenden und sie herauswerfen, noch ehe sie auch nur einen Zauber gewirkt hatten?
    Später gesellten sich sechs der Konkubinen zu ihnen. Shirin fehlte, da sie heute Nacht Arathus’ Gespielin war. Sehr zur Freude ihrer knurrenden Mägen, brachten die Konkubinen Essen. Femo und Barthos, die sich bisher keinerlei Gedanken darüber gemacht hatten, erfuhren, dass die sechs Konkubinen, die ihre Nacht nicht mit Arathus zubrachten, immer gemeinsam in ihrem Gemach speisten, wenn ihr Meister und seine Schüler sich bereits zurückgezogen hatten.
    Sie schwiegen beim Essen. Auch die Konkubinen schienen nicht recht zu wissen, wie es nun weitergehen würde. Barthos hatte den Eindruck, dass sie heute Abend weniger fröhlich als sonst waren. Sie sprachen nicht viel und kicherten auch nicht, wie sie es sonst taten. Das bedrückte ihn sogar noch mehr als die Ungewissheit, was Arathus mit ihnen tun würde.
    Als sie aufgegessen hatten, brachten die Konkubinen die beiden Freunde in ihre Zimmer. Noch lange lag Barthos wach und fragte sich, ob dies vielleicht seine letzte Nacht in diesen Mauern sein würde, ob er nie die Kunst der Magie von Arathus erlernen würde und ob dies heute Abend sein letztes Bad mit den Konkubinen gewesen sein sollte.
    Geändert von Jünger des Xardas (01.08.2011 um 11:11 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Eine kleine Lektion


    Eine Hand strich sanft über seine Wange. Barthos blinzelte. Über sich sah er die sanften Züge und die tiefen braunen Augen Nasrins. Sie lächelte, wie sie es immer tat, wenn sie ihn weckte. „Komm schon, raus aus den Federn.“
    Zögernd erhob er sich und ließ sich von ihr ankleiden. Was war los? Alles war wie immer. Und eben das überraschte ihn. Die Konkubine gab sich als sei nichts geschehen. Hatte er etwa alles nur geträumt?
    „Wisst ihr inzwischen, was Arathus beschlossen hat?“, fragte er zögerlich.
    „Es ist alles in Ordnung. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Ich glaube, er hat euch verziehen.“
    „Wirklich?!“ Barthos fiel ein Stein vom Herzen.
    „Wenn nicht, hätte er euch schon längst rausgeworfen, richtig? Und jetzt beeil dich, du willst doch nicht zu spät zum Unterricht bei Shirin kommen, oder?“
    Nein, das wollte er wirklich nicht. Schon gar nicht jetzt. Lange hatte er sich nicht mehr so sehr auf den Unterricht gefreut, was etwas heißen wollte, denn er freute sich immer, wenn er Shirin auch nur zu Gesicht bekam.

    Femo konnte ähnlich wie Barthos kaum glauben, dass Arathus’ Zorn wieder abgeklungen war, aber beide beschlossen gemeinsam, dass es das Beste wäre, sich einfach darüber zu freuen und sich keine weiteren Gedanken zu machen, während sie sich in Richtung Konkubinengemach begaben.
    Shirin empfing sie mit ihrem bezauberndsten Lächeln und nahm Barthos damit endgültig jeden finsteren Gedanken. Gemeinsam mit Femo setzte er sich an den Tisch und schaute der Konkubine zu, wie sie kurz in ihrem Zimmer verschwand und nach wenigen Momenten mit einem Tablett zurückkehrte. Es war zum festen Ritual geworden, dass sie ihnen erst Tee servierte, bevor sie ihren Unterricht begann. Wie stets bewunderte Barthos die Anmut, mit der sie die drei Tassen vor ihnen platzierte und dann das heiße Wasser in die Tassen goss. Doch heute war es damit nicht getan. Sie zog ein kleines Fläschchen aus ihrem Dekolleté und träufelte einen Tropfen seines Inhalts in Femos Tee. Es war eine völlig klare Flüssigkeit. Man hätte es für Wasser halten können. Shirin nahm eine andere Flasche, aus der sie einen Tropfen in ihren eigenen Tee gab. Schließlich wurde auch in Barthos’ Tasse eine Flüssigkeit aus einem dritten Fläschchen hinzugegeben.
    „Was ist das?“, wollte Femo wissen.
    „Gift.“ Shirin lächelte unschuldig, nahm ihre Tasse mit beiden Händen, wie sie es immer tat, und pustete vorsichtig hinein.
    „Hm.“ Femo war anzusehen, dass er mit dieser Erklärung nicht zufrieden war. Barthos war es auch nicht. Aber sie beide kannten Shirin gut genug, um zu wissen, dass sie sich weiteres Nachfragen sparen konnten. Sie erlaubte sich wieder einen Spaß mit ihnen, indem sie sie im Dunkeln ließ. In Wahrheit war es wohl irgendein Stoff, der dem Tee ein stärkeres Aroma verlieh, oder dergleichen und so nippten sie gespannt an ihren Tassen.
    „Bereit für die erste Lektion des Tages?“ Shirin blickte Femo an, die Tasse an ihren Lippen, jedoch ohne zu trinken.
    „Klar. Was ist es? Lernen wir endlich Orkisch? Jetzt, wo wir Arathus’ Aufgabe gelöst haben, musst du es uns ja nicht mehr vorenthalten.“
    Shirin schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Heute möchte ich euch als allererstes eine simple Lebensweisheit beibringen. Bist du bereit, sie zu hören?“
    „Sicher.“ Kam es Barthos nur so vor oder fiel Femo das Atmen schwerer?
    „Gut.“ Shirins Lächeln wurde breiter. Es nahm den spitzbübischen Ausdruck an, der sich so oft auf ihr Gesicht schlich. Mit geschürzten Lippen nippte sie an ihrem Tee, bevor sie Femo über den Rand ihrer Tasse hinweg ansah. „Die heutige Lektion lautet: Wenn jemand Gift in deinen Tee schüttet und es dir auch noch sagt, dann trink ihn nicht.“
    Röchelnd brach Femo zusammen.
    Barthos sprang auf, griff seinen Freund bei den Schultern und schüttelte ihn. Keine Reaktion. „Was hast du getan?!“, schrie er Shirin an.
    Die Konkubine nippte gelassen an ihrem Tee. Das Lächeln war nicht aus ihrem Gesicht gewichen. „Ich habe Gift in die Tasse geschüttet. Das sagte ich gerade. Übrigens hatte ich euch versprochen, es anzukündigen, wenn ich das jemals tun sollte.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Selbst schuld, wenn ihr nicht auf mich hört.“
    Fassungslos starrte Barthos ins Gesicht seines Freundes. Erst nach einer Weile fiel ihm ein, dass auch er bereits einen Schluck Tee getrunken hatte. Panisch spuckte er mehrmals auf den Teppich, obwohl er den Tee längst heruntergeschluckt hatte.
    Shirin gluckste. „Das machst du aber sauber. Wenn in deinem Tee dasselbe Mittel gewesen wäre, lägst du jetzt übrigens neben ihm. In unsere beiden Tassen habe ich nur je einen Tropfen Wasser gegeben. Kein Grund zur Sorge also.“ Und wie um ihre Worte zu bekräftigen, nahm sie einen weiteren Schluck Tee.
    Barthos starrte wieder in Femos Gesicht, dann sprang er auf und stürmte hinaus. Eine gewaltige Wut, wie er sie noch nie verspürt hatte, hatte sich seiner bemächtigt. Er wollte nur noch eines: Arathus finden und ihm wehtun.
    Er rannte durch die Gänge des Palastes. Er rannte zu Arathus’ Gemächern. Wie wahnsinnig hämmerte er auf die Tür ein. Endlich, nach endlos langer Zeit, wurde sie geöffnet und der Magier trat mit leicht erbostem Ausdruck heraus. „Ihr!“ Barthos zielte direkt auf Arathus’ Nase. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, schlug er zu. Ein Windstoß ergriff ihn und schleuderte ihn gegen die nächste Wand. Die Schmerzen, die er sich beim Aufprall zuzog, ignorierend, sprang Barthos auf die Beine und griff abermals an. Und abermals wurde er gegen die Wand gestoßen. Doch dieses Mal konnte er sich nicht mehr erheben. Etwas Fremdes hatte von seinem Körper Besitz ergriffen, hielt ihn in einer magischen Klammer und machte jede Regung unmöglich.
    „Bist du jetzt fertig?“ Arathus schaute gelangweilt auf ihn herab. „Wenn du denkst, deinen Freund damit wieder aufwecken zu können, muss ich dich enttäuschen. Falls es dich beruhigt: Das Gift ist nicht tödlich. Er ist nur bewusstlos. Er wird es einige Tage bleiben, dann wird er wieder erwachen. Und danach, das verspreche ich, wird wieder alles seinen gewohnten Gang gehen. Ich habe nicht vor, euch zu schaden, oder euch gar zu töten. Nicht einmal, wenn ihr die Tür tatsächlich geöffnet hättet, hätte ich das getan. Und du musst eine ziemlich schlechte Meinung von mir haben, wenn du das denkst. Ich hielt es lediglich für nötig, euch eine kleine Lektion zu erteilen, weiter nichts.“ Ein lockerer Schlenker seiner Hand und Barthos fühlte die magische Klammer von sich abfallen. Dennoch rührte er sich nicht, sondern blieb keuchend liegen, den wütenden Blick in die Augen seines Meisters gerichtet. „Ich würde dir vorschlagen, dich zu beruhigen und deinen Unterricht fortzusetzen. Die Konkubinen werden sich um Femo kümmern, bis er erwacht. Solltest du es aber vorziehen, mir weiter zu zürnen und mich abermals anzugreifen, bist du die längste Zeit mein Schüler gewesen.“
    Einen Moment starrte Barthos den alten Magier noch voller Zorn an, dann senkte er geschlagen den Kopf.
    „Gut.“ Arathus wirbelte herum und schritt durch die Tür in sein Gemach zurück. „Ach, eines noch: Wenn Femo erwacht ist, ist diese Sache vorüber. Es wird kein Wort mehr über die eiserne Tür oder das, was dahinter sein mag, verloren. Nie mehr. Andernfalls werde ich eure Ausbildung umgehend beenden.“ Der Magier schlug die Tür hinter sich zu und ließ Barthos wütend und hilflos zurück.

    „Da bist du ja wieder! Dann können wir ja endlich mit dem Unterricht anfangen!“ Shirin strahlte ihn an, als sei nichts gewesen. Ihre Tasse hatte sie ausgetrunken. Seine und Femos standen noch immer, wie er sie zurückgelassen hatte. Doch Femo selbst fehlte.
    „Wo ist Femo?!“
    „In seinem Zimmer. Die anderen kümmern sich um ihn.“ Shirin wies auf Barthos’ Platz ihr gegenüber. „Setz dich. Wir haben schon genug Zeit vertrödelt, meinst du nicht?“
    „Was?“ Völlig perplex schaute Barthos die Konkubine an. Ihm war, als sähe er alles wie durch einen Schleier. Alles schien so surreal. Sein Freund war gerade vergiftet worden und Shirin saß da, lächelte fröhlich und wartete nur darauf, ihren Unterricht zu beginnen. „Du willst mich jetzt unterrichten?“
    Sie gluckste. „Femo wird einige Tage nicht aufwachen, denkst du, du hast solange frei?“
    Wut kochte wieder in Barthos hoch. Wie konnten sie das alle so gelassen nehmen? „Ich kann doch nicht einfach so tun als wäre nichts passiert!“, fuhr er sie an. Im nächsten Moment senkte er beschämt die Augen. „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht anschreien.“
    „Ist schon gut.“ Sie lächelte gutmütig. „Ich verstehe dich ja. Du sorgst dich um Femo. Das spricht nur für dich und ist ganz normal, wenn man verliebt ist. Aber bitte glaube mir, ihm wird nichts geschehen und die anderen kümmern sich um ihn so gut sie können. Es ist alles in Ordnung, du kannst ganz beruhigt sein.“
    Barthos erstarrte und riss die Augen auf. „Was hast du gerade gesagt?“, krächzte er.
    „Das alles in Ordnung ist und du dich beruhigen kannst“, entgegnete sie lächelnd.
    „Shirin, spiel nicht mit mir! Nicht jetzt! Du weißt genau, was ich meine!“
    „Weiß ich.“ Ihr Lächeln blieb unverändert. „Aber das weißt du auch. Wozu es wiederholen, wenn du es sehr gut verstanden hast?“
    Kraftlos ließ er sich auf seinen Platz fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Er überlegte, sich zu zwicken, um aus diesem Alptraum aufzuwachen, aber das war albern. Warum war er so durcheinander? Warum fiel es ihm so schwer, einen klaren Gedanken zu fassen? Woher kam der Drang, Shirin anzuschreien, sie solle ihm ein Gegenmittel geben? Woher kam der Drang, zu Femo zu rennen und ihn zu schütteln, bis er aufwachte? Er rutschte unruhig hin und her. Immer wieder fuhr er sich durchs Gesicht. Er wollte aufstehen. Laufen. Rennen. Einfach irgendetwas tun, egal was, egal ob sinnvoll oder nicht. Er konnte schlicht nicht hier sitzen, Tee trinken und Shirins Unterricht folgen.
    Wütend versuchte er, sich zur Ordnung zu rufen. Das war doch alles irrational. Was war los mit ihm? Er musste vernünftig bleiben. Nur ungebildete Narren ließen sich von Emotionen leiten. Der zivilisierte Mensch konnte seine Affekte kontrollieren. Er gebrauchte seinen Verstand. Femo war nicht in Gefahr. Die Konkubinen kümmerten sich um ihn und er würde von alleine wieder erwachen. Das war, wie Arathus gesagt hatte, nur eine kleine Lektion. Ernsthaft schaden würde er ihnen nie. So weit würde auch er nicht gehen. Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Und so oder so würde Femo das nicht helfen.
    Barthos raufte sich die Haare. Das war alles schön und gut, doch es beruhigte ihn kein Stück. Es brachte seine Gedanken nicht zur Ruhe. Was war nur los mit ihm? Shirin hatte es gesagt, aber das war Unsinn. Er schätzte Femo, aber sie waren Freunde, mehr nicht. Sehr gute Freunde, gewiss. Aber doch nur Freunde. Überhaupt. Femo war ein Mann. Dass Barthos‘ Interesse Frauen galt, stand doch außer Frage. Die Konkubinen, die Tochter seines Wirtes damals in Geldern, ihr Hausmädchen Luise – ja, er war ganz gewiss nur an Frauen interessiert. Femo war wunderschön, das ließ sich nicht leugnen, aber… Nein! Das war nicht, was er hatte denken wollen. Wie war dieser Gedanke in seinen Kopf gekommen?
    Eine Hand legte sich sanft auf seine Schulter. Barthos hatte gar nicht mitbekommen, wie Shirin sich erhoben hatte. „Was hältst du davon: Du gehst runter und hilfst den anderen mit Femo, wenn du dich dann besser fühlst. Und dann legst du dich erst mal hin und ruhst dich aus. Ich mache dir auch einen besonderen Tee. Ich kenne ein Rezept, das hilft, sich zu beruhigen. Ich kann auch Indrakshi holen, damit sie dich etwas massiert und du auf andere Gedanken kommst. Und dann machst du heute einfach mal frei und kommst ein bisschen zur Ruhe, bringst etwas Ordnung in deine Gefühle. Und Unterricht machen wir dann einfach morgen wieder. Ja?“
    Shirin lächelte aufmunternd, fast liebevoll, wie eine Mutter, die ihr kleines Kind tröstet, dessen Puppe der Kopf abgefallen ist. Sie war bezaubernd schön. Barthos fühlte, wie ihm warm ums Herz wurde, und er konnte nicht anders, als ebenfalls zu lächeln. Er drückte die Hand auf seiner Schulter. „Danke.“

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    Enthüllungen


    Beinahe hätte man glauben können, es sei nichts geschehen. Beinahe ging alles seinen gewohnten Gang. Allein Femos Abwesenheit machte den Unterschied zum bisherigen Leben bei Arathus aus. Es war plötzlich, als wäre Barthos der einzige Schüler des Magiers.
    Doch das war ein großer Unterschied. Ein gewaltiger.
    Die Konkubinen kümmerten sich mit der ihnen eigenen Fürsorge um Barthos’ bewusstlosen Freund. Sie wuschen und sie fütterten ihn. Indrakshi gab ihm sogar täglich besondere Massagen gegen eingeschlafene Glieder und Muskelabbau.
    Barthos genügte dies alles nicht. Er wollte bei seinem Freund sein, über ihn wachen, ihn pflegen. Es war im Grunde lächerlich und furchtbar irrational, denn die Konkubinen verstanden ihr Handwerk wahrscheinlich bedeutend besser als er, doch er konnte nicht anders. Und so bestand er darauf, vor dem Unterricht mit den Konkubinen und vor dem Abendessen mit Arathus zu helfen, seinem Freund den Brei einzuflößen, mit dem er während seiner Ohnmacht gefüttert wurde, oder wenigstens dabei zu assistieren. Er bestand darauf, zwischen dem Unterricht und dem Abendessen seine gesamte Zeit bei Femo zu verbringen. Das Bad ließ er ausfallen. Mehrmals auch das Abendessen, das ihm die Konkubinen dann an Femos Bett brachten. In dieser Zeit, die er über seinen Freund wachte, hielt er stets die Augen auf sein Gesicht gerichtet. Teils in der verzweifelten Hoffnung, er würde einfach aufwachen, teils einfach den Anblick von Femos feinen Zügen genießend. Zwischendrin sprach er mit seinem Freund, wohlwissend, dass zumindest das nun wirklich völlig verrückt und unangemessen war – es störte ihn nicht. Einige Male ertappte er sich beim Betrachten von Femos Gesicht, wie er seine Hand ausstreckte, um es zu berühren und über seine Wangen streicheln. Doch er hielt sich zurück.
    Es machte ihm Angst und er kämpfte gegen diese Gedanken an, so gut er konnte, doch mit jedem Tag, der verging, wurde die Gewissheit stärker, dass Shirin Recht gehabt hatte. So sehr er es auch zu verdrängen versuchte, das hier ging doch eindeutig über bloße Freundschaft hinaus.
    Die Konkubinen ließen ihn gewähren, wenn er helfen oder Femo einfach nah sein wollte. Sie waren verständnisvoll. Und obwohl sie wie stets lächelten, kamen sie ihm ernster vor als sonst. Es war wohl vor allem die Tatsache, dass sie in seiner Gegenwart nicht mehr derart mit ihren Reizen spielten und dass sie ihn nicht mehr neckten. Unter normalen Umständen hätte dieses Verhalten vermisst, doch dieser Tage galten seine Gedanken und Gefühle allein Femo und er hätte die Spielchen der Konkubinen wohl ohnehin nicht wie sonst genießen können, oder sie gar als Störung empfunden. So störte ihn jedoch nur eines am Verhalten der sieben Frauen: Sie bestanden strikt darauf, Femo selbst und alleine zu waschen. Barthos wollte auch hierbei helfen. Er wollte sich auch hierbei um seinen Freund kümmern und über ihn wachen. Aber die Konkubinen, allen voran Shirin, waren hier sehr strikt.
    Eine Woche lang versuchte er es jeden Abend, nur um jedes Mal an der Tür abgewiesen zu werden. Dann erreichte sie eine der Karawanen aus Agadir, die neue Vorräte brachten, und Shirin, Swanhild, Fiona und Indrakshi mussten sich um die Bezahlung der Kaufläute und die Unterbringung der Güter kümmern. Nasrin und Milana waren gleichzeitig mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt. So blieb Geneviève allein zurück, um sich um Femo zu kümmern.
    „Barthos, nein!“ Auch sie bestand darauf, dass er ging. Mit verschränkten Armen stand sie neben dem großen Becken. Femo lag neben ihr auf der Liege, auf der Barthos sich nach seinen abendlichen Bädern massieren ließ. „Ich fange nicht eher an, als bis du hier raus bist.“
    „Das ist doch lächerlich!“ Barthos begriff nicht, warum die Konkubinen so vehement darauf bestanden, Femo ohne ihn zu baden. „Warum sollte ich dir hierbei nicht helfen können?“
    „Es geht nicht darum, dass du es nicht könntest, sondern dass du es nicht sollst.“
    „Und warum?“
    „Wenn ich dir das erklären würde, könntest du hinterher auch genauso gut helfen.“
    „Bestens. Dann erklär’s mir.“
    Genevièves Mund wurde zu einem schmalen Strich. „Sag mal, willst du mich für dumm verkaufen? Nein, ich erkläre es dir nicht. Glaub mir einfach, Femo würde es nicht wollen.“
    „Woher willst du das denn wissen?“
    „Wollte er je zusammen mit dir baden?“
    „Er…“ Nein, das hatte er nie gewollt. Schon damals im Kloster nicht, wenn Barthos so darüber nachdachte. Doch warum? Er konnte sich doch nicht so sehr genieren. An ihm lag es aber ganz bestimmt nicht, da war Barthos sich sicher. Er hatte schließlich auch nie erlebt, dass Femo mit jemand anderem baden gegangen war. „Mit euch zusammen wollte er auch nicht baden!“, entgegnete er deshalb trotzig.
    „Aber nur weil…“ Geneviève stieß einen frustrierten Laut aus. „Barthos, ich darf dir das nicht erklären, das ist… kompliziert.“
    „Wenn es so wäre, hätte Femo es mir erklärt. Wir haben keine Geheimnisse voreinander.“
    Ein mitleidiges Lächeln schlich sich auf das Gesicht der Konkubine. „Das denkst du.“
    Barthos fauchte wütend. „Hast du eine Ahnung, wie sich das anfüllt? Ich habe keine Ahnung, was das alles soll. Ich fühle mich nur die ganze Zeit, als wüsste alle Welt etwas, was ich nicht weiß.“
    „Das kommt der Wahrheit recht nahe.“
    „Du versuchst nicht gerade, es mir leicht zu machen, was?“ Seufzend ließ Barthos sich auf den Rand der Liege sinken. „Ich will mich einfach nur um Femo kümmern. Weil er mein Freund ist. Weil ich ihn…“ Er brach ab. Er konnte es nicht aussprechen.
    Geneviève biss sich auf die Lippe. „Shirin bringt mich um“, murmelte sie leise. „Und wenn sie es nicht tut, dann macht es Femo. Gut“, sagte sie dann lauter, wenn auch mit unsicherer Stimme. „Vielleicht ist es ja besser so. Femo wird es dir wahrscheinlich nie sagen. Und so kann es ja auch nicht weitergehen. Ich bin schon lange dafür, dass du es erfährst. Aber…“ Ihr Gesicht hatte sich verzogen. Sie schien mit sich selbst zu ringen. „Barthos, überleg dir das gut. Ich habe keine Ahnung, wie du darauf reagierst. Wie Femo darauf reagiert. Vielleicht sollte doch alles beim Alten bleiben.“
    „Wovon in drei Götternamen redest du?“ Seine Stimme war ein hilfloses Lachen. Er hatte keinerlei Ahnung, wieso sich Geneviève auf einmal so seltsam benahm. Es ging doch um nichts weiter, als darum, seinen Freund zu waschen. Diese ganze Situation war doch im Grunde furchtbar komisch.
    „Ich…“ Resigniert seufzte die Konkubine. „Gut, sieh es dir selbst an, in Innos’ Namen. Ich hoffe, das ist kein Fehler…“ Ohne ihn noch anzusehen, verließ sie hastig den Raum und schloss die Tür hinter sich. Sie ließ einen völlig verwirrten Barthos zurück.
    Es brauchte eine Weile, bis er gedanklich wieder im Hier und Jetzt ankam. Er hatte, was er wollte. Doch wollte er es überhaupt? Plötzlich war er da gar nicht mehr so sicher. Was hatten Genevièves Worte zu bedeuten? Das war auf jeden Fall keiner der üblichen Scherze der Konkubinen. Er wandte sich zu Femo herum, der friedlich auf der Liege schlummerte. Verbarg sich unter seiner Kleidung irgendein Geheimnis, das er keinesfalls sehen durfte? Hatte es mit seiner ominösen Krankheit zu tun? Und vor allem: Wollte er, Barthos, das herausfinden?
    Ja, war die Antwort auf die letzte Frage. Was immer es war, es würde schon so schrecklich nicht sein. Vielleicht war Femo ja durch seine Krankheit entstellt. Aber das würde Barthos verkraften. Ja, gerade dann musste er als sein Freund doch für ihn da sein.
    Langsam und umsichtig, nicht ohne bei jedem freigelegten Zentimeter Angst zu haben, auf etwas Schreckliches zu stoßen, befreite Barthos seinen ohnmächtigen Freund aus seinem Gewand. Er löste das seidene Tuch, das ihm als Gürtel diente. Er zog ihm den mit goldenen Blumen bestickten Umhang aus. Dann lag Femo in Unterkleidern vor ihm. Er sah völlig normal aus. Barthos zögerte. Er presste sich die Faust gegen die Lippen, als könne ihn dies beruhigen. Sein Herz hämmerte gegen seine Brust, ohne dass er verstand, weshalb. Es war doch albern, wie viel Angst Genevièves zusammenhangloses Geschwafel ihm eingejagt hatte. Also machte er weiter und zog Femo langsam dessen Unterhemd vom Kopf. Anders als erwartet, war sein Freund darunter nicht nackt, wie er selbst. Er hatte seine Brust mit einer langen Rolle Stoff umwickelt. So fest, dass es ihm beinahe die Luft zum Atmen nehmen musste. Barthos runzelte die Stirn. Wozu diente das? Und warum hatten es die Konkubinen ihm nicht längst abgenommen? Es konnte nicht gut für einen Ohnmächtigen sein, wenn ihm die Brust derart zugeschnürt wurde. Kurz suchte Barthos nach dem Ende des Stoffes. Er fand es auf Femos Rücken und begann langsam, das Tuch aufzuwickeln. Er richtete seinen Freund dafür leicht auf und stützte ihn von hinten an der Schulter.
    Dann war der Stoff abgewickelt und fiel zu Boden. Beinahe hätte Barthos auch Femo selbst fallen und auf der Liege aufschlagen lassen. Womit auch immer er gerechnet hatte, das war es definitiv nicht gewesen.
    Femo war nicht entstellt. Ganz im Gegenteil. Er – sie war perfekt. Barthos starrte auf ein Paar kleiner, etwas gequetschter aber ansonsten makelloser Brüste.
    Dieses Mal war da kein Strudel aus Gedanken und Gefühlen in seinem Kopf. Er fragte sich nicht, ob er in einem Traum steckte, wie er es bei Femos Vergiftung getan hatte. Er war nicht fähig, irgendetwas zu denken. Er starrte einfach mit leicht geöffnetem Mund auf seinen Freund hinab. Dann, als hätte Arathus wieder einen Zauber auf ihn gewirkt und steuere seine Bewegungen, begann er, Femo auch von ihrer Hose zu befreien. Es war, als stecke er im Kopf eines anderen und sähe diesem teilnahmslos bei seiner Arbeit zu. Dann war er fertig. Er hatte Femos Hose bis zu den Kniekehlen heruntergezogen. Irgendwo weit hinten in seinem Kopf, im letzten Teil seines Verstandes, der nicht schon ebenso ohnmächtig war wie Femo selbst, stellte er fest, dass sein Freund – oder vielmehr seine Freundin – auch unten rum nicht viel von einem Mann hatte.
    „Jetzt weißt du es also.“
    Unendlich langsam hob er den Kopf. Er fühlte sich schwer an, wie mit Blei gefüllt. Shirin stand vor ihm. Keine Spur eines Lächelns war auf ihrem Gesicht zu erkennen. Sie schaute ihm völlig ernst in die Augen. „Ihr wusstet es“, krächzte er. Es war keine Frage und auch kein Vorwurf.
    „Ich erkenne den Unterschied zwischen einer Krankheit und… Frauenproblemen. Außerdem haben wir diese alten blutigen Stofffetzen in ihrer Tasche gefunden, die sie heimlich unter der Robe getragen hat, damit niemand etwas merkt.“
    Er nahm ihre Erklärung mit einem mechanischen Nicken zur Kenntnis.
    „Ich hatte ihr geraten, es dir zu erzählen.“ Shirin ließ sich neben ihm auf der Liege nieder. Ihre Hand legte sich auf seine, mit der er immer noch Femos Schulter stützte. „Sie wollte nicht. Ich konnte es nicht verstehen, aber ich fand, dass sie es selbst entscheiden müsste.“ Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie: „Ich finde es immer noch. Geneviève hätte das nicht tun dürfen. Du hättest es nicht erfahren dürfen. Nicht so. Wenn sie aufwacht, dann…“
    Barthos übergab Femo an Shirin und unterbrach sie damit mitten im Satz. Noch immer fühlte er sich fremdgesteuert. Noch immer waren seine Bewegungen mechanisch. „Ich muss mich erst mal hinlegen.“ Ohne einen weiteren Blick auf Shirin oder Femo schlurfte er auf den Ausgang zu.
    „Tu das.“ Shirins Stimme klang völlig anders als sonst. Nicht leicht und unbeschwert. Nicht neckisch oder unschuldig. Zum ersten Mal, seit Barthos sie kannte, war sie nicht glücklich und selbstsicher. Zum ersten Mal schien auch sie nicht weiter zu wissen.
    Geändert von Jünger des Xardas (02.08.2011 um 16:02 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Barthos brauchte eine Weile, um alles zu verarbeiten. Aber letztlich gelang es ihm, seinen Geist halbwegs zu beruhigen. Dennoch wusste er nicht, wie es nun weitergehen sollte. Er wusste nicht einmal, ob nun alles einfacher oder viel komplizierter war. Vielleicht hätte er auf Geneviève hören sollen. Vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte es nie herausgefunden. In jedem Fall gab er Shirin Recht: Auf diese Weise hätte er es nicht erfahren dürfen. Wie sollte er das nun Femo erklären, wenn sie erst einmal aufwachte? Und wie würde sie darauf reagieren? Weshalb hatte sie es überhaupt vor ihm verborgen? Das war es, was ihm am meisten zu schaffen machte. Dass sie sich im Kloster als Mann hatte ausgeben müssen, war ja verständlich. Aber zumindest ihm hätte sie es doch sagen können. Spätestens hier bei Arathus. Vertraute sie ihm etwa so wenig?
    Hatte sich sein Verstand zu Anfang einfach abgeschaltet, weil er es schlicht nicht hatte glauben können, arbeitete er jetzt, da er die Tatsachen endlich verarbeitet und akzeptiert hatte, umso mehr und plagte ihn mit tausend Fragen und Sorgen.
    Auch weiterhin bestand Barthos darauf, so viel Zeit wie möglich bei Femo zu verbringen und bei ihrer Pflege zu helfen. Das Waschen überließ er nun jedoch ohne zu klagen den Konkubinen. Es kam ihm einfach falsch vor, eine bewusstlose Frau zu entkleiden und an allen möglichen Körperstellen zu berühren, auch wenn es nur dazu diente, sie zu waschen, und keinerlei Hintergedanken dabei eine Rolle spielten. Für Letzteres hätte er zudem auch nicht garantieren können, denn auch wenn er nur einen kurzen Blick auf Femos nackten Körper erhascht hatte und zu diesem Zeitpunkt mit anderem beschäftigt gewesen war, konnte er doch nicht leugnen, dass der Anblick ihm nicht mehr aus dem Kopf ging.

    Elf Tage dauerte Femos Bewusstlosigkeit. Dann erwachte sie endlich. Barthos saß gerade neben dem Bett seiner Freundin und sprang sofort auf, als er bemerkte, dass sie blinzelnd die Augen öffnete.
    „Femo!“ Er ergriff ihren Arm, der auf der Bettdecke lag und strahlte sie glücklich an. In diesem Moment vergaß er sogar all die düsteren Gedanken der letzten Tage.
    „Barthos.“ Verschlafen schaute sie ihm ins Gesicht. „Was…? Was ist los?“ Sie blickte sich um und legte die Stirn in Falten. „Was mache ich hier? Wir waren doch im Gemach der Konkubinen. Wir haben Tee getrunken und…“ Mit der freien Hand fasste Femo sich an die Stirn. „Wieso weiß ich nicht mehr, was danach war?“
    „Ähm…“ Barthos hatte all die Zeit nachgedacht, wie er Femo erklären sollte, dass er ihr Geheimnis kannte. Doch er hatte keinen Gedanken daran verschwendet, wie er ihr Arathus’ Lektion erklären sollte. Er wollte nicht einfach mit der Tür ins Haus platzen. Femo konnte sich leicht aufregen und in seiner Vorstellung war sie noch schwach und brauchte Ruhe, auch wenn Shirin nichts dergleichen erwähnt hatte und dies kein gewöhnliches Koma gewesen war. „Äh, weißt du noch, dass Arathus sauer auf uns war? … Also auf dich vor allem.“
    Femo nickte. „Ja, wegen der Eisentür. Ich hatte gefragt, ob er dahinter das Geheimnis seines langen Lebens versteckt.“ Sie stöhnte. „Warum fühle ich mich so seltsam? Ich glaube, meine Beine sind eingeschlafen.“
    „Na ja, du hast eine Weile geschlafen“, antwortete Barthos zögernd.
    „Was heißt eine Weile?“
    „Elf Tage. Wie gesagt, Arathus war mächtig sauer. Und du erinnerst dich doch auch noch, wie Shirin was in deinen Tee gekippt hat und meinte, es wäre Gift…“
    Femos Augen weiteten sich. „Willst du damit sagen, sie hat mich vergiftet?!“
    „Nein!“, verteidigte er die Konkubine sofort. Dann musste er einräumen: „Also schon, irgendwie. Aber sie wollte es nicht.“ Stimmte das? Wirklich bedauert hatte Shirin ihr Handeln nicht. Zumindest hatte sie es gut zu verbergen gewusst. „Also, es war Arathus’ Idee. Er wollte uns eine kleine Lektion erteilen, meinte er.“
    „Eine kleine Lektion?!“ Femo fuhr in die Höhe. Alle Müdigkeit in ihrem Gesicht war der Wut gewichen. „Er vergiftet mich und nennt das eine kleine Lektion?!“
    „Beruhig dich bitte.“ Barthos legte seine Hände auf Femos Schultern und versuchte sie mit sanfter Gewalt in die Kissen zurückzudrücken. „Ja, er ist zu weit gegangen, aber…“
    „Das kannst du laut sagen! Wo ist er?!“ Femo wollte sich schon wieder erheben, doch Barthos hielt sie zurück.
    „Nein, Femo, das darfst du nicht!“ Plötzlich war Barthos wieder eingefallen, was Arathus gesagt hatte. „Arathus meinte, das ist nur eine Lektion. Er meinte, wenn du erst einmal wach bist, geht alles weiter wie vorher weiter. Aber wir dürfen kein Wort mehr darüber verlieren. Wenn du ihn jetzt zur Rede stellst, wirft er uns hochkant raus.“
    „Denkst du etwa, ich will auch nur noch eine Sekunde hierbleiben?!“ Femo stieß Barthos’ Hände wütend von sich weg. „Ich kann nicht fassen, dass du das alles einfach so hinnimmst! Der Kerl hat mich vergiftet! Das ist dir wohl egal!“
    Das traf. Es war ihm alles andere als egal gewesen. Wusste Femo denn nicht, was Barthos alles durchgemacht hatte? Nein, natürlich nicht, woher auch? „Femo, es ist mir nicht egal“, redete er ruhig auf seine Freundin ein. „Im Gegenteil. Und ich kann mir auch vorstellen, wie das alles für dich sein muss. Aber bitte, beruhige dich. Arathus und die Konkubinen wollen uns nichts Böses. Wir wussten beide, dass Arathus sehr… eigen ist. Aber er wollte uns nicht schaden, nur eine Lektion erteilen. Wenn wir uns jetzt rauswerfen lassen, dann war das alles hier umsonst und wir können das mit der Magie vergessen. Und das war immerhin vor allem deine Idee. Davon abgesehen, haben wir nicht mal einen Ort, wo wir hinkönnten. Wenn Arathus uns rauswirft, dann sind wir völlig am Ende.“
    Femo schwieg. Sie schaute Barthos einen Moment in die Augen und schien zu überlegen. Dann gewann ihre Wut wieder die Oberhand: „Ich kann doch nicht einfach weitermachen, als wäre nichts gewesen! Ich muss Arathus zur Rede stellen!“ Schon wollte sie aufspringen, doch wieder packte Barthos sie an der Schulter und hielt sie zurück.
    Er musste sie doch irgendwie von ihrem Vorhaben abbringen können. Er wusste selbst nicht, warum er das unbedingt wollte, denn im Grunde hatte sie ja Recht. Aber er wollte nicht vor die Tür gesetzt werden. Sie hatten nichts anderes, er wollte die Alte Magie erlernen und die Konkubinen waren ihm mittlerweile ans Herz gewachsen. Das hier war nun ihr Leben. Das alte hatten sie hinter sich gelassen und sie würden auch nie mehr zurückkehren können.
    Da Femo keine Anstalten machte, sich zu beruhigen, beschloss Barthos, ein anderes Thema anzuschneiden: „Ich weiß es.“
    Femo hielt kurz inne. „Was weißt du?“
    „Das, was du mir die ganze Zeit über verschwiegen hast.“
    Femos Gesicht gefror. Langsam verschwand die Wut daraus und ihre Züge erschlafften. „Woher?“, krächzte sie.
    „Na ja…“ Er schaute zu Boden, denn es war ihm etwas unangenehm, es ihr zu gestehen. „Ich habe es gesehen. Ich wollte helfen, dich zu waschen. Ich wusste ja nicht…! Sonst hätte ich nicht…! Danach habe ich nicht mehr…!“
    Doch Femo interessierte sich gar nicht für seine Entschuldigungen, die er so hastig vortrug, dass sie sich beinahe überschlugen. Sie sank zurück in die Kissen. Ihr leerer Blick richtete sich auf die Decke. Als Barthos dies bemerkte, schloss er den Mund. Er zögerte, dann ließ er sich auf den Rand ihres Bettes sinken. Für einige Momente starrten sie beide schweigend ins Leere, dann fragte er: „Warum?“
    „Blöde Frage. Das weißt du doch längst. Mein Vater war ein armer Hufschmied und wollte mich an einen ebenso armen Bauern verheiraten. Ich wollte aber nicht wie all die anderen Mädchen im Dorf sein. Ich wollte nicht mit krummem Rücken von der Feldarbeit als Mutter von einem Dutzend hungernder Kinder sterben. Ich wollte keine ungebildete Bäuerin sein. Ich wollte irgendwas aus mir machen. Ich wollte etwas erreichen. Ich wollte mich weigern, das Leben zu leben, das die Götter für mich vorgesehen haben. Aber das geht nicht als Frau. Also bin ich kurzerhand davongelaufen, hab mir die Haare abgeschnitten, mir Männerkleidung besorgt, fast fünf Jahre lang Geld zusammengekratzt und bin dann ins Kloster gegangen.“
    „Das verstehe ich ja alles. Aber warum hast du es mir nie gesagt?“
    Femo schnaubte. „Du hättest mich doch verraten und auch noch geglaubt, eine gute Tat vollbracht zu haben, weil Frauen zu dumm zum Zaubern sind und ich mich nur selbst in Gefahr bringe. Genauso gut hätte ich es Flora erzählen können.“
    „Ich meine ja nicht ganz zu Anfang. Ich meine, später.“
    „Da warst auch später noch ein chauvinistischer Trottel. Das hast du mir doch vor Trelis bewiesen.“
    Da war etwas dran. Er erinnerte sich noch gut an ihren Streit kurz bevor sie Alvito kennengelernt hatten. Beschämt senkte er den Kopf. Erst jetzt verstand er, weshalb Femo damals so wütend gewesen war.
    „Ich wollte es dir ein paar Mal sagen. Ich hatte mehrmals drüber nachgedacht.“ Femo machte ein betrübtes Gesicht. „Aber… ich dachte, ich muss das strikt durchziehen. Ich dachte, wenn ich es auch nur einem einzigen sage, egal wem, bringe ich mich in Gefahr. Du hättest dich verplappern können. Du hättest dich mir gegenüber anders verhalten. Was immer. Denk dran, Frauen ist das Wirken von Magie verboten. Sie hätten mich als Hexe verbrannt, wenn sie es rausgefunden hätten. Ich habe schon genug riskiert.“
    Er nickte. Es schmerzte ihn zwar, dass sie glaubte, ihr Geheimnis wäre bei ihm nicht sicher gewesen, doch er verstand ihre Beweggründe. Eines jedoch verstand er nicht: „Wieso hast du diese Maskerade nicht aufgegeben, nachdem du weggelaufen bist? In Agadir hätte dich sicher niemand verbrannt.“
    „Die sind hier auf Ariabia nicht besser als in Myrtana. Ich hatte mich umgehört und die Akademie in Agadir nimmt auch nur Männer.“
    „Aber Arathus doch nicht.“
    „Das wusste ich aber nicht. Die Konkubinen meinten später, ihm wäre es egal gewesen, aber da war es schon zu spät. Ich wollte nicht ausprobieren, wie er reagiert, wenn ich ihm erzähle, dass ich ihn belogen habe. Aber vor allem habe ich weitergemacht wegen dir.“
    „Wegen mir? Dachtest du immer noch, ich würde einer Frau nicht zutrauen, auch Magie zu wirken und auch intelligent und gebildet zu sein?“ Er lachte leise. „Muss ich ja wohl spätestens jetzt, wo ich weiß, dass du eine bist.“
    Das Kompliment munterte Femo nicht auf. „Nein“, beantwortete sie Barthos’ Frage, um dann einzuräumen: „Doch, auch, aber das war nicht der wirkliche Grund. Ich… ach, ich weiß auch nicht. Es ist einfach… Ich hatte dich jetzt so lange getäuscht. Hätte ich einfach hingehen und sagen sollen „Hey Barthos, übrigens, ich bin eine Frau“? Ich hatte keine Ahnung, wie du das aufnehmen würdest. Ich dachte, du wärst vielleicht wütend. Ich hatte dir solange vorgespielt, ein Mann zu sein, ich konnte es mir anders gar nicht mehr vorstellen.“
    „Hm.“ Er wusste nicht, weshalb, doch er fühlte sich gekränkt. Er hatte geglaubt, sie wären so gut miteinander befreundet gewesen, dass sie sich alles sagen und einander vollkommen vertrauen konnten. Offenbar hatte er sich getäuscht.
    „Jetzt bist du wütend, nicht?“, fragte sie ruhig.
    „Ich… Nein, aber…“ Und dann platzte es aus ihm heraus: „Musst du immer die Einzelkämpferin sein? Denkst du wirklich, keiner würde dich verstehen? Glaubst du, niemand könnte dir helfen? Du hättest es mir sagen können. Sagen müssen! Aber du hast kein Vertrauen in mich, stimmt’s? Du bist ohne mich nach Agadir geflohen und du hast mir nie anvertraut, wer du wirklich bist.“
    Der Ausdruck der Wut trat zurück auf Femos Gesicht. Doch dieses Mal galt ihre Wut eindeutig nicht Arathus. „Du verstehst doch gar nicht, wie ich mich gefühlt habe! Andere Leute verurteilen, das kannst du gut! Aber dich hat nie interessiert, dass ich keine Predigten hören und nicht meine Fehler vorgehalten bekommen will! Ja, offensichtlich kann ich mich wirklich auf niemanden verlassen. Arathus ist mein Lehrer und er lässt mich vergiften, nur weil ich die falsche Frage gestellt habe. Shirin und die anderen waren meine Freundinnen. Sie haben weder dir noch Arathus mein Geheimnis verraten und sie haben mir sogar geholfen, es zu verbergen. Ihnen habe ich vertraut. Und was hat es mir gebracht? Shirin hat mich gleich doppelt verraten. Sie hat mich vergiftet und sie hat zugelassen, dass du es rausfindest. Und du… du verstehst nichts, weißt wieder alles besser, dir ist völlig egal, dass ich verraten und vergiftet wurde und… und…“ Plötzlich sprang Femo auf und stieß ihn in Richtung Ausgang. „Raus! Los, ich will allein sein!“
    Barthos blieb gerade noch Zeit für ein gestammeltes „aber…“, da fand er sich im Gang wieder und die Tür wurde hinter ihm zugeschlagen.

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Versöhnung


    Kurz hatte Barthos verdattert auf die Tür gestarrt, dann hatte er sich umgedreht und war devongestampft.
    Es war doch wirklich allerhand! Wenn dieses Mal jemand einen Grund hatte, wütend zu sein, dann er. Er war schließlich all die Zeit hinters Licht geführt worden. Ihm war schließlich kein Vertrauen entgegengebracht worden. Femo hatte wenig Grund, sich zu beschweren. Er schnaubte wütend. Warum musste sie nur so sein? Warum musste sie derart stur und einzelgängerisch sein? Warum musste sie so leicht reizbar und unnachgiebig sein? Warum musste sie so einen scharfen Verstand haben und sie unglaublich schön sein?
    Barthos hielt inne.
    Hatte er denn so schnell vergessen, wie die letzten Tage gewesen waren? Was er gefühlt hatte? Mit einem Mal war sein Ärger wie weggeblasen. Plötzlich war ihm egal, wer von ihnen Recht hatte und ob Femos Zorn gerechtfertigt oder völlig überzogen war. Er wusste nur, dass er sich nicht mit Femo streiten wollte, aus welchem Grund auch immer.
    Er wirbelte herum und stürmte durch den Gang zurück. Dann hämmerte er auf ihre Tür ein. Immer stärker, denn sie reagierte nicht.
    Endlich vernahm er ihre Stimme gedämpft durch das Holz: „Verschwinde, hab ich dir gesagt!“
    „Femo, mach auf!“ Er hieb weiter auf das Holz ein. „Bitte, mach schon auf!“, flehte er.
    Mit einem Rück wurde die Tür geöffnet, doch nur einen Spalt breit. „Ich sagte, ich will dich nicht mehr sehen. Ich will jetzt allein sein und nachdenken.“ Sie schlug die Tür wieder zu, doch Barthos hatte bereits seinen Fuß dazwischengeschoben. Er unterdrückte den Schmerzensschrei.
    „Das ist doch albern. Bitte, Femo, ich will mich nicht ständig mit dir über irgendwelche Nichtigkeiten streiten. Dafür bist du mir zu wichtig.“ Er schob eine Hand in den Türspalt und versuchte die Tür aufzuschieben, während er sagte: „Es tut mir leid.“
    „Dass du mir mal wieder vorhalten musstest, wie falsch und unvernünftig ich mich verhalten habe?“
    „Alles. Vor allem, was ich damals in Trelis gesagt habe. Das war dumm.“ Femos Griff um die Tür wurde langsam schwächer und Barthos gelang es, ihr die Tür zu entreißen und sie ganz aufzustoßen. Rasch trat er über die Schwelle, damit sie ihn nicht einfach wieder hinauswerfen konnte. „Du hast Recht“, fuhr er fort. „Ich habe keine Ahnung, wie du dich all die Zeit gefühlt hast. Tut mir leid, wenn ich auch da voreilig war. Aber du hast auch keine Ahnung, wie ich mich gefühlt habe. Also tu bitte nicht so, als wüsstest du es. Was mit dir passiert ist, war mir ganz und gar nicht egal. Verdammt, ich hätte Arathus grün und blau geschlagen, wenn er mich nicht mit seiner Magie davon abgehalten hätte.“
    „Du hast versucht, ihn zu verprügeln?“ Der Anflug eines Lächelns trat auf Femos Lippen und bestärkte Barthos darin, weiter zu machen.
    „Ja, hab ich.“ Er musste selbst darüber grinsen, denn es war eine völlig alberne Reaktion gewesen. „Und dann habe ich die ganze Zeit neben deinem Bett verbracht. Ich wollte helfen, dich zu pflegen. Ich bestand darauf, beim Waschen zu helfen. Du darfst den Konkubinen nicht die Schuld geben. Sie haben dich nicht verraten. Sie haben wirklich die ganze Zeit versucht, es vor mir geheim zu halten.“ Er grinste leicht. „Ich war einfach zu hartnäckig.“
    Das leichte Lächeln in Femos Gesicht wurde zu einem Grinsen und sie boxte Barthos gegen die Brust. „Dass du dich mal gegen irgendwen durchsetzt, anstatt alles einfach hinzunehmen. Es geschehen tatsächlich noch Zeichen und Wunder.“
    „Tja, ich bin halt verliebt.“ Die Selbstverständlichkeit, mit der er es aussprach, überraschte ihn selbst. Im Grunde überraschte ihn, dass er es überhaupt aussprach.
    Femo schien es ähnlich zu gehen. Sie starrte ihn mit großen Augen an und er fürchtete schon, jetzt wieder alles kaputt gemacht zu haben. Dann schloss sie ihn jedoch in die Arme und drückte ihn an sich. Sie hielt ihn so fest umklammert, dass es wehgetan hätte. Aber in diesem Moment scherte er sich nicht darum. Stattdessen erwiderte er die Umarmung und zog sie noch fester an sich. Es tat gut, sie einfach nur festzuhalten und er fühlte, wie etwas Schweres von seiner Brust fiel, das er gar nicht bemerkt hatte. Einige Zeit verharrten sie so, bevor sie beide einander kurz ins Gesicht sahen und sich ihre Lippen dann zum ersten Mal trafen.
    Es war wundervoll. Und viel zu kurz.
    Shirins Auftauchen unterbrach sie. „Wurde ja auch Zeit“, flötete die Konkubine fröhlich und lächelte sie beide an, als wäre dieser Anblick das Gewöhnlichste auf der Welt. „Und gerade rechtzeitig zum Abendessen.“
    Femos Miene hatte sich beim Anblick Shirins verfinstert. Nun starrte sie die Konkubine durchdringend an. Barthos fürchtete schon, sie würde sie zur Rede stellen, doch zu seiner Erleichterung verzichtete sie darauf und marschierte stumm an ihr vorbei.
    „Denk dran“, ermahnte Barthos seine Freundin, während er raschen Schrittes zu ihr aufschloss. „Kein Wort mehr über die ganze Sache in Arathus’ Gegenwart.“
    Ein kurzes Flackern in Femos Augen war die einzige Reaktion. Er hoffte inständig, dass sie ihre Wut unterdrücken würde. Sicherheitshalber versuchte er, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken: „Willst du es Arathus jetzt sagen?“
    Wie auf Kommando hielt Femo inne und biss sich auf die Lippen. „Ich weiß nicht. Ich habe wirklich keine Lust mehr auf die Maskerade. Schon gar nicht jetzt. Aber wird er nicht sauer sein?“ Die Worte ließen Barthos erleichtert aufatmen. Wenn sie sich darum sorgte, ob Arathus sauer war oder nicht, wollte sie ihren Lehrmeister noch nicht verlassen.
    „Wird er nicht.“ Shirin war im Gegensatz zu ihnen nicht stehengeblieben und rauschte nun lächelnd an ihnen vorbei.
    Bartho und Femo schauten sich kurz an, dann folgten sie der Konkubine.

    Beim Essen wurde nicht gesprochen, doch Barthos meinte, eine gewisse Spannung zu verspüren. Etwas lag unausgesprochen in der Luft und alle Anwesenden spürten das. Es war mehr als nur die Wahrheit über Femos Geschlecht. Barthos war sich ziemlich sicher, dass seine Freundin ihren Groll gegen den alten Magier nur mit Mühe unterdrücken konnte.
    Schließlich, die Konkubinen hatten bereits den Nachtisch aufgetragen, räusperte sie sich und Barthos glaubte schon, sie wolle nun endlich ihr Geheimnis lüften. Doch Femo schloss schnell wieder den Mund, den sie schon geöffnet hatte. Ein weiteres Mal räusperte sie sich, doch auch dieses Mal kam kein Wort über ihre Lippen. Stattdessen griff sie zu ihrem Weinglas und trank hastig mehrere große Schlücke.
    Arathus zog ungehalten die Augenbrauen zusammen. „Wenn du mir etwas Wichtiges zu sagen hast, sag es. Ansonsten schweig still.“
    „Ich… Ich weiß nicht genau, wie ich es sagen soll…“
    „Ich auch nicht, denn ich kann schlecht in deinen Kopf hineinschauen.“ Bildete Barthos es sich ein oder war Arathus noch etwas schroffer als sonst?
    „Nun, die Sache ist die…“ Femo schaute hilfesuchend zu Barthos, der jedoch nur ratlos auf seinen Teller starrte, und zu Shirin, die sich ganz Arathus’ Glatze widmete und alles andere zu ignorieren schien. „Ich war nicht ganz ehrlich, meine… Identität betreffend…“ Femo ergriff ihr Glas und nahm einen großen Schluck Wein, ehe sie zögernd fortfuhr. „Also… Genau genommen… Ich bin eine Frau.“
    Stille.
    „Sagte ich nicht, du sollst schweigen, wenn du nichts Wichtiges vorzutragen hast?“ Nun trank auch Arathus einen Schluck Wein, ohne seine Schüler dabei anzusehen.
    „Ich verstehe nicht“, entgegnete Femo verwirrt und Barthos ging es ähnlich.
    „Du bist einer meiner Schüler, nicht eine meiner Konkubinen. Ob du ein Mann, eine Frau oder ein Ork bist, interessiert mich also herzlich wenig.“
    So viel musste Barthos ihrem Meister lassen, ihm gelang es immer wieder, ihn zu überraschen.
    „Und während du mit dieser Belanglosigkeit herumgedruckst hast, hast du die einzige Information, die in diesem Zusammenhang von gewisser Bedeutung wäre, verschwiegen“, fuhr Arathus fort.
    „Welche?“, wollte Femo verwirrt wissen.
    „Wie du tatsächlich heißt. Wir können natürlich auch bei „Femo“ bleiben, wenn du das vorziehst. Mir ist es gleich.“
    Erst jetzt fiel Barthos ein, dass das unmöglich ihr richtiger Name sein konnte. Wieso hatte er sie nicht selbst schon danach gefragt?
    „Oh. Ja, klar, tut mir leid. Kendra. Kendra heiße ich.“
    Arathus nahm es mit einem nicken zur Kenntnis und aß schweigend weiter.

    Nach dem Essen zog sich Arathus mit Swanhild zurück, während die Konkubinen den Tisch abräumten. Barthos war leicht unschlüssig, ob er in sein Zimmer gehen oder Kendra in ihres folgen sollte. Shirin nahm ihm die Entscheidung ab: „Ich habe ein Bad für euch vorbereiten lassen. Ich dachte, das tut euch jetzt ganz gut. Außerdem“ – sie baute sich vor Barthos auf und piekste ihm neckisch grinsend mit dem Finger in die Brust – „hast du es wirklich nötig. Und jetzt, wo Kendra wieder auf den Beinen ist, hast du keine Ausrede, um dich noch länger davor zu drücken.“
    Das wollte er gar nicht. Shirin hatte Recht. Er hatte wirklich mal wieder ein Bad nötig. Und die Vorstellung, es zusammen mit Kendra zu nehmen, gefiel ihm außerordentlich gut. Immerhin hatte sie nun keinen Grund mehr, sich dagegen zu sträuben.
    Fast war er enttäuscht, als sie feststellten, dass Indrakshi und Milana bereits auf sie warteten. Ausnahmsweise hatte Barthos sich nicht auf ihre Behandlung sondern auf etwas Zweisamkeit mit Kendra gefreut. Zudem fürchtete er, dass sie etwas dagegen hätte, wenn er ich zukünftig noch von den Konkubinen waschen und massieren ließe. Umso überraschter war er, als sie sich wie selbstverständlich entkleidete und in das Becken stieg und auch dann nicht einschritt, als Nasrin ihn aus seinem Gewand schälte.
    „Du… bist nicht eifersüchtig oder so?“, fragte er vorsichtig, als er zu ihr ins Wasser stieg.
    Kendra schüttelte nur den Kopf und genoss mit geschlossenen Augen, wie Indrakshi sie mit duftender Seife einrieb. Das überraschte Barthos zwar, war ihm aber mehr als recht. Und so gab auch er sich ganz den kundigen Händen der Konkubinen hin und versuchte gar nicht erst, seine Erregung zu verbergen. Diese war heute stärker denn je und während er beobachtete, wie Indrakshi Kendras Brüste wusch, musste er sich stark zusammenreißen. Am Ende hielt er es kaum noch aus, doch er beherrschte sich, bis sie wieder fertig angekleidet waren und das Bad verließen.
    „Komm.“ Kendra nahm ihn bei der Hand und zog ihn sanft hinter sich her in Richtung ihres Zimmers. Ihre Wangen glühten leicht und in ihre Augen war ein Funkeln getreten, das er noch nicht kannte. „Weißt du“, begann sie zu erklären, während sie durch die Gänge schritten. „Ich war eifersüchtig wegen deiner Bäder. Sehr sogar.“
    „Ja, das hast du mich spüren lassen.“ Es gelang ihm nicht, den vorwurfsvollen Unterton ganz aus seiner Stimme zu verbannen, doch glücklicherweise überhörte sie ihn.
    „Aber dann hat die Dame Manizheh mit mir gesprochen. Du weißt doch sicher noch, dass sie gesagt hat, sie fände das myrtanische Verhältnis zur Liebe ungesund, nicht wahr? Tja, sie selbst hat recht eigenwillige Sichtweisen das Thema betreffend.“
    „Die wären?“
    Kendra lachte. „Oh, da hätte ich eine Weile zu erzählen. Wir haben da ja oft drüber gesprochen. Zum Beispiel unterscheidet sie zwischen „eine Person lieben“ und „es mit einer Person aushalten“. Sie und Arathus zum Beispiel lieben sich, aber ihre Ehe wäre schon lange zerbrochen, wenn sie zusammenleben würden, weil sie dann nur am Streiten wären, weil er furchtbar unausstehlich ist, meinte sie.“
    „Klingt völlig bescheuert“, urteilte Barthos. „Wenn ich jemanden liebe, dann will ich doch so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen. Ich würde es nicht aushalten, längere Zeit von dir getrennt zu sein.“
    Sie lächelte geschmeichelt. „Na ja, wie auch immer.“ Während Kendra die Tür ihres Zimmers öffnete und ihn einließ, erklärte sie: „Jedenfalls meinte Manizheh, dass wir in Myrtana zu oft versuchen, den anderen mit Haut und Haar zu besitzen, wenn wir ihn lieben. Sie meint, wir nehmen einander jede Freiheit. Und sie meint, gerade in der Liebe müsse man genug Vertrauen haben, dem anderen welche zu gönnen. Ich fand, da ist was dran.“
    „Du hast also kein Problem damit, wenn ich mit den Konkubinen bade?“
    Kendra, die sich mittlerweile umgedreht hatte, kam auf ihn zu. „Wenn es dabei bleibt und du für alles andere zu mir kommst“, entgegnete sie mit verführerischer Stimme und küsste ihn dann.
    Der zweite Kuss war intensiver als der erste und dauerte länger an. Sie unterbrachen ihn nur, um gemeinsam aufs Bett zu sinken. Barthos ließ seine Hände über ihren Körper gleiten. Er streichelte ihre Brüste durch den Stoff ihres Gewandes, während er sich mit der anderen Hand an ihrem Gürtel zu schaffen machte.
    „Aber ich bin von jetzt an ja dabei, wenn du mit den Konkubinen badest. Und passe auf“, keuchte sie leicht.
    „Warum wolltest du denn bisher immer allein baden?“, fragte er und streifte ihr das Gewand über die Schultern. „Ich meine, dass du dich vor mir nicht ausziehen wolltest, verstehe ich ja. Aber die Konkubinen wussten es doch eh.“ Er stöhnte auf, als ihre Hand in seine Hose glitt.
    „Wie hättest du es denn gefunden, wenn ich mit allen anderen gebadet hätte, nur mit dir nicht? Du hättest doch geglaubt, es läge an dir.“ Sie lachte leise auf. „Na ja, lag es ja auch irgendwie. Aber nicht so.“
    Er musste ihr Recht geben. Das hätte ihn gekränkt. Er hätte sich gefragt, was mit ihm nicht stimme. Doch es überraschte ihn, dass Kendra das bedacht hatte, während ihm selbst das nicht in den Sinn gekommen war. „Danke“, war alles, was er herausbrachte. Gleich darauf widmete er sich mit doppeltem Eifer Kendras Körper. Er legte ihre kleinen, aber so wunderschönen Brüste frei und liebkoste sie mit seinen Lippen.
    „Lass es uns etwas ruhiger angehen, ja?“, bat Kendra und vergrub gleich darauf ihren Kopf in seiner Halsbeuge, um seine Haut mit Küssen zu bedecken.
    Er stockte. „Das ist doch nicht das erste Mal für dich, oder?“
    „Nein, aber es ist eine Weile her. Wär’ nicht so gut für die Tarnung gewesen, weißt du?“
    „Wenn das alles ist. Bei mir ist es auch schon länger her.“
    „Bei mir sechs Jahre.“
    „Oh.“ Barthos musste unwillkürlich grinsen. „Na ja, ganz so lange ist es bei mir doch nicht her.“

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    Die einhundert geheimen Lehren der Weisen von Urdu


    Die folgende Zeit sollte Barthos auch lange danach noch als die beste seines Lebens in Erinnerung haben. Die alte Routine aus Frühstück, Unterricht, Teestunden, Studien, Bädern und Abendessen setzte wieder ein. Doch im Unterschied zu vorher nahm er die Bäder nun gemeinsam mit Kendra. Auch hatte sie mittlerweile ihr Zimmer aufgegeben und war mit in das seine gezogen. Hatte er das Leben bei Arathus schon zuvor in vollen Zügen genossen, war er nun praktisch wunschlos glücklich.
    Freilich war nicht alles perfekt. Kendra führte am Tag nach ihrem Erwachen ein Gespräch unter vier Augen mit Shirin und stellte die Konkubine zur Rede. Barthos wusste nicht, was genau die beiden Frauen besprochen hatten, und er fragte auch nicht danach. Er merkte jedoch, dass Kendra gegenüber Shirin auch in der Folgezeit etwas reservierter war. Es brauchte eine ganze Weile, bis sie den Verrat, der ihre Vergiftung in ihren Augen gewesen war, ganz überwunden hatte, doch mit der Zeit besserte sich ihr Verhältnis zu der Oberkonkubine wieder.
    Anders war es bei Arathus. Kendra wie Barthos hielten ihren Zorn zwar zurück, waren aber nicht bereit, dem Magier so einfach zu verzeihen. Umgekehrt schien auch er Kendras Frage nach seiner Langlebigkeit nicht vergessen zu haben und war ihr gegenüber von nun an schroffer als zuvor. Doch allzu viel veränderte sich nicht am Verhältnis der drei. Arathus war ihr Lehrmeister, doch auch vor Kendras Vergiftung waren er und seine Schüler sich nie in irgendeiner Weise nahe gewesen und anders als die Konkubinen hatten sie ihn nie als eine Art Freund betrachtet. Es gab also nicht viel, was zwischen ihnen hatte zerstört werden können. Und so blieb nichts als eine leichte Spannung, die in der Luft hing, wenn die drei zusammen waren, die ein Außenstehender aber vermutlich nicht einmal bemerkt hätte.
    Am Tag nach Kendraas Erwachen rief Arathus sie zu sich und stellte ihnen die nächste Aufgabe. So setzten sie ihre Ausbildung fort. Arathus Aufgaben blieben knifflig, nahmen aber nicht mehr so viel Zeit in Anspruch, wie es die erste getan hatte. Sie alle zielten darauf ab, ihnen die Natur des Manas nahe zu bringen und sie ein Gespür für diese entwickeln zu lassen. Es dauerte noch lange, aber irgendwann begann er, sie ihre ersten Zauber wirken zu lassen. Es war schwerer, als sie es sich vorgestellt hatten und auch weiterhin bestand ihr Unterricht großenteils aus Theorie, doch langsam wuchsen ihre magische Fähigkeiten.
    So verging die Zeit wie im Fluge. Wenn sie es nicht ohnehin schon getan hatten, verloren sie spätestens jetzt jedes Gespür für die Außenwelt. Regelmäßig kamen Vorräte aus Agadir, in unregelmäßigen Abständen – viermal insgesamt – besuchte sie die Dame Manizheh. Das war aller Kontakt, den sie zu Menschen von außerhalb hatten. Barthos wusste nicht, was sich in Ariabia oder gar in Myrtana und auf dem Archipel tat. Es interessierte ihn auch nicht. Er verlor sogar den Überblick über die Zeit. Schon bald hatte er keine Ahnung mehr, ob sie nun das Jahr 862 oder 863 schrieben. Allein die Konkubinen schienen stets um das aktuelle Datum zu wissen und erinnerten Barthos und Kendra zweimal im Jahr daran, wenn sie ihre Geburtstage feierten, die die beiden selbst wohl einfach verpasst hätten.
    So wusste er, dass er achtundzwanzig Jahre alt war und sie jetzt seit drei Jahren bei Arathus lebten, als ihr Meister ihm eine ungewöhnliche Aufgabe stellte und ihn nach Agadir schickte.
    Er sollte ein Buch beschaffen, das sich im Besitz eines der Magier der Akademie befand. Die Aufgabe fiel wohl in erster Linie ihm zu, so erklärte er sich, dass Arathus speziell ihn ausschickte, weil Frauen in der Akademie nicht geduldet wurden. Kendra begleitete ihn zwar, hatte aber nach all den Jahren der Verkleidung wenig Lust, sich wieder als Mann auszugeben, wenn es nicht unbedingt nötig war. Schon gar nicht, nachdem sie, seit Barthos ihr Geheimnis kannte, aufgehört hatte, sich das Haar zu schneiden. Und Barthos wäre der letzte gewesen, der gewollt hätte, dass sie ihr wundervolles Haar wieder abschnitt.
    Sie fanden sich am Morgen vor Arathus’ Palast ein, wo Shirin bereits mit drei Kamelen auf sie wartete.
    „Du kommst mit?“, fragte Kendra überrascht.
    „Was habt ihr den geglaubt?“ Shirin lachte fröhlich. „Meister Arathus lässt euch doch nicht einfach alleine durch die Stadt irren.“ Die Konkubine trug schlichte Männerkleidung wie die Kameltreiber, die die Karawanen mit den Vorräten zu ihnen führten. Auf ihrem Kopf saß ein Turban, dessen Ende sie sich um den Mund gewickelt hatte, sodass nur ihre Augen zu sehen waren. Barthos stellte fest, dass sie auch in dieser unvorteilhaften Kleidung nichts von ihrer erotischen Ausstrahlung einbüßte. Allerdings vermisste er den Duft ihres Patschuliparfüms, das er so an ihr mochte.
    Am späten Nachmittag des nächsten Tages ritten sie durchs Kaufmannstor in die Hauptstadt Ariabias ein. Der Anblick war nicht weniger überwältigend als beim ersten Mal. Im Gegenteil. Barthos fühlte sich regelrecht erdrückt von all den Farben, Gerüchen und Tönen, dem Trubel und der Enge. Er hatte völlig vergessen, wie sich eine Stadt anfühlte, wie es war, sich in großen Menschenmengen zu bewegen und nur einer unter vielen zu sein. Und dies hier war Agadir, die größte Stadt der Welt, was den Kontrast zu Arathus’ Heim nur noch verstärkte. Kendra erging es ganz ähnlich, wie ihm ein Seitenblick verriet. Nur Shirin bewahrte ihre Souveränität und starrte stoisch geradeaus, während sie sich durch die Straßen der Metropole bewegten, ohne die anderen Menschen auch nur zu beachten. Barthos hätte darauf gewettet, dass sie lächelte, auch wenn die Tatsache, dass sie vor ihm ging, und die, dass noch immer das Ende des Turbans ihren Mund verdeckte, ihm nicht erlaubten, es zu überprüfen.
    „Denk dran“, ermahnte Shirin ihn, als sie ihr Ziel erreicht hatten, „Meister Shaayaan ibn Muhalim ben Hadji al Sharidi, Die einhundert geheimen Lehren der Weisen von Urdu.“
    „Ich weiß!“, entgegnete er, etwas gekränkt, weil sie ihm offenbar nicht zutraute, den Namen des Buches und den des Magiers, der es besaß, zu behalten. „Bin gleich wieder da.“
    Er ließ seine beiden Begleiterinnen zurück und stieg die Treppe zum Eingang der Akademie hinauf. Für die Pracht der großen Halle hatte er nur noch wenige Blicke übrig. Er wollte schnell zurück zu Arathus, wo es ruhig und behaglich war. Der Trubel der Stadt bereitete ihm schon jetzt leichte Kopfschmerzen.
    Dieses Mal reagierten die Menschen, die er traf, völlig anders auf ihn als bei seinem letzten Besuch in der Akademie. Wie Manizheh angedeutet hatte, hatte es sich wohl in den letzten Jahren herumgesprochen, dass Arathus zwei Myrtaner zu seinen Schülern gemacht hatte. Und es war nicht schwer zu erraten, dass er einer dieser beiden war. Die Leute, die er nach dem Weg fragte, halfen ihm sofort und beinahe ehrfürchtig.
    Er fand Shaayaan in einem der Türme, wo er in einer kleinen, aber luxuriös eingerichteten Kammer an einem Schreibtisch saß und über einem Stapel Pergamente brütete.
    „Ja?“ Der Magier blickte ihn fragend an, als er eintrat. Er trug einen dunkelblauen Kaftan und einen schwarzen Bart, der ihm bis auf die Brust fiel. Sein Gesicht war schmal, sein Kinn leicht angehoben. Es schien, als habe er einen unangenehmen Geruch in der Nase und sei gleichzeitig bei etwas sehr Wichtigem gestört worden. Ein Ausdruck, den Barthos auch schon in Myrtana auf vielen Gesichtern gesehen hatte und der wohl universell war.
    „Barthos von Laran mein Name“, stellte er sich vor und verbeugte sich. „Ich bin Schüler des Arathus ben Yussuf.“
    „Ah ja, natürlich.“ Der Magier legte seine Feder beiseite und sein Gesicht hellte sich auf. Sein Blick vermittelte plötzlich nicht mehr das Gefühl, Barthos sei in das verbotene Heiligtum eines Tempels eingedrungen, sondern war herzlich, als wären sie alte Freunde. „Ich hätte es wissen sollen. Nun, was kann ich für Meister Arathus tun?“
    „Er sucht nach einem Buch. Einem Werk mit dem Titel „Die einhundert geheimen Lehren der Weisen von Urdu“.“
    „So?“ Meister Shaayaan runzelte die Stirn. Das Strahlen seiner Augen war sofort wieder verschwunden. „Nun, es ist ein offenes Geheimnis, dass ich dieses Werk kürzlich auf Kitai erworben habe. Ich frage mich aber, was Meister Arathus darin zu finden hofft. Es enthält größtenteils Beschreibungen von Meditationsübungen und philosophische Betrachtungen über die sechs inneren Yogas. Es ist bekannt, dass Meister Arathus für derlei Mystik nie viel übrig hatte.“ Barthos wollte schon entgegnen, dass sein Meister ihm nicht gesagt habe, weshalb er das Buch wolle, doch Shaayaan fuhr fort: „Wenn es ihm allerdings um das alchemistische Wissen geht, das in diesem Buch enthalten ist, so muss ich seine Hoffnungen enttäuschen. Ich habe die Formel zur Erschaffung des Steins der Weisen bereits getestet. Wie nicht anders zu erwarten, ist sie das Pergament nicht wert, auf dem sie gedruckt ist.“
    Barthos horchte auf. Der Stein der Weisen? Ging es Arathus darum? Das klang zumindest wahrscheinlicher, als dass er sich plötzlich für Meditation und die Suche nach innerem Gleichgewicht interessierte. In diesem Punkt hatte Meister Shaayaan zweifellos Recht: Von so etwas hielt Arathus nicht viel. „Tja, um ehrlich zu sein, mir hat er nicht gesagt, warum er dieses Buch haben will.“
    „Ja, das wäre auch verwunderlich gewesen.“ Der Zusatz: „Einen myrtanischen Barbaren wie dich nutzt man vielleicht als Botenjungen, doch man wird ihn niemals in seine Angelegenheiten einweihen“ schwebte unausgesprochen im Raum. Doch Shaayaans Betonung reichte aus, um zu wissen, dass er genau das dachte. „Tja…“ Der Magier fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Ich schlage Meister Arathus nur ungern einen Wunsch ab, doch… es hat mich einiges gekostet, dieses Werk in meinen Besitz zu bringen. Und wisst Ihr, ich erforsche schon sehr lange die Bestattungsriten des alten Urdureiches. Dieses Buch enthält endlich den Schlüssel zu ihren Balsamierungstechniken.“
    „Meister Arathus sagte, er wäre bereit, jeden Preis zu zahlen.“
    „Hm…“ Zögernd strich der Magier sich durch den langen Bart.
    „Inklusive einer Empfehlung beim Mogul“, setzte Barthos hinzu.
    Etwas blitzte auf in Shaayaans Augen und obwohl der Magier sich den Anschein gab, noch weiter zu zögern und abzuwägen, bevor er endlich und mit gespieltem Widerwillen „also gut, also gut“, sagte, wusste Barthos sofort, dass er angebissen hatte. Arathus hatte Recht gehabt, als er ihm gesagt hatte, dies würde den Shaayaan überzeugen. „Aber das wird nicht billig. Fünftausend Goldstücke, keine Münze weniger! Und als Entschädigung möchte ich einige andere Werke für meine Studien, von denen ich weiß, dass sie sich in Meister Arathus’ Besitz befinden.“
    „Ich habe hier fünfhundert Goldstücke als Anzahlung“, erklärte Barthos und reichte den prallen Beutel, den sein Meister ihm gegeben hatte, über den Tisch. „Gebt mir eine Liste der Bücher mit, die Ihr haben wollt, und Meister Arathus wird sie euch zusammen mit dem übrigen Gold zukommen lassen.“ Arathus hatte ihn angewiesen, auf jedes Angebot einzugehen. Das Buch sei wertvoller als alles, was Shaayaan fordern könnte, hatte er gesagt.
    Zufrieden nickend verstaute der Magier den Geldbeutel unter seinem Schreibtisch.
    „Kann ich das Buch direkt mitnehmen?“ – „Ich muss es so schnell wie möglich haben, verschwende also keine Zeit!“, das waren Arathus’ Worte gewesen.
    Shaayaan zögerte eine winzige Sekunde lang, dann erhob er sich jedoch, wandte sich zu einem Regal in seinem Rücken und zog einen schweren Folianten daraus hervor. „Als Zeichen des guten Willens und meiner Ehrerbietung“, erklärte er mit gewichtiger Miene, während er es Barthos in die Hände drückte. „Meister Arathus ist ein vertrauenswürdiger Mann. Ich habe keinen Zweifel, dass er sich an unsere Abmachung halten wird. Richtet ihm meine besten Grüße aus.“

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    Arathus‘ Geheimnis


    Kendra und Shirin hatten es sich auf den Stufen vor der Akademie gemütlich gemacht. Die Konkubine ließ ihr Kamel irgendetwas aus ihrer Hand fressen – was es war, konnte Barthos nicht erkennen – und streichelte dem Tier dabei mit der anderen über den Hals, während sie die vorbeilaufenden Menschen betrachtete. Kendra hatte sich in eines von Arathus’ Büchern vertieft, das sie auf ihre Reise mitgenommen hatte. Es beschrieb verschiedene einfache Zauber. Sie waren auf Arathus’ Geheiß dazu übergegangen, sich in ihrer freien Zeit einige einfache Sprüche selbst beizubringen, indem sie sich das nötige Grundwissen anlasen.
    „Hab das Buch!“, rief Barthos ihnen zu, während er die Treppe hinunter kam.
    Sofort schlug Kendra das ihre zu und erhob sich. „Und? Weißt du schon, was das für ein Buch ist?“ Beide hatten sie schon auf dem Hinweg gerätselt, was Arathus in diesem Werk zu finden hoffte.
    „Der größte Teil dreht sich wohl um Meditation und kitaische Philosophie. Aber dieser Shaayaan erwähnte auch was vom Stein der Weisen.“
    „Arathus ist mehr als reich genug. Ich bezweifle, dass er Gold herstellen will“, erwiderte Kendra und sprach damit nur aus, was Barthos dachte.
    Shirin kicherte. „Als ob Meister Arathus irgendwelchen Hirngespinsten nachjagen würde.“ Sie sprang auf und schwang sich auf ihr Kamel. „Kommt, je eher wir losreiten, desto eher sind wir wieder daheim.“
    „Sie hat nicht Unrecht“, meinte Barthos an Kendra gewandt, als auch sie ihre Reittiere bestiegen hatten. „Dieser Shaayaan hatte das Rezept selbst schon ausprobiert. Es taugt wohl nicht viel. Und denk dran, Geneviève hat uns schon vor Jahren erzählt, dass der Stein der Weisen nichts als ein Mythos ist.“
    „Hm.“ Nachdenklich starrte Kendra auf den Hals ihres Kamels. „Das mag ja stimmen, aber du musst doch zugeben, es würde passen. Arathus ist verdammt alt. Wenn er nicht bald sterben will, hat er einen Stein der Weisen nötig. Das heißt…“ Sie hob den Kopf und schaute Barthos direkt in die Augen. „Da ist natürlich noch die Tür.“
    „Fang nicht wieder damit an. Du weißt, was beim letzten Mal passiert ist.“
    „Ich habe nicht vor, es ihm ins Gesicht zu sagen“, erwiderte Kendra ärgerlich. „Aber hier hört er uns ja wohl nicht. Also hör mir zu: Arathus ist unnatürlich alt, richtig? Ich bezweifle zumindest, dass er einfach nur das Glück hat, besonders langlebig zu sein. Denk dran, er hat schon vor über dreißig Jahren gedacht, er müsse sterben. Ich glaube nicht, dass er sich einfach geirrt hat. Ich glaube, damals ging es wirklich mit ihm zuende. Aber er hat einen Weg gefunden, sein Leben zu verlängern. Und der hat irgendwas mit dem zu tun, was sich hinter der Tür verbirgt.“
    „Das ist mir alles bewusst.“ Zwar hatten sie noch nie wie jetzt darüber gesprochen, aber nach Arathus’ Reaktion auf Kendras Frage war der Fall für sie beide klar gewesen. „Aber gerade wenn er schon etwas hat, was sein Leben verlängert, braucht er keinen Stein der Weisen.“
    „Vielleicht verlängert das hinter der Tür sein Leben, aber auch nicht für immer. Vielleicht sucht er nach echter Unsterblichkeit.“
    Das war denkbar. Barthos fuhr sich über das Kinn. Während er überlegte, was Arathus’ Geheimnis sein könnte, richtete er den Blick wieder nach vorn, wo Shirin vor ihnen herritt. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus trieb er sein Kamel an, um zu der Konkubine aufzuschließen. „Was weißt du über die eiserne Tür bei Arathus?“, fragte er ohne Umschweife.
    „Nichts“, flötete Shirin lächelnd.
    „Und ob du etwas weißt!“
    „Willst du behaupten, ich lüge?“ Sie wandte ihm das Gesicht zu und ihr nun schelmisches Lächeln bestärkte Barthos in der Vermutung, dass sie genau das tat.
    „Ja“, antwortete er deshalb.
    „Oh, das enttäuscht mich aber wirklich.“ Ihre gekränkte Stimme wollte nicht wirklich zu ihrem fröhlichen Gesichtsausdruck passen.
    „Komm, Shirin, mach uns nichts vor“, mischte sich nun auch Kendra ein, die ebenfalls nach vorne geritten war. „Meinetwegen willst du uns nichts sagen, aber wir wissen, dass du Bescheid weißt.“
    „Weiß ich das?“ Shirin lachte. „Ihr glaubt ernsthaft, Meister Arathus würde uns all seine Geheimnisse anvertrauen? Wir dürfen genauso wenig nach der Tür fragen wie ihr. Jeder einzelnen von uns hat er eingebläut, dass diese Tür Tabu ist, als sie zu ihm kam – genau wie euch.“
    „Und ihr habt euch nie gefragt, was er da versteckt?“, fragte Kendra.
    „Doch, aber du weißt am besten, wozu das führt.“
    „Ihr habt also wirklich genauso wenig Ahnung wie wir?“, hakte Barthos nach.
    „Wir wissen nicht einmal, ob er sein Leben wirklich künstlich verlängert. Ich kann euch nur sagen, dass er altert. Also gehe ich auch davon aus, dass er irgendwann stirbt.“
    Jetzt, da sie es erwähnte, fiel es auch Barthos auf. Arathus wirkte mittlerweile noch etwas älter und hatte noch einige Falten mehr als vor drei Jahren. Er alterte tatsächlich.
    „Was ist mit den ganzen Salben?“, wollte Kendra wissen.
    „Sie verlangsamen den Alterungsprozess, aber sie halten ihn nicht auf. Je älter er wird, desto mehr Salbe braucht er.“
    Bei diesen Worten fiel es Barthos plötzlich wie Schuppen von den Augen. „Die Einbalsamierung!“
    „Was?“ kam es synchron von den beiden Frauen.
    „Shaayaan hat es erwähnt. In dem Werk steht auch etwas über die Bestattungsriten der alten Urdukultur. Kendra, weißt du noch, was Milana uns darüber erzählt hat? Man weiß nicht wie, aber diese Menschen haben es geschafft, ihre Toten völlig vor der Verwesung zu bewahren. Selbst heute, zweitausend Jahre später, sehen die Leichen, wenn man sie aus ihren Grüften birgt, noch aus wie zum Zeitpunkt ihres Todes.“
    „Du meinst, Arathus will nur einen Ersatz für seine Salben?“, nahm Kendra den Faden auf. „Etwas, was verhindert, dass er in hundert Jahren wie ein Zombie aussieht, weil er hinter der Eisentür zwar etwas hat, was ihn am Leben erhält, aber nichts, was ihn am Altern hindert.“
    Barthos nickte. „Ja, genau. Aber ich frage mich wirklich, was er hinter dieser Tür hat. Wie hat er es geschafft, wenn nicht das Alter, zumindest den Tod zu besiegen?“
    „Das solltest du dich lieber nicht fragen“, entgegnete Shirin mit für sie ungewöhnlich ernster Stimme. „Ihr solltet beide inzwischen wissen, dass Meister Arathus da keinen Spaß versteht. Also hört lieber auf, weiter drüber nachzudenken.“

    Doch Shirins Rat kümmerte sie nun nicht mehr. Die eiserne Tür, die sie zeitweise beinahe vergessen hatten, war wieder in ihre Gedanken gerückt. Und mehr denn je fragten sie sich, was für ein Geheimnis Arathus hinter ihr verbarg. Dass sie bloßes Herumrätseln nicht weiterbrachte, merkten sie schnell und so beschloss Kendra bald, die Tür bei der erstbesten Gelegenheit zu öffnen. Barthos war von dieser Idee nicht begeistert, denn er wollte sich gar nicht ausmalen, was Arathus mit ihnen anstellen würde. Doch seine Freundin ließ sich ihren Plan nicht mehr ausreden. Das wäre das Mindeste, was ihr Meister ihr schuldig sei, nachdem er sie vergiftet hatte, behauptete sie schlicht. Barthos beruhigte sich selbst damit, dass sich eine solche Gelegenheit wohl ohnehin nie ergeben würde.
    Er sollte sich täuschen. Auch wenn es ihnen so erschienen war, war die Welt in den letzten drei Jahren nicht stehen geblieben. Einiges hatte sich getan auf den Südlichen Inseln. Die Mission der Feuermagier war sehr erfolgreich gewesen und die Innoskirche hatte stark an Einfluss gewonnen, da sie nicht nur die einfache Bevölkerung sondern auch Fürsten und Höflinge bekehrt hatte. Nun strebte sie danach, ihre Macht auszuweiten und allen Südlichen Inseln den Glauben an Innos zu bringen. Die höfischen Beamten und Magier, die ihre Stellung oder gar ihr Leben durch die neue Religion gefährdet sahen, und einige Fürsten, die den Einfluss der Myrtaner eindämmen wollten, stellten sich gegen diese Entwicklung. All dies hatte zu zahlreichen Spannungen geführt und den Mogul von Ariabia schließlich veranlasst, alle Fürsten der Südlichen Inseln in die Halle der einhundert Reiche zu einem Treffen der Ariabischen Liga zu laden, bei dem beschlossen werden sollte, wie man mit der Kirche und dem durch sie verbreiteten Glauben umgehen sollte. Arathus war von Mogul Akbar II. nach Agadir bestellt worden, um ihn im Vorfeld zu beraten und gegebenenfalls auf die anderen Fürsten einzuwirken. Und so kam es, dass er sein Heim verließ, um in die Hauptstadt zu reisen, für mindestens zwei Wochen, wie er sagte.
    Kendra sah ihre Chance damit gekommen.

    „Ich bin immer noch nicht sicher, ob das klug ist.“ Barthos fühlte sich mehr als unwohl in seiner Haut, während er sich von seiner Freundin durch den Gang auf den kleinen Raum mit der Eisentür zuziehen ließ. Eine innere Stimme sagte ihm, dass sie ja die Finger von jener Tür lassen sollten und dass schreckliche Dinge geschehen würden, wenn sie sie öffneten.
    „Was soll passieren? Er wird es nie erfahren.“
    Oh doch, das würde er, darauf hätte Barthos gewettet, auch wenn er nicht hätte sagen können, wie Arathus es herausfinden sollte.
    „Komm schon, du willst es doch auch wissen.“ Sie hatten den Raum erreicht und Kendra ließ seine Hand los.
    „Ja, schon, aber… Ich weiß wirklich nicht…“
    Kendra war langsam weitergegangen. Nun stand sie direkt vor der Tür und legte ein Ohr an diese. Barthos sah, wie sie die Stirn angestrengt in Falten legte und die Augen zusammenkniff. Dann trat ein Anflug von Verwunderung in ihr Gesicht. „Wasser.“
    „Was?“
    „Da plätschert etwas. Wie ein Brunnen oder so.“
    Nun siegte auch in Barthos die Neugier. Mit wenigen Schritten durchmaß er den Raum und presste dann ebenfalls sein Ohr an die Tür. Tatsächlich glaubte er, leises Plätschern auf der anderen Seite zu hören.
    In ihrem Rücken erklang ein wohlbekanntes Klackern. Barthos’ Herz hörte für einen Moment auf, zu schlagen, so sehr erschrak er. Dann hörte er Indrakshis Stimme hinter sich: „Man sollte meinen, ihr hättet aus dem letzten Mal gelernt.“
    „Wir…“ Barthos schluckte schwer. Er hatte es gewusst! Er hatte gewusst, dass es schiefgehen würde! Warum hatte er Kendra nicht entschiedener von ihrem irrsinnigen Vorhaben abgehalten?
    „Keine Sorge, ich verpfeife euch schon nicht bei Meister Arathus“, beruhigte Indrakshi seine Gedanken. „Aber lasst jetzt die Tür in Ruhe, bitte. Kommt lieber mit und lasst euch einen Tee machen.“
    „Nein“, sagte Kendra bestimmt. „Ich will jetzt wissen, was dahinter ist. Und ihr könnt mir nicht erzählen, dass ihr nicht auch neugierig seid.“
    „Das ist ohne Belang“, entgegnete Indrakshi. „Selbst wenn: Keiner von uns kann die Tür öffnen. Meister Arathus trägt den Schlüssel immer an einer Kette um seinen Hals.“
    Das war Barthos noch nie aufgefallen. Wenn er ehrlich war, hatte er gar nicht darüber nachgedacht, wie die Tür zu öffnen war. Doch Arathus musste den Schlüssel unter seiner Kleidung tragen, sonst hätte er ihn sicher einmal bemerkt. „Woher weißt du das?“
    „Weil er ihn nie ablegt.“
    „Und?“ Es brauchte einige Sekunden, ehe Barthos verstand.
    Doch schon meldete sich Kendra wieder zu Wort: „Ich brauche keinen Schlüssel. Arathus selbst hat uns doch dazu animiert, uns Zauber beizubringen.“
    Mit diesen Worten drehte sie sich herum und legte ihre Hand auf die große Eisenplatte. Barthos wusste sofort, was sie vorhatte. Unwillkürlich spannten sich seine Muskeln zusammen. Er wusste nicht, ob er aufgeregt war, wegen dem, was sie hinter der Tür finden würden, oder ob sich sein Körper darauf vorbereitete, davonzurennen. Wahrscheinlich machte er sich viel zu viele Sorgen, doch er konnte nichts gegen das unruhige Kribbeln in seiner Magengegend und gegen seine düstere Vorahnung tun. Unfähig, sich zu rühren, starrte er auf Kendra, die die Augen angestrengt geschlossen und den Kopf leicht gesenkt hatte. Auch Indrakshi schien es die Sprache verschlagen zu haben. Die Konkubine starrte ebenso gespannt auf seine Freundin, wie er es tat.
    Und dann hörten sie ein leises Klicken. Das Schloss war geöffnet. Kendra drehte den Kopf herum und blickte sie beide an. Keiner von ihnen sagte etwas. Langsam wandte sie sich wieder der Tür zu und öffnete sie.

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    Der Quell der Unsterblichkeit


    Der Raum hinter der Tür hatte die Größe einer Abstellkammer. Er unterschied sich jedoch deutlich von einer solchen: Kryptische Zeichen und magische Formeln in goldener Farbe zierten die steinernen Wände. Ein Pentagramm in einem Kreis war in die Decke gemeißelt. Und in der Mitte stand tatsächlich eine Art Brunnen. Ein schlichter, etwa hüfthoher steinerner Zylinder, aus dessen Spitze Wasser austrat, das gleichmäßig an seinen Seiten hinablief und von einer in den Boden eingelassenen Rinne aufgefangen wurde. Durch kleine Löcher in der Rinne gelangte es zurück in den Zylinder, in dessen Innern es irgendwie nach oben gepumpt werden musste. Abgerundet wurde das Bild von fünf Kristallen in unterschiedlichen Farben, die in regelmäßigen Abständen an den Rändern der Rinne lagen.
    „Das ist das große Geheimnis?“ Kendra kniff die Augen leicht zusammen. Dann setzte sie sich energisch in Bewegung.
    Barthos ließ den Blick prüfend über die Wände wandern. Einige der Zeichen kannte er. Schutzsymbole, Bannzauber…
    „Wir sollten besser nichts anfassen“, sagte Indrakshi zaghaft. „Bitte, mach die Tür wieder zu. Wenn Meister Arathus…“
    Was immer die Konkubine hatte sagen wollen, sie sollten es nie erfahren. Kendra hatte einen der Kristalle aufgehoben, um ihn näher zu betrachten. Im selben Moment war alles Wasser in die Rinne und von dort ins Innere des Zylinders gestürzt. Für den Bruchteil einer Sekunde war kein Tropfen mehr zu sehen, dann schoss ein dicker Strahl aus der Spitze des Brunnens direkt auf sie zu.
    Geistesgegenwärtig duckte Kendra sich und ließ dabei den Kristall achtlos zu Boden fallen. Das Wasser schoss über ihren Kopf hinweg und traf stattdessen Indrakshi, die nur noch überrascht aufschreien konnte. Im nächsten Moment schloss das Wasser sie ein wie ein Kokon. Die Konkubine versuchte ihn zu verlassen, doch etwas schien sie festzuhalten. Wie gelähmt sahen Barthos und Kendra zu, wie blankes Entsetzen in Indrakshis Gesicht trat, sie verzweifelt nach Luft und rang und strampelte und kämpfte, um ihrem nassen Gefängnis zu entkommen. Erst langsam begriff Barthos, dass sie im Begriff war, zu ertrinken. Er musste etwas tun! Ohne lange nachzudenken, streckte er seine Hand aus. Er griff in die Säule aus Wasser hinein, nach dem Arm der Konkubine, um sie hinauszuziehen. Doch ein Teil des Wassers schoss in seine Richtung, traf ihn mit der Wucht einer Ogerfaust und schleuderte ihn zu Boden. Ein heftiger Schmerz durchzuckte seinen Schädel, als er auf dem harten Stein auftraf. Als er den Kopf wieder hob, sah er mit Entsetzen, wie Indrakshis Strampeln immer verzweifelter wurde. Sie griff sich an den Hals, verdrehte die Augen, versuchte die Luft anzuhalten. Dann erstarben ihre Bewegungen und sie sank inmitten des Wasserkegels zu Boden wie… wie eine Leiche.
    „Nein!“, entwich es Barthos’ Lippen.
    Dann plötzlich packte jemand ihn am Arm. „Los!“, schrie Kendra und zerrte ihn auf die Beine. Jede Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
    Im selben Moment stürzte das Wasser zu Boden, als hätte es sich plötzlich der physikalischen Gesetze erinnert, und gab Indrakshi frei, die leblos auf dem Stein aufschlug. Barthos wollte zu ihr laufen und ihr helfen, doch sofort türmte sich das Wasser zu einer Welle auf, die auf sie zustürzte. „Lauf!“, schrie Kendra und zerrte ihn an seinem Arm hinter sich her.
    So schnell sie konnten, rannten die beiden um ihr Leben. Das Rauschen des Wassers verfolgte sie. Barthos glaubte, die ersten Tropfen bereits im Nacken zu spüren. Sie schlitterten um eine Ecke und hörten, wie die Welle hinter ihnen gegen die Wand prallte. Kurz kam sie zum Stehen, doch beinahe sofort nahm sie die Verfolgung wieder auf.
    Als sie um die nächste Ecke rannten, wären sie beinahe mit Fiona zusammengeprallt, die einen Stapel dreckiger Kleidung in den Armen trug. „Huch!“, rief sie aus und ließ ihn beinahe vor Schreck fallen. „Was ist denn in euch gefahren?“
    „Lauf!“, rief Barthos nur und riss Fiona am Arm mit sich, wie es zuvor Kendra mit ihm getan hatte.
    „Was bei…?“
    Im nächsten Moment schoss die Welle um die Ecke. Die Konkubine konnte gerade noch überrascht die Augen aufreißen, da hatte Barthos sie hinter sich durch eine Tür gezogen und diese zugeschlagen.
    „Was ist das?“, fragte sie sofort.
    „Keine Ahnung, aber es hat Indrakshi getötet.“ Barthos ließ Fiona keine Zeit, diesen Schock zu verarbeiten.
    Kendra, die bereits weiterrannte, sprach aus, was er dachte: „Weiter, es kommt durch die Tür!“
    Und tatsächlich hatten sie nur wenige Meter Vorsprung gewonnen, da hörten sie das Holz unter der Wucht des Wassers bersten.
    Sie erreichten den Speisesaal, dessen Boden gerade von Swanhild gereinigt wurde. Beinahe wären sie auf dem nassen Stein ausgerutscht, doch es gelang ihnen, sich auf den Füßen zu halten, und so stürmten sie auf die nächste Tür zu.
    „Stimmt etwas nicht?“
    „Lauf!“, war Kendras einzige Antwort.
    Noch während Swanhild ihnen verwirrt nachstarrte und dann den Kopf in die Richtung wandte, aus der sie gekommen waren, schoss das Wasser aus dem Gang. Und noch ehe die Konkubine begriffen hatte, wie ihr geschah, traf sie die Welle mit voller Wucht und schleuderte sie gegen die Felswand.
    „Swanhild!“ Fiona hielt inne und drehte sich nach ihrer Freundin um. Geistesgegenwärtig packte Kendra sie am Handgelenk und zog sie weiter. Auch Barthos rannte, ohne stehen zu bleiben. Es tat ihm in der Seele weh, doch er wusste, jede Sekunde des Zögerns konnte auch ihren Tod bedeuten.
    Sie bogen um die nächste Ecke. Barthos achtete gar nicht mehr darauf, welchen Weg sie einschlugen. Für ihn gab es nur noch zwei Gedanken: Entkommen. Konkubinen retten.
    „Lauft!“, schrie Kendra, die einen kleinen Vorsprung hatte, wohl in der Hoffnung, die anderen Bewohner des Palastes würden sie hören.
    Tatsächlich steckte Shirin nach dem vierten Mal den Kopf aus einer Tür. „Was ist los?“, fragte sie alarmiert. Dann sah sie es selbst um die Ecke kommen und schloss sich den übrigen drei ohne zu Zögern an. „Milana und Geneviève!“, stieß sie aus, als sie um die nächste Ecke bogen und vor ihnen der Gang zum Konkubinengemach lag.
    Sofort schlug Fiona den Weg zu ihren Freundinnen ein, doch abermals packte Barthos sie am Arm und zog sie mit den anderen um eine Ecke. „Nein, Sackgasse!“, rief er nur. Widerstrebend folgte die Konkubine ihm. Sie hörten die Welle in ihrem Rücken vorbeirauschen. Wenig später erklangen Schreie aus den Gemächern der Konkubinen. Barthos hatte das Gefühl, ein glühendes Messer würde in sein Herz gerammt. Das durfte doch einfach alles nicht wahr sein. Die Konkubinen durften nicht einfach sterben.
    „Nach oben!“, rief Shirin, die mittlerweile zu ihm und Fiona aufgeschlossen hatte. Kendra reagierte sofort und schlug den Weg zur Aussichtsplattform ein. Das Wasser schien mit Milana und Geneviève beschäftigt zu sein. Vielleicht hatte es auch die Fährte verloren. Zumindest schien es sie nicht mehr zu verfolgen. Doch keiner der vier wagte, stehen zu bleiben oder auch nur langsamer zu werden. Stattdessen hasteten sie eine Wendeltreppe hinauf und durch eine Falltür auf eine kleine Aussichtsplattform auf der Bergspitze, in gut zehn Metern Höhe über dem Eingangsportal. Zwei Teleskope zeugten von den Astronomiestunden, die Nasrin Kendra und Barthos hier zu geben pflegte.
    Kaum waren sie alle oben angekommen, schlug Shirin die Falltür zu.
    „Was ist mit den anderen?“ Fionas Stimme war nur noch ein verzweifeltes Schluchzen. Sie hatte die Hände vor der Brust zusammengeschlagen.
    „Ich weiß es nicht.“ Shirin starrte auf die Falltür, als sie könne sie durch sie hindurch sehen und die anderen Konkubinen so beobachten. „Wir können nur hoffen, dass sie…“ Sie brach ab und biss sich auf die Lippen.
    Ein Schrei ertönte unter ihnen und sofort stürzten sie alle vier an die Brüstung. Unten sahen sie Nasrin aus dem Eingang des Palastes rennen. Nur Sekunden später schoss eine Welle aus dem Portal und überrollte die Konkubine. Barthos keuchte auf. Nun auch noch Nasrin. Das musste ein Alptraum sein. Musste einfach…
    „Meint ihr, es findet uns hier?“, fragte Kendra mit bebender Stimme.
    Unter ihnen schoss die Welle in Richtung der Ställe. Kurz darauf drang das verzweifelte Brüllen der Kamele an ihre Ohren.
    „Ist nur eine Frage der Zeit, da bin ich mir sicher.“ Keuchend und sich die Seite haltend starrte Barthos die drei verängstigten Frauen an. Sein Gesicht war vermutlich ebenso blass wie die ihren. Und er wusste ebenso wenig wie sie, was sie tun sollten. Dennoch hatte er plötzlich das Gefühl, dass es seine Pflicht war, stark zu bleiben und sie zu beschützen. Immerhin war er der einzige Mann hier.
    Dennoch war es Shirin, die die Initiative ergriff. Kurzerhand entledigte sie sich ihrer Schuhe, deren hohe Sohlen zwar unheimlich attraktiv aber wenig praktikabel waren, und kletterte über die Brüstung.
    „Was tust du da?“, stieß Kendra aus.
    „Mich verstecken. Los, folgt mir.“ Shirin ließ sich langsam hinab und tastete mit den bloßen Füßen nach dem schroffen Fels.
    „Bist du lebensmüde?“, keuchte Barthos. Schon beim bloßen Blick nach unten wurde ihm schwindelig.
    „Nein, ich hänge an meinem Leben. Genau darum werde ich nicht einfach warten, bis mich dieses Ding holen kommt.“ Shirin ließ sich fallen. Synchron schrieen Barthos, Kendra und Fiona auf, doch die Konkubine landete sicher auf dem Fels unter ihr und klammerte sich daran fest. Sofort kletterte sie weiter hinab. Barthos löste den Blick von ihr, schaute Kendra kurz in die Augen und schwang dann ebenfalls ein Bein über die Brüstung. Sie tat es ihm gleich.
    „Nur nicht nach unten sehen“, ermahnte er sich, während er das andere Bein folgen ließ. Langsam ließ er sich herab, mit den Füßen nach den Felsen tastend. Als er glaubte, einen halbwegs sicheren Halt gefunden zu haben, ließ er die Brüstung los. Stattdessen griff er nach der schroffen Wand des Berges. Während er langsam weiter hinabstieg, versuchte er krampfhaft, nicht hinunter zu schauen. Er war definitiv nicht geschaffen für so etwas. Verflucht, er war ein Mann des Geistes! Wie zur Bestätigung schnitt er sich im nächsten Moment in die Hand, als er versuchte, weiter hinabzusteigen. Beinahe hätte er den Felsen vor Schreck losgelassen. Doch stattdessen klammerte er sich nur umso fester an den Berg. Er ignorierte den Schmerz, als die steinernen Kanten ihm noch tiefer ins Fleisch schnitten und stieg weiter hinab, bis er nach einer gefühlten Ewigkeit endlich den schmalen Giebel der Fassade erreichte, die so viel Ähnlichkeit mit einem antiken Tempel hatte. Er war gerade breit genug, um nicht hinunterzustürzen und es schien unmöglich, noch weiter hinabzuklettern. Aber vielleicht würde dieses… Ding sie hier nicht finden, was immer es sein mochte.
    Shirin war vor ihm auf dem Giebel angekommen und stützte ihn vorsichtig ab, als er sich herabließ. Auch sie hatte sich die Hände und, den Blutspuren unter ihren Füßen nach zu urteilen, auch die Sohlen aufgerissen. Doch in diesem Moment waren die Blutflecken, die sie auf seinem Gewand hinterließ, Barthos’ geringste Sorge. Neben ihm ließ sich auch Kendra herab, dicht gefolgt von Fiona. Und kurz darauf kauerten sie gemeinsam auf dem Giebel und blickten verzweifelt zum Horizont.
    Geändert von Jünger des Xardas (30.10.2011 um 19:19 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Der Preis der Unsterblichkeit


    Barthos nuckelte gerade an seinen blutenden Fingern, als Kendra plötzlich laut „da!“ schrie und nach Osten deutete.
    „Das ist Meister Arathus!“, rief Fiona erleichtert aus.
    Barthos brauchte einen Moment, ehe er es sah, dann erkannte er einen kleinen schwarzen Punkt am Horizont, der sich in ihre Richtung bewegte. Tatsächlich, das sah nach einem Reiter aus.
    Mit einem Mal erklang ein lautes Donnern und Dröhnen hinter der Wand in ihrem Rücken und ließ sie alle zusammenfahren.
    „Was ist das?!“, keuchte Barthos auf.
    „Kommt weg von der Wand!“ Shirin sprang sofort auf die Beine und schob sich vorsichtig an der Wand entlang zur Seite.
    „Weg von der Wand?!“, stieß Kendra hysterisch aus. „Du bist gut! Wir haben keinen halben Meter Platz. Sollen wir etwa springen?!“
    „Kommt einfach da weg!“, brüllte Shirin. Barthos wusste nicht, ob ihm die immer lauter werdenden Geräusche aus dem Innern des Palastes oder die Tatsache, dass Shirin sich immer mehr auf den Rand des Giebels zu bewegte und dieser dort immer steiler abfiel, mehr Angst machen sollten. Doch schon zog Kendra ihn am Arm mit sich in die andere Richtung.
    Gerade rechtzeitig, denn im nächsten Moment brach die Wand, vor der sie eben noch gesessen hatten. Das Wasserungeheuer hatte den Felsen ausgehüllt und sich einen Tunnel nach draußen gegraben. Es hatte in kürzester Zeit geschafft, wofür die Gezeiten in der Natur Jahrhunderte oder gar Jahrtausende brauchten. Nun schoss es nach draußen auf den Giebel. Die Welle erfasste Fiona, die dem Loch am nächsten gestanden hatte, und stürzte mit ihr in die Tiefe. Kaum unten angekommen, schoss das Wasser wieder in den Palast hinein, die leblose Konkubine zurücklassend. Barthos vermochte nicht mehr, sich zu rühren oder auch nur nachzudenken. Ohne, dass es ein bewusster Gedanke war, wusste er, dass das Wesen wieder auf dem Weg nach oben war, zu seinem Tunnel. Er wusste, dass es keinen Ausweg mehr für sie gab.
    Schon schoss die Welle wieder nach draußen, dieses Mal direkt auf Kendra und ihn zu. Schützend warf Barthos sich vor seine Freundin, ohne auch nur daran zu denken, wie sinnlos dies war. Dann, plötzlich, loderte eine Wand aus Feuer vor ihm auf und ließ ihren Angreifer zurückweichen. Momente später stürzte die Welle sich abermals in die Tiefe.
    Barthos riss den Kopf herum und sah eine Gestalt auf einem Kamel die Rampe hinaufgaloppieren. Die Welle rollte ihr entgegen. Auf halbem Weg trafen sie sich. Sofort umschloss das Wasser Kamel und Reiter. Dann leuchtete es im Innern des nassen Kokons strahlend hell auf, als sei die Sonne selbst in seiner Mitte erschienen. Das Wasser wich zurück und Flammen folgten ihm züngelnd die Rampe hinauf. Der Reiter – es war Arathus – sprang von seinem Kamel und verfolgte seinen Gegner, ohne ins Rennen zu verfallen. Die Arme hatte er ausgestreckt, die Brauen vor Anstrengung zusammengekniffen. Das Wasser gewann etwas Vorsprung, türmte sich dann vor dem Portal wieder auf und schien schon zum nächsten Angriff anzusetzen, als ein Kreis aus Flammen aus dem Boden brach und es in seiner Mitte einschloss. Arathus ließ die Hände sinken. Er schritt die letzten Meter der Rampe hinauf, bis er direkt vor dem Flammenring stand. Dann riss er die Arme abermals in die Höhe. Kurz schien nichts zu geschehen, dann wandelte sich das Wasser mit einem Mal in violetten Rauch, der rasch emporstieg und sich verflüchtigte.
    Arathus verlor keine Zeit. Er ruhte sich nicht aus. Er schaute nicht nach den Leichen von Fiona und Nasrin. Er kümmerte sich nicht um sein Kamel. Er beachtete nicht einmal seine Schüler und seine verbliebene Konkubine. Sofort, als die Gefahr gebannt war, rauschte er ins Innere des Palastes.
    Barthos, Kendra und Shirin sanken erschöpft zusammen. Es brauchte einige Minuten, ehe sie sich endlich aufrafften und durch den Tunnel des Ungeheuers nach drinnen zurückkehrten.
    Sie fanden Arathus in seinem Studienzimmer, wo er wie ein Besessener Bücher aus den Regalen zog und auf einen kleinen Haufen warf. Nichts war zu spüren von der Kraft und Erhabenheit, die er sonst ausstrahlte. Er war blass, wirkte gehetzt, ja panisch. Als sie eintraten, schenkte er ihnen keinerlei Beachtung.
    Eine Weile standen sie zu dritt reglos in der Tür, dann, als Arathus offenbar alle Bücher beisammen hatte, die er gesucht hatte, und sie eilig durchzublättern begann, trat Shirin vor. „Was hat das alles zu bedeuten?“
    „NICHT JETZT!“
    Barthos hatte Arathus schon einige Male ungehalten erlebt, doch das hier war etwas anderes, das spürte er deutlich.
    „Doch, jetzt!“ Shirin stampfte durch den Raum, riss dem Magier das Buch aus der Hand und schmiss es in eine Ecke. „Ihr schuldet uns eine Erklärung!“ Auch Shirin zeigte sich von einer völlig neuen Seite. Einer, die Barthos gar nicht gefiel.
    „Aus dem Weg!“ Unsanft stieß Arathus die Konkubine beiseite. „Ich muss nachdenken!“ Wie ein gehetztes Tier begann er, im Kreis zu laufen, fast zu rennen. Dabei rieb er sich durch den Bart. „Wann ist Vollmond?“
    „Was?“ Völlig perplex starrte Kendra ihren Meister an.
    „Wann Vollmond ist! Könnt ihr keine einfache Frage beantworten?!“, brüllte Arathus und verteilte Tropfen von Speichel auf dem Teppich. Er wirkte wie jemand, der kurz davor stand, dem Wahnsinn zu verfallen.
    Barthos fuhr zusammen. „Äh… In siebzehn Tagen“, stammelte er hastig, sich an seine letzte Astronomiestunde erinnernd. Es hätte ihn nicht gewundert, hätte Arathus ihn bei einem Zögern in Flammen aufgehen lassen.
    Klatsch.
    Wäre Barthos noch fähig gewesen, klare Gedanken zu fassen, er hätte fest daran geglaubt, an diesem Tag könne ihn nichts mehr schocken. Doch das wäre ein gewaltiger Irrtum gewesen. Shirin, die sich dafür extra auf die Zehenspitzen hatte stellen müssen, hatte Arathus eine Ohrfeige gegeben. Und was für eine! Der Magier war nicht weniger überrascht als Barthos. Völlig perplex starrte er seine Konkubine an.
    „Sie sind tot, Arathus. Fiona, Nasrin, Milana, Geneviève, Swanhild, Indrakshi – sie sind alle tot. Schert Euch das überhaupt nicht?“
    „Das tut es, verflucht noch eins! Aber für sie kann ich nichts mehr tun. Für mich schon!“
    Arathus griff nach einem weiteren Buch, doch Shirin packte ihn am Arm. „Was soll das heißen?“
    „Dass ich sterbe!“ Wütend riss Arathus sich los und stürmte Richtung Ausgang. „Bis Vollmond bleibt keine Zeit. Es muss ohne gehen.“
    Shirin war verstummt. Doch als er den Raum verlassen wollte, hielt Kendra ihren Meister zurück. „Ihr schuldet uns eine Erklärung“, sagte sie bestimmt.
    Kurz starrte Arathus sie an, als sähe er sie zum ersten Mal, dann brüllte er zornig auf: „Du! Du bist an allem schuld, habe ich Recht?! Du hast den Marid befreit!“
    „Ich…“ Kendra erblasste. Hilflos blickte sie zwischen Arathus und den beiden anderen hin und her. „Ich wollte doch nicht…“
    Barthos legte schützend einen Arm um sie. „Ihr habt diesen… was auch immer beschworen!“, fuhr er Arathus wütend an. Langsam gewann er die Fassung zurück. Und damit wuchs eine gewaltige Wut in ihm heran. Wie konnte Arathus es wagen, so mit Kendra umzuspringen und ihr die Schuld an allem zuzuschieben?
    „Den Wasserdämon, den Marid“, entgegnete der Magier wütend. „Ja, ich habe ihn gerufen. Und ich dachte, ich hätte mehr als deutlich gemacht, dass ihr die Finger von dieser Tür lassen sollt!“ Er fauchte zornig. „Wie die kleinen Kinder! Man verbietet euch etwas und ihr tut es erst recht! Wie konnte ich mir nur Schüler nehmen, die nicht einmal fähig sind, eine derart simple Regel einzuhalten?“ Barthos zog Kendra noch etwas fester an sich und schob sie gleichzeitig ein Stück hinter seinen Rücken. Arathus’ Blick durchbohrte sie mit einer Wut, die Barthos noch nie bei einem Menschen gesehen hatte, und es hätte ihn nicht gewundert, wenn er im nächsten Moment Blitze nach Kendra geschleudert hätte.
    „Der Dämon hat Euch am Leben erhalten, nicht wahr?“, meldete sich Shirin wieder zu Wort.
    Arathus wandte den Blick von Kendra und Barthos ab. Er senkte den Kopf und seufzte tief. Mit einem Mal wirkte er alt und erschöpft. „Ein Schluck seines Wassers jeden Tag. Jeder Schluck gewährte mir einen weiteren Tag im Leben, bewahrte mich einen weiteren Tag vor dem Tod. Glaube mir, Shirin, ich habe es nicht gerne getan. Ich wusste um die Gefahr. Und ich habe lange gezögert, ehe ich diesen Pakt mit den dunklen Mächten einging. Aber ich musste es tun. Es gibt keinen anderen Weg zur Unsterblichkeit. Zu lange habe ich danach geforscht, ohne eine Alternative zu finden.“
    „Vielleicht weil Unsterblichkeit unnatürlich ist. Weil sie nicht in diese Welt gehört. Genau wie Dämonen.“
    Erbost fuhr Arathus herum. „Es ist mir egal, ob es natürlich ist oder nicht!“, schrie er Shirin an. „Ich weigere mich, mich einfach dem langsamen Verfall hinzugeben! Ich darf nicht sterben! Deswegen…“ Seine Züge erhärteten sich. „Deswegen muss ich einen neuen Marid rufen.“
    „Einen neuen? Damit wir drei auch noch getötet werden? Ist es das wert?“
    Arathus sah seiner letzten Konkubine durchdringend in die Augen. „Ich wollte niemandem schaden. Schon gar nicht euch. Aber… ja, nicht sterben zu müssen, ist jeden Preis wert.“
    Barthos war überrascht über die Ruhe, die in seiner Stimme lag, als er sprach: „Das ist nicht weise.“
    „Hm?“ Arathus drehte sich zu ihm herum und blickte ihn verständnislos an.
    „Ihr seid so alt und doch fürchtet Ihr den Tod so sehr, dass Ihr selbst den Tod derer, die Euch nahe stehen, in Kauf nehmt, um ihn abzuwenden. Ihr wolltet Schüler, die nach Weisheit streben, die begreifen, dass sie die höchste Tugend ist. Aber Ihr seid nicht weise.“
    „Nein, das bin ich nicht“, gab Arathus mit gebrochener Stimme zu. „Aber euch fällt es leicht, mich zu verurteilen. Ihr seid jung. Selbst alle drei zusammen zählt ihr nicht annährend so viele Jahre wie ich. Glaubt mir, es wird noch der Tag kommen, da ihr versteht. Da auch ihr beginnt, den Tod zu fürchten.“ Plötzlich verfinsterte sich der Blick des alten Magiers wieder. „Und heute wird nicht der Tag meines Todes sein, dafür werde ich sorgen! Notfalls kann ich auch ohne Vollmond einen Marid beschwören. Alles, was ich brauche, ist eine entsprechende Kraftquelle. Ich brauche nur etwas Magisches Erz und…“
    „Wir haben keines da“, unterbrach Shirin ihn.
    „Das weiß ich selbst! Ich muss also nach Agadir und welches kaufen. Und zwar sofort!“
    „Weshalb die Eile?“, fragte Barthos verwirrt.
    „Weil ich ohne das Wasser des Marids den nächsten Morgen nicht mehr erlebe, verflucht!“
    „Das sagtet Ihr bereits. Aber habt Ihr denn keine Vorräte? Ihr wolltet für mindestens zwei Wochen nach Agadir, da müsst Ihr doch etwas von dem Wasser mit Euch genommen haben.“
    „Meine Vorräte haben ihre Macht verloren in dem Moment, als ich den Marid in die Sphäre bannte, die ihr Beliars Reich nennt. Ich brauche neue.“ Mit diesen Worten rauschte Arathus auf den Ausgang zu.
    Doch abermals packte Shirin ihn am Ärmel und hielt ihn zurück. „Ihr schafft es nie und nimmer noch heute nach Agadir. Und das wisst Ihr.“
    Einen Moment starrte Arathus mit unbewegter Miene in den Korridor, dann sank er gegen den Türrahmen. „Ja, das weiß ich“, flüsterte er. „Ich wusste es ab dem Moment, da ich spürte, dass der Marid frei war, und zurückritt. Es ist zu spät.“
    Shirin legte zaghaft eine Hand auf Arathus’ Schulter. „Ihr seid mehr als alt genug geworden. Und Ihr habt gut gelebt. Was könntet Ihr Euch mehr wünschen?“, sagte sie sanft.
    „Dass es nicht so hätte enden müssen.“ Arathus schüttelte traurig den Kopf. „Meinetwegen sind sie alle tot.“
    „Nicht alle. Ich bin noch hier. Und ich werde bleiben, bis es vorbei ist.“
    Arathus lächelte schwach und drückte die Hand, die auf seiner Schulter ruhte. „Ich danke dir.“
    „Kommt. Ihr solltet Eure letzten Stunden nicht mit Trauer und Selbstvorwürfen verbringen“, sagte Shirin leise und führte Arathus langsam hinaus.
    Barthos schaute ihnen einige Zeit nach, dann vernahm er ein leises Schluchzen an seiner Seite. Er wandte den Kopf und Blickte Kendra an, der er noch immer seinen Arm um die Schulter gelegt hatte.
    „Arathus hat Recht“, sagte sie tonlos. „Es ist meine Schuld.“
    „Ist es nicht. Red dir das nicht ein.“
    „Red du mir nicht das Gegenteil ein. Du hast mich gewarnt. Arathus hat uns gewarnt. Shirin hat uns gewarnt. Indrakshi hat uns gewarnt, bevor sie…“ Kendra brach ab und vergrub das Gesicht in seinem Umhang. „Meinetwegen sind sie alle tot. Meinetwegen stirbt Arathus jetzt. Nur wegen meiner dummen Neugier. Nur weil ich nicht hören konnte!“
    Barthos drückte Kendra an sich, hielt sie so fest, wie er konnte. Er wollte etwas sagen, sie trösten, ihr erklären, dass es nicht ihre Schuld war, doch ihm fiel nichts ein. Was viel schlimmer war: Er musste ihr insgeheim Recht geben. Ja, Arathus hatte seine eigene Endlichkeit nicht akzeptieren können und den Marid beschwören müssen. Ja, er, Barthos, hatte sich Kendras Vorhaben nicht entschieden genug entgegengestellt. Aber sie war es gewesen, die unbedingt das Geheimnis hatte lüften müssen, die selbst nach der mehr als deutlichen Warnung keine Ruhe gegeben hatte, die… Nein! Er musste ihr jetzt beistehen. Sie machte sich selbst schon genug Vorwürfe, sie brauchte nicht noch jemanden, der sie verurteilte. Er wollte und konnte ihr nicht böse sein. Es hatte bereits zu viel Leid gegeben. Wie viel, das drang erst jetzt langsam zu ihm durch. Und wenngleich er sich ermahnte, stark zu bleiben, nicht aus der Rolle des starken Beschützers zu fallen, die er als Mann zu spielen hatte, spürte er, wie auch ihm langsam die Tränen kamen, während er stur auf die Wände starrte. Unnatürlich glatte Wände. Wie vom Wasser ausgehüllt.
    Obwohl die Tränen ihm mittlerweile die Sicht nahmen, musste er schmunzeln. Es war doch lachhaft, was für belanglose Kleinigkeiten einem in solchen Situationen auffielen.
    Geändert von Jünger des Xardas (04.11.2011 um 19:27 Uhr)

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    Abschied


    Als Barthos am nächsten Morgen aufwachte – Kendra lag noch immer in seinen Armen – spürte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Was es war, erkannte er erst nach einigen Momenten: Er war von selbst aufgewacht. Niemand hatte ihn geweckt. Der Gedanke löste sofort Erinnerungen an den gestrigen Tag aus. Erinnerungen, die er am liebsten verdrängt hätte.
    Er drehte sich herum. Kendra schien von denselben Erinnerungen geplagt zu werden. Ihr Gesicht hatte sich im Schlaf zu einer schmerz- und angsterfüllten Grimasse verzogen. Ob sie Alpträume hatte? Barthos überlegte, dass er ihr wahrscheinlich einen Gefallen tun würde, wenn er sie weckte. Dennoch unterließ er es. Ihre Gedanken würden sie auch im wachen Zustand plagen, wahrscheinlich noch schlimmer, und sie brauchte etwas Schlaf. Er musste auch nicht lange warten, bis sie von selbst die Augen öffnete und ihm ins Gesicht blickte.
    Stumm starrten sie einander an. Es gab nichts, was hätte gesagt werden können. Es musste auch nichts gesagt werden. Beide verstanden auch so nur zu gut, was der andere fühlte. Schließlich brach Barthos doch die Stille: „Wir sollten aufstehen.“
    Kendra nickte nur. Gemeinsam stiegen sie aus dem Bett. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, sich auszuziehen, und machten sich nun auch nicht die Mühe, sich etwas anderes anzuziehen. Barthos merkte gar nicht, dass sein Gewand aufgerissen war und noch immer Blutspuren daran klebten.
    Shirin saß allein im Speisesaal, über eine dampfende Tasse Tee gebeugt. Schweigend setzten sie sich zu ihr an den Tisch. Barthos streckte die Hand nach der Kanne aus und blickte Kendra fragend an. Doch sie schüttelte nur den Kopf, also zog er die Hand wieder zurück. Auch ihm war nicht nach Tee zumute.
    „Er ist tot.“ Shirin hob den Kopf und schaute ihnen direkt ins Gesicht. Ihre Augen waren gerötet.
    Barthos schwieg. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Auch Kendra sagte nichts.
    Eine lange Zeit saßen sie so da. Nichts war zu vernehmen außer Shirins leisem Schlürfen. Dann zerriss plötzlich ein unangenehmes Klirren die Stille und löste Barthos aus seiner Starre. Erst nach einigen Momenten verstand er, dass Shirin ihre mittlerweile leere Tasse abgestellt hatte, und er wunderte sich selbst über sein überempfindliches Gehör.
    „Er sagte, es tue ihm leid.“
    Barthos nickte nur. Er hörte Shirins Worte, doch sie berührten ihn nicht. Er fühlte sich wie gelähmt. Innerlich.
    „Wollt ihr immer noch Magier werden?“
    Dieser Satz schaffte es, Barthos’ Aufmerksamkeit wieder tatsächlich auf Shirin zu richten. Ihre Ausbildung. Daran hatte er überhaupt nicht mehr gedacht. Es fühlte sich an, als seien Jahre seit ihrem letzten Unterricht vergangen. Langsam drehte er den Kopf zur Seite. Kendra rührte sich noch immer nicht. Ihr Blick war weiterhin auf die Tischplatte geheftet. Er wandte sich wieder Shirin zu und ohne nachzudenken nickte er.
    „Dann geht nach Burjaki. Ins Kloster Shangri La. Arathus sagte, wenn ihr an eurem Vorhaben festhaltet und wenn ihr wirklich die Natur der Magie begreifen und sie nutzen wollt, dann müsst ihr nach Shangri La gehen. Er sagte, ihr sollt euch dort an einen Mann namens Gyatso wenden. Er sagte, das sei ein wahrhaft weiser Mann.“ Shirins Stimme geriet ins Stocken. „Kein Blender so wie er.“
    „Ein burjakisches Kloster?“, fragte Barthos. Seine Überraschung ließ ihn für einen Moment sogar seinen Schmerz vergessen. „Arathus sprach ein paar Mal davon. Allerdings nicht sehr freundlich.“
    „Arathus stammte aus einfachen Verhältnissen, was bedeutet, dass er in seiner Jugend unbekannt war. Und er war auch nie sehr gesprächig, was das anging. Es ist nur wenig bekannt aus seinen frühen Jahren. Aber ich weiß, dass er einige Zeit selbst in Shangri La gelebt hat. Und dass er dort Dinge über die Magie gelernt hat, die einem in der Akademie niemand beibringen kann. Aber aus irgendeinem Grund hat er sich mit den Mönchen dort überworfen. Ich glaube, sie hatten schlicht… weltanschauliche Differenzen.“
    „Ich gehe in kein Kloster mehr“, ließ Kendra mit einem Mal vernehmen. Ihre Stimme war schwach und sie starrte mit unbewegter Miene auf die Tischplatte, während sie sprach. „Ich will mich nicht wieder verstecken. Dazu habe ich keine Kraft mehr.“
    „Arathus sagte, das wird kein Problem sein. Es wird sie nicht kümmern, ob du ein Mann oder eine Frau bist.“
    Kendra blickte weiter auf die Tischplatte. Sie schien nachzudenken.
    „Was ist mit dir?“, fragte Barthos nach kurzem Schweigen. „Was wirst du jetzt tun?“
    „Ach, ich werde schon zurechtkommen. Meister Arathus hat mir seinen gesamten Besitz vermacht. Das ist mehr, als ich je ausgeben kann.“
    „Dann wirst du hier bleiben?“
    Shirin schlug die Augen nieder. „Nein“, sagte sie tonlos. „Alle meine Freundinnen sind tot. Arathus ist tot. Dieser Palast kommt mir vor wie ein Grab. Und für mich allein ist er auch viel zu riesig. Ich möchte keine Sekunde länger hier bleiben als nötig.“
    „Was hast du dann vor?“
    „Ich denke, ich werde nach Agadir gehen. Von dort werde ich der Dame Manizeh eine Nachricht schicken. Sie muss es erfahren. Und dann? Tja, mir wird schon etwas einfallen. Arathus hat mir einiges hinterlassen. Ich werde mir einen eigenen Palast bauen und mir jede Menge Diener halten – und Lustknaben.“ Obwohl es ihr nicht ganz gelang, das alte verschmitzte Funkeln in ihre Augen zurückzubringen, tat es dennoch gut, Shirin wieder lächeln zu sehen.

    Die nächsten Tage zogen sich schleppend langsam dahin. Shirin hatte Recht, der Palast fühlte sich wie ein riesiges Grab an. In den Gängen herrschte drückende Stille. Es war, als läge ein dunkler Schatten über den sonst so behaglichen Räumen, der sich auch ihrer Gemüter bemächtigte.
    Shirin kümmerte sich um sie, wie es die Konkubinen immer getan hatten. Sie kleidete sie an, badete sie, machte ihre Betten und bekochte sie, wobei die Speisen nicht so üppig wie sonst aber nicht weniger schmackhaft ausfielen. Doch etwas fehlte an dem Essen und den Bädern. Barthos konnte beides nicht mehr so genießen wie zuvor.
    Die übrige Zeit verbrachte Barthos mit Kendra. Sie schliefen oft miteinander dieser Tage oder wälzten sich durch Arathus’ Bücher. Beides hauptsächlich, um sich abzulenken und nicht miteinander sprechen zu müssen. Weder miteinander noch mit Shirin wechselten sie mehr Worte als nötig. Keiner wusste, was er hätte sagen sollen. Kendra schien sich noch immer Vorwürfe zu machen, während Barthos noch immer nicht wusste, wie er sie hätte trösten können, und Shirin sich still ihrer Trauer hingab.
    Nach fünf Tagen dann erreichte sie die übliche Karawane aus Agadir. Shirin übernahm die Verhandlungen mit dem Karawanenführer und traf nach kurzer Zeit eine Übereinkunft mit ihm: Sie bezahlte ihm seine Güter und er würde sie wie üblich dalassen und wie üblich nach Agadir zurückkehren. Dabei würde er Kendra und Barthos mit sich nehmen. In der Hauptstadt angekommen, würde er eine größere Karawane organisieren und damit zu Arathus’ Palast zurückkehren. Diese Karawane würde Shirin und den Besitz, der nun ihr gehörte, nach Agadir bringen.
    Am folgenden Morgen war es soweit. Barthos und Kendra traten ihre Reise nach Shangri La an. Beide waren sich schnell einig geworden, dass sie ihre Ausbildung fortsetzen würden. Die einzige andere Option, die sie gehabt hätten, wäre wohl gewesen, bei Shirin zu bleiben. Ein Teil von Barthos hätte dies gern getan. Doch wenngleich das sicherlich ein schönes Leben hätte werden können, spürte er, dass ihnen dabei stets etwas fehlen würde und dass sie auf diese Weise nie das Geschehene ganz würden hinter sich lassen können. Außerdem hielt Kendra noch immer an ihrem alten Traum fest, ja klammerte sich nun stärker denn je an den Wunsch, eine mächtige Magierin zu werden.
    Shirin umarmte sie zum Abschied. „Versprecht mir, dass ihr mich mal in Agadir besuchen kommt“, forderte sie sie auf.
    „Wir werden wahrscheinlich länger als nur ein paar Monate in diesem Kloster bleiben“, gab Barthos zu bedenken.
    Doch Shirin ließ sich nicht beirren. „Ich werde auch länger als ein paar Monate in Agadir bleiben. Kommt mich einfach besuchen, egal wie lange es dauert.“
    Sie versprachen es.
    Es war ein seltsames Gefühl, Arathus’ Heim, das in den letzten Jahren auch ihr Zuhause geworden war, zu verlassen und zu wissen, dass sie wahrscheinlich nie wiederkehren würden. Und abermals spürte Barthos, wie ihm die Tränen kamen, auch wenn es ihm dieses Mal gelang, ihnen nicht nachzugeben. Schon jetzt vermisste er Shirin. Und das nicht nur wegen ihres zauberhaften Lächelns, ihres Tees oder ihres herrlichen Patschuliduftes. Erst jetzt merkte er wirklich, wie sehr er sie ins Herz geschlossen hatte. Andererseits fühlte er eine immer größere Erleichterung mit jedem Meter, den sie zwischen sich und das Unheil brachten, das sie selbst heraufbeschworen hatten. Kendra ging es augenscheinlich ähnlich. Wenngleich noch immer bedrückt, wurde sie am Morgen nach ihrer Abreise langsam wieder etwas gesprächiger. Und erst jetzt spürte Barthos, wie sehr sie ihm die letzten Tage über gefehlt hatte. Sicher, sie war immer in seiner Nähe gewesen. Sie hatten sogar mehr private und intime Momente geteilt als je zuvor. Und doch war Kendra nicht wirklich bei ihm, war da eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen gewesen. Und das war schlimmer als jede physische Trennung es sein konnte. Nun aber, das spürte er, fanden sie einander wieder.
    Geändert von Jünger des Xardas (04.11.2011 um 19:28 Uhr)

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    Die Reise nach Shangri La


    Zwei Tage verbrachten sie in Agadir. In einer der besten Herbergen. Shirin hatte sie so viel Gold mit sich nehmen lassen, wie sie brauchten, sodass es ihnen an Mitteln nicht fehlte.
    Dann nahmen sich ein Schiff nach Kitai, von wo aus sie die Reise nach Burjaki fortsetzen wollten.
    Das Schiff brachte sie nach Kalinapadnam, einer mittelgroßen Hafenstadt an der Nordwestküste Kitais. Die Insel war beinahe ebenso groß wie Ariabia, doch weniger trocken und felsig. Stattdessen herrschte ein warmfeuchtes Klima vor, und weite Teile der Insel wurden von großen Urwäldern bedeckt. Barthos war sofort fasziniert von Kitai. Bei Arathus hatte er bereits viel über diese Insel, ihre Kultur und ihre Geschichte, gelernt. Doch das war etwas anderes, als sie mit eigenen Augen zu sehen. Kalinapadnam mochte nicht so groß und so prächtig sein wie Agadir, dennoch beeindruckte es ihn. Die Menschen besaßen teils dunkle Haut wie die Ariabier, teils hellere wie die Varantiner. Die Frauen trugen Saris in auffälligen Farben, die Männer verhältnismäßig schlichte Dhotis und bunte Turbane. Einige besaßen dazu einen roten Punkt, den sie sich auf ihre Stirn gemalt hatten. Zwischen den Menschen tummelten sich allerhand Tiere auf den Straßen. Neben Hühnern und Affen, denen kaum jemand Beachtung schenkte, sahen sie immer wieder schlanke weiße Kühe, die teils in Herden durch die Straßen getrieben wurden oder es sich einzeln inmitten der Betriebsamkeit gemütlich machten, und sogar einen echten Elefanten, der, einen alten Kitaier auf dem Rücken, gemächlich durch die Stadt trottete.
    Doch sie verloren keine Zeit. Ihr eigentliches Ziel war nicht mehr weit entfernt. Von Kalinapadnams Hafen aus konnte man die Insel Burjaki bereits sehen. Ja, ein guter Schwimmer hätte wohl nicht einmal eines Schiffes bedurft, um sie zu erreichen. Burjaki war, wenngleich mindestens um das Sechsfache kleiner als Kitai, die drittgrößte der Südlichen Inseln. Dennoch war sie eher unbedeutend. Es handelte sich im Grunde genommen nur um einen hohen Berg, der vor Kitais Küste aus dem Meer und bis in die Wolken hineinragte. Von ihrem Unterricht bei Milana wussten sie, dass es an der Küste zahlreiche Dörfer und kleinere Städte gab, die vorwiegend von der Fischerei lebten, während weiter landeinwärts höchstens noch einige kleine Bauerndörfer zu finden waren. Burjaki war eine arme Insel und die Stimme ihres Königs, des Druk Gyalpo, hatte wenig Gewicht in der Ariabischen Liga.
    Die Fähre brachte sie nach Bhadrapur, einer der wenigen verhältnismäßig großen Küstenstädte. Hier erkundigten sie sich nach dem Kloster. Wie bereits erwartet, lag es weiter landeinwärts, am Hang des Berges. Dank Milanas Unterricht wussten sie einiges über die Insel und ihre Klöster. Die meisten Bewohner Burjakis verehrten zwar, ähnlich wie ihre kitaischen Nachbarn, alle drei Haupt- und noch zahlreiche Nebengötter, daneben besaßen sie jedoch noch einen anderen Glauben, der wenig mit den ihnen bekannten Religionen gemein zu haben schien. Nach allem, was sie wussten, stammte dieser Glaube ursprünglich aus Kitai. Zur Zeit des alten Urdureiches hatte dort ein Prinz sein königliches Leben aufgegeben und sich auf die Suche nach Erleuchtung begeben. Einige Zeit lang hatte er unter den asketischen Mystikern Kitais gelebt, bis er sich von ihren Lehren abgewandt und nach weiterer Reise und weiteren Prüfungen auf Burjaki die Erleuchtung gefunden und den Druk Gyalpo zu seinen Lehren bekehrt hatte. Diesen Lehren waren die burjakischen Klöster geweiht, deren Mönche ihrem Religionsstifter, den sie den Erwachten nannten, nacheiferten.
    Der Weg ins Innere der Insel war lang und beschwerlich. Je weiter sie kamen, desto steiler wurde der Aufstieg und desto kälter das Klima. Straßen gab es keine, bestenfalls wenige halbwegs gangbare Wege. Auch Siedlungen, in denen sie hätten rasten können, waren rar. Und je weiter sie kamen, desto mehr schien es ihnen, als näherten sie sich dem Rand der Welt.
    Dann erreichten sie Gurja, den letzten Ort vor dem Ziel ihrer Reise. Das Dorf lag auf einer Hochebene. Es bestand aus einfachen Katen, hinter denen Yaks grasten. Die Menschen schauten ihnen misstrauisch, ja feindselig nach, als sie die Hauptstraße – im Grunde die einzige des ganzen Ortes – entlangschritten. Sicher kamen nicht oft Besucher hierher. Schon gar keine Myrtaner in ariabischen Gewändern.
    Die Bewohner Burjakis hatten runde Gesichter, schmale Augen und eine ockerfarbene Haut. Beinahe alle trugen sie Talismane um den Hals oder Reifen an den Armen. Einige hatten sich sogar metallene Ringe durch die Nasenflügel gestochen.
    „Wollt ihr einen Glücksbringer kaufen, Fremde?“
    Barthos und Kendra sahen sich nach der Stimme um, die nach ihnen gerufen hatte. Am Straßenrand saß ein alter Mann mit grauem Ziegenbart und kleinen verschlagenen Augen. Er hatte eine Decke vor sich ausgebreitet, auf der verschiedener Tand lag; Schmuck, Statuetten und Räucherstäbchen. Eine zweite Decke hatte er sich eng um den Körper gewickelt. Dazu trug er eine traditionelle burjakische Kopfbedeckung, die er sich tief ins Gesicht gezogen hatte.
    „Nein, vielen Dank“, entgegnete Barthos höflich und setzte seinen Weg fort.
    „Wartet! Ich habe bestimmt, was Ihr euch wünscht. Hier, dieser Anhänger ist genau das Richtige für ein schönes Kindchen wie dich!“ Der Alte griff nach einer Kette, an deren Ende ein sechseckiger Stern mit einem geschwungenen Symbol in der Mitte hing, und hielt sie Kendra hin. Doch diese schüttelte abwehrend den Kopf. „Nein, danke, aber das brauche ich nicht.“
    „Dann nehmt diese Figur. Sie wird euch schützen!“ Der Mann hielt eine kleine Tonskulptur in die Höhe. „Dies ist Bishvanaten, der Herr des Nordens, eurer Heimat.“
    „Danke, aber wir brauchen wirklich nichts“, sagte Barthos bestimmt. Dieser Bursche wurde ihm langsam zu aufdringlich. Er nahm Kendra bei der Hand, um sie weiter zu führen, doch der Alte lachte mit einem Mal verschlagen.
    „Soso. Ihr meint, ihr braucht den Schutz der Götter nicht? Ihr meint, ihr seid gefeit vor den Angriffen der Dämonen? Aaah, wahrscheinlich leugnet ihr gar ihre Existenz! Ja, ja, ich bin ein armer alter Mann, aber nicht dumm. Nein, nein, dumm bin ich nicht. Ich kenne euch. Euer Volk. Klug seid ihr. Und reich. Aber hochmütig. Haltet mich armen, alten Mann für einen verschrobenen Kauz, einen Scharlatan gar. Denkt, ich wolle euch übers Ohr hauen.“
    Ja, das traf es ziemlich gut. Barthos beschloss, einfach weiterzugehen, doch beim nächsten Satz des Alten horchte er auf.
    „Ihr wollt nach Shangri La, habe ich Recht? Ja, ja, das habe ich. Ich sehe es an euren Augen.“
    Sah man ihnen das tatsächlich an? Tja, vermutlich war es einfach naheliegend. Weshalb sollten Menschen wie sie sonst das Ende der Welt aufsuchen? Gurja war nun wirklich nicht derart sehenswert, dass es viele Reisende angezogen hätte.
    „Was weißt du über das Kloster?“, ergriff Kendra mit einem Mal das Wort. Wäre es nach Barthos gegangen, wären sie einfach weitergegangen. Andererseits hatten sie sowieso vorgehabt, hier im Dorf jemanden zu fragen, bevor sie weiterzogen. Der alte Mann war ihm zwar etwas suspekt, aber wenigstens hatte er sie angesprochen und starrte sie nicht aus der Sicherheit seiner Hütte heraus an, als hätten sie beim Betreten des Dorfes heiligen Boden entweiht.
    „Vieles, Kindchen. Ich bin ein alter Mann. Ich lebe schon lange hier. Ich weiß vieles. Manche sagen, ich wüsste alles. Aber das sind dumme Kinder. Sie verstehen nicht, dass ich gar nichts weiß.“
    „Äh…“ Kendra blinzelte ihr Gegenüber kurz verwirrt an, dann erklärte sie: „Wir sind auf der Suche nach einem Mönch. Einem gewissen Gyatso. Lebt er noch hier? Ist er im Kloster?“
    „Aaaah, Gyatso!“ Der Alte nickte versonnen und lächelte dabei breit. „Ja, ja, ein weiser Mann. Der weiseste unter den Lebenden, sagen manche. Vielleicht sogar die Wiederkunft eines Erwachten, sagen manche. Aber was heißt das schon? Ob er im Kloster ist? Nein. Aber nur zu, geht nach Shangri La. Ihr werdet ihn dort finden.“
    „Was weißt du vom Kloster?“, fragte Barthos. Er zweifelte immer noch daran, dass aus diesem Kerl etwas Sinnvolles herauszubekommen war. Aber versuchen konnte man es ja.
    „Dort ist eine Höhle. Eine Höhle im Berg, ja, ja. Einst kam der Erwachte durch dieses Dorf. Bevor er der Erwachte war. Als er noch auf der Suche war nach Erleuchtung. Die Menschen erzählten ihm von der Höhle und dass sie heilig sei. Also stieg er den Berg hinauf. Er setzte sich in die Höhle. Und er meditierte. Ohne sich zu rühren. Ohne Wasser und ohne Brot. Im Sommer wie im Winter. Dreizehn Jahre lang meditierte er.“ Barthos und Kendra wechselten einen Blick und ein skeptisches Schmunzeln. Der Alte schien es nicht zu bemerken und fuhr unbeirrt fort: „Nach dreizehn Jahren stieg er vom Berg hinab. Die Menschen empfingen ihn, ehrten ihn und überhäuften ihn mit Gaben, denn sie erkannten, dass er ein wahrhaft weiser und heiliger Mann war. Und sie erbaten seinen Rat und fragten, was er nach dreizehn Jahren der Meditation zu sagen hätte.“ Der Alte endete und lächelte mit geschlossenen Augen in sich hinein.
    Eine kurze Pause trat ein. Erst glaubte Barthos, der Alte würde weitersprechen, doch als dieser keine Anstalten machte, seine Geschichte fortzusetzen, fragte er: „Was hat er gesagt?“
    „Ich muss dringend pinkeln.“
    „Äääh… Dann geht doch hinter eine Hütte und…“
    „Ich doch nicht! Aber ich sehe, den jungen Leuten bringt man heute nichts mehr bei. Das waren die Worte des Erwachten.“
    Kendra warf Barthos einen Blick zu, der eindeutig sagte: „Komm, machen wir, dass wir von diesem Spinner wegkommen.“
    Barthos nickte und sagte dann laut: „Danke für die Auskunft. Ich denke, wir gehen dann mal weiter.“
    „Nein, wartet!“ Der Mann packte den Saum von Kendras Gewand und hielt sie zurück. „Nimm diesen Talisman! Geh nicht ohne ihn!“, flehte er und reichte ihr ein kleines Kettchen.
    „Wir haben doch schon gesagt, wir kaufen nichts.“ Gereizt riss Kendra sich los.
    „Nicht kaufen! Ich schenke ihn dir, Kindchen.“ Der Alte drückte ihr die kette in die Hand. „Trag ihn bei dir, wenn du nach Shangri La gehst. Es ist ein heiliges Symbol, ja, ja, das ist es. Du wirst es brauchen bei dem, was du vorhast.“
    Kendra schaute unschlüssig zu Barthos. Dieser nickte leicht. Sie sollte sich das dumme Ding umhängen, dann würde der Alte Ruhe geben. Sie verstand seine Geste und legte sich die Kette um den Hals. An ihrem Ende hing eine fingernagelgroße Scheibe, die in der Mitte durch eine s-förmige Linie getrennt wurde. Die eine Hälfte war weiß, die andere schwarz. In jeder befand sich ein kleiner Punkt in der jeweils anderen Farbe. Vermutlich irgendein heiliges Symbol, das vor Dämonen schützen sollte oder ähnlicher Humbug. Aber der Alte lächelte zufrieden, als Kendra es umlegte, und richtete den Blick dann wieder auf seine übrigen Waren.
    Kendra und Barthos setzten derweil ihren Weg fort. Sie verließen Gurja und machten sich an den beschwerlichen Aufstieg zum Kloster.
    Geändert von Jünger des Xardas (11.11.2011 um 23:45 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Shangri La lag nur knapp unterhalb der Schneegrenze. Ein eisiger Wind pfiff ihnen während des Aufstiegs um die Ohren. Einen wirklichen Pfad zum Kloster gab es nicht. Vielmehr musste man sich seinen Weg durch Felszacken hindurch und steile Abhänge hinauf bahnen, bis man das kleine Plateau erreichte, auf dem Shangri La stand. Dort erhoben sich eine graue Mauer und ein kleines, zweiflügliges Tor im typischen burjakischen Pagodenbaustil.
    Barthos klopfte mit den Knöcheln gegen das dunkle Holz des Tores. Sofort schob er die Hand zurück in den Saum seines Gewands. Er hoffte inständig, dass es im Kloster einen warmen Ofen gab. Nach einigen Momenten des Wartens klopfte er abermals, dieses Mal lauter. Dann klemmte er sich die Hände unter die Achseln und hüpfte von einem Bein auf das andere. „Meinst du, die haben uns nicht gehört?“, fragte er.
    „Vielleicht sollten wir es damit versuchen.“ Kendra wies auf einen großen Gong, der neben dem Tor an der Mauer hing. Sie griff nach einem darunter lehnenden Klöppel und schlug auf die Metallscheibe.
    Barthos blickte erwartungsvoll zum Tor hinauf. Nichts. Er drehte den Kopf zu Kendra und forderte sie stumm auf, es noch einmal zu versuchen. Sie tat es. Nichts. Kendra schlug nun mehrmals heftig auf den Gong ein. Noch immer nichts.
    Ratlos schauten sie sich an.
    „Meinst du, das Kloster ist verlassen?“, fragte Barthos.
    „Quatsch. Das hätte uns doch irgendjemand gesagt. Spätestens dieser alte Kauz… Na ja, der vielleicht nicht. Aber das hier sieht auf jeden Fall nicht verlassen aus.“ Kendra blickte an der Mauer hinauf. „Vielleicht haben sie uns nicht gehört?“
    „Sie müssten schwerhörig sein, wenn sie das eben überhört hätten.“
    „Na ja, vielleicht sind sie gerade beim Gebet oder so was. Der Alte meinte, es gäbe im Kloster eine Höhle. Wer weiß schon, wie tief die ist. Vielleicht… müssen wir einfach nur warten.“
    „Hm.“ Kendras Erklärung erschien ihm ziemlich dürftig. Und ihr selbst auch, soviel ihr Gesichtsausdruck verriet. Doch etwas Besseres fiel ihm auch nicht ein.
    So warteten sie also. Und stetig schien es kälter zu werden. Sie liefen herum, wickelten sich eng in ihre Gewänder, hielten sich gegenseitig fest in den Armen. Und doch kroch die Kälte immer tiefer in ihre Glieder. Bald schon spürten sie ihre Zehen und Nasen kaum noch. Ihre Beine fühlten sich an, als wären sie völlig nackt dem Wind ausgesetzt, und schmerzten vor Kälte. Mehrmals schlugen sie den Gong, doch niemand reagierte.
    „Mir reicht’s. Komm, gehen wir ins Dorf, sonst erfrieren wir hier oben noch“, meinte Kendra schließlich wütend.
    „Und dann?“, fragte Barthos. „Willst du dann etwa umkehren? Zu Shirin zurück?“
    Kendra seufzte. „Ich weiß nicht, aber hier kommen wir offensichtlich nicht weiter.“
    „Vielleicht machen sie ja noch auf, wenn wir nur etwas länger warten…“, überlegte Barthos laut, merkte aber selbst, wie halbherzig er klang.
    Kendra schnaubte. „Ja, klar. Jetzt komm schon Barthos. Mach dich nicht lächerlich und akzeptier’s einfach. Ich weiß nicht warum, aber so kommen wir da nicht rein.“
    „Ich kann nicht glauben, dass du einfach so aufgibst. Du warst doch immer diejenige, die alles in Kauf genommen hat, wenn sie nur das zaubern lernen konnte.“
    „Verdammt, wir warten hier schon Stunden! Die Sonne geht schon unter.“ Zur Bekräftigung wies Kendra zum Horizont, wo sich die Sonne tatsächlich langsam ins Meer hinabsenkte. „Wir können doch nicht die Nacht hier verbringen.“
    Barthos schüttelte energisch den Kopf. Ihn überraschte selbst, wie sie gerade ihre üblichen Rollen tauschten und er verstand nicht, wie es geschehen war, doch er war nicht bereit, so schnell aufzugeben. Dieser ganze Weg durfte nicht umsonst gewesen sein. Und er spürte einfach, dass sie nur lange genug warten mussten. „Lass uns hierbleiben“, bat er. „Wenigstens bis morgen.“
    „Morgen sind wir schon erfroren.“
    „Nicht mit Magie.“
    „Aber…“ Kendra schaute ihn unsicher an. „Soweit sind wir noch nicht. Wir können vielleicht ein paar Flämmchen, aber kein Feuer.“
    „Wir können es zumindest versuchen. Gemeinsam.“
    Kendra blickte ihm zweifelnd ins Gesicht. Dann nickte sie entschlossen und trat vor. Sie nahmen sich bei den Händen und schlossen die Augen. Barthos konzentrierte sich auf das, was sie bei Arathus gelernt hatten. Alles war eins. Das Mana floss durch ihn hindurch, strömte durch den Fels unter ihnen, umgab sie. Er spürte, wie es durch seine Adern schoss. Er fühlte das Knistern in den Fingern. Und dann tanzten mit einem Mal kleine Flämmchen um sie herum. Sofort breitete sich eine wohltuende Wärme aus. Kendra lächelte ihn ungläubig an. Dann fiel sie ihm um den Hals. „Gut gemacht“, hauchte sie ihm ins Ohr.

    Einige Stunden später weckte sie ein leises Knarren. Sie schliefen inmitten der Flammen, eng umschlungen, denn trotz des Zaubers war es noch immer kalt.
    Als Barthos aufblickte, sah er, dass jemand eine kleine Klappe im Tor geöffnet hatte und nun einen kahlrasierten Schädel nach draußen streckte. Sofort sprang er auf, wobei sich die Flämmchen auflösten.
    „Seid gegrüßt.“ Barthos verbeugte sich höflich. „Wir suchen einen gewissen Gyatso. Ist er hier?“
    Der Kopf verschwand im Inneren des Klosters, die Klappe wurde zugeschlagen. Barthos warf einen ratlosen Blick zu Kendra zurück, die ihn ebenso ratlos erwiderte. Im nächsten Moment wurde das Tor jedoch geöffnet und vor ihnen stand ein Burjake mit kahlem Kopf und einer togaartigen Kutte aus gelbem und orangenem Stoff.
    „Wieso hat das so lange gedauert?“, fragte Kendra ungehalten.
    „Der Erwachte hat dreizehn Jahre ausgeharrt. Wer immer ihm nacheifern will, sollte wenigstens dreizehn Stunden ausharren können.“ Der Mönch drehte sich auf der Stelle herum. „Folgt mir.“
    Noch einmal blickte Barthos sich nach Kendra um. Dann traten sie durch das Tor auf einen kleinen Innenhof. Sofort fiel Barthos das Muster auf, das die Pflastersteine in seiner Mitte bildeten. Ein Kreis, zur Hälfte schwarz, zur Hälfte weiß mit einem Punkt in der jeweils anderen Farbe in jeder Hälfte. „Das Symbol von meiner Kette“, flüsterte Kendra. Barthos nickte nur. Nun fragte er sich doch, was es bedeutete. Sicher war es ein wichtiges Zeichen und mehr als ein einfaches Schutzsiegel.
    Der Mönch führte sie durch einen Gang weiter ins Kloster hinein.
    Ein seltsamer Gesang hing in der Luft. Ein Gesang, wie ihn Barthos noch nie gehört hatte. Er schien von überall und von nirgends zu stammen. Es ließ sich nicht sagen, ob aus einer Kehle oder aus tausend. Es war ein einziger Laut, der wieder und wieder wiederholt und jedes Mal so lang gehalten wurde, wie es einfach keinem Menschen physisch möglich sein konnte. „Aum.“ Ein Laut erzeugt nicht in der Kehle, sondern tief im Bauch. Ein Laut so tief, dass die Luft vom Gesang vibrierte und diese Vibration sich im Trommelfell und im eigenen Bauch fortsetzte.
    Dann erreichten sie das Ende eines langen Ganges und der Mönch hielt inne. „Dort werdet ihr ihn finden“, sagte er kurzangebunden und wies nach vorn.
    Kendra und Barthos schritten an ihm vorbei und traten in eine natürliche Höhle. Es konnte ich nur um die handeln, von der der Alte gesprochen hatte. Sie war groß genug, dass bequem zwanzig Menschen hineingepasst hätten. Statt diesen saß ihnen gegenüber an der Wand jedoch nur einzelnes Wesen. Eines mit langem, zotteligem rotbraunen Haar, fast schwarzer Haut und einem gutmütigen Gesicht mit zwei angeschwollenen, wulstigen Wangen.
    Abrupt blieben sie stehen. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte Kendra.
    „Me… meinst du, das ist Gyatso?“, entgegnete Barthos verunsichert.
    „Unsinn! Das ist ein Orang-Utan. Von der Insel Suma, südlich von Kitai.“
    Die Stimme ließ sie beide herumfahren. Und nun entdeckten sie den Mann, der im Lotussitz zu ihrer Rechten saß und auf einem schmalen, niedrigen Tischen vor sich Räucherstäbchen verbrannte. „Tretet näher“, forderte er nun, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Als sie zögerten, winkte er sie mit der Hand heran. „Na los doch. Ich beiße nicht.“ Beide traten sie drei Schritte vor. „Setzt euch“, forderte der Mann in der rot-gelben Kutte. Noch immer hob er nicht den Kopf, der kahlgeschoren war wie bei dem anderen Mönch. Kendra setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Barthos ging neben ihr auf die Knie. Der Boden war hart und kalt. Längst war jede Wärme wieder aus ihnen gewichen. Und im Kloster war es ebenso bitterkalt wie draußen. Doch sie versuchten die Kälte zu ignorieren und blickten erwartungsvoll den Mönch vor ihnen an. Dieser steckte das Räucherstäbchen in seiner Hand gemächlich in ein Metallgestell, das vor ihm stand. Dann, völlig unerwartet, griff er mit einer Geschwindigkeit, die Barthos ihm nie zugetraut hätte, unter sein Tischchen, schnellte vor wie eine Schlange, die sich auf ihre Beute stürzt, und verpasste erst Barthos, dann Kendra einen schmerzhaften Hieb mit einer Bambusrute, die er unter dem Tischchen hervorgezogen hatte. „Das ist dafür, dass ihr einem alten Mann keinen Respekt entgegenbringt!“, bellte er. Barthos war noch völlig perplex, da traf ihn schon ein zweiter Hieb. „Und das ist für dich, weil ich „setzen“ und nicht „hinknien“ sagte.“ Eilig begab auch Barthos sich in den Schneidersitz. Der Mönch nickte zufrieden. „Gut. Und nun sitzt“, forderte er mit schneidender Stimme.
    Und so saßen sie. Sie saßen dem Mönch gegenüber und starrten ihn an, während er zurückstarrte. Er trug einen weißgraue Ziegenbart und unter seinen buschigen Augenbrauen leuchteten zwei kleine, verschlagene Augen hervor. Man hätte ihn beinahe für eine Statue halten können, so reglos saß er da und so streng waren seine Züge.
    Als Barthos gerade anfing, ungeduldig zu werden, ließ der Alte vom Straßenrand ohne jede Vorwarnung wieder die Bambusrute erst auf ihn, dann auf Kendra herabfahren. „Sitzen. Nicht warten.“ Er legte die Rute neben sich zu Boden und drehte sich dann zu einer kleinen Feuerstelle in einer Nische an seiner Seite. Mit einem Bogen und einem Zunderstock begann er, Funken in getrocknetem Moos zu erzeugen, mit dem er wiederum etwas Holzkohle in der Nische entzündete.
    „Wir beherrschen etwas Magie“, sagte Barthos zaghaft, als er sah, dass es auf diese Weise mindestens eine halbe Stunde dauern würde, ehe ein Feuer brennen würde. „Wir könnten ein Feuer zaubern…“
    Für diesen Vorschlag fing er sich den nächsten Schlag ein. „Sitzen. Nicht warten. Und nicht reden.“ Mit diesen Worten wandte sich der Alte wieder seiner Arbeit zu. Sie saßen stumm da – weder Barthos noch Kendra wagten es, zu sprechen, aus Angst vor neuerlichen Hieben – bis das Feuer endlich brannte und der Mönch einen kleinen Wasserkessel darauf stellte. Dann endlich hob er den Kopf. „Ich bin Abt Gyatso Lobsang Rinpoche. Weshalb sucht ihr mich auf?“
    „Wir wollen die Alte Magie erlernen“, erklärte Kendra. „Uns wurde gesagt, Ihr könntet sie uns lehren.“
    „Shangri La ist ein Ort des Sitzens, kein Ort des Zauberns“, erwiderte Gyatso schlicht. Barthos öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch der Mönch erhob drohend seine Rute, was Barthos veranlasste, den Mund schnell wieder zu schließen. „Sitzt“, befahl der Abt.
    Sie saßen. Bis das Wasser endlich kochte. Dann griff Gyatso zu einem kleinen Regal an seiner Seite und nahm ein Tablett mit vier schmucklosen Tassen von diesem herunter, das er vor sich auf den Tisch stellte. Er ließ einige Teeblätter in drei der Tassen rieseln, die er aus einer Dose im Regal entnahm, bevor er das heiße Wasser erst in seine, dann in Barthos’ und schließlich in Kendras Tasse goss. Sofort griff Barthos nach seinem Tee und hielt sich das dampfende Getränk vor die Brust, um Körper und Hände, so gut es ging, daran zu wärmen. Gyatso hatte unterdessen einen Moment innegehalten, dann, ehe Kendra nach ihrem Tee hatten greifen können, fuhr er fort, Wasser in ihre bereits volle Tasse zu gießen.
    „Was macht Ihr da?“, fragte sie. „Der Tee läuft über.“
    „Richtig.“ Gyatso hielt inne. „Weil die Tasse bereits voll ist. Wie kann ich euch Tee einschenken, wenn eure Tassen voll sind?“
    „Wieso solltet Ihr das tun wollen?“, fragte Barthos verwirrt. „Wir haben ja jetzt schon Tee. Da müsst Ihr uns keinen mehr einschenken.“
    „Aber eben deshalb seid ihr doch zu mir gekommen.“
    Barthos tauschte einen fragenden Blick mit Kendra, die genauso ratlos dreinschaute wie er selbst.
    „Wie soll ich euch etwas lehren, wenn ihr bereits alles zu wissen meint?“, fragte Gyatso.
    Barthos’ Gesicht hellte sich auf. „Ich verstehe. Ihr wollt, dass wir erst unsere Tassen leeren“; griff er das Bild auf und verspürte unwillkürlich Stolz, dass er so schnell dahintergekommen war. Triumphierend fügte er hinzu: „Wenn das alles ist“ und schüttete zur Bekräftigung seine Tasse neben sich aus.
    Bei dieser Geste brach der Mönch in lautes Gelächter auf. Und plötzlich saß da kein strenger, asketischer Meister mehr vor ihnen, sondern ein gutmütiges altes Großväterchen.
    Nachdem sein Lachen abgeklungen war, goss Gyatso Barthos neuen Tee ein. „Trinkt“, forderte er sie lächelnd auf.
    Sie tranken. Der Tee schmeckte nicht schlecht, doch nicht annährend so gut wie der Shirins. Allerdings vermochte Barthos nicht zu sagen, ob sie hier in Shangri La schlechteren Tee zubereiteten oder ob dieses Getränk einfach besser schmeckte, wenn es einem von einer schönen Frau serviert wurde. „Ihr sagt, ihr seid hier, um von mir zu lernen“, ergriff Gyatso wieder das Wort, während sie tranken. „Doch ich kann euch nichts beibringen. Das müsst ihr selbst tun.“
    „Heißt das, es war vergebens, hierher zu kommen?“ Enttäuschung und Ärger schwangen in Kendras Stimme mit.
    „Ihr befindet euch auf einer Reise und seid an einen Fluss gelangt, der euren Weg versperrt. Shangri La ist nicht das Ziel der Reise, auch wenn es oft dafür gehalten wird. Es ist ein Boot. War es vergebens, nach einem Boot zu suchen, um den Fluss zu überqueren? Nein. War es nötig? Nein. Denn ihr hättet an anderer Stelle auch eine Brücke finden können. Ihr hättet auch umkehren können. Doch stattdessen fandet ihr das Boot. Wenn ihr es wünscht, werde ich euch beim Rudern helfen.“
    „Das wünschen wir“, antwortete Kendra ohne zu zögern.
    Gyatso schaute ihr für einen Moment unbewegt in die Augen. „Das soll morgen entschieden werden“, beschloss er schließlich. „Für heute Nacht werdet ihr zwei Kammern erhalten. Ich empfehle euch, bis morgen über eure Entscheidung zu sitzen.“

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    Die „Kammern“, wie Gyatso sie genannt hatte, waren einfache Zellen, gerade groß genug, um ausgestreckt darin zu liegen. Türen gab es keine. Jeder von ihnen erhielt eine Decke aus Yakwolle. Doch diese machte weder den steinernen Boden bequemer, noch hielt sie die Kälte fern. Und so bibberten sie sich in den Schlaf, nur um wenige Stunden später unterkühlt und mit schmerzenden Gliedern aufzuwachen. Noch vor Sonnenaufgang wurden sie geweckt und zu Gyatso geleitet, der wieder in der Höhle saß und bedächtig mit einem Holzklöppel den Rand einer kupfernen Klangschale entlangfuhr. Der Orang-Utan war heute nicht zugegen.
    „Setzt euch“, sagte er, als sie eintraten.
    Ohne zu zögern, kamen sie der Aufforderung nach. Sie ahnten schon, was ihnen sonst blühen würde.
    „Wer sandte euch zu mir?“, fragte der Abt, als sie einige Zeit schweigend dagesessen hatten.
    „Arathus ben Yussuf“, antwortete Kendra. „Wir waren seine Schüler. Bis… zu seinem Tod.“ Sie senkte den Blick zu Boden. Barthos griff unauffällig nach ihrer Hand und drückte sie. Sie machte sich noch immer Vorwürfe, das wusste er. Und noch immer fühlte er sich hilflos.
    „Arathus? Es ist lange her. Ich war noch ein junger Mönch damals. Überraschend, dass er euch herschickte.“ Versonnen starrte Gyatso auf die Felswand und fuhr fort, den Klöppel über die Klangschale fahren zu lassen. Das feine Summen, das dabei entstand, hallte von den Wänden wider und erfüllte die Höhle. Nach langem Schweigen fragte der Mönch: „Ihr seid auf der Suche nach der Alten Magie. Weshalb?“
    Barthos zuckte mit den Schultern. „Es hat sich so ergeben. Sie ist faszinierend. Und ich halte es für ein lohnendes Ziel, sich auf allen Gebieten weiterzubilden.“
    „Mir hat man nie viel Chance gelassen, mich irgendwo weiterzubilden“, griff Kendra seine Worte auf. „Ich stamme aus einem einfachen Bauerndorf aus dem Östlichen Archipel. Ich habe mein ganzes Leben lang zu spüren bekommen, wo der Platz einer Frau, noch dazu einer aus so einfachen Verhältnissen ist. In Myrtana hat die Feuerkirche die Macht. Und es sind gewöhnlich adlige Männer, die es als einzige zu Magiern bringen. Das wollte ich nicht hinnehmen.“
    Es dauerte lange, ehe Gyatso auf ihre Worte reagierte. Endlich hob er den Kopf und blickte Barthos an. „Du bist ihr gefolgt, nicht wahr?“
    Die Frage überrumpelte Barthos etwas. Doch er konnte sie nicht verneinen. Ja, er war nur hier, weil er Kendra gefolgt war. Es war ihre Idee gewesen, die Feuerkirche zu verlassen und sich auf der Suche nach der Alten Magie zu machen. „Ja…“, gestand er deshalb zögerlich.
    „Dir mangelt es an eigenen Zielen“, schloss der Abt. „Du lässt dich treiben und du lässt dein Schicksal entscheiden, wohin dein Weg dich führt. Du reagierst, doch du handelst nicht. Was den Menschen zum Menschen macht, ist sein freier Wille. Du aber fürchtest dich vor deinem, denn du fürchtest die Verantwortung, die aus ihm erwächst.“
    „Eigentlich…“ Zischend fuhr die Rute auf ihn herab und verpasste ihm einen brennenden Striemen über der Schulter.
    „Rechtfertige dich nicht. Sitze. Und denke über meine Worte nach.“
    Das tat Barthos. Und er musste zugeben, dass Gyatso nicht völlig Unrecht hatte. Ja, viele eigene Entscheidungen hatte er in seinem Leben nicht getroffen. Es waren sein Vater, die Kirche und zuletzt Kendra gewesen, die ihn dorthin geführt hatten, wo er nun war.
    „Was dich angeht“, wandte sich Gyatso nun an Kendra. „Du bist eingenommen von deinem Ego. Dies aber ist ein Ort, an dem wir uns von unserem Ego zu befreien versuchen. Du musst bereit sein, loszulassen, dein Ego aufzugeben.“
    „Wie bitte?“, stieß Kendra erbost aus. „Ihr habt gar keine Ahnung, was für Opfer ich schon gebracht habe. Ich habe mich jahrelang als Mann verkleidet, nur um unter den Feuermagiern lernen zu können. Ich habe alles aufgegeben. Meine Herkunft, meine Familie, ein Leben in Sicherheit, sogar meine Identität, meine Persönlichkeit. Und da wollt Ihr mir erzählen, ich könne nicht loslassen? Ich wäre zu sehr von mir selbst eingenommen?“
    „Ego“, sagte Gyatso bestimmt.
    „Ego? Habt Ihr überhaupt eine Vorstellung, was es heißt, …?“ Ein Hieb mit der Bambusrute unterbrach Kendra. Kurz starrte sie den Abt wütend an, dann schnellte mit einem Mal sie nach vorn, riss ihm die Rute aus der Hand und zerbrach sie über ihrem Knie.
    „Ego“, wiederholte Gyatso, nur um im nächsten Moment unter sein Tischchen zu langen, eine neue Rute darunter hervorzuziehen, und Kendra einen weiteren Schlag zu versetzen.
    „Komm, Barthos.“ Kendra riss ihn in die Höhe und zog ihn mit sich aus der Höhle.
    „Was…?“, stammelte er perplex.
    „Wir verschwinden von hier“, erklärte Kendra grimmig, während sie durch den Gang in Richtung des Hofes stampfte.
    „Was? Aber wir wollten doch lernen, wie wir…“
    „Was sollen wir hier lernen, außer wie man sich verprügeln lässt?“
    „Das weiß ich nicht, aber Arathus hat uns sicher nicht ohne Grund hierher geschickt.“ Barthos riss sich los, was Kendra dazu veranlasste, stehen zu bleiben und sich nach ihm umzudrehen. „Ich bleibe“, sagte er bestimmt und schaute ihr dabei fest in die Augen. Er wusste nicht, woher diese Entschlossenheit auf einmal kam. Widersetzte er sich ihr nur aus Prinzip? Um doch einmal einen eigenen Weg gegangen zu sein? Unrecht hatte sie nicht. Auch er hatte sich sicher nicht vorgestellt, dass seine Ausbildung aus Rutenhieben bestehen würde. Doch etwas sagte ihm, dass sie hier richtig waren. Etwas sagte ihm, dass Shangri La wirklich ein Boot für sie sein konnte und sei es ein sehr unbequemes.
    „Und wenn ich nicht bleiben will?“
    „Ich bitte dich, zu bleiben. Wenigstens einige Zeit. Lass es uns immerhin ausprobieren.“ Barthos’ Herz klopfte. Sie durfte nicht gehen. Sie musste bei ihm bleiben. Er wollte sie nicht verlassen, um nichts in der Welt, aber aus irgendeinem Grund wollte er auch nicht einfach wieder unverrichteter Dinge von dannen ziehen.
    Kendra schien einige Momente zu grübeln. Er konnte geradezu sehen, wie es hinter ihren Augen arbeitete, wie sich in ihrem Gesicht die Verwunderung über seine plötzliche Initiative und ihre eigene Entschlossenheit abwechselten, wie ihr verletzter Stolz – ihr Ego, dachte er unwillkürlich – mit ihrem Wunsch, Magierin zu werden, stritt.
    „Geben wir diesem Gyatso eine Chance“, bat Barthos sie.
    „Also gut. Aber wenn das hier darauf hinausläuft, dass wir uns nur blaue Flecken einfangen, anstatt endlich richtig zaubern zu lernen, bin ich weg, ob du mitkommst oder nicht.“
    Seine Erleichterung konnte nicht ganz die Angst verdrängen, dass sie ihre Drohung wahr machen würde. Würde sie im Zweifel wirklich ohne ihn gehen? Er wollte nicht daran glauben, aber ein Teil von ihm traute es ihr zu. – Ein anderer Teil fragte sich zur gleichen Zeit, ob die Frage, ob sie ihn zurücklassen würde, überhaupt von Bedeutung war, ob nicht im Zweifelsfall sowieso ER IHR folgen würde. Ja, wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, glaubte er nicht daran, sich gegen sie durchsetzen zu können. Am Ende wäre er wohl auch jetzt mit ihr gekommen, hätte sie darauf bestanden, zu gehen.
    „Setzen“, riss Gyatso ihn aus seinen Gedanken, als sie wieder in der Höhle angekommen waren. Der Mönch war wieder mit seiner Klangschale beschäftigt. Sofort kamen sie der Aufforderung nach. „Ego“, sagte er nach einer Weile langsam. Es vergingen wieder einige Minuten, bevor er, ohne von der Schale aufzublicken, fortfuhr: „Wir sind hier, um unser Ego abzustreifen. Ja, wir praktizieren Magie, aber dieses Kloster ist nicht wie die Akademie in Agadir ein Ort, um das Zaubern zu lernen. Es ist auch nicht wie eure Klöster ein Ort, um den Göttern zu huldigen. An welche Götter ihr glaubt oder nicht glaubt, an wen ihr eure Gebete richtet oder ob ihr überhaupt betet, ist hier nicht von Belang. Dieses Kloster ist ein Ort des Sitzens. Wir sind hier, um gemeinsam nach Erleuchtung zu streben. Wisst ihr, was Erleuchtung ist?“
    „Na ja.“ Kendra zuckte mit den Schultern. „Das Erkennen der Wahrheit und so weiter.“
    „Es gibt keine Wahrheit.“
    „Es geht darum, Weisheit zu erlangen“, versuchte Barthos es.
    „Ja, Weisheit. Die höchste Tugend.“ Gyatso sah noch immer nicht von seiner Klangschale auf. „Erleuchtung, das ist Erwachen. Erwachen aus einem Traum. Dem Traum des Lebens. Erleuchtung bedeutet, die Illusionen des Traumes abzustreifen.“ Nun endlich hob er den Blick, schaute sie beide an aus zwei Augen, die in jenem Moment nicht mehr verschlagen wirkten, sondern etwas Ernstes und Tiefes angenommen hatten. „Und eine solche Illusion ist die Illusion des Ich. Daher noch einmal: Es ist gleich, wie gut ihr euch beim Lernen der Magie schlagt. Es ist gleich, welchen Göttern ihr huldigt. Aber wenn ihr in dieses Kloster eintreten wollt, müsst ihr bereit sein, euer Ego abzustreifen.“
    Barthos warf einen Seitenblick auf Kendra. Aber diese blieb ruhig und antworte mit unbewegter Miene: „Ich bin bereit, es zu versuchen.“
    „Es gibt kein Versuchen. Tu es, oder lass es.“
    „Dann bin ich bereit, es zu tun.“
    Die Bambusrute zischte durch die Luft und traf Kendras Schläfe. „Eine Lüge.“ Für einen Moment dachte Barthos, Kendra würde wütend aufspringen, auch diese Rute zerbrechen und das Kloster endgültig verlassen, aber sie schien sich zu fangen. Die Wut, die für einen Moment über ihr Gesicht geflackert war, wich wieder einer unbewegten Miene. Sie schien es also wirklich versuchen zu wollen und zwang sich jetzt selbst zur Ruhe.
    Es verging ein Augenblick, ehe Barthos bemerkte, dass Gyatso nun ihn ansah und wahrscheinlich auch von ihm eine Antwort erwartete. „Ich bin auch bereit, mein Ego abzustreifen“, sagte er und zog schon leicht den Kopf zwischen die Schultern, sich innerlich für den unweigerlich folgenden Stockhieb wappnend. Doch der blieb aus.
    „Gut.“ Gyatso legte die Rute wieder unter sein Tischchen. „Dann willkommen in Shangri La. Ihr seid willkommen, so lange als Mönch und Nonne bei uns zu leben, wie ihr es wünscht. Es steht euch frei, jederzeit zu gehen. Wisset aber, dass es einige wenige Regeln gibt, die ihr einhalten müsst, oder ihr werdet auf immer aus dem Kloster verstoßen. Es wird dabei keine mildernden Umstände und keine Möglichkeit zur Buße geben.“
    „Was sind diese Regeln?“, fragte Barthos.
    „Wer ohne Erlaubnis des Abtes den Gipfel des Berges erklimmt, wird verstoßen. Wer einen Menschen, Waldmenschen, Goblin, Oger, Drachen, Echsenmenschen, Gnom, Ork oder ihnen Gleichen tötet, wird verstoßen. Wer vor Außenstehenden behauptet, den Zustand der Erleuchtung erlangt zu haben, ohne dass es der Fall wäre, wird verstoßen. Wer nimmt, was ihm nicht gegeben wurde, selbst wenn es keinem gehört, wird verstoßen. Wer unkeuschen Verkehr hat, gleich ob mit einem Menschen, einem Tier oder einem anderen Wesen, wird verstoßen.“
    Barthos und Kendra schauten sich unauffällig an. Mit den anderen Regeln konnte man leben. Die letzte aber wollte ihm gar nicht gefallen. Schon überlegte er, ob diese Regel nicht irgendwie zu umgehen wäre. Wie genau war unkeuscher Verkehr wohl definiert? Aber irgendwie bezweifelte er, dass Gyatso hier irgendwelche Schlupflöcher anerkennen würde. Konnten sie sich heimlich nachts in die Kammer des jeweils anderen schleichen? Aber die Kammern hatten keine Türen, das würde ein Pro…
    Barthos fing sich einen Hieb mit dem Bambusstock. „Neben diesen fünf schweren Vergehen, für die man auf immer aus dem Kloster verstoßen wird, gibt es die siebenunddreißig geringeren Vergehen, für die man für eine Dauer von dreizehn Tagen aus dem Kloster verstoßen wird.“ Zu diesen Vergehen, die Gyatso nun ebenfalls alle aufzählte, gehörten unter anderem Ungehorsam, das Verletzen von Menschen oder Menschengleichen, das Töten von Tieren, der Genuss von Fleisch, Sumpfkraut, Alkohol, Tabak, Tränenpfeffer oder Süßspeisen, „unziemliches Gebaren“, das Prahlen mit seinen magischen Fähigkeiten, selbst wenn man sie tatsächlich besaß, und Masturbation. Fiel der Ausweg also auch flach…
    Es folgten die einhundertvierundvierzig unbilligen Handlungen, die allesamt eine unvorteilhafte Reinkarnation nach sich zogen und zudem zu Züchtigungen durch den Abt führen konnten, sofern dieser es für angebracht hielt (letzteres machte Barthos jedoch nur wenig Angst, da er den Eindruck hatte, dass Gyatso es so oder so, auch ganz ohne triftigen Grund, ständig für angebracht hielt, sie zu züchtigen). Zu den unbilligen Handlungen zählten Unhöflichkeit, übermäßiges Fluchen, öffentliches Entblößen, das Sitzen neben eines Menschen anderen Geschlechts, es sei denn, es handelte sich ebenfalls um einen Angehörigen des Klosters, mangelnde Hygiene, die Missachtung von Älteren, sowie unkeusche Gedanken.
    Barthos begann zu ahnen, weshalb ein Mensch wie Arathus, und mochte man hier noch so viel über die Magie lernen, dieses Kloster verlassen hatte.
    Schließlich hatte Gyatso endlich geendet. Einige Minuten saßen sie stumm beisammen – Barthos und Kendra wagten aus Angst vor weiteren Schlägen nicht, etwas zu sagen – dann schlug Gyatso einen kleinen Gong, der neben ihm stand. Und nach einigen Momenten erschien ein Mönch in der Höhle und verbeugte sich. „Astha wird sich nun eurer annehmen. Geht mit ihr.“
    Barthos war verwirrt. Dann, erst bei erneutem und genauerem Hinsehen, erkannte er, dass der Mönch eine Nonne war. Auch die Frauen hier im Kloster schoren sich den Kopf offenbar völlig kahl.
    Sie folgten der Nonne auf den Hof hinaus, wobei sie unterwegs drei weitere Mönche oder Nonnen – so sicher war er da jetzt nicht mehr – herbeirief. Dort wurden sie aufgefordert, sich zu entkleiden. Etwas zögerlich – es war noch immer nicht wärmer geworden – streiften sie ihre Gewänder ab. Doch die Nonne mit Namen Astha stand nur mit regloser Miene da und forderte sie auf, sich gänzlich auszuziehen. Also legten sie auch ihre Unterkleider ab. Und dann standen sie nackt, wie Innos sie geschaffen hatte, und bibbernd vor den Mönchen und Nonnen. Ihre Kleider wurden fortgeschafft, ebenso die Taschen mit ihren Habseligkeiten. Dafür brachte man Eimer, und ihnen beiden wurde ohne Vorwarnung eiskaltes Wasser über die Köpfe gegossen. Schock und Überraschung waren noch nicht einmal verflogen, da folgten auch schon zwei Kübel kochendheißes Wasser. Dann wurden sie mit groben Bürsten auf wenig sanfte Weise am ganzen Körper abgeschrubbt, bis Barthos das Gefühl hatte, die Mönche müssten bald bei seinen Knochen anlangen. Erst als sie am ganzen Körper gerötet waren und es kaum noch aushielten, hatte die Tortur endlich ein Ende. Nun kam ein Mönch – bei diesem war Barthos sich recht sicher, da er einen Bart trug –, trat mit einem großen Rasiermesser an Barthos heran und schnitt ihm das Haar vom Kopf – und großzügige Kerben in denselben. Als er fertig war, wurde Barthos ein weiteres Mal mit kaltem Wasser übergossen, das sein Haar davonspülte. Der Mönch trat zu Kendra hinüber. Barthos, der sich unter all den Schnitten und dem kalten Wasser eher auf sich selbst konzentriert hatte, riss die Augen auf, als er erkannte, was jetzt kommen würde. „Kendra! Dein Haar…“, stieß er erschrocken aus. Aber auf ihr Gesicht war eine grimmige Entschlossenheit getreten. „Es ist nur Haar“, sagte sie unwirsch und fügte dann an den Mönch gewandt „mach schon!“ hinzu. Und so musste Barthos hilflos mit ansehen, wie das lange Haar, das ihr, seit sie sich nicht mehr versteckte, gewachsen war, dieses wunderbare lange, weißblonde Haar, mit dem sie noch schöner ausgesehen hatte als zuvor, abgeschnitten wurde. Nicht nur gestutzt auf jenen unordentlichen kurzen Haarschnitt, in dem er sie kennengelernt hatte, sondern bis auf die Kopfhaut abrasiert. Auch Kendra wurde noch einmal mit einem Eimer kalten Wassers übergossen, das ihr das Haar und das Blut, das das Messer des Mönches auch auf ihrem Schädel zutage gefördert hatte, abwusch. In traurigen verklebten und vom Wasser dunkel gefärbten Bündeln trieben ihre Haare über den Boden, wo das Wasser in Rinnsalen zwischen den Steinen verlief.
    Dankbar nahmen sie die Kutten aus gelbem und orangenem Stoff entgegen, die man ihnen nun reichte, und zogen sie sich über die frierenden Leiber.
    Und so kam es, dass sie zum zweiten Mal in ihrem Leben einem Kloster beitraten.
    Geändert von Jünger des Xardas (13.09.2014 um 12:35 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Inzwischen war es Zeit für das Frühstück. Man führte sie in eine Halle mit niedrigem Dach, wo vielleicht fünfzig Mönche und Nonnen auf dem Fußboden um einen flachen Tisch herum saßen. Vor der Halle sahen sie den Orang-Utan wieder, der langsam und bedächtig durch den Gang schlurfte, von ihren Führern aber nicht beachtet wurde. Barthos fragte sich, weshalb man hier im Kloster einen Affen hielt.
    Als auch sie sich gesetzt hatten, gab man ihnen beiden je eine Tasse, sowie eine Schale und zwei Essstäbchen aus Holz. Zusammen mit ihren Roben und ihren Decken aus Yakwolle war das der einzige Besitz, den sie hier im Kloster haben würden, erklärte ihnen Astha, ehe sie sich einige Plätze weiter am Tisch niederließ. Man wartete schweigend, bis eine große, dampfende Schüssel von zwei Leuten herein- und den Tisch hinauf- und hinabgetragen wurde. Dabei blieben sie an jedem Platz stehen, und ein Dritter fischte mit Essstäbchen Reisbällchen aus der Schüssel und legte jedem zwei davon in seine Schale. Hinter diesen dreien lief eine Nonne mit einer großen Kanne her und goss jedem Tee in seine Tasse. Als man auch in Barthos’ Schale zwei Reisbällchen plumpsen ließ, verzog dieser das Gesicht. Sie waren gerade so groß, dass man sie sich vollständig in den Mund schieben und in einem Happs herunterschlucken konnte. Und es sah nicht aus, als käme da noch mehr Essen. Nicht mal etwas Soße oder ein paar Gewürze als Ergänzung zu dem Reis. Nein, es blieb bei diesen zwei weißen Kugeln, die einsam vom Grund seiner Schale zu ihm aufblickten. Andererseits hätte viel mehr Essen in die kleine Schale auch gar nicht hereingepasst.
    Als die Mönche und Nonnen, die das Essen ausgaben, ihre Runde um den Tisch beendet hatten, fingen alle Anwesenden schweigend an, zu essen.
    Auch Barthos versuchte, wenigstens das kümmerliche Mahl, das sich ihm darbot, zu genießen. Sehr zu seinem Verdruss musste er aber feststellen, dass das Essen mit diesen Stäbchen schwerer war, als es aussah. Er schaffte es lediglich, eines der Reisbällchen in seiner Schüssel hin und her zu schieben. Dann, als er es endlich zwischen die beiden Stäbchen gezwängt bekam und es schon zu seinem Mund führen wollte, drückte er offenbar zu fest zu, denn es zerbarst im nächsten Moment in zwei Teile.
    „Mach’s wie ich“, zischte Kendra neben ihm.
    Er warf ihr einen Blick zu und sah, dass ihre Stäbchen einfach in ihrer Schale lagen und sie sich den Reis mit den Händen in den Mund schob. Kurz zögerte er, schaute sich verstohlen um, ob auch niemand zusah, da er sich keine missbilligenden Blicke zuziehen wollte, dann griff er nach seinem intakten Reisbällchen und schob es sich in den Mund. So ging es in der Tat ganz einfach. Und so aß er dann auch den Rest seines Mahls auf, ehe er zu seiner Teetasse griff und sie an die Lippen führte. Über ihren Rand hinweg ließ er den Blick nun vorsichtig durch den Raum schweifen und musterte seine neuen Ordensbrüder und –schwestern. Das Geschlecht der meisten war tatsächlich nur schwer auszumachen, wenn sie nicht gerade Bärte trugen. Die weiten Roben ließen wenig Rückschluss auf die Körperform ihrer Träger und jeder hier hatte einen völlig kahl rasierten Kopf. Dazu kam, dass Burjaken sich ohnehin alle irgendwie ähnlich sahen. Es war deshalb nicht nur schwer, das Geschlecht der Umsitzenden zu erraten, sondern sie überhaupt auseinanderzuhalten – wenn sie sich nicht gerade durch ein hervorstechendes Merkmal von ihren Nachbarn abhoben, wie sein Gegenüber, dessen Gesicht von einer großen Narbe geziert wurde. Und auch das Alter der meisten konnte er nicht wirklich abschätzen. Die Jüngsten mochten zehn sein oder fünfzehn, die Ältesten achtzig oder vierzig. Die Gesichter der meisten waren glatt und rund, am ehesten ließ noch die graue Farbe einiger Augenbrauen und Bärte auf ein höheres Alter schließen. Wahrscheinlich war ein allzu individuelles Erscheinungsbild nur hinderlich, wenn man sein Ego abstreifen wollte.
    Auf der Stirnseite des Raumes ertönte ein Gong. Stumm erhoben sich alle, verließen gemächlich den Raum und zerstreuten sich dann in alle Richtungen. Auch Barthos und Kendra standen auf und traten auf den Gang hinaus, wo sie dann aber etwas unschlüssig verblieben. Zumindest solange, bis sie beide einen schmerzhaften Rutenhieb gegen die Waden bekamen.
    „Mangelnde Tischmanieren zählen zu den einhundertvierundvierzig unbilligen Handlungen“, erinnerte Gyatso sie scharf. Barthos fiel auf, dass er ihn zum ersten Mal stehen sah. Der Abt reichte ihm gerade bis zur Schulter. Und irgendwie wollte diese – eigentlich für einen Menschen doch so natürliche – Haltung nicht recht zu ihm passen. Nicht weil er irgendwie auf merkwürdige oder ungewöhnliche Weise gestanden hätte. Aber irgendetwas an der Art, wie Gyatso saß, vermittelte den Eindruck, dass diese Haltung und nur diese ihm geradezu angeboren war.
    „Rutenschläge sind offenbar keine unbillige Handlung“, zischte Kendra halblaut, wofür sie sich direkt den nächsten Schlag einfing.
    „Nein. Aber Unaufmerksamkeit, wenn ein Meister spricht, ist eine. Du solltest wissen, welche Handlungen zu den unbilligen zählen und welche nicht.“
    „Ich habe zugehört, ich…“
    Gyatso hob seine Ruhe, und augenblicklich verstummte Kendra. Sie waren noch keinen Tag hier und schon hatten sie diesen Bambusstab beide fürchten gelernt. „Sitzt darüber.“
    „Was soll dieses ewige Sitzen?“, echauffierte Kendra sich.
    „Sitzt auch darüber.“
    Kendra sah aus, als stünde sie kurz davor, Gyatso seine Rute aus der Hand zu reißen und ihn damit durchzuprügeln. Als er sie aber mit einer stummen Handbewegung aufforderte, ihm zu folgen, schloss sie sich ihm ebenso widerstandslos an wie Barthos.
    Gyatso brachte sie in eine Kammer, in der sechs Mönche und Nonnen saßen, die Beine überkreuz, die Hände auf den Knien, Daumen und Zeigefinger zu Kreisen geschlossen. „Setzen“, forderte Gyatso knapp.
    Barthos suchte sich einen freien Platz zwischen zwei anderen und versuchte deren Haltung nachzuahmen. Kendra tat es ihm drei Plätze weiter gleich.
    Der Abt schaute ihnen einige Momente dabei zu, während er reglos im Türrahmen stand, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Dann nickte er knapp. „Gut. Nun sitzt.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und schlurfte davon.
    Also saßen sie. Schweigend. Reglos. Nur dem Geräusch ihres eigenen Atems lauschend. Nicht lange und sein linkes Bein begann gegen die ungewohnte Haltung zu protestieren. Er versuchte, sein Gewicht leicht zu verlagern, zuckte aber bei dem Rascheln zusammen, das seine Robe dabei verursachte. Verstohlen blickte er um sich, doch die strafenden Blicke, mit denen er schon gerechnet hatte, blieben aus. Die anderen Mönche und Nonnen saßen da wie in Stein gehauen, die Augen geschlossen. Dennoch wollte er keine unnötigen Geräusche verursachen. Seinem Bein aber ging es nicht besser. Was dieser ganze Unsinn wohl sollte? Sie würden wohl kaum beim Sitzen das Zaubern lernen. Es sei denn, man wollte sie dazu treiben, selbstständig einen Zauber gegen eingeschlafene Gliedmaßen zu entwickeln. Sein Blick fiel auf die Falten des Gewands, das der Mönch schräg vor ihm trug. Mit den Augen verfolgte er die geschwungene Linie des Schattens, den eine von ihnen warf. Dann ließ er sie durch den Raum schweifen, blieb erst an der Fuge zwischen zwei der Fliesen hängen und begutachtete dann intensiv einen winzigen Riss in einer Wand. Er konnte sich nicht erinnern, wann ihm das letzte Mal so langweilig gewesen war. Warteten sie auf irgendetwas? War das hier eine Art Test? Würde Gyatso bald wiederkommen und ihnen eine richtige Aufgabe geben? Wie die wohl aussehen würde? Irgendwie mussten sie ja das Zaubern üben. Arathus hätte sie sonst nicht hierhergeschickt. Er hatte es doch selbst hier gelernt. Und er musste einen Grund gehabt haben, sie hierher und nicht in die Akademie zu schicken, wo man sie nun, als seine ehemaligen Schüler und mit Geld aus seinem Erbe im Gepäck, sicherlich aufgenommen hätte. Aber stattdessen hatte er Shangri La offenbar für die bessere Wahl gehalten. Das musste einen Grund gehabt haben… Barthos schreckte auf. Ihm waren die Augen zugefallen. Nur für einen kurzen Moment. Oder? Ihm kam wieder in den Sinn, wie kurz sie in dieser Nacht geschlafen hatten. Und zum ersten Mal, seit man sie geweckt hatte, spürte er die Müdigkeit wieder deutlich. Er zwang sich, wach zu bleiben. Aber wie bitteschön stellte sich Gyatso das hier denn vor? Man konnte doch nicht nur einige wenige Stunden schlafen und dann stundenlang herumsitzen und einfach nichts tun. Zumindest konnte nicht von einem erwartet werden, dass man dabei nicht einschlief. Barthos war sich nicht sicher, ob er es selbst ohne den Schlafmangel geschafft hätte, wach zu bleiben. So aber klappten seine Augen schon nach einige Momenten wieder zu. Abermals schreckte er auf. Diesmal hatte er eindeutig geschlafen. Aber wie lange? Ihm kam es wie wenige Sekunden vor. Aber drauf gewettet hätte er nicht. Wieder sah er sich verstohlen um. Kendras Kopf ruhte auf ihrer Brust, ihre Augen waren zu, ihr Mund aber, aus dem sie gleichmäßig atmete, stand leicht offen. Die anderen Mönche und Nonnen saßen da wie Statuen und rührten sich nicht. Wie schafften sie es nur, nicht ebenfalls einzuschlafen? Oder vielleicht schliefen sie schon die ganze Zeit und hatten nur gelernt, sich das nicht anmerken zu lassen.
    Ein Rutenhieb gegen den Hinterkopf weckte ihn auf höchst unsanfte Weise. Er war wieder eingenickt. Wie lange er diesmal geschlafen hatte, konnte er nicht sagen. Gyatso war an ihm vorbei zu Kendra hinübergeschritten und hatte nun auch diese mit einem kurzen Schlag wieder aus dem Schlaf gerissen. „Sitzen. Nicht schlafen“, sagte er. Viel mehr Worte als „sitzen“ schienen im Vokabular des Abts nicht vorzukommen.
    „Aber wir sitzen doch!“, jammerte Barthos. „Aber wir sind müde. Und ich kann meine Beine nicht mehr füh…“
    Der nächste Hieb Gyatsos demonstrierte ihm, dass er zumindest sein rechtes Bein durchaus noch fühlte.
    „Nein. Ihr sitzt nicht. Ihr schlaft. Ihr wartet. Ihr denkt.“ Ein Gong ertönte von irgendwoher, und völlig synchron schlugen die anderen sechs Sitzenden ihre Augen auf, um sich dann schweigend zu erheben und den Raum zu verlassen.
    „Heißt das, die Zeit zum Sitzen ist vorbei?“ Kendra streckte ihre Beine aus. „Wenn es eh nur noch ein paar Augenblicke waren, hättet Ihr uns doch nicht mit der Rute wecken müssen, sondern einfach warten können.“
    „Wenn ihr sitzt, dann sitzt. Wenn ihr esst, dann esst. Wenn ihr atmet, dann atmet.“ Nun setzte Gyatso selbst sich vor ihnen hin. Die Rute legte er sich wie beiläufig über die Schenkel. Er schloss für einen Moment die Augen, ehe er sie wieder aufschlug und sie beide anblickte. „Den meisten Menschen mangelt es an Gegenwärtigkeit. Sie verharren stets in der Vergangenheit oder jagen davon in die Zukunft. Morgens, wenn sie essen, dann essen sie nicht, sie denken an die Arbeit, die ihnen bevorsteht. Abends, wenn sie schlafen, dann schlafen sie nicht, sie denken an die Erlebnisse des Tages. Diese Menschen leben in ewiger Sorge, was der nächste Tag, das nächste Jahr bringen wird. Oder sie träumen ewig von einem besseren Leben, für das sie heute arbeiten, hoffend, dass sie die Früchte ihrer Arbeit dereinst im Alter werden genießen können. Oder aber sie schauen zurück in die Vergangenheit, voller Verklärung. Glauben, dass sie besser war als die Gegenwart, obwohl sie, als sie noch Gegenwart war, nie in ihr lebten, sondern nur von der Zukunft träumten, die jetzt Gegenwart ist, so wie sie nun von der neuen Zukunft träumen. Andere fühlen Reue, wenn sie in die Vergangenheit blicken, denn sie sehen nur die Fehler, die sie begangen zu haben glauben. Wieder andere fühlen Verdruss, denn sie sehen nicht ihre Fehler, sondern nur die der anderen, seien es selbst die der Götter und des Schicksals. Aber so oder so, die Menschen sind nicht gegenwärtig.“
    Kendra schaute verständnislos. „Heißt das, wir sollen nicht mehr an die Vergangenheit oder die Zukunft denken? Das ist doch blödsinnig. Man kann doch nicht nur im Moment leben. Wie soll man dann aus seinen Fehlern lernen? Wie soll man Pläne machen?“
    „Ego“, erwiderte Gyatso und fuhr erst nach einigem Schweigen fort: „Der Mensch ist endlich und das Universum schert sich nicht um seine Pläne. Pläne schmieden wollen, heißt, sich selbst zum Gott erheben, sich über das Universum, über das Schicksal erheben zu wollen. Eine unendlich große Anmaßung und Selbsttäuschung. Ego.“ Er legte eine weitere Pause ein. Schließlich unterbrach er sein Schweigen wieder: „Was das Lernen aus Fehlern angeht: Was nützt es dir, klug fürs nächste Mal zu werden, wenn du nicht weise für immer wirst? Aber Weisheit ist nicht, weshalb ihr hier seid, richtig?“
    „Wir sind hier, um endlich Magie zu lernen!“, entgegnete Kendra trotzig. „Ihr und Arathus seid der Meinung, dafür müsste man weise werden, gut und schön. Auch wenn ich nicht weiß, wie man durch Rumsitzen und Stockhiebe weiser werden soll.“
    Gyatso schüttelte den Kopf. „Du irrst, wenn du glaubst, Arathus’ Ansicht wäre die meine. Und ich rate dir, darüber zu sitzen, was ich über die volle Tasse sagte.“ Dann packte er plötzlich mit der ihm eigenen übermenschlichen Schnelligkeit seine Rute und schlug Kendra damit. „Und das ist für erneute Unaufmerksamkeit bei den Worten eines Meisters: Ich sagte, Gegenwärtigkeit, nicht im Moment verharren. Sitzt über den Unterschied.“
    „Sitzen, sitzen, sitzen!“, echauffierte Kendra sich. „Ist das alles, was wir hier im Kloster tun werden? Sagt uns doch wenigstens, was das soll? Werden wir vielleicht zu Magiern, indem wir einfach sitzen?“
    „Wird das Yak zum Biber, wenn es Dämme baut?“
    „Was? Was bitte soll das jetzt heißen?“
    „Sitzt darüber.“
    Kendra sprang in die Höhe. „Sitzen bringt uns einen Scheiß!“, brüllte sie.
    Barthos war nicht wenig überrascht, dass Gyatso sie dafür nicht schlug. Stattdessen drehte der Mönch sich um und sagte nur: „Folgt mir.“
    Barthos stand auf, wobei ihm augenblicklich tausend kleine Nadeln in die Beine fuhren. Erst jetzt merkte er, wie sehr sie eingeschlafen waren. Er konnte kaum auf ihnen stehen, geschweige denn einen Schritt tun. Dennoch schaffte er es, Kendra zur Beschwichtigung eine Hand auf ihre Schulter zu legen. Sie schien schon wieder kurz davorzustehen, dem Kloster den Rücken zu kehren. Doch seine Berührung schien sie tatsächlich zu beruhigen und sie schloss sich Gyatso an.
    Mit einigem Erstaunen stellte Barthos fest, dass der Abt offenbar selbst nicht wusste, wo er mit ihnen hin wollte. Er führte sie erst in die Höhle, machte dort aber auf dem Absatz kehrt und schritt zum Speisesaal, wo er ebenfalls noch auf der Schwelle umdrehte, um danach mehrere andere Kammern aufzusuchen, in denen teilweise Mönche oder Nonnen saßen oder mit der Arbeit beschäftigt waren. Irgendetwas schien er zu suchen. Was, das wurde ihnen erst klar, als sie in einen Gang bogen und dort den Orang-Utan auf dem Boden sitzen saßen. „Setzen“, forderte Gyatso sie auf.
    „Hier?“, fragte Barthos. „Mitten im Korridor?“
    „Setzen.“
    Also setzten sie sich direkt vor den Affen.
    „Ich weise euch an, zu sitzen, aber ihr sitzt nicht. Ihr könnt nicht sitzen. Ihr wartet. Ihr denkt. Ihr schlaft. Aber ihr sitzt nicht.“ Der Abt wies auf den Affen vor ihnen. „Er kann sitzen. Also werdet ihr nun hier sitzen und von ihm lernen.“
    Und mit diesen Worten ließ er sie allein zurück. Und so saßen sie schon wieder. Und der Orang-Utan saß ihnen gegenüber. Sie starrten den Orang-Utan an und der Orang-Utan starrte zurück. Dann und wann schritt einer der anderen Klosterbewohner an ihnen vorbei, doch der Affe beachtete diese Passanten nicht und so versuchten auch Barthos und Kendra, sie zu ignorieren.
    Barthos musterte ihr Gegenüber gründlich. Das rote Fell, das in langen Fransen herabhing und dem Körper etwas Unförmiges gab. Es grenzte an ein Wunder, dass das Tier beim Laufen nicht über diese langen Haare stolperte. Das platte, schwarze Gesicht mit den wulstigen Wangen. Etwas seltsam Menschliches lag darin. Und gleichzeitig strahlte es eine Ruhe aus, die bei einem Menschen kaum zu finden gewesen wäre. Die großen Hände mit den dicken Fingern. Sie wirkten klobig und als müssten sie unweigerlich alles zerquetschen, was sie ergriffen.
    Gyatso hatte Recht. Der Orang-Utan konnte sitzen. Ganz ruhig saß er da. Ein Berg aus Fell. Halb versunken in seinen eigenen Haaren. Den Kopf auf die Arme gestützt. Er blickte sie an. Durchdringend und ohne den Blick abzuwenden. Nur dann und wann blinzelte er kurz. Der Blick war alles andere als desinteressiert. Aber er war auch nicht neugierig. Er war… ja, aufmerksam. Ein besseres Wort wäre ihm nicht eingefallen. Etwas lag in diesem Blick. Menschlichkeit, ja. Aber noch mehr als das. Weisheit, war das Wort, das Barthos durch den Kopf schoss.
    Nach einer halben Ewigkeit, die Barthos dieses Mal seltsamerweise nicht gelangweilt oder eingeschläfert hatte, ließ der Blick des Affen doch von ihnen ab. Stattdessen wanderte er zum Boden zwischen ihnen. Und unwillkürlich folgte Barthos dem Blick des Orang-Utans. Erst jetzt sah er, dass dort vor dem Affen eine Handvoll grüner Blätter auf dem Boden lag. Mit einer Bedächtigkeit, wie Barthos sie noch nie gesehen hatte, führte sein Gegenüber einen seiner großen Finger an den Mund, legte ihn sich auf die dicken Lippen und befeuchtete ihn mit der Zunge. Dann, ebenso bedächtig, senkte er ihn herab auf eines der Blätter. Es war gerade so groß wie seine Fingerkuppe, an der es nun kleben blieb. Und während der Affe den Finger wieder nach oben führte, erkannte Barthos, dass er sich in diesen Händen getäuscht hatte: Sie mochten groß und wulstig sein, sie mochten grob erscheinen, doch sie waren unheimlich feinfühlig und wahrscheinlich zu mehr Sanftheit fähig, als seine eigenen das je gewesen wären. Mit einer Gebanntheit, die er selbst nicht verstand, sah er dabei zu, wie der Orang-Utan sich das Blatt vom Finger leckte und es mit einer Ruhe kaute, als habe er dafür bis zum Jüngsten Tag Zeit, ehe er es endlich herunterschluckte und seinen Finger dann zum nächsten Blatt herabsenkte. Es schien unglaublich, dass ein so großes Tier sich von so kleinen Blättchen ernährte und dabei auch noch solch eine Gemächlichkeit an den Tag legte. Aber andererseits: Was hatte dieses Geschöpf schon zu erledigen, dass es sich hätte eilen müssen?
    Noch lange saßen sie da und sahen dem Orang-Utan beim Essen zu. Bis er schließlich auch das letzte Blatt heruntergeschluckt hatte. Es verging noch eine Weile, in der der Affe stumm, wie nachsinnend, dasaß. Dann erhob er sich und schlurfte zwischen ihnen hindurch den Gang hinab.
    „Äh…“ Kendra drehte sich nach ihm um und blickte ihm über ihre Schulter hinterher. „Meinst du, das heißt, wir dürfen mit Sitzen aufhören?“
    Barthos zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber er tut es offenbar. Da können wir ihm schlecht noch weiter beim Sitzen zusehen und von ihm lernen, was immer wir lernen sollen.“ Er zögerte kurz, dann schlug er vor: „Vielleicht gehen wir einfach mal zu Gyatso?“
    Gyatso saß in der Höhle. Er hatte die Augen geschlossen und schien in tiefer Meditation versunken. Der Rauch einiger Räucherstäbchen schlängelte sich vor seinem Gesicht in die Luft. Als sie eintraten und vor ihm stehenblieben, schlug er die Lider auf. „Was tut ihr hier?“
    „Der Affe ist aufgestanden und gegangen“, erklärte Barthos. „Da dachten wir…“
    Ein Rutenhieb brachte ihn zum Schweigen. Der nächste traf Kendra. „Ich sagte, ihr sollt sitzen. Ich sagte nicht, dass ihr aufhören könnt.“
    „Aber…“, setzte Kendra an.
    „Ego.“ Gyatso schloss wieder die Augen. „Geht. Es ist Zeit für das Abendmahl. Morgen werdet ihr Gegenwärtigkeit üben.“
    Geändert von Jünger des Xardas (25.09.2014 um 10:08 Uhr)

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    Eine Übung in Gegenwärtigkeit


    Ein Gong weckte die Bewohner des Klosters zum Sonnenaufgang. Es folgte das Frühstück, zu dem es dasselbe gab wie am Vortag.
    Dann gab Gyatso sie in die Obhut des Mönches mit der Narbe im Gesicht, der Barthos schon gestern aufgefallen war. Mit ihm sollten sie üben, verkündete der Abt, ohne ihnen mitzuteilen, worin diese Übung bestehen sollte.
    Der Mönch – Tenzin war sein Name – verbeugte sich knapp vor ihnen, eine Geste der Höflichkeit, die sie erwiderten. Er war hochgewachsen, was besonders neben dem kleinen Gyatso auffiel. Sein Gesicht war hart, mit scharfen Zügen. Doch die große Narbe, die es verunstaltete, lenkte von allem anderen ab. Er schien noch viel wortkarger als Gyatso das meist war, und forderte sie nur auf, mit ihm zu kommen.
    In einer Kammer fanden sie einen Haufen hölzerner Pfähle, vielleicht einen knappen Meter lang und etwas mehr als doppelt so breit wie eine Handfläche im Durchmesser. Barthos dachte erst, es müsse sich um Brennholz handeln, und überlegte schon, ob sie das jetzt etwa zurechthacken sollten. Stattdessen aber sollten sie die Pfähle lediglich nach draußen tragen und in einer Reihe auf dem Hof aufstellen. Dreißig Stück waren es. Sie alle wurden in regelmäßigen Abständen hintereinander platziert, beginnend auf der rechten Seite des Hofes, wo drei Stufen auf einen etwas erhöhten Weg hinaufführten, der unter den Vordächern der Gebäude auf dieser Seite verlief. Auf diesem Weg stand Tenzin, unbeweglich wie eine Statue, und schaute ihnen bei der Arbeit zu. Und hier kamen sie hinauf, als sie fertig waren.
    „Gut“, sagte er, nachdem er einen letzten Blick auf die Pfahlreihe vor sich geworfen hatte. „Und nun springt.“
    „Wir sollen was?“, fragte Barthos.
    „Auf die Pfähle springen. Du machst den Anfang.“
    Es dauert ein paar Momente, ehe er wirklich verarbeitet hatte, was Tenzin da von ihm forderte. Aber er glaubte nicht, dass Diskussionen ihm irgendetwas gebracht hätten. Also stellte er sich an die Kante, holte tief Luft und machte dann einen Satz nach vorne, das rechte Bein ausgestreckt, um auf dem ersten der Pfähle zu landen.
    Stattdessen riss er ihn um, stürzte zu Boden und riss dabei auch noch den zweiten Pfahl mit sich. Er schaffte es gerade noch, die Hände schützend vor den Körper zu halten. Dennoch war der Aufprall auf dem harten Steinboden äußerst schmerzhaft. Zu allem Überfluss krachte er mit dem rechten Unterarm auch noch auf einen der beiden umgefallenen Pfähle. Der Schmerz war so heftig, dass er für einen Augenblick überzeugt war, sein Arm müsse gebrochen sein.
    „Stell sie wieder auf“, forderte Tenzin nur ungerührt. Und als Barthos das getan hatte, wandte er sich an Kendra: „Jetzt du.“
    Sie blickte nur zu dem großen Mönch auf. „Was soll uns das bringen?“
    „Spring.“
    „Wozu? Wie werden wir dadurch zu besseren Magiern?“
    „Magie dient dazu, fremde Körper zu beherrschen. Wie willst du andere Körper beherrschen, wenn du nicht einmal deinen eigenen beherrschst?“
    Man sah Kendra an, dass sie mit dieser Antwort nicht völlig zufrieden war, aber immerhin reichte sie aus, dass sie nach kurzem Zögern an die Kante trat und ebenfalls sprang – und genauso schmerzhaft auf dem Boden aufschlug wie zuvor Barthos.
    Barthos konnte nicht sagen, wie lange sie übten. Die Zeit verging quälend langsam, während sie abwechselnd von der Kante absprangen, auf den harten Stein des Hofes stürzten und dann unter Stöhnen sich und die umgeworfene Pfähle wieder aufrichteten.
    Seine Haut war an zahlreichen Stellen aufgeschlagen oder von Blutergüssen gezeichnet, als es ihm endlich gelang, auf dem Pfahl zu landen und nicht sofort aus dem Gleichgewicht zu geraten. Im ersten Moment ruderte er mit den Armen und fürchtete schon, er würde ein weiteres Mal stürzen, dann aber stand er plötzlich gerade da, die Arme leicht ausgestreckt, das freie Bein angewinkelt.
    „Gut“, hörte er Tenzins Stimme hinter sich.
    „Äh, und was jetzt?“ Barthos versuchte, über seine Schulter zu ihrem Lehrer zu blicken, merkte aber, dass das Drehen seines Kopfes ihn nur ins Wanken brachte, und unterließ es ganz schnell wieder.
    „Tritt an die Kante“, forderte der Mönch, wohl an Kendra gewandt. Sekunden später hörte Barthos ihn wieder sprechen: „Auf mein Kommando springst du auf den nächsten Pfahl. Und du“ – das galt wohl wieder Kendra – „springst ihm nach auf den ersten Pfahl.“
    „Gleichzeitig?!“, stieß er aus und wäre schon dabei fast aus dem Gleichgewicht geraten.
    „Gleichzeitig. Jetzt!“
    Barthos dachte nicht nach. Er sprang. Sogleich spürte er, dass er den Pfahl unter sich beim Abspringen umriss. Er sah den zweiten Pfahl auf sich zurasen, traf mit dem Fuß dessen Kante, glitt ab und stürzte mit dem Kopf voran zu Boden. Als seine Stirn auf den harten Stein schlug, zuckte ein weißer Blitz vor ihm vorbei und er sah Sterne. Im nächsten Moment plumpste ein großer weicher Sack auf seinen Rücken. Es dauerte einige Sekunden, bis sich nicht mehr alles vor seinen Augen drehte, und noch ein paar mehr, ehe ihm aufging, dass der Sack, dessen Gewicht mittlerweile schon wieder von seinem Rücken verschwunden war, Kendra gewesen war. Begleitet von einem Stöhnen richtete er sich auf. Als er sich an die pochende Stirn griff, fasste er in etwas Nasses. Und als er die Finger hinabsenkte und dabei an seinen Augen vorbei führte, erkannte er, dass sie rot glänzten.
    „Stellt die Pfähle wieder auf“, hörte er Tenzins emotionslose Stimme hinter sich.
    Kendra war nun wieder an der Reihe. Sie schaffte es nicht einmal auf den ersten Pfahl. Auch Barthos scheiterte bei seinem nächsten Versuch schon an dieser ersten Hürde. Mit der Zeit aber gelang es ihnen beiden nun immer öfter, den ersten Pfahl nicht umzuwerfen, sondern darauf stehen zu bleiben. Der Trick bestand darin, genau im richtigen Winkel abzuspringen und dann auch wieder im richtigen Winkel zu landen. Man musste praktisch senkrecht auf den Pfahl fallen, wenn man ihn nicht aus dem Schwung des Sprunges heraus umreißen wollte.
    Hatte man das einmal raus, war es auch gar nicht mehr so schwer, auf dem zweiten Pfahl zu landen. Der harte Teil war es, sich so vom ersten abzustoßen, dass man ihn dabei nicht umriß. Denn andernfalls wurde man praktisch zwangsläufig von seinem hinterherspringenden Partner mitgerissen, so sicher man auch auf dem zweiten Pfahl gelandet sein mochte. Barthos zog es eindeutig vor, wenn Kendra an der Reihe war, vorauszuspringen. Denn das hieß, dass er zumindest einigermaßen weich landete, anstatt auf dem mittlerweile schon an einigen Stellen mit getrocknetem Blut verklebten Stein aufzuschlagen.
    Die Sonne hatte ihren Zenit schon überschritten, als sie es endlich schafften: Kendra sprang auf den zweiten Pfahl, ohne den ersten ins Wanken zu bringen. Und beide landeten sie sicher. Tenzin aber sagte nichts. Es verstrich einige Zeit, ehe Barthos fragte: „Sollen wir weiterspringen?“
    „Wenn ich das Kommando gebe“, war Tenzins knappe Antwort.
    Doch das Kommando kam nicht.
    Tenzin schwieg und sie beide standen auf ihren Pfählen. Standen und standen. Barthos spürte, wie sein Bein langsam schwächer wurde. Spürte den Schmerz, der in seiner Stirn pochte, und in dumpfen Wellen durch seine Arme, seine Beine, seine Brust, all die Stellen, mit denen er auf dem Boden des Hofes aufgeschlagen war, zuckte. Er spürte die kalte, klare Bergluft, die ihn umgab. Sah seinem Atem dabei zu, wie er in kleinen weißen Wölkchen vor seinem Gesicht emporstieg.
    Und dann verlor er das Gleichgewicht.
    Tenzin ließ Barthos und Kendra, die er mit sich umgerissen hatte, ihre Pfähle wieder aufstellen. Es brauchte vier Versuche, ehe sie beide wieder auf einem Pfahl standen. Kendra hatte wieder den Anfang gemacht, und Barthos starrte nun auf ihren Rücken, während er versuchte, sich auf einem Bein zu halten und nicht ins Wanken zu geraten. Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrich. Er hörte auf zu denken oder sich Fragen zu stellen, wie etwa, wann das hier endlich vorbei war oder was das sollte. Die ganze Welt schrumpfte für ihn auf sein schmerzendes Bein zusammen, das eine Verlängerung des Pfahls unter ihm geworden zu sein schien. Wenn man so wie er versuchte, eine quälend lange Ewigkeit in dieser Haltung zu verharren, auf einem Bein zu stehen, ja nicht zu fallen, dann konnte man nicht auch noch denken.
    Tenzins „Jetzt!“ kam so plötzlich, dass Barthos vor Schreck fast umgefallen wäre. Stattdessen sprang er von seinem Pfahl ab, ohne weiter nachzudenken – und prallte direkte in den Rücken Kendras, die offenbar langsamer reagiert hatte.
    Barthos hatte längst aufgegeben, ihre Versuche zu zählen oder auf die Zeit zu achten. Die ganze Übung verschwamm zu einem einzigen zähen Mix aus Schmerzen, warten, stehen, springen und fallen. Irgendwann fand er sich wieder auf dem zweiten Pfahl, Kendra hinter sich. Und als nach einigen Minuten oder vielleicht nach vielen, vielen Tagen endlich Tenzins „Jetzt!“ kam, da sprang er nach vorn und landete auf dem dritten Pfahl. Dass er nicht umgerissen wurde und auch nicht das klappernde Geräusch von auf dem Stein aufschlagendem Holz hörte, sagte ihm, dass Kendra es auf den zweiten Pfahl geschafft hatte.
    Hätte ihm dazu nicht die Kraft gefehlt und hätte das nicht zwangsläufig dazu geführt, dass sie doch noch umgestürzt wären, Barthos hätte vor Freude einen Luftsprung gemacht. Stattdessen grinste er nur erleichtert. Doch das Grinsen entglitt ihm sofort, als er nach vorne schaute. Dort standen noch siebenundzwanzig weitere Pfähle in einer Reihe, die sich für ihn schier endlos lang zur anderen Seite des Hofes zu erstrecken schien.
    Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden gerade hinter den umliegenden Dächern. Sie hatten nur wenige Minuten auf ihren neuen Pfählen gestanden, da kehrte Tenzin ihnen den Rücken und ging davon.
    „Hey, wo gehst du hin?!“, rief Barthos ihm nach.
    „Zum Abendessen“, antwortete der Mönch, ohne sich umzudrehen oder anzuhalten.
    „Aber…“
    „Ihr bleibt, wo ihr seid. Steht auf den Pfählen. Die Übung wird nicht abgebrochen, bevor ihr nicht fertig seid.“
    Barthos und Kendra stöhnten fast synchron auf.
    „Das kann doch nicht sein Ernst sein“, hörte er die Stimme seiner Freundin hinter sich.
    „Ich fürchte schon.“ Noch einmal richtete er den Blick nach vorne, und ihm wurde fast schwindelig angesichts all der Pfähle, die dort noch auf sie warteten. „Er hat gesagt, wir brechen nicht ab, bevor wir fertig sind. Bei so vielen Pfählen heißt das, wir sind noch morgen früh hier…“
    „Morgen?“ Kendra lachte traurig auf. „In einer Woche…“ Dann stöhnte sie wieder. „Ich kann nicht mehr. Es ist kalt, mir tut alles weh und ich muss schon seit Stunden mal.“
    Barthos ging es ganz genauso. Auch wenn er letzteres erfolgreich verdrängt hatte und ihm erst jetzt wirklich bewusst wurde, wie sehr seine Blase drückte. „Wir könnten ja kurz Pause machen, solange Tenzin uns nicht überwacht.“
    „Und wenn er gerade dann zurück kommt?“
    „Na ja…“
    „Der rennt doch sofort zu Gyatso. Und der prügelt uns wieder durch.“ Barthos konnte noch immer nicht hinter sich blicken, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten, aber dass Kendra erschöpft und wütend war, verriet ihm auch ihre Stimme.
    Barthos wollte etwas antworten, doch er hatte schlichtweg keine Kraft mehr. Und er brauchte all seine Konzentration, um nicht schon wieder zu stürzen. Also schwiegen sie wieder. Und standen weiter auf ihren Pfählen, während die Dunkelheit sie umfing.
    „Ihr tut nicht, was man euch sagt. Nie tut ihr, was man euch sagt. Ich frage mich: Seid ihr dumm oder ungehorsam?“
    Das war nicht Tenzins Stimme, das war die Stimme Gyatsos. Im nächsten Moment sah Barthos den Abt in sein Sichtfeld treten.
    „Aber wir tun doch, was man uns sagt!“ Kendra klang, als müsse sie heulen. Ob vor Wut oder vor Verzweiflung konnte er nicht sagen. „Tenzin hat gesagt, wir sollen versuchen auf den Pfählen zu stehen, und nichts anderes haben wir den ganzen Tag gemacht!“
    „Ego.“ Gyatso blieb schräg vor ihnen stehen. „Ihr versucht nicht, auf den Pfählen zu stehen. Ihr versucht, nicht herunterzufallen.“ Er ließ sich auf dem Boden des Hofes nieder, verschränkte die Beine, legte die Hände auf die Knie und schloss die Augen. So saß er da, ohne ein weiteres Wort. Während sie weiter auf ihren Pfählen standen. Barthos wollte herabsteigen, wollte irgendetwas sagen, wollte ebenfalls essen gehen oder am besten sofort schlafen und die nächsten vier Tage nicht mehr aufwachen. Aber etwas sagte ihm, dass er besser den Mund hielt und weiter auf diesem Stück Holz balancierte, solange Gyatso nichts sagte.
    Es dauerte lange, ehe der Mönch wieder zu sprechen begann. Auch dann hielt er die Augen geschlossen. Und er schien mehr zu sich selbst zu sprechen als zu ihnen. „Dreizehn Mal wurde der Erwachte in seinem Leben von Feinden angegriffen. Dreizehn Mal besiegte er sie. Das erste Mal war es ein einfacher Bettler, der den Prinzen bedrängte, als er durch die Straßen der Stadt schlenderte. Das war, bevor er den Hof seines Vaters verließ und sein Leben als Prinz aufgab. Damals hatte er eine Leibwache bei sich. Und es war diese Leibwache, nicht er selbst, die den Angreifer überwältigte. Später dann, als er die irdischen Reichtümer und die irdische Macht aufgab, um sich auf die Suche nach Erleuchtung zu begeben, wurde er von einem Banditen überfallen. Aber der Erwachte war ein Prinz gewesen und sein Vater hatte ihn unterweisen lassen im Kampf mit Schwert und Bogen und Lanze. Und mit diesen Waffen besiegte und tötete er den Banditen. Später lernte er, von seinen Waffen Gebrauch zu machen, ohne seinen Gegner zu töten. Und als er ein Asket wurde, legte er seine Waffen ab und lernte, sich nur mit seinen Händen und Füßen zu verteidigen. Und mit diesen rang er den Tyrannen Udayama und seine Zehntausend nieder und befreite das Volk von Urdmalayayayana von seiner Knechtschaft. Als er das Wesen der Zwei erkannte, ergründete der Erwachte das Geheimnis der Magie. Und mit seinen Zaubern bezwang er die sieben silbernen Meister. Später traf er auf Vhraghagidhnampush, den großen Drachen des Felsens. Keine Waffe konnte den steinernen Panzer dieses Drachen durchdringen und niemals konnte ein sterblicher Mensch hoffen, ihn im Ringkampf zu besiegen. Selbst Magie schien wirkungslos, denn der Drache war selbst ein mächtiges Zauberwesen. Der Erwachte aber machte Gebrauch von seinem Witz und bezwang den Drachen so in einem Kampf des Geistes. Schließlich, als er den heiligen Berg besteigen wollte, stellten sich ihm die einhundertvierundvierzigtausend Engel und Dämonen entgegen. Der Erwachte aber tanzte. Und die Engel und die Dämonen erlagen seinem Tanz. Die Tigerköpfigen und die Elefantenköpfigen, die Vielarmigen und Schlangenleibigen. Sie alle konnten ihn nicht aufhalten. Das war der zwölfte Kampf des Erwachten. Und nach seinem Sieg stieg er zur Spitze des Berges und fand dort einen Baum. Dort saß er. Und dort fand er die Erleuchtung.“ Gyatso schwieg. Schwieg für eine lange Weile. Erst als Barthos schon glaubte, seine Erzählung sei zu Ende, nahm er sie wieder auf: „Im Moment seiner Erleuchtung stiegen die Götter selbst herab und versammelten ein himmlisches Heer, um gegen ihn zu ziehen. Der Erwachte aber kämpfte nicht – und siegte.“ Endlich schlug Gyatso seine Augen wieder auf. „Sitzt darüber. Und nun steigt herab. Räumt die Pfähle auf und wischt das Blut vom Boden, dann könnt ihr euer Mahl einnehmen und euch schlafen legen.“
    „Aber Tenzin hat gesagt, wir würden die Übung nicht abbrechen“, sagte Kendra unsicher, sprang aber dennoch erleichtert von ihrem Pfahl herab. „Er sagte, wir würden erst aufhören, wenn wir sie beendet haben.“
    „Ihr habt die Übung beendet“, entgegnete Gyatso, der sich erhoben hatte und nun zum Gehen wandte.
    „Aber…“ Auch Barthos war mittlerweile auf den Boden des Hofes herabgesprungen. Er wies auf die lange Pfahlreihe vor ihnen. „Warum stellen wir dreißig Pfähle auf, wenn wir nur auf dreien davon stehen sollen?“
    „Warum denkt ihr an dreißig Pfähle, wenn ihr nur auf drei stehen sollt?“

    „Barthos?“, drang Kendras Stimme leise an sein Ohr, als sie später in ihren Kammern lagen. Es war stockdunkel. Und bis eben war es auch völlig still gewesen. Barthos war überrascht, dass er trotz seiner Erschöpfung nicht sofort in tiefen Schlaf gefallen war.
    „Hm?“ Die Wand, die sie trennte, war dünn, und keine Türen trennten ihre Kammern zum Korridor hin ab. Barthos verstand Kendra so deutlich, als hätten sie sich im selben Raum befunden.
    „Ich kann nicht mehr… Mir tut alles weh.“ Tatsächlich klang ihre Stimme, als bereite selbst das Sprechen ihr Schmerzen oder doch wenigstens unvorstellbare Anstrengung. Es zerriss ihm das Herz, sie so zu hören.
    Unwillkürlich hob er die Hand und legte sie auf die Wand, die sie trennte. Er wusste, dass Kendra das unmöglich spüren oder auch nur sehen konnte. Und für einen Moment hätte er alles dafür gegeben, durch die Wand hindurchreichen und sie berühren zu können. „Wir werden uns an das Leben hier gewöhnen.“ Noch während er sprach, merkte er, wie halbherzig er klang. Aber was war das auch für ein Trost?
    „Ich will mich nicht an dieses Leben gewöhnen!“
    „Willst du… gehen?“
    Schweigen. Schweigen, das so lang währte, bis Barthos es nicht mehr ertragen konnte. „Nein.“ Ihre Stimme hatte sich mit einem Mal verändert. Noch immer flüsterte Kendra. Und doch zuckte er bei diesem Wort zusammen, als hätte sie ihm einen Peitschenhieb versetzt. Die Härte und Entschossenheit, die plötzlich in ihre Stimme getreten waren, ließen ihn beinahe erschaudern. „Diese Mönche, diese Nonnen… können zaubern. Und egal wie lange sie uns hinhalten, egal wie sehr sie uns misshandeln, ich werde lernen wie.“
    Geändert von Jünger des Xardas (03.01.2015 um 22:55 Uhr)

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