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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Post [Story]Laidoridas und die unangenehme Dessert-Metapher

    Vorwort oder Re(e)derei


    Es ist zum Schiffen. Wenn man die unliebsame Aufgabe aufgehalst bekommt, einem Moderator des Storyforums (auf beschreibende, schleimerische Adjektive wird hier mal bewusst verzichtet) eine Geschichte halb zu widmen, halb auf den Leib zu schneidern und in der dritten Hälfte damit auch noch unterhalten zu wollen, könnte man manchmal doch verzweifeln, oder einfach nur in unsagbare Faulheit versinken. Im guten Wissen und schlechten Gewissen, dass man allein für den ersten Abschnitt schon ewig gebraucht hat, und für alles weitere noch ewiger brauchen wird. Diese Erkenntnis, dass Unendlichkeit eben doch steigerbar ist, wird dadurch getrübt, dass das, was lange währt, leider doch nicht immer gut werden muss. Aber vielleicht kann.
    Das Schlimmste von allem: Das habe ich mir alles selber eingebrockt, denn hier hat niemand drum gebeten.

    Aber: Manchmal braucht ein ganz besonderer Mensch eben eine ganz besondere Geschichte.
    Und manchmal sollte man das Vorwort vielleicht einfach überlesen.
    Geändert von John Irenicus (21.10.2009 um 19:34 Uhr)

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Laidoridas
    und die unangenehme Dessert-Metapher





    Leise pfeifend trägt der Wind die losen Blätter durch die Luft. Sie tanzen, wirbeln durcheinander, gehen auf und nieder. Wie von unsichtbarer Hand geführt steigt der aus ihnen geformte, instabile Schwarm weiter in die Höhe, beschreibt schlangenförmige Bewegungen und hat kein Ziel, lässt sich einfach treiben.
    Ein einzelnes Blatt löst sich aus dem Kollektiv. Es wird empor gehoben, viel weiter, viel höher als alle seine Artgenossen. Einen Moment lang scheint es, als schwebe es unaufhaltsam der Sonne entgegen, doch mit einem Schwung ändert es seine Richtung. Das braune, welke Etwas fällt wieder herunter, aber statt einem Sturz erliegt es einfach nur der sanft kreisenden Flugbahn, die zurück zum Boden führt.
    Dann aber rauscht ein erneuter Windstoß heran und trägt das Blatt noch eine Weile weiter, bewahrt die Bewegung vor dem endgültigen Verebben.
    Doch bevor es zu weit in die Ferne schweift, fängt es an zu trudeln. Nicht heftig, sondern gemächlich, ohne Eile sinkt es weiter, weiter und weiter, bis es endlich wieder Kontakt zu etwas anderem als der Luft hat, etwas Kaltem. Erschöpft durch die Reise will es dort liegen bleiben und sich ausruhen, doch kaum berührt es die Ruhestelle, wird es schon wieder fortgestoßen.





    Begleitet von einem unartikulierten Laut des Entsetzens, entsprungen von seinen trockenen Lippen, fuchtelte er vor seinem Gesicht hin und her. Erst als er die Augen aufschlug erblickte er, was ihn da berührt hatte und was er jetzt in der Hand hielt. Ausdruckslos und ruhig blickte er auf das braune, welke Blatt, das zwischen seinen Fingern zerbröselte.
    Er erlaubte den Resten auf den harten, unebenen Boden zu fallen und ließ seinen Kopf wieder sinken. Dabei stieß er sich die Hinterseite leicht am kalten Asphalt, fühlte aber keinen allzu starken Schmerz.
    Er sah nun geradeaus hoch in den bewölkten Himmel, dessen graue Gestalt ein tristes, aber irgendwie angenehm melancholisches Gefühl in ihm weckte. Jetzt erst spürte er ganz bewusst den Wind, der ihn umströmte und ab und an auch ein wenig neckisch ins Gesicht biss und seine Augen brennen und tränen ließ.
    Er rieb sich selbige Augen, doch es brachte nicht viel. Er lag noch eine ganze Weile auf dem unbequemen Untergrund und starrte stur nach oben, ohne über irgendetwas nachzudenken. Er fasste keinen Gedanken und versuchte es auch gar nicht, stattdessen lief er Gefahr, ganz von der eigensinnigen Ästhetik der grauen Himmelsdecke eingenommen zu werden. Gleichzeitig wurde er von einem allgegenwärtigen, unterschwelligen Rauschen eingelullt, das nur wenig und selten von einer nahezu konstanten Tonhöhe und Lautstärke abwich.
    Dann wurde es nass.
    Ein paar einzelne Tropfen begannen sich aus dem dichten Wolkengeflecht zu lösen und bahnten sich ihren Weg auf alles was unter ihnen lag hinab.
    Zunächst war es ein angenehmes Gefühl, wie seine spröden Lippen vom nassen Segen befeuchtet wurden, als der Regen aber stärker wurde und sich seine Kleidung langsam mit Wasser vollsog, kommentierte er die Situation für sich selbst in nur zweieinhalb Wörtern.
    „So’n Driss.“

    Als er sich aufgesetzt hatte, konnte er die Umgebung zum ersten Mal richtig erfassen.
    Ein grüner, hoher Gitterzaun stellte sich entschlossen zwischen ihn und ein kleines Waldgebiet, dessen Bäume vom Herbst zwar schon gezeichnet waren, aber trotzdem nicht viel Licht nach innen ließen. Auch nicht nach außen. Bei längerem Hinsehen schien es so, als verschluckte der Wald all das Licht, was ihm zu nahe zu kommen wagte. Es war natürlich Unsinn.
    Er stand auf. Seine Beine waren nicht ganz so wackelig, wie er befürchtet hatte, weswegen er riskierte, ein paar Schritte zu gehen. Er spürte das seltsame Bedürfnis, diesen alten Zaun anzufassen, ging deshalb auf ihn zu und tippte ein paarmal mit seinen Fingern dagegen. Einige der Wassertropfen, die sich abgesetzt hatten, fielen ab. Das grüne Gitter war kalt, doch das spürte er kaum, denn sein Augenmerk lag jetzt auf seinen Fingernägeln und dem Dreck darunter. Dicke, krümelige Trauerrände hatten sich dort gebildet. Er verzog angewidert das Gesicht.
    Sein Blick fiel nun auf seine Kleidung, die auch schon einmal sauberere Zustände erlebt hatte als jetzt, wie sie sporadisch mit eigenartigen, hellbraunen Flecken übersät war; und das war noch längst nicht alles. Der Regen war unverändert stark geblieben, er selbst spürte zwar nicht mehr ganz so viel davon, weil er sich schlicht an das Gefühl gewöhnt hatte, doch sein weißes Hemd, dass klatschnass an seinem Oberkörper klebte, bereitete ihm Unbehagen. Das allein war schon ein unschönes Gefühl, aber zusammen mit der ebenfalls durchnässten Hose, deren schwarz nun noch dunkler erschien, fühlte er sich eingeengt.
    Das ganze Wasser, das er in ihnen, Hemd und Hose, mit sich trug, hatte eine eigenartige Wärme angenommen, die im trügerischen Widerspruch zum kalten, tristen Wetter stand. Wenn er noch länger hier ungeschützt herumstehen würde, würde er sich sicher erkälten, falls er nicht schon krank geworden war. Es fühlte sich zwar alles an ihm noch recht normal und unbeschadet an, doch dass es ihm gut ging, konnte er wiederum auch nicht behaupten.
    Er tippte noch ein weiteres Mal gegen den Zaun und brachte noch ein paar dicke Tropfen dazu, sich von ihm zu lösen, dann wandte er sich von dem grünen Monstrum ab und betrachtete erstmals, was hinter ihm lag.
    Auf einen Blick war ihm klar, woher dieses fortwährende Rauschen kam: von einer Straße. Er ging ein paar Schritte näher heran. Es war nicht nur eine simple Straße, es war eine Autobahn. Er befand sich offensichtlich an einem Autobahnrastplatz.
    Eine ganze Weile verfolgte er den Strom der vorbeirauschenden Autos. Dort ein alter, schmutziger VW Golf, der zu besseren Zeiten wohl mal weiß gewesen war und aussah, als könnte er jeden Moment auseinanderfallen. Dann Marken und Modelle, die er nicht kannte. Er kannte sich ohnehin nicht mit Autos aus, wie ihm auffiel. Dennoch blieb er stehen und schaute ihnen weiter nach. Nicht ein einziges Mal gelang es ihm, bei einem der Autos den Fahrer oder einen Beifahrer zu erblicken. Die Fahrzeuge schienen leer und wie von Geisterhand geführt.
    Plötzlich wurde ihm schlecht. Dazu gesellten sich ein leichtes Schwindelgefühl und leise pochende Kopfschmerzen. Er wunderte sich ein bisschen, dass dieses Unwohlsein gerade jetzt auftrat. Er schob es darauf, dass er sich nach unbekannt langer Zeit wieder richtig bewegt hatte und sein Körper dadurch sozusagen wieder aufgewacht war. Sein Rücken begann nun auch weh zu tun.
    Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass er rein gar nichts wusste, weder wo genau er hier war, noch warum er hier war.
    Wenn er auf sein sein Gedächtnis zurückgreifen wollte, war da eine Blockade, ein toter Punkt, der ihn daran hinderte, in Gedanken zu einem Zeitpunkt nahe vor seinem Erwachen auf diesem Rastplatz zurückzukehren. Auch daran, was er die letzten Wochen, ja vielleicht sogar Monate gemacht hatte, konnte er sich gar nicht oder nur schlecht und ganz verschwommen erinnern. Erst wenn er weiter in der Vergangenheit zurück ging, wurden die Bilder in seinem Kopf wieder klarer, zumindest halbwegs, denn jene Erinnerungen lagen schon wieder zu weit zurück. Abgesehen davon brachten sie ihn nicht weiter. Trotzdem ließ er weiter Szenen vor seinem inneren Auge erscheinen, an die er sich erinnern konnte, nur um das Gefühl, dass es noch funktionierte, zu testen und auszukosten.
    Auffällig lange haften blieb die Zeichnung eines Scavengers, mit Bleistift auf einem großen Blatt Papier, wie sie ordentlich auf einem wuchtigen Schreibtisch lag, dessen satter, dunkler Farbton ein wenig was von den Augen eben jenes Scavengers hatte. Warum er sich gerade daran erinnern konnte, war ihm ein Rätsel, aber er maß dem Ganzen keine besondere Bedeutung bei, da es aller Wahrscheinlichkeit schlicht keinen Grund dafür gab.
    Es war beruhigend für ihn, sein Gedächtnis nicht vollkommen verloren zu haben. Dennoch war diese Art von kleiner Amnesie etwas, was ihm innerlich zu schaffen machte, und jedes mal, wenn er diese mentale Blockade zu durchbrechen versuchte, war da etwas, was ihm fast körperlichen Schmerz bereitete. Außerdem fühlte es sich so an, als würde ihm oder in ihm etwas fehlen. Es war eine Art Stechen, das sich dann anbahnte, und irgendwann musste er immer ablassen. Mit Gewalt schien er dies alles nicht überwinden zu können. Trotzdem versuchte er es wider besseren Wissens ganz automatisch immer wieder. Der Verstand war nun einmal ein Wundergesell. Und etwas, was man nicht kontrollieren konnte, selbst wenn man sich das nur zu gern einbildete.

    Die Autobahn konnte ihn nicht länger ablenken, deshalb wandte er sich von ihr ab. Er wollte sich einen Überblick über das Gelände verschaffen.
    Abgesehen vom abgegrenzten Wald gab es noch ein paar Bäume, deren Kronen schützend über einigen Tischen und Bänken aus Holz wachten. Er ging auf sie zu und entdeckte auch noch ein paar Mülleimer, in denen Wespen im Sekundentakt ein und aus gingen. Peinlichst genau gab er darauf Acht, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Ein Wespenstich war etwas, was er jetzt gar nicht gebrauchen konnte.
    Da seine nasse Kleidung ihn langsam aber sicher zum Frieren brachte, blieb er nicht lange stehen. Obwohl er das Gefühl hatte, dass durch die Bewegung seine Kopfschmerzen schlimmer wurden, ging er zielstrebig an all den leeren Parklücken vorbei.
    Es war erstaunlich, doch so weit er es bis jetzt gesehen hatte, befand sich kein Auto auf dem Parkplatz, er schien tatsächlich der Einzige hier zu sein. Nur, dass auch er kein Auto dabei hatte. Er geriet nicht in Panik, aber Angst machte es ihm schon, nicht zu wissen, wie er überhaupt hier hin gekommen war und wie er wieder wegkommen sollte. Es half im Moment allerdings nichts, darüber nachzudenken, stattdessen wollte er irgendwie Anschluss finden, Kontakt mit der Polizei aufnehmen oder wenigstens einfach einen anderen Menschen treffen. Dann würde sich alles schon regeln lassen. Oder auch nicht.
    Jetzt begann seine Nase zu laufen. Er befühlte seine Hosentaschen von außen und griff dann herein. Sie waren leer. Er hatte nichts bei sich, rein gar nichts. Keine Taschentücher, kein Geld, nichts.
    Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken runter, der nicht vom Regen kam. Er fühlte sich nun hilflos. Seine Situation erinnerte ihn ein bisschen an die eines gestrandeten Schiffbrüchigen, der sich, alleine auf einer einsamen Insel gelandet, ohne jegliche Habseligkeiten, außer der Kleidung die er am Leibe trug, irgendwie durchschlagen musste.
    Es half alles nichts, er musste jetzt endlich einen Schutz vor dem Regen und der Kälte finden, sonst würde er sich noch den Tod holen, und trotz aller Misslichkeit seiner Lage hatte er darauf ganz bestimmt keine Lust. Dies war kein schöner Tag und auch kein schöner Ort zum Sterben.
    Bevor er die Situation noch mehr dramatisieren konnte, lenkte er seine Schritte den Weg entlang von den Bänken und Tischen weg.

    Nach etlichen Metern - der Rastplatz war erstaunlich groß - entdeckte er hinter ein paar Bäumen endlich etwas, was ihm wieder Hoffnung gab und sein Herz fast vor Freude hüpfen ließ. Dort lag ein weiterer Weg, der den Zugang - für Motorisiertes auch die Zufahrt – zu einem Gebäude bot, das ihm in seiner Lage gerade recht kam.
    Schniefend - denn seine Nase lief immer noch – besah er die alte, aber nicht baufällige Fassade des zweistöckigen, weißgrünen Hauses, das von einem schmutzigen Schild über der Eingangstür als NM-Hotel ausgewiesen wurde. Dort konnte er sicher jemanden fragen, ob er irgendetwas mitbekommen hatte, oder jemanden anrufen, oder zumindest erst einmal im Trockenen sein. Falls er nicht rausgeschmissen wurde, weil er ja gar kein Geld dabei hatte und so klitschnass und dreckig womöglich mehr als zwielichtig aussah.
    Für einen kurzen Moment zögerte er, doch seine Vernunft sagte ihm, dass er sowieso nirgendwo anders hinkonnte und ihm somit gar nichts anderes übrig blieb, als in das ruhig aussehende Hotel reinzugehen.
    Und mit dem Gedanken, ob man so eine Einrichtung wie diese denn nicht eigentlich Motel nannte, öffnete er mehr oder minder entschlossen die Tür und trat ein.
    Geändert von John Irenicus (08.05.2015 um 22:56 Uhr)

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Das erste was er wahrnahm, als er eintrat, war ein dichter Geruch. Er konnte nicht einmal genau sagen, wonach es roch, ob nach Holz, oder alten, staubigen Teppichen, ob es gemütlich oder doch nur muffig roch – aber es roch.
    Während sich er und das Wasser in seiner Kleidung langsam wieder aufwärmten – er wusste, in ein paar Stunden würde ihm diese wohlige Wärme des Hotels wie Hitze vorkommen – betrachtete er die eher kleine Eingangshalle.
    Es war wie in einem alten Film, nur nicht ganz so schwarzweiß. Eher braun, alles war braun, in gefühlt hunderten von verschiedenen Tönen und Schattierungen. Der Tresen hatte ein dunkles, edleres Braun und das Holz glänzte ein wenig, der Fußboden war wohl mal hell gewesen, erschien nun aber trüb und ausgelatscht, die Decke sah aus wie ein einziges Flickenmuster und selbst die Wände konnten mit einer nachlässigen, hölzernen Verkleidung in Braun aufwarten. Trotz allem war es irgendwie angenehm, dass alles aus Holz, und nicht etwa aus Stein war.
    Direkt geradeaus hinter dem Tresen ging es durch eine offene Tür in einen mittelgroßen Raum, in den man vom Eingangsbereich aber keinen allzu großen Einblick hatte. Lediglich übliche Dinge wie ein Tisch und ein paar Stühle, aber auch ein Kühlschrank waren zu erkennen. An diesem waren mit Magneten dutzende Zettel befestigt.
    Der blank geputzte Tresen schloss links mit der Wand ab, und darüber war an einer wackeligen Metallhalterung ein alter Röhrenfernseher angebracht, dessen Bildschirm ein wenig flimmerte. Trotzdem war nach wenigen Sekunden klar, was dort bei ausgeschaltetem Ton lief: Alte Folgen der Wunschbox mit Ingo Dubinski. Der interessant frisierte Kopf des Moderators war gerade verschwunden, da stimmten schon zwei ältere Herren in lächerlichen Matrosenkostümen ein Seemannslied an. Zumindest mutmaßlich, denn der Ton war ja nicht an. Mehr als die Stille störte dabei das eckige graue Symbol eines durchgestrichenen Lautsprechers, was dank der kruden Kameraführung mal auf den dicken Bäuchen oder den Schnauzbärten der Vortragenden, mal aber auch irgendwo auf den Zuschauerrängen, auf dem Bildschirm selbst aber immer in der rechten unteren Ecke klebte. Es nervte einfach, denn der Blick blieb daran haften, und alles was man hörte, war das ferne Ticken einer Uhr, die sich offensichtlich nicht im Eingangsbereich befand. Im Grunde war es aber auch egal: Wenn sich die Frage nach dem Wann lediglich auf die Uhrzeit beschränkt hätte, wäre ja sowieso alles nur halb so schlimm gewesen.
    „Das senden se da in letzter Zeit ständig… um halb kommen dann wieder die alten Folgen von Supergrips. Ich hoffe mal, meine Frau findet endlich die Fernbedienung von dem Teil wieder. Kann nur von Glück reden, dass der Ton schon aus war, als die verloren gegangen ist. Also, die Fernbedienung, nicht meine Frau. Die ist ja noch hier.“
    Das Auftauchen des bulligen Mannes hinter der Theke war so nicht vorhersehbar gewesen. Seine Weste war ein bemitleidenswerter Versuch zu verbergen, wie sich das weiße Hemd deutlich über seinen Bauch spannte. Auch sein Vollbart scheiterte daran, das Doppelkinn zu kaschieren.
    Die Überraschung war zu groß, um eine Erwiderung auf die Äußerungen des älteren Mannes zu finden, der offenbar Inhaber oder wenigstens Betreiber dieses Hotels war. Glücklicherweise war er selbst sehr redefreudig.
    „Aber gut, das interessiert dich wohl eher weniger, so nass wie du bist. Du willst ein Zimmer, nehme ich mal an? Freie Auswahl, mein Junge. Sonst ist keiner da. Also außer mir, meiner Frau und Theo, dem alten Schlawiner. Aber wir müssen ja schließlich hier sein.“
    Er ließ ein brummendes Lachen ertönen, bei dem sich seine Wampe rhythmisch auf und ab bewegte. Irgendwie war der Dicke in seiner Art ziemlich sympathisch, wenn auch ein wenig neben der Spur.
    „Kleiner Scherz am Rande“, begann er wieder, „Also, wie sieht es aus? Wie lange willst du bleiben? Nur eine Nacht, oder länger? Ist sogar Vollpension drin, meine Frau hat ja gerade Zeit. Und sie kocht gut, das kann ich dir sagen. Aber so wie du angezogen bist, bist du ja sicher Besseres gewohnt, was? Deine Sachen kannst du übrigens sofort hoch bringen, wenn du mir sagst, welches Zimmer du nimmst. Ich nehme mal an, ein Einbettzimmer? Dann isses nämlich eigentlich egal, die sind alle gleich. Nenn mir eine Zahl von 7-17, und du kriegst den Schlüssel. Alles weitere regeln wir dann, wenn du weniger nass bist.“
    „Äh… 17“, kam die Antwort, aber recht schnell noch der Zusatz: „Aber ich habe gar keine Sachen. Und leider auch kein Geld.“
    „Oh“, sagte der Dicke hinter dem Tresen knapp und zog die Augenbrauen hoch, als wollte er einen Wettstreit in Sachen Verblüffung beginnen.
    „Aber einen Namen, den wirst du doch wohl haben, oder?“
    Die Antwort auf so eine Frage musste schnell kommen. Da musste man eigentlich nicht überlegen, es sei denn, irgendetwas stimmte nicht. Dass die Beantwortung dieser simplen Frage schwer fiel, war ein Grund zur Beunruhigung. Das Kramen im Gedächtnis würde nichts mehr helfen, denn wenn man seinen Namen nach drei Sekunden nicht wusste, war es ohnehin zu spät. Aber irgendetwas musste man ja sagen, auch wenn es sich anfühlte, als sei es bloß ein fixer Einfall gewesen.
    „Laidoridas.“
    Geändert von John Irenicus (08.05.2015 um 22:56 Uhr)

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    „Laidoridas?“
    Die Kopfschmerzen pochten wieder mit seinem Herz um die Wette, aber das Schwindelgefühl blieb wenigstens aus.
    „Ähm… ja.“
    „Ist das jetzt dein Vorname oder dein Nachname?“
    Gute Frage, befand Laidoridas und wusste selbst nicht so recht, wie er das handhaben sollte.
    „Eher ein Vorname“, meinte er vorsichtig und hätte nicht gedacht, dass die Augenbrauen seines Gegenübers tatsächlich noch ein Stück höher rutschen konnten.
    „Eher ein Vorname…“, wiederholte der Dicke murmelnd. „Naja…gut. Ich nenne dich dann einfach mal Laido, wenn’s denn recht ist. Ich bin übrigens Gerd.“
    „Hallo, Gerd“, sagte Laido einigermaßen entschlossen und nickte dem Hotelbetreiber vorsichtig zu.
    Mit jedem anderen wäre an dieser Stelle lähmendes Schweigen eingetreten. Laido war eigentlich ganz froh darüber, dass der redselige Hotelier das Steuer fest in die Hand nahm – wenn nur seine Fragen nicht so ungewollt fies gewesen wären.
    „Wo kommst du denn her und wo willst du hin, wenn du weder Sachen noch Geld dabei hast?“
    Laido kratzte sich verlegen am Kopf. Die einfachsten Fragen konnten immer die schwierigsten werden, wenn der Moment gerade nicht passte.
    „Ich… die Sache ist… kompliziert, also, das ist eine lange Geschichte, aber eigentlich auch nicht…“
    „Weißt du was?“, fragte Gerd, und wenn die Situation nicht so unangenehm gewesen wäre, hätte Laido über diese ziemlich berechtigte Frage geschmunzelt.
    „Du setzt dich jetzt erst einmal da drüben hin, direkt an die Heizung, und bekommst etwas zu Essen. Das geht dann aufs Haus. Also erst einmal. Dann sehen wir weiter. Kann ja nicht angehen, dass du hier die ganze Zeit herumstehen musst. Allein schon, weil meine Frau meckert, wenn jemand hier den Tresenbereich volltropft. Du musst dich doch sowieso erstmal akklimatisieren, was? Also bitte, da geht’s lang.“
    Gerd kam am rechten Ende um den Tresen herum und stapfte voran, zuerst an Laido, dann an dem Treppenaufgang vorbei, der zur Hälfte die Sicht in den Raum versperrt hatte, der wohl der Gaststättenbereich oder Speisesaal war.
    Obwohl der große Raum viel mehr Luft zum Atmen bot, war es unverändert warm. Laido ließ sich von Gerd an einen Tisch in der Ecke setzen. Er nahm statt auf einem der Stühle auf der Sitzbank Platz und hatte nun den bollernden Heizkörper im Rücken. Das metallene Geräusch, welches dieser gefühlt alle zwei Sekunden von sich gab, überlagerte sich mit dem leisen Wummern in Laidos Kopf.
    „Karte liegt da auf’m Tisch“, raunte Gerd. „Soll ich dir schon was zu trinken bringen? Was Warmes vielleicht?“
    Obwohl es Laido nicht gerade kalt war, nickte er knapp.
    „Vielleicht einen Kakao, wenn es ginge?“
    „Jo, kommt sofort. Such dir dann mal was zu essen aus.“
    Gerd machte sich davon, nicht etwa den Weg zurück zum Tresen, sondern durch eine Tür am gegenüberliegenden Ende des Raumes, die in einen eher dunklen Flur führte. Dort bog er nach wenigen Schritten rechts ein und war verschwunden.
    Gerd hielt alles angenehm unkompliziert, trotzdem war es Laido nicht wohl bei der Sache. Immerhin sah er keine Chance, das alles zu bezahlen. Aber es half nichts, er musste es einfach auf sich zukommen lassen. Er hoffte nur, dass er es sich mit dem Geständnis, überhaupt nichts zu wissen und schon gar nicht, wie er an Geld kommen sollte und warum er überhaupt hier war, mit Gerd nicht verscherzte. Der Hotelbetreiber schien ein freundlicher Mensch zu sein, aber sicher niemand, dem man krumm kommen sollte.
    Langsam klappte Laido die Speisekarte auf, die ihm Gerd, kurz bevor er ihn zurückgelassen hatte, quasi unbemerkt noch entgegengeschoben hatte. Sie war in schwarzes Kunstleder gebunden – immerhin nicht braun – und knackte ein wenig beim Aufklappen. Sie sah zwar alt, aber keineswegs abgegriffen aus.
    Die Gerichte wichen nicht wirklich ab von dem, was Laido als Standard bezeichnet hätte. Hier das Schweineschnitzel mit Pommes, dort das Rindersteak mit Salzkartoffeln oder wahlweise sogar Röstis. Alles nicht sein Fall. Als er die laminierten Seiten umblätterte, bemerkte er rasch, dass bei den Getränken der Kakao gar nicht auf der Karte stand. Ganz hinten, unter der Überschrift „Desserts“, befand sich nur ein Gericht, was schlicht den Namen „Dessert“ trug und mit der Nummer 49 ausgewiesen war. Laido nahm auch davon Abstand, weil er dem Hotelpersonal – oder wer auch immer das Essen zubereitete – nicht zu viele Umstände machen wollte, wenn er schon nicht in der Lage war, ordnungsgemäß zu zahlen.
    Zurück bei den Hauptgerichten war er deswegen fast schon geneigt, sich einen Kinderteller zu bestellen, auch, weil er keinen sonderlich großen Hunger verspürte – schon gar nicht auf Fleisch. Angesichts eines kernigen Kerls wie Gerd wollte er aber nicht wie ein Waschlappen wirken, auch wenn es in dieser Hinsicht vielleicht ohnehin schon zu spät war.
    Da Gerds Bauch getreu recht viel Deftiges und auch viel mit Fleisch auf der Karte stand, blieben für Laido nur noch Spinatspätzle, und das dann ohne die Speckwürfel. Ja, so würde er es machen. Die Nummer 14, direkt unter der Nummer 13, der Grillplatte nach Gorn-Art. Immerhin ein recht günstiger Preis, und… Laido stutzte und wollte sich noch einmal genau die Nummer 13 begucken, doch da kam auch schon Gerd mit dem Kakao zurück.
    „So, bitte sehr. Aufpassen, is’ heiß.“
    „Danke“, meinte Laido aufrichtig, und nahm die in der Tat ziemlich heiße Tasse vorsichtig entgegen.
    „Und, was darf es sein?“
    Laido überlegte, ob er vielleicht doch gar nichts bestellen sollte. Die Sache mit der Bezahlung lag ihm schwer im Magen. Andererseits: Was hatte er schon zu verlieren? Und wenn wirklich Not am Mann sein sollte, konnte er die Schulden vielleicht abarbeiten, durch Putzen oder irgendetwas, was er im Haus machen konnte. Er wollte Gerd schließlich nicht enttäuschen oder so wirken, als nutzte er seine Freundlichkeit bloß aus. Wie es weitergehen sollte, das wusste er ja schließlich selbst nicht.
    „Nummer 14, also, äh… die Spinatspätzle. Aber ohne die Speckwürfel bitte.“
    Gerd machte dankenswerter Weise keine große Sache daraus, was Laido ein wenig beruhigte.
    „Alles klar“, sagte er in seiner Funktion als Bedienung nur knapp, und ging, nicht ohne die Speisekarte mitzunehmen, wieder von dannen.
    Die Sache mit der Nummer 13 ließ Laido trotzdem nicht ganz los.
    Geändert von John Irenicus (08.05.2015 um 22:56 Uhr)

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    Nervös trommelten seine Fingerkuppen auf dem Tisch herum und legten sich immer mal wieder um die Tasse vor ihm. Mittlerweile war sie leer. Jetzt, nach einiger Zeit im Trockenen und mit heißem Kakao im Magen, wurde ihm tatsächlich ziemlich warm, weshalb es ihm schwer fiel, sich zu konzentrieren – noch schwerer als ohnehin schon.
    Was ihn, die nahe Vergangenheit und seinen seltsamen Verbleib hier anging, hatte Laido die inneren Anstrengungen der Lösung des Ganzen endlich auf die Spur zu kommen, vorerst aufgegeben. Es hatte ja doch keinen Zweck – diese fiesen, unsichtbaren Wände in seinen Erinnerungen blieben. Aber diese Nummer 13… wenn Laido richtig gelesen hatte, stand in der Speisekarte wirklich etwas von „Gorn“. Ein ziemlich ungewöhnlicher Name, die erste Person die Laido damit in Verbindung brachte war…
    Ein schwaches Poltern lenkte Laidos Aufmerksamkeit auf die gegenüberliegende Tür, aus der nur Sekunden später Gerd erschien, bewaffnet mit einem Holztablett. Der Teller, der darauf lag, befand sich am Rande der Überfüllung. Entweder, die Küche arbeitete sehr schnell, oder sie wärmte bloß auf. Oder Laido hatte schon mehr Zeit mit Warten und vor sich hin Glühen verbracht, als ihm bewusst war.
    Die Tasse schob er jetzt ein Stück zur Seite, damit Gerd Teller und Besteck bequem auf dem Tisch ablegen konnte.
    „Sind ein bisschen blass geworden“, brummte er, „macht aber nichts, die schmecken. Das kann ich dir aus eigener Erfahrung sagen. Auch, wenn es ohne Speck nach viel zu wenig aussieht. Du kannst dich ja nochmal melden, wenn es nicht reicht.“
    Skeptisch besah sich Laido mit einem Blick nach unten den aufgetürmten Spätzleberg. Er konnte froh sein, wenn er die Hälfte davon schaffte.
    Als er wieder aufblickte, hatte Gerd schon die leere Tasse in die Hand genommen. Gastwirte hatten einfach diesen speziellen Sinn dafür zu erkennen, wann jemand ausgetrunken hatte.
    „Möchtest du noch etwas trinken?“
    Laido musste nicht lange überlegen.
    „Nein danke“, antworte er, denn er befand es für besser, die Gastfreundschaft Gerds nicht zu sehr zu strapazieren.
    „Okay, aber wenn du noch was brauchst, dann ruf mich einfach, ja? Alles kein Problem.“
    Sprach’s und verschwand wieder im anderen Raum, wo er von der Dunkelheit des Flures verschluckt wurde.
    Alles kein Problem – ja, wenn es denn doch nur so gewesen wäre. Es war unangenehm, dass Gerd alles so locker sah. Laido fürchtete, ihn letzten Endes zu enttäuschen. Immerhin vertraute der Wirt ihm und schien gar nicht richtig wahrgenommen zu haben, dass er vorerst kein Geld von ihm zu erwarten hatte.
    Da Laido drohte der Appetit vollends zu vergehen, als er wieder nach seinen Erinnerungen prockelte, beschloss er, erst einmal nicht weiter nachzudenken sondern einfach mal etwas zu essen. Gerd hatte schon Recht, vermutlich musste er sich erst einmal akklimatisieren – auch wenn das irgendwie ein ziemlich dämlicher Ausdruck war.

    Es dauerte nicht lange, da bereute Laido schon, nicht um ein Glas Wasser gebeten zu haben – die Spinatspätzle waren ziemlich trocken und wurden gefühlt immer mehr in seinem Mund. Er kam sich vor, als würde er versuchen, kleinen Hydras die Köpfe abzubeißen. Ein Kampf, den er nicht gewinnen konnte. Beim Schlucken stopfte es beinahe seinen Hals zu, die Spätzle fühlten sich mehr wie aus Lehm als tatsächlich aus Teig an.
    Eigentlich war er jetzt schon satt. Aufessen wollte er trotzdem, allein um Gerd nicht zu enttäuschen. Jetzt aber begann das Ringen in ihm, das Ringen mit sich selbst: Sollte er nach einem Glas Wasser fragen, oder nicht? Kam das nicht ziemlich dämlich rüber, wenn er jetzt plötzlich doch noch was trinken wollte? Andererseits, so dachte er sich, hatte Gerd ja ausdrücklich gesagt, er solle ihn rufen, wenn er noch etwas bräuchte.
    Dieses Ringen mit sich selbst kannte Laido nur zu gut. Nicht nur von einmal, zweimal oder mehreren Situationen. Im Grunde bestimmte dieser Ringkampf sein ganzes Leben. Zu jeder noch so harmlosen Gelegenheit brandete er wieder auf und beschäftige ihn, oft nahm er gar kein Ende und währte sogar mehrere Tage, manchmal war er aber auch bloß kurz und heftig, was nicht weniger anstrengend war. Genau so lief es bei dieser Sache mit dem Glas Wasser anscheinend auch.
    Von der Art und vom Gefühl her erinnerte es Laido an den 60. Geburtstag seiner Tante, zu dem ihn seine Eltern damals mitgenommen hatten. Es war nur wenige Wochen nach der Einschulung gewesen, und er hatte am meisten Angst davor gehabt, dass ihn seine Tante – Cordula hieß sie – mit all zu vielen Fragen über die Schule und all das Neue komplett überforderte. Sie war immer sehr einnehmend gewesen, und für Laido gleichzeitig sehr einschüchternd. Ihr uraltes Aussehen tat das Übrige. In ihrer Nähe sprach er am liebsten überhaupt nicht.
    Genau diese Gefühle hatten damals in der einen Ecke des Rings gestanden. In der Ecke gegenüber hingegen stand ein einsames Stück Schokoladentorte, für das sich außer Laido keiner mehr wirklich interessiert hatte. Deshalb wäre es für so ziemlich jeden kein Problem gewesen, am Tisch in geselliger Runde freundlich zu fragen, ob man ihm dieses Stück denn rüberreichen könnte – wäre es eben nicht Cordula gewesen, die dem Tortenstück am nächsten saß. Genau so hatte dann der innere Ringkampf in Laido begonnen, wegen einer totalen Nichtigkeit. Aber er hatte sich einfach nicht getraut nach dem Tortenstück zu fragen, weil diese diffuse Angst vor der eigentlich ganz netten Tante Cordula da einiges gegen hatte. Die Hin- und Hergerissenheit hatte sein Herz so kräftig pochen lassen, dass ihm geradezu schwindelig geworden war. Der innere Ringkampf war dann aber nach kurzer Zeit entschieden worden – von außerhalb. Genauer gesagt von Onkel Gernot, der sich mit lang gestrecktem Arm das letzte Tortenstück gesichert hatte und damit dem Ringen ein unrühmliches Ende gemacht hatte. Einerseits war Laido froh gewesen, dass ihm die Entscheidung abgenommen worden war, andererseits hatte er damals schon genau gewusst, dass mit dieser Lebenseinstellung in Zukunft kein Blumentopf zu gewinnen war. Er musste lernen, sich zu entscheiden, sonst…
    „Macht es dir was aus, wenn ich mich zu dir setze?“
    Geändert von John Irenicus (08.05.2015 um 22:57 Uhr)

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    Laido war von dem Kampf mit den Spätzle derart eingenommen gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie sich eine junge Frau seinem Tisch genähert hatte. Sie stand nun direkt vor ihm, ihre schlanken Hände auf die Rückenlehne des Stuhls an der gegenüberliegenden Tischseite gestützt, und lächelte ihn an. Sie war in etwa in seinem Alter, vermutlich ein paar Jahre jünger, sodass sie vor allem ältere Herren noch „Mädchen“ gerufen hätten. Das sollte Laido jedenfalls nicht passieren, auch wenn er sich seit jeher unsicher war, wie er Personen des weiblichen Geschlechts um dieses Alter denn nennen mochte. „Mädchen“ klang verniedlichend und wie, als nähme man die betreffende Person nicht ernst, „Frau“ hingegen machte aus ihnen alternde Mutterfiguren.
    „Äh, nee, natürlich nicht! Also ich meine, setz dich ruhig!“
    „Prima!“
    Gesagt, getan, hatte sie sich auf dem Stuhl niedergelassen. Ihre schwarzen Locken fielen ihr ins Gesicht. Sie wischte sie nachlässig weg, bevor sie Laido die Hand zur Begrüßung ausstreckte.
    „Ich bin Melanie“, sagte sie, und Laido ergriff kurz ihre Hand. Sie war ziemlich kalt.
    „Ich bin Laidoridas“, brachte er nach etwas zu langem Zögern heraus, als sich ihre Hände schon längst wieder getrennt hatten. Er würde sich noch daran gewöhnen müssen, diesen Silbensalat als seinen Namen auszugeben.
    „Du kannst mich aber ruhig Laido nennen“, fügte er deshalb schnell hinzu. An der Reaktion Melanies erkannte er, dass es seinem ausgedachten Namen – wenn er denn überhaupt ausgedacht war, aber wer hieß schon so – den Hauch der Exotik nicht zu rauben vermochte.
    „Laidoridas...“, sinnierte Melanie und schürzte ihre Lippen. Laido wurde es ein wenig unwohl, denn sie war hübsch. Sehr hübsch.
    „Das ist ein seltener Name. Also, zumindest ich habe ihn noch nicht gehört. Wo kommt er her?“
    Wenn Laido das gewusst hätte, dann wäre er schon einen großen Schritt, vielleicht sogar zwei Schritte weiter gewesen. Er hatte keine Ahnung, was er darauf antworten sollte. In diesem Moment hoffte er, dass die Schweißperlen, die er an seinen Schläfen fühlte, unsichtbar blieben.
    „Tja, äh... da muss man wohl meine Eltern fragen!“, antwortete er mit dem Besten, was ihm gerade so einfiel. Er sandte noch ein kurzes Lachen hinterher, wollte sich aber ob seiner Dummheit lieber auf die Zunge beißen. Die nächste Nachfrage war vorprogrammiert, und vor ihr würde es kein Ausweichen mehr geben.
    „Hast du denn deine Eltern nie danach gefragt?“, antwortete Melanie, nun auch mit einem Lachen. Ihre helle Haut hob sich von den ganzen Brauntönen rund um sie beide herum deutlich ab. Sie schien fast zu strahlen – aber eben auch nur fast. Dass Laido sich ganz und gar bezaubert fühlte, konnte er aber schlecht leugnen.
    „Naja... meine Eltern sind...“
    „Also, wenn du nicht darüber sprechen möchtest, ich mein ja nur, ich war nur neugierig...“
    „Nee, nee nee! Also, das ist jetzt keine große Sache! Ich bin in keiner Sekte oder so!“
    Er lachte, aber es wirkte weniger natürlich, als er es sich erhofft hatte. Zumal er sich ja überhaupt nicht sicher sein konnte, in keiner Sekte zu sein. Ein paar Wochen oder Monate reichten ja schließlich locker aus, um einen Sekteneintritt samt Austritt aus selbiger durchzubringen. Wer weiß, vielleicht war Laidoridas tatsächlich sein Gemeinschaftsname gewesen, mit dem sein Gehirn so durchgewaschen worden war, dass nicht einmal seine Amnesie ihn auszulöschen vermocht hatte. Und auf diesem Autobahnrastplatz war er sicher von ihnen ausgesetzt worden, weil er unehrenhaft herausgeworfen...
    „Na, da bin ich ja beruhigt“, lachte Melanie. „War also einfach nur ein kleiner Spleen deiner Eltern?“
    „Äh, ja... so kann man das wohl sagen!“, bestätigte Laido, und war froh, dass Melanie ihm die Antwort zumindest zum Teil abgenommen hatte und offenbar auch nicht weiter nachbohren wollte.
    „Ist aber ein schöner Name! Mein Vater hat mir ja immer gesagt, er wollte mich eigentlich Astrid nennen, aber meine Mutter war dagegen. Astrid! Das klingt so nach... Holz. Oder wie die Lindgren.“
    „Och, naja, wär aber doch auch okay gewesen. Melanie ist aber wahrscheinlich schon besser, ja!“
    Sie unterhielten sich über Namen, obwohl Laido selbst sich an seinen eigenen – richtigen – Namen nicht einmal erinnern konnte. Bei seinem Glück unterhielten sie sich als nächstes wahrscheinlich noch über Geld. Oder über...
    „Und, was hat dich hierhin verschlagen, wenn ich mal so fragen darf?“
    Da Laido ohnehin nicht groß darüber nachdenken konnte, was er antworten sollte, und schon gar nicht darüber, was die Wahrheit gewesen wäre, ließ er sich einfach reden. Wenn er einmal redete, dann lief es schon irgendwie.
    „Tja... ich bin sozusagen... auf der Durchreise. Wie man so schön sagt.“
    „So siehst du auch aus... also, so ein bisschen businessmäßig.“
    „Findest du?“
    „Ist ja nichts Schlimmes! Ich glaube, ich sehe dir auch ein bisschen an, dass du sowas nicht unbedingt jeden Tag anhast. Und ausgerechnet dann muss es auch noch regnen, was? Hast du dein Jackett schon zum Trocknen über die Heizung gelegt? Wenn die Dinger zu lange nass sind... also ich habe ja mal so nebenjobsmäßig bei einem Museum in der Garderobe ausgeholfen, und ich kann dir sagen: Nasser Hund ist da stellenweise noch schmeichelhaft!“
    Sie lachte wieder, und sie war dabei so nett und so zauberhaft, dass Laido ihr gar nicht böse sein konnte, dass sie ihn mit ihren scheinbar harmlosen Nachfragen immer weiter in die Bredouille brachte. Warum nur, fragte er sich, warum nur musste er gerade an dem Tag, an dem er so eine nette Person traf, in einer derart schlimmen Lage sein?
    „Ich, äh... ja, ich weiß, aber ich habe zum Glück gar kein Jackett dabei. Nur die Hose und das Hemd. Ich finde, das reicht auch. Normalerweise ist's um diese Jahreszeit ja oft auch recht warm, da muss ich nicht noch so etwas drüberziehen.“
    „Achso... na dann.“
    Melanie strich sich nun eine Haarsträhne hinter das Ohr. Laido sah in ihrem Blick, dass sie ihn für einen merkwürdigen Typen hielt. Schlimm fand er nur, dass sie mit dem Eindruck richtiger lag, als ihr wahrscheinlich selbst klar war.
    Sie schwiegen eine Weile, und Laido fragte sich, warum Melanie sich überhaupt zu ihm an den Tisch gesetzt hatte. Ja, er war zwar außer ihr die einzige Person hier – aber er selbst hätte sich ganz bestimmt nicht zu ihr an den Tisch gesetzt, in so einer Situation doch erst recht nicht. Um das Schweigen zu durchbrechen und Melanies Motivation ein Stück auf die Spur zu kommen, ließ Laido nun endgültig von den Spinatspätzle ab.
    „Und was ist mit dir?“
    „Hm? Was meinst du?“
    Sie hatte ihr Kinn auf den Arm gestützt und war offenbar zwischenzeitlich in Gedanken versunken.
    „Ich meine... was dich hierhin verschlagen hat. Wir scheinen ja die einzigen Gäste hier zu sein. Dabei ist's doch eigentlich... ganz schön hier.“
    „Ach... so meinst du das. Naja, da muss ich dich korrigieren!“
    „Wieso?“
    „Du bist der einzige Gast hier! Ich bin nämlich genau genommen gar kein Gast. Ich bin die Tochter von Theo.“
    Aus Verlegenheit wollte Laido seine Tasse ergreifen und daran nippen, obwohl er seinen Kakao schon vor einer ganzen Weile längst ausgetrunken hatte – und, wie er nun bemerkte, obwohl seine Tasse längst gar nicht mehr da war, weil Gerd sie längst abgeräumt hatte. Laidos Griff ging daher ins Leere; er federte die Merkwürdigkeit seiner Geste ab, indem er vorgab, sich auf einmal dringend in der Handfläche kratzen zu müssen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er auf Melanie einen ziemlich blöden Eindruck machen musste.
    „Ich bin gerade erst hier angekommen... deswegen weiß ich jetzt nicht so ganz, wer Theo ist. Der Gastwirt heißt doch Gerd, dachte ich.“
    „Theo ist der andere Gastwirt. Du hast ihn vermutlich noch nicht gesehen, weil er in den letzten Jahren ein bisschen scheu geworden ist. Er ist jedenfalls mein Vater. Und ich bin hier, um... naja, um ein bisschen nach ihm zu sehen, oder so. Und auszuhelfen, hier und da.“
    „Nett von dir.“
    „Naja, seit meine Mutter gestorben ist... da will ich ihm einfach ein bisschen zur Hand gehen.“
    „Oh... das, das tut mir leid.“
    Melanie lächelte milde. Es schien ihr unangenehm zu sein, dieses Thema überhaupt aufgeworfen zu haben. Laido hingegen sah die Schuld ganz bei sich selbst.
    „Muss dir nicht leid tun. Immerhin... sie war schon lange sehr krank, da war es... naja, man darf so etwas ja kaum sagen, aber ich sage, wie es ist: Es war schon eine Belastung für uns alle. Und da der Tod eh unausweichlich war...“
    Laido brummte zustimmend, war sich innerlich aber gar nicht so sicher, ob die von Melanie geschilderten Umstände die ganze Sache wirklich besser machten. Er kam sich irgendwie unsensibel vor, auch wenn er nicht wusste, was er anderes hätte sagen oder tun sollen. Deshalb sagte er nun stattdessen einfach nichts und beobachtete schweigend, wie Melanie an einer Haarlocke herumspielte, während sie einige Handbreit rechts von Laido an die holzvertäfelte Wand sah, als würde sie dort etwas suchen. Dann, mit einem Mal – Laido schaffte es nicht einmal mehr rechtzeitig, seinen beobachtenden Blick vor ihr zu verstecken – sah sie ihn wieder an und grinste.
    „Bist du mit den Spätzle fertig? Viel zu große Portion, ne?“
    „Ja, also, ich bin pappsatt, und den Rest schaffe ich beim besten Willen nicht mehr. Haben aber geschmeckt.“
    „Ja? Na dann. Ich finde sie meist ein wenig zu trocken.“
    „Hm.“
    „Magst du denn noch ein Dessert?“
    „Oh, nein danke, ich bin wirklich total satt“, winkte Laido ab, erzählte dabei aber nur die halbe Wahrheit, denn vornehmlich wollte er wegen mangelnder Zahlungsfähigkeit nicht noch mehr Essen verschlingen. Und dass er Melanie nichts davon erzählen wollte, dass er hier quasi auf Hauskosten schnorrte, das war für ihn sonnenklar.
    „Aber ein bisschen Platz ist da doch immer“, versuchte Melanie es noch einmal und funkelte mit den Augen, als malte sie sich gerade einen kunstvoll gestalteten Eisbecher, ein riesengroßes Stück Schokoladentorte, schön gezuckerte Waffeln mit heißen Kirschen oder was auch immer aus, was hier als Dessert serviert wurde.
    „Nichts zu machen“, beschloss Laido aller Verlockung zum Trotz. Die Spätzle lagen ihm nun wirklich schon mehr als schwer genug im Magen.
    „Schade“, kommentierte Melanie, und Laido glaubte tatsächlich, einen Hauch von Enttäuschung in ihrem Gesicht zu erahnen. Die Hände hatte sie in ihren Schoß sinken lassen. Kurze Zeit später aber fing sie wieder an, mit ihren Haaren herumzuspielen. Sie wirkte so unruhig wie Laido sich fühlte.
    „Vielleicht ein andermal“, versprach Laido ins Blaue hinein. Wenn alles gut ging, würde er dieses Versprechen ja entweder mit der nötigen Zahlungskraft oder gar nicht mehr einlösen müssen, wenn er seine Angelegenheiten endlich geregelt hätte. Seine Angelegenheiten. Er dachte jetzt schon wie so ein Businesstyp, für den Melanie ihn hielt. Aber er war doch gar kein Businesstyp. Oder? Aber wer war er denn dann? Mit Erschrecken stellte Laido fest, dass er nicht wusste, was er machte. Außer hier zu sitzen und darüber nachzudenken, was er sonst machte. Aber was er sonst machte, das war von dieser inneren Barriere geschützt, die seine Erinnerungen teuflisch blitzend umkuppelte. Er konnte sich an seine Schule, an sein Gymnasium erinnern. Aber dann? Hatte er studiert, eine Ausbildung gemacht? So lange konnte es doch nicht her sein, vielleicht steckte er sogar noch mittendrin? An vieles Vergangenes aus den Jahren, in die auch diese Schritte seines Lebens fallen mussten, konnte er sich erinnern. Nur nicht daran, was sein Beruf, seine Beschäftigung war. Vielleicht war er ja tatsächlich ein Geschäftsmann? Laido hoffte, dass Melanie in nächster Zeit nicht genauer darauf zu sprechen kommen würde. Andererseits: Was man so machte, darüber würde früher oder später immer zu reden sein. Laido stellten sich bei dem Gedanken die Härchen an den Armen auf.
    „Kann ich dir denn noch etwas zu trinken bringen?“
    „Äh... öh...“, arbeitete sich Laido wieder ins Gespräch hinein, „neenee... das ist erst einmal nicht nötig. Ich will eure Gastfreundschaft ja nicht überstrapazieren!“
    Er sagte dies mit einem kleinen Grinsen und hoffte, dass es halberlei korrekt ankam. Es steckte jedenfalls mehr Wahrheit in diesem Satz, als Melanie ahnen konnte.
    „Also, so schnell ist die aber auch nicht überstrapaziert“, lachte Melanie. „Wir sind immerhin ein Hotel!“
    „Äh, ja... so meinte ich das natürlich nicht. Aber trotzdem! Ich brauche im Moment nichts, danke.“
    „Naja, aber ein Zimmer, das brauchst du doch wohl noch, oder? Hat Gerd dir schon eins gegeben?“
    „Nee, er meinte, ich solle erstmal was essen und...“
    „Das hast du ja jetzt gemacht.“
    „Ja.“
    Ein Schweigen entstand. Ein bisschen fühlte sich Laido gegenüber Melanie so, wie bei einer Prüfung. Ob sie ihn testete? Aber worauf? Vermutlich, so fürchtete er, hatte sie schon längst gemerkt, dass mit ihm irgendetwas nicht in Ordnung war. So ausweichend, wie er während ihres Gesprächs hatte antworten müssen, war das auch kein Wunder. Melanie hatte ihm frei heraus von ihrem Vater und ihrer verstorbenen Mutter erzählt, und er selbst war gerade einmal mit einem geradezu offensichtlich ausgedachten Fantasienamen und irgendwelchen blöden Jackettgeschichten dahergekommen. Kein Wunder also, wenn Melanie ihm nicht traute.
    „Dann kann ich das jetzt mal machen“, regte Laido unentschlossen an.
    „Prima! Mach dir mit dem Tisch hier mal keine Umstände, ich räume ab und bringe es zurück in die Küche. Geh du einfach nur zu Gerd. Ich mach das hier schon.“
    „Okay“, sagte Laidoridas, versuchte noch Melanie das Besteck etwas passender zum Tragen auf den Teller zu rücken, bekam es irgendwie nicht richtig hin, zwängte sich dann zu seinem Überdruss äußerst ungelenk aus der Sitzecke hinaus und musste dabei auch noch warten, bis Melanie ihm etwas Platz machte. Sie lächelte und zwinkerte ihm noch einmal zu, dann verschwand sie in den hinteren Raum mit dem Kühlschrank.
    Laido hingegen stapfte, etwas schwindelig im Kopf und in den Beinen, zurück zum Tresen. Gerd stand dort wie unverändert, bereit, jeden plötzlich eintretenden Gast sofort in Empfang zu nehmen. Im Fernsehen ging gerade irgendeine Zoosendung zu Ende. Gerd gähnte.
    „Ganz so toll ist's ohne Ton dann doch nicht“, kommentierte er, als er Laido herannahen sah. „Aber naja, um diesen Tiermist ist's nicht schade. Supergrips ist schon durch. Und jetzt dieser ganzen Löwenkram da. Pinguin, Krokodil & Co. Oder wie heißt das alles?“
    „Ja, irgendwie sowas. Zebra, Erdmännchen & Co. Keine Ahnung. Da gibt’s echt tausende Sachen von.“
    „Erdmännchen, die sind gut“, lachte Gerd. Er wirkte ein bisschen neben der Spur. Laido war das nur recht, denn dann fiel es dem Wirt vielleicht nicht so auf, wie sehr wiederum sein Kunde selbst neben der Spur war.
    „Was gibt’s denn?“
    „Äh, achja, ja, äh, der Schlüssel! Ein Zimmer hatte ich mir schon ausgesucht, meine ich... siebzehn. Ich nehme aber auch gerne ein anderes, wenn das nicht mehr frei ist.“
    „Na, du bist ja ein Scherzkeks, als einziger Gast hier!“
    Gerd wandte sich um und angelte sich den richtigen Schlüssel vom Schlüsselbrett hinter ihm, um ihn Laido in die geöffnete Hand fallen zu lassen.
    „Dein Gepäck werde ich dir natürlich hochtragen, das ist ja klar.“
    Laido wurde kurz von einer Hitzewallung umarmt. Das Thema Gepäck lag ihm zurzeit nicht. Das Thema Geld auch nicht. Überhaupt musste er wohl lange suchen, um ein Gesprächsthema zu finden, was ihm nicht in irgendeiner Art und Weise unangenehm war. Heute wurde wohl nichts mehr angenehm.
    „Ich... ich hatte doch gar kein...“
    „Weiß ich doch!“, lachte Gerd und ließ seine Pranke etwas zu feste auf den Tresen knallen. „Eben drum!“
    „Achso, ja, da bietet man das gerne an, ne?“, lachte Laido etwas verlegen mit. Gerd war wohl selber der Scherzkeks, und er wirkte in der Tat sehr lustig. Nur war heute einfach der falsche Tag dafür. Wer wusste schon, ob Laido sich am Vortag nicht noch darüber kaputtgelacht hätte. Vermutlich nicht – aber wie gesagt, wer wusste es schon?
    „Die Treppe rauf und dann ganz am Ende auf der linken Seite. Wirste schon finden.“
    „Denke ich auch. Ansonsten packe ich meinen Kompass aus!“
    „Du hast 'nen Kompass dabei?“
    Laido schalt sich selbst. Was für ein blödes Gelaber. So etwas passierte schon einmal, wenn er nervös war, aber das hier... nein, es war wirklich nicht der Tag für tolle Witze. Ganz und gar nicht.
    „Nein... das... das hab ich jetzt nur so gesagt.“
    „Achso.“
    „Ja... ja, dann gehe ich mal hoch! Vielen Dank! Ich werde dann mal schauen, wie ich das mit dem Ge...“
    „Jo, geh nur hoch! Wie gesagt, letztes Zimmer auf der linken Seite!“
    Und weil Laido keinen weiteren Sinn mehr im Gespräch sah, bedankte er sich nur noch einmal und stieg dann Schritt für Schritt die knarzende Holzdecke hoch, indem er sich an dem breiten, etwas klebrigen Geländer hochzog. Die ganzen Leute hatten ihn erschöpft – selbst wenn es nur zwei waren. Aber das reichte erst einmal.
    Der Treppenaufstieg erinnerte ihn ein wenig an den Dachboden von zu Hause. Keine waghalsige Luke, sondern eine eigene Treppe im Treppenhaus führte auf ihn hoch. Groß wie ein Ballsaal, meist vollbehangen mit trocknender Wäsche, die den Geruch von Waschpulver aussandte, der sich mit dem eigenartigen Duft von Leim vermischt hatte – wo immer dieser auch immer hergekommen sein mochte. Unheimlich war es gewesen, all die hängenden Hemden und Laken und manchmal auch Mäntel, und je weißer sie gewesen waren, desto mehr hatten sie Laido an Gespenster erinnert. Ein bisschen etwas von diesem Gefühl und auch diesen Gerüchen schnappte Laido genau an der drittletzten Treppenstufe auf, aber kaum war er einen Schritt weiter, waren sie auch schon wieder verflogen.
    Der Teppich im Korridor war kaum noch ein Teppich, sondern eher grüner Filz, wie man ihn auf Billardtischen entdeckte, auch wenn Laido schon seit jeher den Verdacht geschöpft hatte, dass das auf den Billardtischen ja wohl schlecht wirklich Filz sein konnte, wenn man denn Wert darauf legte, vernünftig spielen zu wollen. So genau kannte er sich da allerdings auch nicht aus.
    Links und rechts reihten sich in gewissem Abstand mehrere, vollkommen gleich aussehende, im immergleichen braunen Holzton erscheinende Zimmertüren aneinander. Laido zählte nicht, musste das aber auch nicht tun, um zu erkennen, dass er nicht auf eine Anzahl von Siebzehn Stück kam. Dennoch fand er, angeschraubt neben der letzten Tür auf der linken Seite, ein kleines, golden angemaltes Schild, auf dem in verschnörkelter, schwarzer Schrift die Zahl 17 zu lesen war. Laido zückte den Schlüssel und traf das Schloss auf Anhieb. Als er ihn drehen wollte, bemerkte er, dass die Tür unverschlossen war – und stieß sie unabsichtlich ein ganzes Stück weit nach innen auf. Und erschrak dann heftig.
    Drinnen stand ein Mann, von minderer Fülle als Gerd, aber dennoch eher dicklich, mit dem Rücken zu ihm gewandt, und schaute aus dem Fenster. Kleine Schweißflecken hatten sich an seinem karierten Hemd unter den Achseln gebildet. Das beruhigte Laido ein wenig. Er selbst schwitzte schließlich auch.
    Noch bevor Laido etwas zu dem Mann sagen konnte, hatte er sich schon zu ihm umgedreht. Sein breites, kantiges und bartloses Gesicht bildete ein Lächeln, seine schwarzen Knopfaugen nahmen einen Ausdruck der Entschuldigung an.
    „Oh, ich hatte gar nicht gewusst...“
    „Äh, ja, ich auch nicht...“
    Der Mann kam nun entschlossen auf Laido zu und streckte ihm eine fleischige Hand aus.
    „Ich bin Theofanis“, stellte er sich vor, und jetzt meinte Laido auch, einen gewissen Akzent herauszuhören.
    „Aber hier kennt man mich eigentlich nur als Theo.“
    Laido schüttelte ihm die Hand und kam nun wieder in die unangenehme Situation, sich selbst auch vorstellen zu müssen.
    „Ich bin Laidoridas“, setzte er an. „Aber... äh... ja, Kurzform Laido.“
    Die Vorstellung war ihm etwas entglitten. Einen skeptischen Blick kassierte er dafür trotzdem nicht. Wer Theofanis hieß, so mutmaßte er, dem kam auch ein Laidoridas nicht komisch vor.
    „Das ist dann wohl dein Zimmer? Tut mir leid, habe ich gar nicht mit gerechnet... mit Gästen ist's bei uns nicht so. Ich glaube ja jetzt noch, dass ich träume.“
    Er lachte und machte eine Bewegung, als wollte er Laido auf die Schulter klopfen, ließ es dann aber zum Glück doch sein. Er sah ohnehin aus wie ein Typ, der viel und gerne lachte. Die Falten in seinem bulligen Gesicht kamen wohl aber nicht nur davon – unter anderem die grauen Haare verrieten, dass Theo ganz bestimmt nicht mehr der Jüngste war. Offenbar war er noch ein ganzes Stück älter als Gerd, was Laido sich im Vorhinein anders vorgestellt hatte. Mehr als das irritierte ihn aber ein ganz anderer Umstand: Melanie hatte erzählt, dass Theo eher scheu sei. Wie ein scheuer Mensch hatte er nun bei ihrer Begrüßung allerdings nicht gewirkt – ganz im Gegenteil. Andererseits, wer sich wahllos in irgendwelchen Zimmern versteckte...
    „Hätte ich gewusst, dass du hier hereinkommst...“, fuhr Theo fort und schnaufte ein paarmal. Sein Atem roch nach altem Tabak. Hatte er hier im Zimmer etwa auch noch geraucht? Darauf hatte Laido nun überhaupt keine Lust!
    „Ich komme manchmal hierhin, weil man aus diesem Fenster einen guten Blick über den Wald hat.“
    Laido folgte Theos Geste und wandte sich mit ihm zum Fenster. Wenn er stur nach unten schaute, konnte er irgendwie zwischen den Büschen, Blättern und Bäumchen den grünen Zaun entdecken, vor dem er ein paar Stunden zuvor noch gestanden hatte. Jenseits dieses Zauns wurde der Bewuchs rasch größer. Mischwald, sehr grün. Und irgendwie undurchdringlich.
    „Dieser Wald...“, murmelte Theo versonnen, schüttelte dann aber den Kopf. „Wie auch immer. Nichts für ungut, Laido. Ich wollte ganz bestimmt nicht stören. Ich lasse dich jetzt alleine, bezieh dein Zimmer, wie du es magst. Fühl dich ganz wie zu Hause!“
    Laido bedankte sich knapp, und da war Theo auch schon aus der Tür verschwunden. Laido lauschte eine Weile lang, um zu hören, wie er die knarzenden Treppen herunterging, aber er konnte die Geräusche nicht richtig ausmachen. Vermutlich war der Treppenaufgang einfach zu weit weg. Und da Laido Theo nicht etwa an einer der anderen Zimmertüren hörte, ging er davon aus, dass er nun unten war.
    Er ging zu seiner eigenen Zimmertür und schob sie zu, es klickte leicht. Vom erwarteten Abfallen der Anspannung bekam Laido allerdings nur ein kleines Häppchen zu spüren – in diesem Zimmer würde er sich nie so hundertprozentig wohlfühlen können.
    Er befand es als spartanisch eingerichtet, auch wenn er nicht wusste, wie spartanische Hotelzimmer so aussahen. Jedenfalls war der Raum mit einem Kleiderschrank aus hellem Holz – mal nicht der ewig gleiche Braunton – einem schmalen, fertig bezogenen Bett, einem bedeutungslosen Nachttischchen und einem nicht funktionsfähig aussehenden Fernseher eher unspektakulär ausgestattet. Und alles auf diesem grünen Teppich, genau wie im Flur.
    Aber er wollte sich nicht beschweren, denn wenn er sich beschwerte, dann kamen wieder diese Gedanken, dass er sich eigentlich gar nicht zu beschweren hatte. Kein Geld, keine Identität. Da stellte man keine Ansprüche.
    Und bevor er zu melodramatisch wurde, ließ er sich hinterrücks auf das Bett fallen.
    Geändert von John Irenicus (21.08.2018 um 21:01 Uhr)

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    Als sich seine Augen schon so weit in die Decke gebohrt hatten, dass sich das ganze Zimmer um ihn herum zu drehen begann, setzte er sich auf. Ihm war heiß und kalt zugleich. Hatte er geschlafen? Es fühlte sich nicht so an, aber manchmal dachte man auch nur, man sei die ganze Zeit wach gewesen, obwohl man zwischendurch oder sogar die ganze Zeit geschlafen hatte. Ausgeruht fühlte Laido sich allerdings nicht.
    Er erwartete wackelige Beine und zitternde Knie, als er sich vom Bett abstieß und aufstand. Er bekam beides nicht. Lediglich sein Hals fühlte sich etwas trocken an. Weil sich kein Waschbecken in seinem Zimmer befand, aus dem er einen Schluck hoteleigenes Kraneberger hätte nehmen können, musste er sich langsam mit dem Gedanken anfreunden, wieder nach unten gehen zu müssen. Dabei wusste er nicht einmal, wie viel Zeit vergangen war. Er ging zum Fenster und ließ sich von der gleichbleibend tristgrauen Wolkendecke bestätigen, dass die Zeit ohne Uhr nicht zu bestimmen war. Eine Uhr trug er aber weder am Handgelenk noch in einer seiner Taschen. Mehr noch: Im Zimmer selbst gab es auch keine Uhr. Gab es in diesem Haus überhaupt Uhren? Ja, doch, er hatte unten an der Rezeption das Ticken gehört.
    Laido widerstand dem Drang, sich zu schütteln. Seine Gedanken waren noch so träge, und irgendwie abgehackt. Es war diese ganz furchtbare Phase, in der er sich noch fast im Halbschlaf wähnte. Und die hatte er immer, wenn er aus einem Nickerchen mitten am Tag aufwachte. Er musste also doch geschlafen haben. Seine Klamotten fühlten sich auch dementsprechend an, einen Tick zu warm, zerknittert, irgendwie filzig. Genau wie seine Haare. Er fühlte sich rundherum ein kleines bisschen dreckig. Zu wenig, als dass es nach außen hin erkennbar war, aber genug, um ihm Unwohlsein zu bereiten.
    Mit einem Mal packte ihn die Angst, dass sich dieser Schleier, der sich noch als Nachwehe des unruhigen Schlafes über seine Wahrnehmung gelegt hatte, noch weiter über sein Gedächtnis legen würde. Es war ein Ziepen in den Ohren, dass ihn immer überfiel, wenn er in einer drängend misslichen Situation war. Aber es klang langsam wieder ab, als er zumindest die rätselhaften Umstände ab dem Erwachen auf dem Rastplatz wieder beieinander hatte. Und das Gespräch mit Melanie.
    Laido wandte sich wieder vom Fenster ab. Es half nichts, er brauchte etwas zu trinken. Auf dem Flur musste es doch Toiletten, Badezimmer, Waschräume geben. Orte, die er in einem gut besuchten Hotel so gut es ging gemieden hätte. Aber glücklicherweise war dieses Hotel hier nicht gut besucht.
    Er hielt kurz nach seinem Zimmerschlüssel Ausschau, tastete sich dann ab und fand ihn in seiner linken Gesäßtasche. Er musste im Bett darauf gelegen haben und fühlte nun tatsächlich auch eine leicht taub anmutende Stelle an seinem Hintern, die bei intensiverer Berührung wie ein Nadelstich schmerzte. Immerhin war der Schlüssel nicht verbogen, und auch das kleine Anhängsel mit der Siebzehn drauf sah zwar nicht mehr aus wie neu, aber eben immerhin noch wie zuvor.
    Er fühlte sich wie ein kopfloser Zombie, als er über den dämpfenden Teppich nach draußen stapfte und nach einigem Genestel die Tür von außen zuschloss. Den Schlüssel beförderte er dann in seine andere Gesäßtasche, holte ihn nach einigem Abtasten von dort aber wieder heraus und gönnte ihm den Platz an seiner rechten Hosentasche vorne. Dort, wo sonst das Portemonnaie gewesen wäre.
    Jetzt befand Laido sich also wieder im Flur, vor der letzten Tür auf der linken Seite. Die anderen waren alles Zimmertüren gewesen, soweit er sich erinnern konnte. Nach einem kurzen Blick aber stellte er fest, dass ihn ebendiese Erinnerung offenbar getrogen hatte: Direkt gegenüber, die letzte Tür auf der rechten Seite. Keine Zimmernummer. Aber auch sonst kein Symbol. Von Abstellraum bis Vorratskammer über Privaträume bis Geheimbunker konnte Laido sich alles Mögliche vorstellen. Vielleicht auch ein Badezimmer. Aber eines für all diese Türen, sprich Zimmer auf diesem Flur?
    Der kopflose Zombie griff an die Klinke. Verschlossen. Das Rütteln ließ er lieber mal sein. Was, wenn das der Raum war, wo das Personal wohnte? Oder gar…
    Laido zuckte kurz zusammen, als er einen Luftzug hinter sich spürte, der fast wie ein Atem wirkte. Als er sich umdrehte, sah er es: Nichts. Natürlich hatte ihm keiner in den Nacken geatmet. Aber er hatte dieses Gefühl gehabt, was man eben hatte, wenn jemand anderes in direkter Nähe war. Man spürte so etwas einfach. Der Nachteil: Zuweilen spürte Laido es auch, wenn in Wahrheit gar niemand da war. Und das gerade in Situationen, in der er nicht beobachtet werden wollte. Wie sollte es auch aussehen, wenn ein ohnehin schon merkwürdig anmutender Typ wie er in stoischer Konsterniertheit vor einer Tür stand, die nicht zu seinem eigenen Zimmer gehörte?
    Ein wenig musste Laido nun auch über sich selbst grinsen. Natürlich, das Licht in diesem Flur, dass aus diesen milchigen Deckenlampen kam, wirkte mit einem Mal auch viel schummeriger. Das war nicht angenehm, aber Laido kannte sich selbst gut genug – zumindest noch in dieser Hinsicht – dass er wusste, wie viel er sich einbilden konnte, wenn er gerade nervös war. Als nächstes kam vermutlich noch irgendwelches Geraschel. Und wenn das Holz, dieses ganze braune Holz, aus dem das gesamte Hotel geradezu geschnitzt schien, dann noch ein paarmal knackte, dann wusste er, dass sich gerade irgendein Eingemauerter aus der nächsten Wand herausarbeitete. Und noch vieles mehr. Als Kind war das alles noch richtig schlimm gewesen. Mittlerweile ließ es ihn nur noch müde lächeln.
    Und trotzdem: Ohne wäre es schöner gewesen. Dann hätte er auch ganz entspannt überlegen können, was er nun mit dieser Tür auf der Suche nach einem Badezimmer anstellte. Stattdessen aber fühlte er sich getrieben – und das steigerte sich minütlich, denn neben einer Bewässerung, nämlich seiner Kehle, verspürte er nun auch noch das Bedürfnis einer Entwässerung.
    Er drückte die Klinke noch einmal herunter, zog und schob sachte an der Tür herum. Weiterhin keine Chance, wirklich abgeschlossen. Und dann ließ ihn doch noch ein Gedanke erschrecken: Was, wenn das wirklich ein Toilettenraum war, und dieser abgeschlossen war, weil er gerade besetzt war? Die peinlichen Momente, die Laido sich ausmalte, sollte die Tür aufgehen, trieben ihn, nach einem hektischen Seitenblick den Flur entlang, zurück zu seinem Zimmer. Mit zwar ruhiger Hand, aber dennoch sehr eilig, zog er den Schlüssel hervor, schloss den Raum auf, trat hinein, schob die Tür zu und setzte sich erst einmal wieder aufs Bett. Hoffentlich hatte das jetzt niemand bemerkt. Wie unangenehm! Da saß einfach jemand auf der Toilette, möglicherweise bei einer längeren Sitzung, und von draußen zog und rüttelte jemand mehrmals an der Tür. Und dieser Jemand konnte ja kaum jemand anderes sein als Laido selbst, alle würden es wissen, alle würden von seinem ungeschickten Verhalten erfahren, und dann gäbe es diesen peinlichen Moment, wo alle wüssten, was Sache ist, aber keiner darüber sprach.
    Er hoffte sehr, diesen Momenten noch einmal entronnen zu sein. Er hatte die Klinke ja nur ganz vorsichtig betätigt. Eigentlich. Und falls ihn doch jemand bemerkt hatte, dann… ja, dann hatte er gar nicht aufs Klo gewollt, sondern nur auf sein eigenes Zimmer, und hatte bloß rechts und links verwechselt. Das passierte ja selbst den Besten einmal. Jedenfalls hatte er ganz, ganz, bestimmt nicht aufs Klo gewollt, während es besetzt gewesen war.
    Jetzt hieß es wohl warten. Warten und lauschen, bis die Person die Toilette verlassen hatte und sie frei war. Wenn es denn überhaupt eine Toilette war, aber davon ging Laido jetzt einfach mal aus. Herausgehen und nach einer anderen Tür suchen konnte er ja zunächst ohnehin nicht, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, dabei von der Person, die hinter der anderen Tür steckte, gesehen zu werden. Wenn sie denn herauskam. Was natürlich noch dauern konnte.
    Genervt und etwas verzweifelt machte er sich auf dem Bett wieder lang. Das Zimmer war so trist wie das Wetter draußen. Es gab einfach nichts zu tun. Und Warten ohne etwas zu tun, das strengte an wie sonst überhaupt nichts. Wenn er nur etwas bei sich hätte. Etwas zu lesen, etwas zum Musikhören… stattdessen: Nichtstun und gähnende Leere. Sicherlich: Im Nachttischchen befand sich garantiert eine dieser Hotelbibeln, aber das war nicht die Lektüre, die Laido im Sinn hatte, deswegen sah er auch gar nicht erst nach. Und das Fernsehprogramm, wenn dieser Fernseher hier denn auf wundersame Weise funktionieren sollte, würde ihn auch nicht unterhalten, da konnte er genauso gut nach draußen starren. Aber auch aus dem Fenster schauen wollte er bestimmt nicht noch einmal.
    Als Laido in der Lücke zwischen Nachttisch und Bettrahmen eine auf den Boden gefallene Fernbedienung entdeckte, überlegte er es sich doch anders. Die Staubflocken, die sich auf ihren gummiartigen Tasten gebildet hatten, wirkten zwar fast schon lebendig, aber das Gröbste hatte Laido rasch entfernt. Vermutlich, so dachte er, musste man ohnehin noch den Knopf am Fernseher drücken, damit man ihn aus der Ferne bedienen konnte. Er probierte es trotzdem nur mit der Fernbedienung, allein schon, weil er glaubte vom Bett aus zu erkennen, dass die Knöpfe am Fernseher selbst alle entweder durch- oder ganz abgebrochen waren. Ein rotes Lämpchen, was einen Standby-Modus oder so etwas in der Art auswies, leuchtete zwar auch nicht, aber angesichts des Gesamtzustands des Geräts war das auch nicht verwunderlich. Laido drückte den runden, roten Knopf an der oberen linken Ecke der Fernbedienung. Ein hochfrequentes Piepen verriet ihm, dass der Fernseher tatsächlich reagiert hatte. Der Bildschirm knackte einmal, aus dem toten Schwarz wurde ein nicht minder totes Grau. Und dann gab es eine Explosion in Laidos Ohren. Unfassbar lautes Rauschen, das sich auch in einem weißen Bildrauschen widerspiegelte. In diesem Moment wusste er nicht, was ihn mehr kirre machte: Das laute Geräusch oder das schwarzweißgraue Punktgekrissel auf dem Bildschirm. Und überhaupt: Gab es diese Geräusche sonst nicht nur beim Radio, wenn man zwischen den Frequenzen gelandet war?
    Laido drückte kurzum erneut auf den roten Knopf der Fernbedienung. Ein futuristisch anmutendes Geräusch des Fernsehers beendete den ganzen Spuk, der Bildschirm war wieder schwarz, der Raum wieder still. Mehr als ein leises Klingeln in Laidos Ohren und trotz des Schockeffekts eine gewisse Müdigkeit hatte es bei ihm nicht hinterlassen. Die Fernbedienung wollte er auf dem Nachttisch ablegen, rutschte dabei im letzten Moment aber ab, sodass sie erneut in die Lücke fiel, die der Tisch und das Bett bildeten. Wahrscheinlich hatte der Vorbesitzer dieses Zimmers, beziehungsweise der Vorbenutzer dieser Fernbedienung genau das selbe mitmachen müssen. Laido seufzte. Vielleicht war es auch ganz gut so, dass er sich jetzt nicht irgendwelche deprimierenden Tiersendungen im Fernsehen anschauen konnte.
    Er rückte sich das Kissen unter seinem Kopf zurecht und gab darauf Acht, dass seine beschuhten Füße der Matratze fernblieben. Er hatte einmal gehört, dass berühmte Autoren ihre Bestsellerwerke gerade in solchen Situationen erdacht hatten. Während unangenehmer Wartezeiten, ganz auf sich gestellt, sonst nichts zu tun. Er konnte sich kaum vorstellen, wie man so lange so konzentriert bleiben konnte, dass man quasi aus dem Stand den Grundriss eines ganzen Romans entwarf. Aber wahrscheinlich hatten sich diese Autoren das vorher auch nicht vorstellen können, und dann hatte es eben doch geklappt. Einfach so. Er wollte es auch versuchen, auch wenn er wusste, dass es nichts wurde.
    Es brauchte auf jeden Fall einen richtig fiesen Superschurken. Ein wandelndes Klischee, aber das packte die Leute. Eher so ein Typ Geschäftsmann, aber mit allen Wassern gewaschen, Chef eines geheimen oder halbgeheimen Imperiums. Er musste seine Leute haben, die ihm die Drecksarbeit erledigten, aber wenn es hart auf hart kam, dann konnte er die Dinge auch selber in die Hand nehmen. In seine künstliche Hand nämlich, die er aufgrund eines rätselhaften Unfalls in der Kindheit verloren und nach und nach durch ein roboterhaftes Konstrukt ersetzt hatte, welches ihm die unglaublichsten und schauerlichsten Dinge ermöglichte. Wenn er jemanden persönlich verhörte, dann versuchte er es zunächst im Guten, aber wenn dann nichts dabei herumkam, dann griff er zu, die kalten Klauen schnürten sich dann um den Hals des armen Tropfs, der einfach nicht reden wollte, sie zogen sich immer weiter zu, und damit nicht genug drückte man ihm ein Kissen auf den Kopf, so dass die Luft durch die Nase, heiß wie sie war, stockte, und alles drückte und stopfte, und Laido bekam keine Luft mehr, überhaupt nicht mehr, alle Organe schrien, sein Körper stemmte sich geradezu nach innen, wollte irgendwo noch nach Sauerstoff suchen, aber er schaffte es nicht, er begann innerlich zu schreien, aber nichts drang mehr nach außen, und schließlich erschlaffte er, und ein schwarz gekleideter Mann zog ihn mit erbarmungsloser und unmenschlicher Kraft aus dem Bett.
    Geändert von John Irenicus (31.05.2015 um 20:23 Uhr)

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    Diesmal, als die karge Zimmerwand vor seinen Augen auftauchte, war Laido sich sehr sicher, geschlafen zu haben, und er war auch wirklich froh darüber. Er sog einige Male tief Luft ein, beruhigte sich dann schnell. Sein Abdruck auf dem Kissen war warm und feucht. Als er sich noch ein bisschen mehr zur Seite drehte, geriet er in einen kleinen Speichelfaden. Das war auch so etwas, was er nur schaffte, wenn er Nachmittags einschlief: Während des Träumens sabbern. Immerhin waren seine Schuhe von der Matratze ferngeblieben. Dafür taten ihm jetzt die Gelenke weh.
    Außerdem spürte Laido seine Blase drücken, und nur deshalb setzte er sich auch relativ rasch auf, statt noch länger ermattet liegen zu bleiben. Vermutlich war es auch dieser Ruf der Natur, der die aufkommende Benommenheit im Keim erstickte. Es war ja auch nur logisch: Der Urmensch musste bei all seinen Sinnen sein, wenn er auf der dringenden Suche nach einer Toilette war.
    Anhand des Lichteinfalls durch das Fenster glaubte Laido erahnen zu können, dass nun schon mindestens eine weitere Stunde vergangen sein musste, und so lange konnte niemand die Toilette besetzen. Er strich sein Hemd so glatt wie es ging, damit er sich halberlei wohl in seinen Klamotten fühlte, drückte sich den Wirbel, der sich an seiner Frisur beim Schlafen gebildet hatte, so gut es ging platt und machte sich dann auf den Weg aus seinem Zimmer.
    Der Flur draußen schien noch verlassener als zuvor. Das Fenster am Ende des Ganges, was sich nun zu seiner linken befand, ließ wenig zusätzliches Licht durch. Die Deckenlampen schienen auch noch ein wenig trüber geworden zu sein.
    Laido machte die Tür seines Zimmers zu und schloss ab. Er wusste nicht so ganz, warum er die Tür erneut abschloss, glaubte aber, dass das noch irgendetwas mit seiner Begegnung mit Theo zu tun haben musste.
    Er machte einen großen Schritt und griff an die Klinke der unbezeichneten Tür gegenüber. Er drückte. Drückte nochmal. Zog, schob. Immer noch zu. Drin war dort sicher niemand mehr. Also doch nur eine Abstellkammer?
    Laido beugte sich kurz herunter – nicht ohne einen vergewissernden Blick den Gang entlang in Richtung Treppe – und begutachtete das Schloss. Eigentlich genau wie das Schloss zu seinem eigenen Zimmer. Aber im Grunde konnte Laido auch nur gewöhnliche Türschlösser von Vorhängeschlössern unterscheiden, ansonsten sahen die alle gleich aus.
    Noch einmal der Blick den Gang entlang, dann wagte Laido es einfach. Den Schlüssel in der Hand steckte er einfach ins Schloss dieser unbenannten Tür, dem blanken Stück Holz, welches ihn vermeintlich von seiner Erleichterung trennte. Metall glitt in Metall, ihm kam es beinahe so vor, als passte dieser Schlüssel hier noch besser als ins Türschloss seines Zimmers. Dann drehte er – und der Schlüssel bewegte sich wie von selbst.
    Im ersten Moment zog Laido die Tür rasch noch einmal zu – er hatte kalte Füße bekommen. Er schaute jetzt eine ganze Weile zur Treppe hin, wie, als müsste er im dämmerigen Licht all diejenigen Leute entdecken, die ihm gerade zuschauten. Andererseits, so sagte er sich: Wenn der Schlüssel passte, dann passte er halt. Und so gab er sich einen Ruck und stieß die Tür sachte auf.
    Im Innern brannte natürlich kein Licht, aber was er schon erkennen konnte, war ein Waschbecken – und eine Kloschüssel. Also doch! Nach einigem Getaste, bei dem er gefühlt ein ganzes Knäuel an Spinnweben mit aufwischte, entdeckte er sogar noch einen Lichtschalter. Als er das gekippte Stück Plastik betätigte, ging klackernd die sogenannte Neonröhre an und brummte genervt. Das Licht hatte einen guten Blauanteil, Laidos eigene Haut an den Händen und Armen sahen darunter aber eher gelb aus. Gelb wie das Waschbecken, das irgendwann einmal weiß gewesen sein mochte.
    Laido machte zunächst die Tür zu – und schloss auch hier ab. Jetzt war erst einmal genug mit diesem ganzen Türwahnsinn. Dann wandte er sich dem Spiegel zu, der über dem Waschbecken hing. Er erkannte, dass er nach den zwei Schlafeinheiten auf dem Bett doch gar nicht so schlimm aussah, wie er befürchtet hatte. Auch sein Haarwirbel, den er vom Betasten her in etwa so ästhetisch wie ein explodiertes Vogelnest eingeschätzt hatte, war nur unauffällig vorhanden. Und die Augenringe, die er zuvor noch richtig tief erfühlt hatte, gab es in Wahrheit gar nicht.
    Laido wollte sich nicht so lange selbst beobachten und hielt den Blick deshalb kurz. Dann beugte er sich hinunter zum Wasserhahn, um erst einmal einen Schluck zu trinken. Er drehte und drehte am Regler, der immer schwergängiger wurde, und glaubte schon, kein Wasser mehr freisetzen zu können. Dann aber, bei der letzten Drehung, kam doch noch ein mitteldicker Strahl hervor. Er ließ ihn erst ein wenig laufen, dann schöpfte er das Wasser mit den Händen, trank ein wenig und befeuchtete sein Gesicht.
    Nun drückte seine Blase erst recht. Den Konflikt, als Sitzpinkler erzogen worden zu sein, sich bei mehr oder weniger öffentlichen Toiletten aber zu sehr vorm Hinsetzen zu ekeln, löste er zugunsten des größeren Geschäfts auf, welches sich nun auch noch anbahnte. So etwas machte man einfach nicht im Stehen. Der kalte, bleiche Deckel enthüllte, einmal angehoben, eine kalte, bleiche Brille. Laido setzte sich hin.
    Bevor er anfing, vergewisserte er sich, dass auch Toilettenpapier in der Nähe war. War es – an einem Halter direkt neben ihm, und eine Ersatzrolle lag auf dem Spülkasten. Nachdem er einmal in eine in dieser Hinsicht äußerst fiese Falle getappt war, schaute er immer vorher nach. Taschentücher hätte er diesmal nämlich nicht zur Not dabei gehabt. Es ärgerte ihn jetzt allerdings ein bisschen, dass er das Toilettenpapier nicht vorher gesucht hatte – er hätte damit nämlich dann die Klobrille vor dem Hinsetzen ausgekleidet. Nun war es zu spät.
    Laido hatte nicht vor, sich besonders lange bei dieser Sache aufzuhalten. Von diversen Verwandten kannte er den Toilettenbesuch geradezu als Leidenschaft, die bis hin zu einer Dreiviertelstunde zelebriert werden konnte, aber für ihn war das immer ein Mysterium geblieben. Etwas zu lesen hatte er allerdings trotzdem, wie ihm nun bei einem genaueren Seitenblick an die Wand auffiel. Auf der platten Tapete über den Wandkacheln hatten sich nämlich mehrere Personen mit Sprüchen und kleinen Bildnissen verewigt. Das irritierte Laido zunächst, weil er so etwas nur von öffentlichen Toiletten oder Kneipenspelunken kannte, wobei er letzteres mehr erahnte als kannte, weil er sich für gewöhnlich nicht in Kneipen herumtrieb. Dann allerdings erinnerte er sich wieder, wo er sich eigentlich gerade befand: Nicht in einem gewöhnlichen Hotel, sondern auf einem Rastplatz an der Autobahn. Und dort kamen allerhand Leute vorbei: Reisende aller Art, LKW-Fahrer. Vor allem LKW-Fahrer. Laido wollte ihnen nichts Böses, aber LKW-Fahrer schätzte er am ehesten als Urheber solcher Klosprüche ein. Ganz rational gesehen war das für sie ja auch am sinnvollsten, denn man konnte als Fernfahrer schließlich damit rechnen, immer mal wieder die selben Routen zu befahren und somit auch die selben Toiletten zu besuchen. So fühlte man sich dann, wenn man eh schon nie zu Hause war, wenigstens beim Scheißen wie zu Hause. Und wenn mal ein paar neue Sprüche vom Kollegen dazugekommen waren, dann freute man sich vielleicht. So oder so ähnlich musste das wohl funktionieren. An Zufälligkeit glaubte Laido bei so etwas jedenfalls nicht, denn niemand hatte zufällig einen passenden Edding dabei, wenn er aufs Klo ging. Das tat man wenn schon mit festem Vorsatz.
    Ich bin Kotzman, der Herr des Kotziversums, stand dort in sehr zackig geschriebenen Lettern. Der größte Spruch von allen. Darunter, kleiner: Mich interessiert nicht, wer du bist. Davon gekreuzt, in altbacken wirkender Handschrift: Und wenn ich deinen Namen ruf, da schallt’s so lieb zurück…
    Laido hatte sich von dieser Sprüchesammlung mehr erhofft als so unlustiges Gedöns, und ärgerte sich auch, dass gerade dieser Kotzman-Spruch so viel Platz wegnahm, für all die Spitzensprüche, die nun niemals mehr Platz an dieser Wand finden würden. Ein paar andere hatten es dennoch – vermutlich noch vor Kotzman – auf die Wand geschafft.
    Links unterhalb von Kotzman: Ist es überhaupt möglich
    Laido gefiel, wie dieser Satz plötzlich abbrach, nicht einmal ein Fragezeichen tauchte auf, obwohl er ja wohl als Frage formuliert war. Außerdem wäre zur rechten noch einiges an Platz frei gewesen, um den Spruch zu Ende zu führen, woraus Laido schloss, dass er tatsächlich absichtlich so fragmentarisch geblieben war.
    Ein Stück weit neben dieser nicht endenden Frage war ein kleines Bild gekritzelt, es sah aus wie ein rundes Tier, ein dickes Vieh. Es war in der Seitenansicht gezeichnet – vermutlich – und zeigte einen grimmigen Blick, der vielleicht auch bloß mangelndem zeichnerischen Talent geschuldet war. Hinten dran war ein kleiner Zipfel, der entweder auch ein Versehen oder ein kurzer Stummelschwanz war. Ein bisschen erinnerte ihn das Ding an ein… ja, an ein Molerat. Aber so etwas hatte hier wohl kaum einer malen wollen. Das kannte ja doch keiner.
    Zwei Fingerbreit unter dem Bild kam der nächste Spruch, zweizeilig, so klein geschrieben, dass Laido sich eine Lupe gewünscht hätte: Wir hassen den FC die Haie und den Dom Wir scheißen auf den Karneval und komm aus Iserlohn!!
    Laido wusste nicht genau, um welche Sportart es ging – vermutlich auch Fußball – aber jedenfalls hatte er beim Dom eine gewisse Assoziation. Köln, ja, natürlich! Er kam ja selbst aus Köln. Oder? Ganz so sicher konnte er sich ja nicht mehr sein, bei all diesem Gedächtnisnebel, und sein Gefühl sagte ihm, dass er die letzten Wochen eher unterwegs als irgendwo zu Hause verbracht hatte. Aber darüber wollte er sich jetzt keine Gedanken machen, das war ihm zu beklemmend, und die Enge dieses Toilettenräumchens war ihm schon Beklemmung genug.
    Er las sich noch einmal die zwei Zeilen durch. Wenn hier nur so ein Blödsinn geschrieben wurde, dann war es kein Wunder, dass die Toilette von außen stets abgeschlossen und nur mit einem Zimmerschlüssel zu erreichen war. Dann kamen wenigstens nicht Hinz und Kunz, um zusätzlich zu allem anderen auch noch ihren geistigen Dünnschiss da zu lassen. Auch wenn das die Wand wohl nicht wirklich gerettet hatte. Aber wer wusste schon, wie es hier ausgesehen hätte, wenn die Toilette für Jedermann frei zugänglich gewesen wäre – zumindest für Jedermann, der unten am Gastwirt vorbeikam.
    Laido hatte diese Gedanken schon fast wieder vollständig ziehen lassen, da stockte ihm doch noch der Atem, und das lag bestimmt nicht an der Luft im Raum. Wenn sein Zimmerschlüssel und dann ja auch höchstwahrscheinlich jeder andere Zimmerschlüssel in diese Toilettentür passte… passte dann nicht auch jeder Zimmerschlüssel in jedes beliebige Zimmer?
    So schnell hatte sich Laido nach einer Sitzung noch nie fertig gemacht. Klar, es musste alles sauber sein, und das war es dann schließlich auch – aber so viele Blätter Papier, wie er in der Hektik versehentlich zerrissen hatte, hätten für gleich zwei weitere Gänge gereicht. Als er aufstand, stieß er sich fast den Kopf an der Tür, weil er zu sehr nach vorne kippte. Dann: Händewaschen, ekelige Seife drauf. Es gab keine Handtücher und auch kein Papier zum Abtrocknen, weshalb es sich nun auszahlte, dass die Farbe seiner Hose schwarz war – das Toilettenpapier wollte er dafür nämlich nicht nehmen. Rütteln an der Tür, bis sich der Schlüssel drehte. Dann war er endlich wieder auf dem Flur, schloss die Tür ordnungsgemäß hinter sich ab, nur um dann zu seinem Zimmer zu eilen.
    Es war noch abgeschlossen. Trotzdem wollte er hineinsehen, auch wenn ihm von diesen ganzen Schließereien schon schwindelig wurde.
    Wie erhofft war niemand drin.
    Laido schalt sich selbst. Wenn er der einzige Gast war, wer sollte dann auch mit einem weiteren Zimmerschlüssel in sein Zimmer gehen? Gut, eine Person hatte er da zwar im Kopf, schließlich war sie ja schon in seinem Zimmer gewesen. Aber das hatte sich ja geklärt. Und selbst wenn hier noch andere Gäste gewesen wären – warum sollten sie versuchen in einen Raum zu gelangen, der ihnen nicht zugewiesen war? Er selbst hatte ja schließlich auch nicht alle anderen Türen erst einmal ausprobiert, bevor er sein Zimmer bezogen hatte. Andererseits: Zu diesem Zeitpunkt hatte er auch noch nicht gewusst, dass der Schlüssel zur Nummer 17 möglicherweise auch der Schlüssel zu den Nummern 1-16 war – und umgekehrt.
    Aber jetzt wollte er es wissen, und zwar genau wissen, ob die Schlüssel denn überall passten. Mit der Unkenntnis, wer nun potentiell sein Zimmer betreten konnte oder nicht, würde er überhaupt nicht mehr schlafen können. Selbstverständlich haderte er kurz mit sich, ob er denn wirklich einfach andere Zimmertüren aufschließen sollte, aber mit genau der gleichen Selbstverständlichkeit kam er zu dem Schluss, dass er niemals zur Ruhe käme, wenn er nicht täte. Er musste eine endgültige Entscheidung fällen, wenn er nicht mehr die ganze Zeit daran denken wollte – aber endgültig war die Entscheidung nur, wenn er auch wirklich etwas tat, und nicht, wenn er bloß weiter nichts tat.
    Nummer 16 war im wahrsten Sinne des Wortes am naheliegendsten. Auch wenn Laido durchaus klar war, dass hier niemand außer ihm und dem Personal im Hotel war, so blieb ja doch immer noch eine gewisse Restunsicherheit, ob nicht doch ein weiteres Zimmer bewohnt war. Die Nummer 16 nebenan konnte er aber immerhin noch mehr ausschließen als alle anderen Zimmer, denn die Wände hier waren hellhörig, und wenn sich dort jemand bewegt hätte, so glaubte er, hätte er das auf jeden Fall gehört. Außerdem hatte er bei der Nummer 16 die beste Ausrede parat, falls es doch schief gehen sollte: Aus Versehen eine Tür zu früh genommen. In Gedanken gewesen. Das wäre ihm in der Realität zwar aus reiner Vorsicht nie wirklich passiert, aber das konnte ja keiner wissen.
    Sich selbst zwingend stapfte Laido ein paar Schritte weiter. Ein bisschen fühlte er sich wie ein Einbrecher, als er den Schlüssel zum Schloss führte – eben wie ein besonders gewiefter Einbrecher, der nicht einmal irgendwelches abstruses Einbrecherwerkzeug benutzen wollte und musste. Vorher prüfte er aber noch einmal die Zimmernummer. Es war ein wenig seltsam, dass die 16 auf dieser Seite lag. Bei genauerer Überlegung war es aber eigentlich nur seltsam, dass die 17 auch auf dieser Seite lag. Blickte er den Gang hinab, waren hier auf der linken Seite nämlich die geraden Zahlen, die ungeraden waren – bis eben auf die 17 – gegenüber angeordnet. Zugunsten des Toilettenraums hatte man dann wohl beschlossen, die Positionen zu tauschen, auch wenn Laido sich im Moment nicht vorstellen konnte, was das für einen Vorteil ausmachen sollte.
    Egal – der Schlüssel steckte nun. Und mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen drehte Laido ihn im Schloss herum. Widerstandslos. Er passte fast noch besser als zu seinem eigenen Zimmer. Alles wie bei der Toilettentür. Das überraschte ihn nicht mehr besonders, aber die Gewissheit legte sich dennoch als ein harter Griff um seinen Magen.
    Seinen eigenen Griff legte Laido nun um die Türklinke, und ein leichtes Schieben ließ die Tür einen mittelgroßen Spalt aufgehen. So einfach, wie er diese Tür nun geöffnet hatte, hätte jeder andere Gast auch seine eigene Zimmertür öffnen können.
    Laido erschrak. Diesmal nicht wegen einer neuen, schockierenden Erkenntnis, sondern wegen eines neuen, schockierenden Anblicks. Durch den Türspalt konnte er direkt auf das Zimmerbett schauen – und es war nicht leer. Stattdessen lag dort ein älterer, dickerer Herr mit grauen Haaren, gekleidet in einem schwarzen Anzug – oder sogar Smoking? – auf dem Rücken liegend und die Hände über dem Brustkorb gefaltet. Obwohl er die schwarzen Knopfaugen in seinem breiten Gesicht geschlossen hielt, erkannte ihn Laido schon von weitem. Es war Theo.
    Zu sagen, dass ein Schauer über Laidos Rücken fiel, war noch untertrieben. Der Schauer fiel vielmehr auf ihn drauf, drohte, ihn unter sich zu begraben. Mit so laut pochendem Herzen, dass Laido fürchtete, es könnte Theo wecken, ging er langsam einen Schritt rückwärts, zog sachte die Tür an der Klinke mit sich. Doch kaum hatte er sie auch nur einen Millimeter bewegt, riss Theo plötzlich die Augen auf. Dunkle, schwarze Punkte starrten zunächst zur Decke, richteten sich dann zur Tür. Laido war bereits viel zu erschrocken, als dass sein Herz noch einmal einen Hüpfer hätte machen können.
    „Entschuldigung, ich… ich dachte nicht… falsche Tür!“, brachte er noch hervor, wartete dann aber gar nicht weiter, zog die Tür hektisch zu, wollte sich schon eilenden Schrittes von ihr abwenden, überlegte dann kurz, schloss dann doch noch wieder ab – jetzt zitternd – und lief dann mit einem kochend heißen Gefühl am Kopf wieder zurück zu seinem eigenen Zimmer. Ihm wurde immer heißer, als er den Schlüssel in das nächste identische Schloss steckte. Er schwitzte aber nicht, ganz im Gegenteil fühlte er sich sehr trocken, beinahe wie verwelkend. Er konnte es sich selbst gegenüber nicht leugnen: Der Anblick Theos auf diesem Bett, das hatte ihn richtig gegruselt.
    Und so war das erste, worauf er seinen Blick warf, als er zu seinem eigenen Zimmer hereinkam, das Bett. Alles wie vorher. Da hatte niemand anderes drin gelegen außer ihm – zumindest seit er selber das Zimmer bewohnte.
    Er setzte sich auf die Matratze und ließ den Kopf sinken, vergrub das Gesicht in seinen Händen und versuchte, irgendwie wieder herunterzukommen, den Horror abzuschütteln und das Erlebte in ganz normale Bahnen zu lenken, zu ergründen, warum ihn das eigentlich so erschrocken hatte.
    Warum war er jetzt nicht einfach zu Hause? Warum nur, warum nur musste er eines Tages vor diesem Hotel aufwachen, ohne Geld, ohne Auto und ohne Erinnerung, und dann bei so seltsamen Leuten landen?
    Geändert von John Irenicus (30.09.2016 um 22:18 Uhr)

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    Weil es so ja nicht mehr weitergehen konnte, war Laido nach nur wenigen weiteren Minuten des Lamentierens wieder aufgestanden und befand sich nun auf der Treppe hinunter in den Eingangsbereich des Hotels. Sein Zimmer hatte er – seine Hände ganz steif vor bitterer Ironie – abgeschlossen.
    Stufe für Stufe hatte er sich nun die passenden Worte zurechtgelegt, um Gerd nach den Türschlössern zu fragen, dann seine finanzielle Lage noch einmal eindeutig zu erklären, dann nach einem Telefon zu bitten, um dann endlich wieder abreisen zu können. Nach Hause, wohin auch immer, nur weg. Es ging einfach nicht mehr an, ohne Geld und ohne alles in einem Hotel zu wohnen, in dem sich alte Männer in Beerdigungsanzügen in Gästezimmern schlafen legten.
    Wie Laido diese Gedanken innerlich so durchspielte, ging es ihm direkt besser: Es schien alles so absurd, dass er fast schon darüber schmunzeln konnte, ja eigentlich lachen musste!
    Sein inneres Aufleuchten wurde aber unterbrochen, als er unten am Treppenabsatz auf Melanie traf – und das beinahe wörtlich, denn in seinen Gedankenspielen hatte er nicht mehr so recht nach vorne geschaut.
    „Wie du lächelst!“, sagte Melanie vergnügt. „Da könnte sich so manch einer mal eine Scheibe von abschneiden!“
    Obwohl Laido sich ein bisschen aus seiner niederschmetternden Trägheit herausgekämpft hatte, hatte er nicht gedacht, dass er tatsächlich dabei lächelte. Jetzt, wo er den Mut gefasst hatte, kam ihm die Begegnung mit Melanie auch nicht so wirklich recht – am liebsten wäre er direkt an ihr vorbei zu Gerd marschiert und hätte reinen Tisch gemacht.
    „Tja, hat ja auch keiner was davon, ständig grimmig zu gucken“, erwiderte Laido äußerlich souverän.
    „Stimmt. Ich wollte übrigens gerade hoch und mal vorsichtig bei dir klopfen, aber das hat sich ja jetzt erledigt. Also… mit sowas muss man ja vorsichtig sein, aber… naja, fragen kostet ja nix.“
    Melanie brach kurz ab und verlor sich in einem lockeren Lachen. Laido, mit dem linken Ellenbogen an die Wand gestützt, konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, in welche Richtung das nun ging. Warum manche Leute es auch immer so spannend machten!
    „Was ist denn?“
    „Heute ist doch der Eurovision Song Contest. Das Finale! Fängt gleich an. Also, ja, das… polarisiert ja doch so ein bisschen.“
    Melanie lachte wieder. Ein bisschen fiel Laido ja doch ein Stein vom Herzen. Sie hatte ihn immerhin nicht gefragt, ob er ihr vielleicht ein bisschen Geld leihen könnte.
    „Ich dachte mir, wenn du Lust hast, könnten wir das zusammen schauen. Es ist ja sonst nichts los.“
    „Ohne Ton?“, fragte Laido überrascht. Das wäre ja mal wirklich kurios.
    „Wie, ohne Ton?“
    „Na… also, ich dachte, beim Fernseher unten geht der Ton nicht, weil den jemand auf der Fernbedienung ausgeschaltet hat und die Fernbedienung jetzt irgendwie weg ist und was weiß ich nicht alles…“
    „Achso, nee nee!“
    Da war es wieder, das Lachen. Laido fiel auf, dass Melanie gute Zähne hatte. Auffallend gute Zähne. Sehr weiß und gerade. Das war nicht bei vielen Leuten so, und wenn, dann waren diese Leute meist in Hollywood oder drumherum tätig und kannten gute Ärzte.
    „Natürlich nicht der Fernseher beim Eingang. Da wäre es wirklich nicht so gemütlich zum Sitzen. Vor allem, weil sich Gerd ja nur da wegbewegt, wenn es irgendwie sein muss. Und den interessiert das ja sowieso nicht. Nee, wir haben im Speiseraum noch einen Fernseher – sogar mit Ton. Den hast du nur nicht gesehen, weil der in einem Schrank eingeschlossen ist.“
    „Ach, so ist das.“
    Kurze Schweigepause. Laido war fast schon ein wenig froh, dass es hier offenbar doch Fernseher gab, die funktionierten. Es erleichterte ihn – es war ein Stück Normalität. Das brachte ihn zwar auch nicht groß weiter, aber…
    „Also, wie gesagt… ist ja jetzt so nicht jedermanns Sache. Ich schäme mich ja auch ein bisschen, das zu gucken.“
    Wieder das Lachen. War sie vielleicht sogar… nervös? Vielleicht ein ganz kleines bisschen? Laido jedenfalls hatte sich schon längst entschieden. Nicht nur, weil er aus Höflichkeit nicht ablehnen wollte und nicht nur, weil er Melanie ja doch recht sympathisch fand und er mit ihr deutlich mehr auf einer Wellenlänge stand als mit den anderen beiden Leuten hier. Sondern vor allem, weil er insgeheim ja doch gar keine so große Lust hatte, Gerd mit irgendwelchen Schlüsselvorwürfen zu konfrontieren, dann auch noch die Geldsache anzusprechen und den Wunsch, möglichst schnell wieder abzuhauen zu äußern und dabei alles in allem unfassbar unverschämt zu wirken. Auch, wenn so etwas ja eigentlich gar nicht unverschämt war und Gerd jetzt nicht wie jemand gewirkt hatte, der schnell beleidigt war. Aber… trotzdem!
    „Nein, also, ich meine, ja! Ich guck das auch gerne. Ist doch auch einfach ein Spitzenevent! Ich habe ja momentan eh nichts Besseres zu tun.“
    Jetzt versuchte sich Laido auch mal mit so einem Lachen, und es klang auch ganz gut, aber es blieb ihm beinahe im Halse stecken, als er sich bewusst wurde, dass sein letzter Satz dann doch gar nicht mehr so begeistert geklungen haben musste. Melanie aber schien sich daran nicht zu stören.
    „Prima! In der Küche stehen auch schon ein paar Snacks und sowas bereit, so ganz ohne was zu essen steht man das ja doch nicht durch. Die hole ich dann eben noch. Und wenn du Lust hast, gibt’s danach auch noch ein Dessert!“

    Das, was Melanie schließlich nach einigem Gerappel in der Küche unter Zuhilfenahme eines Servierwagens auf einen der Tische im Speisesaal gestellt hatte, hätte Laido niemals nur als „ein paar Snacks und sowas“ bezeichnet. Im Grunde war es ein ganzes Buffet, wie man es vielleicht zu einer Konfirmation, Kommunion oder wahlweise auch Beerdigung bestellt hätte. Neben einem riesigen Korb voller kleiner Brötchen, die man wohl Partybrötchen nennen mochte, schloss sich nun ein weiteres Tablett mit Röstbrot mit Tomaten, Käse und, wie Laido nicht umhin kam zu bemerken, jeder Menge Knoblauch an. Die Freiräume auf dem Tablett waren dekoriert mit allerlei gefüllten Cocktailtomaten und Oliven, dazu Paprikastreifen dick bestrichen mit Frischkäse. Das kam für Laidos Empfinden derart mediterran daher, dass er sich nur wundern musste, was solche Gerichte in diesem Hotel machten. Oder anders gewendet: Er fragte sich doch sehr, warum so etwas hier nicht auf den Speisekarten stand – daran konnte er sich nämlich nicht erinnern und es wäre ihm auch bestimmt aufgefallen. Und damit nicht genug: Auf einem großen, runden Pizzateller sammelten sich quadratisch geschnittene Flammkuchen, die teils mit Hack, teils mit Spinat und jeweils jeder Menge anderer Zutaten bestückt waren. Die bereitgestellten Sandwiches wirkten dagegen fast banal, waren für Laido aber auch appetitlich anzuschauen – zumindest diejenigen, bei denen kein Schinken zwischen den Brotscheiben hervorlugte. Selbst einen kleinen Topf mit Nudeln und einem Ragout, das ganz nach Tofu und Pilzen aussah, gab es noch. Davon hatte Laido aber recht früh Abstand genommen – Tofu vertrug er nicht so gut, bildete er sich ein.
    „Gleich kommt der deutsche Beitrag“, kommentierte Melanie irgendwann, nachdem sie zusammen schon einige mehr oder minder interessante Musikbeiträge der Show verfolgt hatten, unter ständiger Zufuhr der bereitgestellten „Snacks und sowas“, welche aber langsam zum Versiegen kam. Übrig geblieben waren vor allem die Sandwiches mit dem Schinken und die Flammkuchen mit dem Hackfleisch.
    „Sag mal“, begann Melanie mit einem Tonfall, der schon bedeutete, dass sie ein Thema abseits des Eurovision Song Contests, der auf dem großen Röhrenfernseher an der Schrankwand einige Meter von ihnen weg flimmerte, ansprechen wollte.
    „Ja?“, erwiderte Laido gespannt.
    „Bist du eigentlich Vegetarier?“
    „Ja.“
    „Ich auch.“
    Da war es wieder, das Lachen, aber diesmal nicht nur ein paar Gelegenheitslacher, sondern aus vollem Halse.
    „Und wofür hab ich dann diese Sandwiches da gemacht?“, fragte Melanie vergnügt.
    „Tja, ich weiß auch nicht“, lachte Laido zaghaft mit, denn jetzt, wo ihm klar wurde, dass Melanie einen Teil des Essens ganz umsonst zubereitet hatte, fühlte er sich fast ein wenig schuldig.
    „Ich war einfach davon ausgegangen… tja, naja, gut zu wissen! Da wird sich dann Gerd über die Reste freuen. Ohne Fleisch geht bei dem nämlich nix. Ich glaube, ich habe schon zu viel Zeit mit ihm verbracht, dass ich schon denke, das sei bei allen Männern so.“
    „Ich hätte es dir vielleicht vorher sagen sollen. Ich dachte, ich ess einfach das, wo ich denke, dass das schon in Ordnung geht, und… beim Frischkäse war ich mir aber nicht so ganz sicher!“
    „Nee, der geht auch in Ordnung. Und wie gesagt, macht ja nichts. Ist jetzt natürlich aber ganz schön ulkig.“
    Melanie strich sich wieder eine ihrer Haarsträhnen aus dem Gesicht. In dem dämmerigen Licht – nur so hatte sich echte ESC-Atmosphäre herstellen lassen – nahm ihre sonst eher blasse Haut einen dunkleren Ton an.
    „Hat jedenfalls gut geschmeckt, vielen Dank!“, bedankte Laido sich aufrichtig. „Da fragt man sich ja, warum du nicht immer hier kochst. Also auch für alle Gäste… also, sofern denn noch andere da wären und überhaupt, meine ich.“
    „Besser als die Spinatspätzle, was?“, grinste Melanie.
    „Tja, äh, wenn du so fragst… die waren aber auch ganz okay, so ist es ja nicht!“
    Allgemeines Schmunzeln. Nach einer Weile drängten sich die Geräusche des Fernsehers in den Vordergrund.
    „Und nun der deutsche Beitrag“, kommentierte die sonore Stimme Peter Urbans.
    „Ich mag den Urban ja nicht“, sagte Melanie, während auf dem Bildschirm die letzten paar Szenen eines dieser kitschigen Einspielfilme über das Gastgeberland flimmerten, in die der Kommentator voreilig reingequatscht hatte. „Der ist immer so… so… ja, wie er eben ist.“
    Laido zuckte mit den Schultern. „Naja, er gehört eben einfach dazu“, gab er sich diplomatisch.
    „Ein Wald, ein verliebter Kuckuck und jede Menge Heimatgefühle – wer hätte gedacht, dass sich eine solche Mischung im deutschen Vorentscheid gegen die modernen Sounds der Konkurrenz durchsetzt?“, fuhr Peter Urban fort. „Wollen wir hoffen, dass das Telefonvoting der deutschen Zuschauer und das Urteil der Jury richtig gelegen haben. Bühne frei für Peter Ladio und seinen selbstproduzierten Song Der Kuckuck ruft deinen Namen. Und vorsichtshalber noch ein Hinweis: Auch wenn die aufgebaute Waldkulisse hier sehr dunkel aussieht, so handelt es sich nicht etwa um den Schwarzwald!“
    „Oh Mann“, kommentierte Melanie etwas hilflos nach einigen Augenblicken. „Hast du den Vorentscheid verfolgt?“
    „So ein bisschen… aber… ja, also an das kann ich mich gar nicht so erinnern. Hatte das wohl… aus den Augen verloren, am Ende.“
    Das stimmte nicht, und Laido wusste das. Er konnte sich zwar an überhaupt nichts mehr aus dem deutschen Vorentscheid zum Eurovision Song Contest erinnern, aber er wusste, dass er sich die Shows auf jeden Fall angeschaut hatte. Weil er es immer so tat. Dass er nun nicht mehr wusste, was dort gewesen war, erinnerte ihn unangenehm an seine rätselhafte Teilamnesie und seine drissige Lage insgesamt. Das versetzte ihm einen kleinen, kaum merklichen Stich in den Brustkorb. Gerade jetzt, wo er diesen ganzen Quatsch mal vergessen hatte, meldete er sich über Umwege dann doch wieder zurück. Dabei wollte er sich gerade gar nicht mit seiner eigenen Situation auseinandersetzen.
    „Ich kam ja diesmal nicht zum Schauen, deshalb… oh, es geht los.“ Melanie richtete ihren Blick wieder gebannt auf den Bildschirm. „Da bin ich ja mal gespannt.“
    Das Bühnenbild bestand aus einigen Fichten oder Tannen aus Pappmaché, die einen äußerst übersichtlichen Nadelwald im Hintergrund formten, der vom Dämmerlicht eines künstlichen Mondes, vielleicht auch einer sehr trüben Sonne beschienen wurde.
    Vor dieser Natur aus Papier hatten sich zwei Figuren postiert, von denen man vorerst nur schattige Silhouetten sehen konnte – das künstliche Mondlicht allein brachte nicht genug Erleuchtung.
    Dann wurde das Playback heraufgefahren, und nach einigen Takten Uhu-, Eulen- und sonstigem Gerufe wurde flächiger Keyboard-Zuckerguss ausgekippt, der in den Spitzen unangenehm übersteuerte.
    Plötzlich gingen zwei Scheinwerfer an, deren Lichtkegel – äußerst blendend – die beiden vorher noch verschatteten Gestalten in den Mittelpunkt rückten. Vom Zuschauer aus links stand die wohl auffälligere der beiden Figuren, ein großer, dicker und brauner Stoffvogel, der wohl eine Eule, einen Uhu oder sonst etwas in der Richtung darstellen sollte. In ihm steckte offenbar ein Mensch verborgen, der hilflos die flauschigen Flügel und drahtigen Beine des Plüschvogels im Takt zu bewegen versuchte. Laido hätte es nicht gewundert, wenn der Eulendarsteller sich jeden Moment den Vogelkopf vom eigenen Haupt gerissen, auf den Boden gepfeffert und dann erst einmal richtig losgeschimpft hätte. Wer wusste schon, ob sich nicht Hape Kerkeling in dieses Kostüm geschlichen hatte und nun die ganze Zeit auf den passenden Moment für seinen Überraschungsauftritt wartete?
    Neben dem überdimensionierten Uhu stand der Sänger des Duos, der das Mikrofon fest umklammerte, seinen Einsatz knapp verpasst hatte und nun immer einen kleinen Tick hinter dem Takt her hinkte.

    „Ich steh hier… vor dem Waaaald… in meinen Träumeeeen…
    es ist Nacht… und mir ist kalt… vor diesen Bäumeeeen…
    doch der Geedaaaaankeee – an dich!
    Hält mich – noch ganz lang frisch!
    Und der Kuckuck ruft, der Kuckuck ruft, deinen Nameeen!

    Und wenn ich deinen Namen ruf, da schallt’s so lieb zurück…
    Wenn ich deinen Namen ruf – da kommt zu mir das Glück!
    Ich deeeenkeee nur an dich! Mein Herz schläääägt nur für dich!
    Und der Kuckuck ruft, der Kuckuck ruft, deinen Nameeeen!“

    Laido sah Melanie an, Melanie sah Laido an. Erst sagten sie nichts. Und dann lachten sie.
    „Wie ist so etwas denn durch den Vorentscheid gekommen, geschweige denn durch das Halbfinale?“, prustete Melanie fassungslos über die nicht enden wollenden Keyboard-Teppiche und den seichten Männergesang hinweg.
    „Ich weiß auch nicht“, meinte Laido kopfschüttelnd. „Da hätte man ja jeden hinstellen können. Dieser Typ da, also nee… da hat der im Vogelkostüm es ja eigentlich noch am besten, den erkennt wenigstens keiner!“
    „Ja… aber hast du gehört, wie der Typ heißt?“
    „Äh, Peter irgendwas, ne?“
    „Peter Ladio. Ladio. Fast wie… Laido.“ Melanie lächelte ihm neckisch zu. „Und wenn man mal genauer hinschaut, diese Kleidung… warum auch immer er die vor so einem Wald tragen sollte.“
    Auch da hatte Melanie recht. Peter Ladio trug eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und darüber genau das schwarze Sakko, das Laido selbst fehlte. Die Frisur war ähnlich, die Haarfarbe stimmte, die Statur war die gleiche und mit etwas Fantasie und bei günstiger Kameraeinstellung erkannte man sogar Ähnlichkeiten in den Gesichtszügen. Laido wusste außerdem zwar nicht, wie er selbst sang, konnte aber nicht ausschließen, dass er dabei so ähnlich klingen würde wie der Kerl dort auf der Bühne. Melanie hatte gut Lachen. Laido selbst war es irgendwie gruselig.
    „Tja… da kann ich wohl nix gegen sagen!“, bemühte er sich, amüsierter zu klingen, als er in Wahrheit darüber war.
    „Seine Doubles kann man sich eben nicht aussuchen, was?“, setzte Melanie nach.
    „Ja, das ist auf jeden Fall so. Aber, immerhin ist ja jetzt direkt bewiesen, dass ich nicht diese Person bin, sonst könnte ich ja schlecht in diesem Moment hier vorm Fernseher sitzen!“
    Melanie lachte auf. Es war als Witz über Laidos Lippen bekommen, aber für ihn persönlich schwang auch ein wenig erleichterte Vergewisserung darin mit. So ganz wusste er ja schließlich nicht, wer er selbst war und was ihn hierhin geführt hatte. Der stichhaltige Beweis, dass er zumindest nicht Peter Ladio sein konnte, beruhigte ihn. Denn wenn er es nicht sicher hätte ausschließen können, hätte er sich wohl schon den ein oder anderen weiteren Gedanken darüber gemacht. Nun aber konnte er sich vollkommen frei von Gedanken anhören, wie Peter Ladio zum letzten Refrain ansetzte.

    „Und wenn ich deinen Namen ruf, da schallt’s so lieb zurück…
    Wenn ich deinen Namen ruf – da kommt zu mir das Glück!
    ICH DEEENKEEEEE NUR AN DICH! MEIN HERZ SCHLÄÄÄÄÄGT NUR FÜR DICH!
    Und der Kuckuck ruft, der Kuckuck ruft, deinen NaaaaaaaaaAAAAAAAMÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖN!“

    Verbeugung, Applaus. Vereinzelt Pfiffe. Aber Peter Ladio schien das alles nicht zu hören und gerierte sich mit seinen Siegerposen wie ein frisch gewählter Papst. Das waren die Momente, die Laido am Eurovision Song Contest eigentlich besonders witzig fand. Dass nun aber eine quasi-Kopie von ihm selbst den Kasper mimte, machte ihm irgendwie ein ungutes Gefühl. Er hoffte, dass dieser Eindruck nicht abfärben würde.
    Peter Urban meldete sich zurück: „Das war er, der deutsche Beitrag in diesem Wettbewerb! Peter Ladio mit Der Kuckuck ruft deinen Namen. Ob es bei der Punktevergabe aus dem Wald hinausschallen wird, wie hereingerufen wurde? Man darf gespannt sein!“
    „Dabei war dieser Vogel nicht einmal ein Kuckuck, sondern ein Uhu“, meinte Melanie resigniert.
    „Ich glaube, das war an der Vorstellung noch das geringste Problem“, erwiderte Laido in ähnlichem Tonfall.
    „Da hast du wirklich recht. Germany – no Points!“
    Das nächste Imagefilmchen über das Gastgeberland wurde eingeblendet, und Peter Urban erzählte irgendetwas darüber, dass hier ein traditionelles Märchen nachgestellt werde, bei dem eine einsame, verarmte Bauerntochter sich ihren Traummann mit Kohle auf altem Briefpapier aufzeichnet, bis dieser dann auf einmal drei Tage vor Weihnachten tatsächlich lebendig wird. Laido hörte aber nicht richtig zu, und auch Melanie schien darauf nicht so rechte Lust zu haben.
    „Weißt du was? Ich finde, jetzt ist es doch Zeit für ein Dessert, nach dem ganzen Essen. Und um das Lied von eben zu verdauen. Oder was meinst du?“
    Laido wurde aufmerksam. Da war es wieder, dieses Dessert.
    „Tja, hm… was gibt es denn?“
    „Da lass dich mal ganz überraschen“, sagte Melanie, war nun schon aufgestanden und lächelte Laido freundlich, aber sonst eher nichtssagend an. „Bist du dabei?“
    Es gab Entscheidungen, bei denen hatte man trotz des Anscheins ja doch keine Wahl.
    „Ja, äh, warum nicht! Ich bin gespannt!“
    „Kannst du auch sein“, meinte Melanie und wandte sich zum Gehen. „Ich bin gleich wieder da…“
    Geändert von John Irenicus (30.09.2016 um 22:19 Uhr)

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    Als Laido aufwachte, fühlte er sich so schwer und warm, dass er zunächst nichts von seinen Rückenschmerzen mitbekam, die ihm durch das Schlafen auf dem zum Sitzen mehr, zum Schlummern minder bequemen Stuhl eingebracht worden waren. Schließlich aber bahnte sich dieses kalte, einem Muskelkater nicht unähnliche Drücken seinen Weg ins Bewusstsein, um selbiges gerade dadurch erst wieder anzukurbeln. Denn unter normalen Umständen hätten ihn die schwere Müdigkeit und das trübe Dämmerlicht nicht derart schnell zu sich kommen lassen.
    Ironischerweise war es dann aber gerade das Dämmerlicht, das Laido den letzten Rest seiner Behaglichkeit raubte und sogar ein klein wenig zusammenzucken ließ. Das Dämmerlicht nämlich bedeutete ESC-Atmosphäre, und das wiederum bedeutete… wo war Melanie?
    Laido war allein im Speisesaal. Auch ein Blick hinüber zum Eingangsbereich des Hotels zeigte diesen als vereinsamt, Licht und Fernseher waren aus, hinter dem Tresen schien folgerichtig niemand mehr zu stehen.
    Der Schrank, in welcher der Fernseher des Speisesaals den Eurovision Song Contest in ihr improvisiertes Wohnzimmer gebracht hatte, stand weiterhin offen, der Fernseher selbst aber… - Laido dachte, er sei ausgeschaltet, aber dann blinzelte er noch ein paarmal und konnte zumindest ein trübes Standbild erkennen. Nur der Ton schien aus zu sein – aber ohne, dass es ein entsprechendes Symbol auf dem Bildschirm verriet.
    Ohne dabei zu ächzen – das machte man sonst ja nur aus Verlegenheit – hob sich Laido vom Stuhl. Seine Schuhe klackerten auf dem Holzboden wie High-Heels, und überhaupt kam er sich inmitten dieser gespenstischen Stille unheimlich laut vor. Dabei wusste er nicht einmal, ab welcher Lautstärke er jemanden wecken würde, weil er ja gar nicht wusste, wo die Hotelfamilie, wie er sie in Gedanken nannte, denn schlief. Falls ihm nicht Theo am Nachmittag bereits unfreiwillig vorgemacht hatte, wo sie schliefen.
    Laido bewegte sich näher zum Fernseher, um einen besseren Blick auf das Bild zu bekommen. Es war so dunkel und krisselig, dass er vom Tisch aus nichts erkennen konnte. Daran änderte sich auch nicht besonders viel, als er auf zwei Schrittlängen herangekommen war. Ein gutes Drittel der linken Bildhälfte war komplett schwarz, nur an den Rändern war es etwas grau. Offenbar zeigte das Bild einen Raum, der nur von der – von der Kameraposition aus gesehen – rechten Seite durch ein schwaches Neonlicht beschienen wurde. Auf der rechten Seite weiter unten, unterhalb des Lichts, war ein großer, länglicher und weißer Kasten zu sehen, der auf Laido wirkte wie eine überdimensionierte Kühltruhe. Abgesehen davon zeigte der Raum wenig, auffällig fand Laido nur die doch sehr kargen Wände, die eigentlich nur blanken Stahlbeton zeigten. Weil das Neonlicht ab und zu auf ihnen flackerte, konnte Laido ausschließen, dass es sich nur um ein Standbild handelte. Aber was für eine Aufnahme war das, die nun schon minutenlang einen fast leeren, dunklen Raum zeigte?
    Laido schreckte kurz auf, als er sich am Kopf kratzen wollte, und in der Aufwärtsbewegung etwas an seinem Hemd berührte, was dort eigentlich nicht hingehörte. Ein Blick nach unten in Richtung Brust brachte ihm Aufklärung: Dort war ein gelbes Klebezettelchen angebracht, das nun, wo er es gestreift hatte, ein wenig schief hing. Vorsichtig zog er es von seinem Hemd ab und sah, dass es in kleiner, ordentlicher Schrift beschrieben war.
    Wenn du immer noch ein Dessert willst, musst du erst in die Küche gehen.
    Laido fühlte, wie sein Verstand nun wieder etwas mehr in Gang kam. Das Dessert, natürlich! Melanie war in die Küche gegangen, um es zu holen… und dann… war Laido dann etwa einfach eingeschlafen?
    Er wandte sich vom Fernseher ab, der immer noch das gleiche Bild zeigte, und begutachtete die Tabletts mit dem Essen, an denen sich nicht viel geändert hatte. Über dem Topf mit dem Pilze-Tofu-Ragout hielt er seine Hand. Kalt. Aber Melanie hatte es warm serviert. Laido kam sich nun zwar einerseits ziemlich pfiffig vor, die Temperatur kontrolliert zu haben, andererseits wusste er ja gar nicht, wie schnell es abgekühlt war, sodass er überhaupt keine Folgerungen daraus ziehen konnte. Auch, dass er hier unten nur noch als einziger weilte, brachte ihm da nicht die Erleuchtung – er konnte nämlich nicht mit Sicherheit sagen, ob Gerd den Tresen nicht schon während der ESC-Sendung, vielleicht sogar schon kurz nach Beginn verlassen hatte. Laido hatte schlicht nicht darauf geachtet, und so war er vollkommen ratlos ob der Frage, wie lange er wohl eingenickt war. Rein gefühlsmäßig konnte es nicht so lange gewesen sein – aber was sagte ihm so ein Gefühl schon? Er befühlte kurz seinen Kopf. Da war kein Haarwirbel.
    Manchmal waren die besten Entscheidungen die, die man nicht selbst traf. Deshalb ließ Laido seine Versuche der Zeitbestimmung bleiben und tapste auf die Küchentür zu, oder besser gesagt auf die Tür, von der er meinte sich erinnern zu können, dass sie in die Küche führte. Sie hatte eine Art Bullauge im oberen Drittel, aber das milchige Glas ließ keine Blicke durch. Aber er sah, dass dort noch Licht war. Also schob er sie langsam auf.
    Die Küche war so klein, dass Laido noch vor dem ersten Blinzeln definitiv ausschließen konnte, dass Melanie hier war. Für ein Hotelrestaurant war sie geradezu winzig, selbst in einem Privathaushalt hätte diese Küche als unzureichend gegolten. Laido selbst jedenfalls hätte niemals eine Wohnung mit so kleiner Küche ausgewählt. Und er hätte auch nicht seine Waschmaschine zwischen den Herd und der Spülmaschine gestellt, so, wie es sich hier darstellte. Insgesamt hatte der Raum eher die Größe einer Abstellkammer und den Charme einer Waschküche, in der man Herd und Mikrowelle für die baldige Abholung vom Sperrmüll zwischengelagert hatte. Der beige PVC-Boden in Kacheloptik tat sein Übriges. Alles in allem erklärte diese Küche die Spinatspätzle, machte das von Melanie zubereitete Festmahl aber zu einem noch viel größeren Rätsel.
    Laido blickte noch einmal auf den gelben Zettel, den er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Die Kugelschreiberschrift war an den Rändern bereits ein wenig verwischt, weil er geschwitzt hatte.
    Wenn du immer noch ein Dessert willst, musst du erst in die Küche gehen.
    Melanie war zwar nicht hier, aber darüber war ja auf dem Zettel auch keine Auskunft gegeben worden. Es ging um das Dessert. Ein solches konnte Laido – was immer es auch für ein Dessert sein mochte – hier in dieser Küche aber auch nicht erkennen. Es sei denn, verbrannte Fettreste auf den Herdplatten galten in diesem Hotel als Dessert.
    Zu seiner Rechten befand sich allerdings ein Kühlschrank, der von außen mit zahlreichen bunten Magneten versehen war, die aber gerade alle keine Funktion hatten, außer eben bunt zu sein. Von allen Einrichtungsgegenständen in dieser Küche schien der Kühlschrank am neuesten und auch am saubersten zu sein. Während das Weiß der Waschmaschine und des Herds durch ein altersbedingtes Gelb abgelöst worden war, blendete die Kühlschrankfassade mit ihrem Strahlen geradezu.
    Laido fackelte nicht lange, es war schließlich nur eine Kühlschranktür und nicht etwa eine Zimmer- oder Toilettentür. Als sie offen stand und innen drin flackernd das Licht anging, gähnte Laido vor allem eine große Leere entgegen. Fast alle Ablagen und Fächer warteten einsam und vergeblich darauf, benutzt zu werden. Nur ganz links unten, da stapelten sich drei kleine Plastikschachteln übereinander, von denen Laido die oberste in die Hand nahm.
    Spinatspätzle – fertig zubereitet! Zum Warmmachen! Ein Schmaus in 3 Minuten!
    Die anderen beiden Schachteln zeigten genau das gleiche Bild. Das erklärte sein Mittagessen im Hotel; Melanies spektakuläres Abendmahl aber blieb weiter im Unklaren. Laido konnte nur mutmaßen, dass sie eben sämtliche Lebensmittel, die im Kühlschrank waren, verarbeitet hatte, und nur diese drei Packungen Spinatspätzle aus gutem Grund zurückgelassen hatte. Einen Mülleimer, um entsprechende Verpackungen oder sonstige Überreste des Kochens aufzuspüren, fand Laido in der Küche allerdings nicht.
    Und was er immer noch nicht gefunden hatte: Das Dessert. Er wollte die Kühlschranktür gerade wieder zumachen, als ihm im letzten Moment die Farbe gelb aufflackerte, von irgendwo her. Er stockte – und sah es. Unter der untersten Spinatspätzle-Packung lag ein gelber Zettel, der ganz klamm, vielleicht auch ein bisschen feucht war.
    Der Kellerschlüssel liegt im Backofen. Ich warte auf dich. ;-)
    Alles in allem hatte Laido wirklich einiges mit Melanie gemeinsam, aber wenn er ehrlich war, so machte ihm diese Schnitzeljagd, die sie unerwartet ausgerufen hatte, wohl weitaus weniger Spaß als ihr. Nicht, dass er etwas gegen Rätsel und lustige Suchspiele hatte – aber nachts alleine in einem fremden Hotel durch Küchen und Keller schleichen, das war nicht so ganz nach seinem Geschmack. Noch dazu, wenn er nicht genau wusste, was ihn erwartete. Er konnte sich natürlich diverse Dinge ausmalen – aber er tat es zur seiner eigenen Sicherheit lieber doch nicht, denn je nervöser er wurde, desto eher stieg die Wahrscheinlichkeit, dass er beim Abstieg irgendwelcher Kellertreppen den einen Fuß nicht mehr richtig vor den anderen setzen konnte.
    Mit dieser Überlegung hatte er allerdings auch schon entschieden, dass er auf Melanies Spiel eingehen wollte. Eine innere Stimme gab zwar ihr bestes, ihn davon zu überzeugen, dass es besser wäre, den Kühlschrank zuzumachen, den Backofen sein zu lassen, die Küche zu verlassen und einfach auf sein Zimmer zu gehen. Stattdessen aber machte Laido den Kühlschrank zu, ging zum Backofen am Herd, öffnete ihn, zog das erstbeste der drei eingelegten Bleche heraus und fand einen antiquiert aussehenden Metallschlüssel, den er sogleich an sich nahm. Zwei Zettel – sie befanden sich nun beide in seiner rechten Gesäßtasche der Hose – und ein Schlüssel machten zwar noch kein Dessert, aber weit konnte der Weg schließlich nicht mehr sein. Und Laido wollte den Weg gehen, allein schon, weil er Melanie nicht enttäuschen wollte, wenn sie sich ja schon einigermaßen Mühe mit diesem Spiel gegeben hatte. Immerhin musste sie es sich ja ganz spontan ausgedacht haben, als Laido eingeschlafen war. Wenn sie nicht alles von langer Hand geplant hatte. Das hätte zwar, so dachte Laido, die ganze Angelegenheit noch ein Stück weit gruseliger gemacht, hätte ihn aber zu noch mehr Respekt genötigt. Alles in allem jedenfalls hieß es wohl nichts Schlechtes, dass Melanie ihn derart interessant fand, dass sie so etwas hier mit ihm veranstaltete.
    Einen weiteren Zettel fand Laido im Backofen nicht, den Eingang zum Keller musste er also selbst finden. Da er keine weitere Tür fand als die, die der Eingangstür zur Küche direkt gegenüber lag, musste er wohl mit dieser vorlieb nehmen. Sie sah auch schon richtig kellerig aus: Wie aus Metall, schwer, alt und mit schwarzen Flecken hier und dort. Zum Schlafzimmer führte so eine Tür wohl nur in ganz speziellen Fällen.
    Er stellte fest, dass die Tür abgeschlossen war. Das war gut, denn so konnte er den Kellerschlüssel benutzen, den er ja auch benutzen sollte. Das Schloss war schwergängig – alles andere hätte Laido auch sehr gewundert – und der Schlüssel krachte, kratzte und knirschte beim Herumdrehen, wie als ob er gar nicht zum Schloss gehörte. Laido drückte die Klinke herunter, die Tür schwang nach innen auf.
    Der Raum, der sich vor Laido nun auftat, war vor allem eines: dunkel. Obwohl ein bisschen Licht aus der Küche hineindrang, schien es, als verschluckte das Innere dieses Raumes sämtliche Helligkeit auf immer und ewig. Laido tastete im Innern die Wand zur rechten, dann zur linken des Türrahmens ab, ohne sich jedoch zu weit in den Raum vorzuwagen. Er fand keinen Lichtschalter, glücklicherweise aber auch keine Spinnen, Spinnweben oder sonstigen ekligen Kram, in den er schon befürchtet hatte versehentlich reinzupacken. Er war nun gezwungen, doch ein Stück weiter in den Raum hineinzugehen, und dadurch ließ er auch ein wenig mehr Licht hinein. Dennoch reichte es nicht weit, und so tastete er sich mit den Füßen weiter vor, ständig erwartend, dass der nächste Schritt ins Leere führte, weil er endlich die Treppe gefunden hatte.
    Das geschah aber nicht. Stattdessen trat er irgendwann gegen eine Wand. Er fühlte Putz oder sonstigen Kram von der Mauer herunter regnen und fuhr sich energisch durch die Haare. So stark sein Wunsch auch war, den von Melanie gelegten Hinweisen nachzugehen, ein bisschen blöd wurde ihm diese Suche jetzt doch. Zumal er sich auf einmal auf äußerst unangenehme Weise beobachtet fühlte. Der Blick zurück in die Küche konnte diesen Eindruck zwar nicht bestätigen. Dafür enthüllte er etwas ganz anderes. Im schwach herein scheinenden Licht erkannte er, dass die Treppe, nach der er gesucht hatte, erstens tatsächlich existierte, sich zweitens aber in genau entgegengesetzter Richtung zu seiner vorigen Suche befand, nämlich vom Eingang aus gesehen direkt links im Schatten der Tür. Als er vorsichtigen Schrittes auf den Treppenabsatz zusteuerte, fand er schließlich auch einen Lichtschalter an der Wand zu seiner nun rechten, dessen Betätigen ein vertrautes, irgendwie dröhniges Knistern ertönen und schließlich grelles Neonlicht aus Lampen direkt über der Treppe erstrahlen ließ. Laido wusste zwar nicht genau, wo diese Treppe ihn nun hinführte, als er sie mit vorsichtigem Schritt beging, aber eines wusste er dabei sehr sicher: Einladend sah das alles nicht aus. Aber jetzt war er schon so weit gekommen, dass er nicht mehr umdrehen wollte, zumal er sich auch nicht sicher sein konnte, dass Melanie ihn nicht doch irgendwie heimlich beobachtete. Wenn er jetzt doch noch Reißaus nahm, dann hatte er ihr Spiel – welches ihm mehr und mehr wie ein Test vorkam – wohl verloren. Deshalb wollte Laido nun vor allem eines, nämlich die ganze Sache zügig hinter sich bringen und Melanie hier unten finden.
    Die Treppe war nicht besonders lang, was Laido angesichts der viel zu eng bemessenen Stufen auch ganz lieb war. Als er sie verlassen hatte und unten stand, hatte er damit auch einen Großteil des Lichts aus den Neonröhren weiter oberhalb verlassen und war somit nur noch wenige Schritte von ihn verschluckender Dunkelheit entfernt. Allerdings war dieser dunkle Flecken, der sich nun in dem Gang vor ihm auftat, nicht besonders groß. In etwa nach zehn bis fünfzehn Schrittlängen, so schätzte Laido vom Treppenabsatz aus, wurde er wieder durch Neonlicht, diesmal flackernd, unterbrochen. Das Licht kam aus einem Raum rechts vom Gang, und Laido konnte sich schon jetzt ausmalen, wie dieser Raum aussehen würde, wenn er das Flackern des Lichts richtig deutete. Er war erneut zwiegespalten: Einerseits war es wirklich fantastisch, was Melanie für einen Aufwand betrieb, nur um Laido in dieses mysteriöse Spiel hineinzuziehen. Andererseits war es aber auch ziemlich seltsam und gruselig in sich selbst, dass Melanie einfach mal spontan beschlossen hatte, aus einer harmlosen Einladung zu einem Dessert ein mysteriöses und doch leicht bizarres Suchspiel zu machen. Sie musste sich wohl ziemlich sicher gewesen sein, dass Laido jemand war, der auf so etwas einstieg. Allein deshalb aber wollte er ihr Vertrauen und ihren guten Willen nicht enttäuschen. Er setzte sich wieder in Bewegung.
    Seine viel zu schicken Schuhe ließen die Schritte an den kahlen und schwarzgrauen Kellerwänden widerhallen, als Laido sich zunächst aus dem restlichen Licht heraus in den dunklen Flecken wagte um diesen nach einigen weiteren Schritten wieder zu verlassen. Ein wenig spielte seine Fantasie dabei mit ihm, mehr noch, als er mit ihr spielte, und er stellte sich vor, als habe er nun eine Art unsichtbare Barriere durchschritten, die sich irgendwo in diesem unbeleuchteten Flecken auf dem Gang befinden musste. Tatsächlich lief ihm währenddessen auch ein Schauer über seinen Rücken, wobei das eher daran lag, dass es hier im Keller äußerst kühl war. Zusätzlich zu den Schrittgeräuschen gesellte sich ein Brummen wie das eines Transformators, sowie das höhere Sirren samt Klackern der flackernden Neonröhren aus dem Nebenraum. Laidos Fantasie schlug daraufhin auch das Szenario eines Maschinenraums in einer Art verrücktem Labor oder stillgelegtem Raumschiff vor – diese Vorstellung war ihm dann aber doch zu albern. Als er sich von seinen Fantasien befreit hatte, bog er endlich nach rechts ab und trat in den Raum, aus dem das Licht kam – und sah genau das, was er erwartet hatte.
    Beim Eintreten fiel sein Blick direkt auf den großen, weißen und länglichen Kasten, den er oben im Speiseraum auf dem Fernseherbild gesehen hatte und der sich nun tatsächlich als überdimensionierte Kühltruhe entpuppte, von der auch das Transformatorbrummen kam. Dies hier war also wirklich der Raum, den er oben auf dem Bildschirm rätselnd beobachtet hatte. Sein Blick ging nun hinauf zur Decke, auf der Suche nach einer Überwachungskamera, aber in dem flackernden Licht der Neonröhren, welches seine Augen mehr und mehr strapazierte, konnte er nichts entdecken. Offenbar hatte Melanie die Kamera nur allzu gut versteckt, was Laido wiederum erschaudern ließ. Hätte er nicht gewusst oder zumindest die starke Vermutung gehabt, dass Melanie das alles nur witzig meinte, er hätte sich selbst wie ein Gefangener oder ein Versuchsobjekt gefühlt. Das Aufsetzen einer Kameraleitung von hier unten bis nach oben zur Direktwiedergabe auf dem Fernseher stellte er sich jedenfalls nicht gerade einfach vor. Ferner konnte er sich nun kaum noch vorstellen, dass Melanie das alles spontan ersonnen haben konnte, von daher musste es vorbereitet gewesen sein. Ein wenig enttäuschend fand Laido das schon, denn in der kurzen Zeit, in der Melanie ihn kannte, konnte sie das alles schlicht nicht erdacht und umgesetzt haben. Deshalb fühlte er sich ein bisschen wie ein zufälliger Teilnehmer von Melanies Spiel, die dieses nicht wegen ihm, sondern um des Spielens selbst willen trieb. Das war zwar noch immer irgendwie beeindruckend und spektakulär, aber so fühlte es sich einfach nicht mehr persönlich an. Gerade weil Laido ja nicht nur der einzige Gast im Hotel, sondern offenbar auch der erste Gast seit langem war, kam er sich nun wie die erstbeste Person vor, an der Melanie ihr Spielchen ausprobieren konnte. Davon wollte Laido sich zwar dennoch nicht herunterziehen lassen, denn immerhin fand Melanie ihn offenbar auch nicht so doof, dass sie lieber auf einen anderen für die ganze Aktion warten wollte. Aber ein bisschen nagte dieser Umstand dann doch an ihm. Nichtsdestotrotz sollten auch diese Gedanken ihn nicht davon abbringen, weiter nach Melanie und dem versprochenen Dessert – was immer es auch sein mochte – zu suchen. Das war ihm fast ein wenig peinlich, da nun so hinterher zu sein, aber das sprach ja gerade dafür, dass Melanie sich da etwas Interessantes ausgedacht hatte. Nochmals: Was auch immer das sein mochte. Im Moment wollte sich Laido lieber noch nicht eingestehen, was er selbst dabei so alles im Kopf hatte.
    Nachdem Laido den Kellerraum noch ein wenig weiter untersucht hatte, musste er feststellen, dass er bereits alles gesehen hatte, was es hier gab. Die riesige Kühltruhe, das flackernde Neonlicht, sonst nichts als graue Wände, grauer Boden und die graue Decke sowie kühle, feuchte Luft. Abgesehen von der weißen Kühltruhe war der Raum also leer, sodass Laido sich ihr nun näherte, denn Melanie hätte diesen Raum wohl kaum aufwendig oben auf den Fernseher projiziert, wenn sie damit nicht einen Hinweis hätte legen wollen.
    Die Truhe sah ein bisschen aus wie die Kühltruhen im Supermarkt, nur, dass diese hier einen großen, schweren Deckel besaß, der ein bisschen an den Deckel eines Kopierers oder Scanners erinnerte. Bis auf die schiere Größe der Truhe erkannte Laido keinerlei Auffälligkeiten an ihr, was ihn ein bisschen entmutigte. Er hatte gehofft, Melanie hätte einen weiteren, vielleicht letzten Hinweiszettel an ihr angebracht, doch konnte er im flackernden Neonschein keinen solchen Papierfetzen erkennen. Deshalb lag es für ihn nur nahe, dass er die Kühltruhe wohl einfach aufmachen sollte. Dieser Gedanke aber war ihm irgendwie unangenehm, sodass er noch eine weitere Weile an der Truhe nach weiteren Hinweisen herumsuchte, bis er sich diesem Gedanken endgültig stellte. Gerade weil es ihm immer eindeutiger vorkam, dass er die Truhe zu öffnen hatte, war ihm dieser Umstand so unangenehm. Ein Gefühl hatte ihn beschlichen, wie eine leise, subtile Warnung, dass er die Truhe besser nicht öffnen sollte, einfach, weil er es nicht durfte. Weniger, weil er möglicherweise einem Missverständnis aufsaß, sondern weil das, zu was Melanie ihn durch diese nächtliche Schnitzeljagd durch das Hotel bringen wollte, doch nicht so ganz richtig war, irgendwie falsch oder gar verboten. Laido kannte sich nun zwar selbst genug, um zu wissen oder zumindest zu ahnen, dass dieses Gefühl auch ganz einfach daher kommen konnte, dass er dann doch ein bisschen viel Respekt vor dem weiteren Verlauf des Abends mit Melanie hatte, weil er ja nicht wusste, was alles noch passieren würde, Vorfreude hin oder her. Aber auch ganz abgesehen von diesem Faktor hatte dieses seltsame Gefühl Bestand. Im Moment wünschte sich Laido einfach wieder nach Hause, weg von diesem Ort, entbunden von der Pflicht, hier eine Entscheidung zu treffen, die Truhe zu öffnen oder nicht. Dabei hatte er nicht einmal so eine richtige Ahnung, was er dort finden konnte. Theoretisch war es sogar möglich, dass er dort gar nichts fand, außer einem weiteren Hinweiszettel, der ihn zur nächsten Station seiner Suche leiten sollte. Aber diese Möglichkeit lag wiederum nicht in seinem Gefühl. Denn dieses sagte Laido ja gerade, dass er höchstwahrscheinlich am Ende der Suche angelangt war. Von daher war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich in dieser Truhe nun das Dessert befand, wie auch immer es aussehen mochte. Laido erkannte es zwar ebenso als theoretische Möglichkeit, war aber zu wenig naiv um zu glauben, dass er dort einfach eine Packung Vanille- oder Schokoeis finden würde. Die Vorstellung, dass sich Melanie selbst in dieser Truhe befand, in welcher Weise auch immer verkleidet als ein Dessert, die kam ihm selbstverständlich auch den Sinn, war aber so absurd, dass er sein unheimliches Gefühl sogar für einen Moment vergessen und schmunzeln konnte.
    Letzten Endes musste Laido sich eingestehen, dass all das Überlegen, Hadern und Zögern zu keinem Ergebnis führte. Er wusste schlicht nicht, was sich in der Eistruhe befand, er wusste auch nicht, warum er so ein unangenehmes Gefühl bei dem Gedanken hatte, sie zu öffnen. Aber er hatte es. So sehr, dass er, als er seine Hand dann doch mal zaghaft nach dem Truhendeckel ausstreckte, einen heftigen Impuls unterdrücken musste, sie sofort wieder wegzuziehen. Es war, als sei er in dem Glauben gefangen gewesen, die Kühltruhe stünde unter Strom oder löste bei Berührung einen Alarm aus, der ihn des unbefugten Betretens der Kellerräume überführen würde. Je näher er der Öffnung des Truhendeckels kam, desto mehr sträubte sich sein Inneres dagegen und desto mehr Gründe, es doch lieber sein zu lassen, erfand sein Verstand. Sein Verstand und seine Erfahrungen sagten ihm aber auch, dass er in einer solchen Situation nur den Schein einer Wahl hatte. Denn ließ er die Truhe ungeöffnet und ging einfach wieder in sein Hotelzimmer hinauf, so würde er sich nicht nur die gesamte Nacht, sondern vermutlich auch sein gesamtes restliches Leben fragen, was passiert wäre, wenn er die Truhe eben doch geöffnet hätte. Allein um das zu vermeiden packte er nun mit beiden Händen beherzt zu, hob den Deckel an und klappte ihn nach oben weg, um so den Blick ins Innere der Kühltruhe freizulegen.
    Ein weißer, kalter Nebel strömte heraus und ließ Laido blinzeln und blinzeln, bis die Sicht endlich wieder halbwegs klar wurde. Als er dann erkannte, was dort in der Truhe inmitten Brocken aus Eis lag und damit der richtige Zeitpunkt gekommen war, um den Truhendeckel schreiend wieder zuzustoßen, war Laido bereits wie festgefroren und konnte nur noch starren, starren auf diesen schwarzen Smoking, in dem ein beleibter Mensch lag, leblos in diesem Eis mit kleinen, weißen Kristallen in seinen grauen Haaren und schwarzen, dunklen Augen, die ausdruckslos und frierend ins Nichts blickten. Es war das zweite Mal, dass Laido diesen Mann an einem Ort liegen sah, an dem er ihn nicht erwartet hatte. Dieses Mal aber war er sich sicher, dass er diesen Mann nie wieder sprechen hören würde.
    Endlich ließ Laido den Deckel wieder los, doch er blieb aufgeklappt, wollte den schrecklichen Anblick des toten Theo, einmal enthüllt, nicht mehr verdecken. Laido hatte kaum Zeit, das Erlebte richtig aufzunehmen, blieb nach seinem eigenen Dafürhalten sogar erstaunlich ruhig, dafür, dass er gerade eine Leiche entdeckt hatte. Mit zugeschnürter Kehle und inmitten weißen Nebels suchte er nach Erklärungen für das Geschehene, hoffte auf die große Auflösung, auf einen Teil des Spiels mit Melanie, in das Theo doch bloß eingeweiht war, Theo, der vielleicht gar nicht tot war, der vorher nur im Hotelzimmer geübt hatte, wie man am glaubwürdigsten scheintot herumlag, alles ergab ein bisschen Sinn, alles, wenn da nur nicht der Anblick Theos gewesen wäre, der so offensichtlich tot, so offensichtlich real war, dieser Anblick, der alle angenehmen Erklärungen wieder hinwegfegte wie ein Wintersturm. Und trotzdem blieb Laido ruhig, trat ein paar Schritte von der Truhe zurück, trat dann wieder heran, und fühlte sich irgendwie verpflichtet, doch noch einmal zu überprüfen, ob Theo vielleicht noch lebte. Er streckte gerade die Finger aus, um sie an die Kehle des starren Theos zu legen, als er hinter sich einen Luftzug spürte, der nur von der Bewegung eines anderen Menschen im Raum gekommen sein konnte. Heftig wandte Laido sich um, wie, als wollte er einen ganz eigenen Luftzug entfachen, der den potentiellen Mörder hier im Raum mit großem Wind an die Wand faustete, doch dergleichen geschah natürlich nicht. Stattdessen blickte Laido in ein gelb leuchtendes, katzengleiches Augenpaar, welches trotz aller Fremdartigkeit zu einem Menschen gehörte, einem Menschen, den Laido diesmal sehr wohl hier unten erwartet hatte, aber doch in ganz anderer Form. Das Leuchten der Augen erwischte genug vom Gesicht seines Gegenübers, dass er es unzweifelhaft erkennen konnte: Dort stand Melanie, die sich hier unten versteckt haben musste, den Mund zu einem entrückten Lächeln verzogen, die Hände vor sich erhoben mit je zwei metallenen Stielen in der Hand, die Laido in seinem Grausen und im flackernden Licht zunächst als Messer identifizierte.
    „Möchtest du einen großen oder einen kleinen Löffel für das Dessert?“, fragte Melanie und machte einen Schritt auf Laido zu. Das erneute Aufflackern der Deckenleuchten enthüllte, dass Melanie wohl tatsächlich Löffel und nicht etwa Messer in ihren Händen hielt, aber das war Laido nun egal. Auf der Stelle drehte er sich um und eilte aus dem Raum heraus, fühlte Melanies gelb glühende Augen in seinem Rücken und beschleunigte seinen Schritt noch einmal, als er zurück im Gang war. Die ganze Szenerie hier unten hatte ihm bestätigt, dass Melanie in der Tat ein Spiel ausgedacht hatte, aber keines, was er noch länger zu spielen gedachte. Sie hatte ihn gelinkt, sie war nie die nette und harmlose Bekanntschaft gewesen, als die sie sich präsentiert hatte. Nicht nur, dass sie Theo, ihren eigenen Vater ermordet hatte, nein, sie hatte ihn dann auch noch in diese Kühltruhe gesteckt und zu allem Überdruss noch dieses bizarre Spiel erdacht, um Laido in eben die gleiche Falle zu locken. Er musste hier weg, so schnell es ging, aber vorher, vorher wollte er noch Gerd warnen. Davor warnen, dass die Tochter seines Kollegen eine im wahrsten Sinne des Wortes eiskalte Mörderin war, eine Mörderin mit Löffeln in der Hand, mit denen sie die Augäpfel aus den Höhlen ihrer Opfer -
    Laido stürzte beinahe und konnte sich glücklicherweise gerade noch durch einen rechtzeitigen Ausfallschritt auf den Beinen halten, als das von der in einigen Metern Entfernung liegenden Treppe kommende Licht mit einem Knall ausfiel. Physisch fing sich Laido zwar nach dieser Überraschung wieder, mental jedoch machte die Dunkelheit einiges aus, zumal sie von zwei scheinwerferartigen gelben Lichtpunkten von hinter seinem Rücken durchbrochen wurde. Melanie durfte ihn nicht auch noch kriegen, auf gar keinen Fall. Wenn er es bis zu Gerd schaffte – wo immer er sich in diesem Hotel auch gerade aufhielt – dann hatten sie noch eine Chance.
    Laido stürmte wieder los, ohne Rücksicht auf Verluste, welche er dann auch sogleich einfuhr, als er am Treppenabsatz angekommen war, nach drei Stufen den Halt verlor und zunächst einmal mit dem Knie an der Kante der nächsten Stufe aufkam. Kalter Schmerz durchschoss seinen Körper, aber trotz der Intensität wirkte er nicht lähmend, sodass Laido sich ungelenk wieder hochkämpfte, nur um beim nächsten Schritt erneut zu stolpern und sich schließlich mit dem Kopf an einer der Treppenstufen weiter oben zu stoßen. Zum kalten Schmerz gesellte sich nun ein sehr heißes Gefühl am Kopf, Laido war sich sicher, dass er nun blutete. Aber auch das bremste ihn nicht, und beim dritten Anlauf hatte er seinen Tritt auf dieser Treppe mit den bösen und engen Stufen gefunden und hastete hinauf. Oben angekommen widerstand er dem Drang sich umzudrehen und stürmte durch die glücklicherweise immer noch offene Tür, die er hinter sich zuknallen wollte. Sie fiel dabei aber nicht ins Schloss sondern krachte nur einmal laut, um dann wieder aufzuschwingen. Als Laido den Zwischenraum in die grelle Küche verließ, kramte er irgendwo nach einem Schlüssel, denn er erinnerte sich, hier irgendetwas mit einem Schlüssel gemacht zu haben, doch er fand nichts mehr, in seiner Hosentasche befanden sich nur noch die wirren Zettel von Melanie, die er entsetzt fallen ließ. Den Weg hinter sich wusste er nicht zu versperren, sodass er lieber erneut sein Heil in der Flucht suchte, bevor Melanie es ebenfalls die Treppe hinauf geschafft hatte. Er konnte nicht ganz sagen, wieso, aber er fürchtete sich, sie nun im hellen Licht zu sehen, selbst, wenn dann das Glühen ihrer Augen nicht mehr so schlimm sein würde.
    „Gerd!“, schrie Laido schrill, während er aus der Küche hinaus in den Speiseraum rannte. „Gerd, wach auf!“
    Seine Worte verhallten in den Räumlichkeiten, die zu Laidos großer Erleichterung alle noch erleuchtet waren, denn die Lichtschalter hier hätte er wohl kaum schnell genug gefunden. Von Gerd war jedoch keine Spur, und auch als Laido zum Tresen blickte, sah er dort niemanden. Sein erster Impuls ging dahin, nun nach oben zu den Zimmern zu laufen, da er vermutete, dass Gerd dort irgendwo schlief. Als er jedoch hinter sich aus der Küche ein Scheppern hörte, das wie das Fallen von jeder Menge Besteck – Löffel, jeder Menge Löffel – auf den Boden klang, erkannte Laido, dass er dafür nicht mehr genug Zeit haben würde. Das Telefon!, schoss es ihm dann durch den Kopf, und sein Blick fiel auf das Telefon an der Rezeption, von dem Gerd immer wieder gesprochen hatte. Er musste die Polizei rufen und sich dann irgendwo verschanzen, bis sie kamen. In der Zwischenzeit würde vielleicht auch Gerd wach geworden sein, sodass sie sich gemeinsam verteidigen konnten gegen Melanie, nein, gegen diese Person, diese irre Mörderin, die die Rolle der Melanie angenommen hatte, um sie alle zu täuschen.
    Der Lärm in der Küche war wieder verklungen, aber das beruhigte Laido ganz und gar nicht. Er stürmte aus dem Speisesaal heraus in den Eingangsbereich und sprang, weil er nicht um die Rezeption herumlaufen wollte, direkt über den Tresen, um an das etwas altertümlich anmutende Telefon mit Wählscheibe zu kommen, das neben einer ausgedienten Rezeptionsklingel Platz gefunden hatte. Mit zitternden Fingern, aber doch beim ersten Versuch erfolgreich wählte Laido die 110 und blickte dabei immer wieder nervös in den Speiseraum, hin und hergerissen zwischen dem Wunsch, Melanie nicht erblicken zu müssen und der Notwendigkeit, auf ihren Angriff vorbereitet zu sein.
    Erst dann bemerkte Laido, dass das Telefon tot war. Er wählte wahllos irgendwelche Tasten, wählte ein paar Mal die Null, wusste dann aber nicht mehr, was er noch tun sollte, bis er erkannte, dass das Kabel zum Telefon hin in der Mitte durchtrennt worden war. Melanie hatte also geahnt, was er versuchen würde.
    „Gerd!“, brüllte Laido und warf den Hörer in seiner Hand achtlos weg. „Gerd! Wo bist du? Komm runter, Gerd!“
    Aus dem Speiseraum hörte Laido nun die Dielen knarzen, den furchtbaren braunen Boden, während er selbst den Schreibtisch am Tresen nach irgendetwas durchforstete, was ihm helfen konnte. Aber er fand nichts, bis er gar nicht mehr suchen, sondern nur noch zittern konnte. Gerade wollte er sich entscheiden, ob er sich nun einfach unter dem Tresen ducken und verstecken oder noch schnell zur Treppe nebenan hinauf zu den Zimmern huschen wollte, als er hörte, wie jemand durch die Eingangstür zum Hotel kam.
    Laido hoffte inständig, dass es Gerd war, als er den Tresen durch die Lücke links neben ihm wieder verließ und der Eingangspforte beim Aufschwingen zusah, die sich wie in Zeitlupe Zeit ließ, viel zu lange Zeit, sodass Laido schon einen Schritt nach vorne ging um sie aufzureißen und Gerd zu warnen – bis sie plötzlich doch offen stand und eine Person offenbarte, die zwar sicherlich ein Mann, sicherlich aber auch nicht Gerd war. Es war ein mittelgroßer Kerl mit ebenso mittlerem bis fortgeschrittenem Alter, südländischen, schwarzen Haaren und einem schwarzen Schnauzbart. Er trug einen dunklen Mantel – und in der Hand, direkt vor sich ausgestreckt und nun auf Laido richtend, eine Pistole.
    „Ich… ich brauche Hilfe!“, flehte Laido ihn an und gestikulierte wild, wusste nicht, wie er dem aufgetauchten Neuankömmling schnellstmöglichst die Lage erklären sollte. „Da ist eine Frau… ich… ich bin hier nur…“
    „Mich interessiert nicht, wer du bist“, sagte der Mann kühl und richtete den Lauf seiner Waffe nun direkt auf Laidos Kopf. „Ich bin Diego. Und du hättest hier niemals herkommen sollen.“
    Laido war so entsetzt, dass er nicht einmal vor Entsetzen schlucken konnte. Das war also das Ende. Er war als harmloser, verwirrter Gast in eine der tödlichsten Fallen getappt. Er sparte es sich, noch einmal nach Gerd zu rufen. Vielleicht steckte der Gastwirt sogar in diesem perfiden Spiel mit drin. Laido schloss die Augen, wollte seinen Tod nicht mit ansehen, als er darauf wartete, dass der Mann mit der Pistole ihm eine knallende Kugel in den Kopf jagte.
    Doch was Laido dann hörte und spürte, war kein Knall. Es war das dumpfe Auftreffen eines schweren Gegenstandes auf seinem Hinterkopf, der ihn binnen Sekunden zu Boden schickte und ihn zusätzlich zu den bereits geschlossenen Augen nun auch aller anderen Sinne beraubte.
    Geändert von John Irenicus (07.10.2016 um 17:26 Uhr)

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    Leise pfeifend trägt der Wind die losen Blätter durch die Luft. Sie tanzen, wirbeln durcheinander, gehen auf und nieder. Wie von unsichtbarer Hand geführt steigt der aus ihnen geformte, instabile Schwarm weiter in die Höhe, beschreibt schlangenförmige Bewegungen und hat kein Ziel, lässt sich einfach treiben.
    Ein einzelnes Blatt löst sich aus dem Kollektiv. Es wird empor gehoben, viel weiter, viel höher als alle seine Artgenossen. Einen Moment lang scheint es, als schwebe es unaufhaltsam der Sonne entgegen, doch mit einem Schwung ändert es seine Richtung. Das braune, welke Etwas fällt wieder herunter, aber statt einem Sturz erliegt es einfach nur der sanft kreisenden Flugbahn, die zurück zum Boden führt.
    Dann aber rauscht ein erneuter Windstoß heran und trägt das Blatt noch eine Weile weiter, bewahrt die Bewegung vor dem endgültigen Verebben.
    Doch bevor es zu weit in die Ferne schweift, fängt es an zu trudeln. Nicht heftig, sondern gemächlich, ohne Eile sinkt es weiter, weiter und weiter, bis es endlich wieder Kontakt zu etwas anderem als der Luft hat, etwas Kaltem. Erschöpft durch die Reise will es dort liegen bleiben und sich ausruhen, doch kaum berührt es die Ruhestelle, wird es schon wieder fortgestoßen.


    „Hast du ihn gefunden?“
    „Hier drüben, ja! In dieser Bruchbude! Oder was davon übrig ist. Er ist wirklich hier!“
    „Na Gott sei Dank, dann kann ich heute vielleicht doch noch pünktlich Feierabend machen.“
    „Sag das nicht, wer weiß, was noch kommt.“
    „Puls ist aber da?“
    „Absolut. Schneller als meiner.“
    „Dann kann es so schlimm ja nicht sein.“

    Laido wurde wach, als er mehr oder minder sanfte Ohrfeigen und schließlich einen Schwall kalten Wassers in seinem Gesicht spürte. Noch bevor er die Augen aufriss, hörte er ein Rauschen. Dann blickte er in zwei Gesichter, die von oben auf ihn herabschwebten. Eine Situation wie beim Zahnarzt, nur dass die beiden Männer nicht in weiß, sondern in blau gekleidet waren.
    „Du, ich glaube, der ist noch ganz weg“, meinte der eine von den beiden, der jüngere, als Laidos Augen wieder von alleine zufielen. „Dann stimmt das vielleicht doch, mit den Drogen.“
    „Der ist einfach noch müde“, antwortete der ältere unwirsch. „Wenn du schon einmal in einem abgerissenen Hotel übernachtet hättest, dann würde dir das genau so gehen. Auch ohne Drogen.“
    „Wenn du meinst“, sagte der jüngere nun wieder. „Und was machen wir jetzt?“
    „Aufwachen… hey, aufwachen!“
    Laido spürte erneut die Ohrfeigen im Gesicht, diesmal etwas stärker als vorher. Seine Augen sprangen wie von selbst wieder auf.
    „Sind Sie bei uns?“, sagte der ältere der beiden Männer, und als dieser sich neben Laido kniete und ganz dicht an ihm dran war, erkannte Laido ihn und seinen Kollegen als Polizisten.
    „Ich… ich glaube schon, ja…“
    Laidos Kehle war ganz trocken und staubig, und letzteres nicht nur im übertragenen oder gefühlten Sinn, sondern ganz tatsächlich, denn nach dem Sprechen musste er husten und würgte ein paar undefinierbare, weiße Bröckchen hervor, bevor er sich wieder beruhigte.
    „Wollen wir nur hoffen, dass das kein Asbest ist“, sagte der jüngere Polizist von oben, der im Gegensatz zu seinem älteren Kollegen noch immer seine Polizeimütze trug und keine Anstalten machte, sich zu Laido herunter zu beugen.
    „Ich… lebe wohl noch“, gab Laido seine Vermutung zu Protokoll. Er wusste kaum, wie ihm geschah, aber der Hustenanfall war ein eindeutiges Indiz dafür gewesen, dass er noch nicht im Jenseits weilte. In der Hustenhölle allerhöchstens, aber das war ganz sicher Quatsch. Seine Gedanken flirrten.
    „Gerade so“, antwortete der ältere Polizist und fuhr sich durch seinen Vollbart. „Hätte Ihren schicken Sportwagen auch komplett auf der Autobahn zerlegen können. Sie sind ja wenigstens noch auf diesen Rastplatz eingebogen. Den Zaun dort hinten haben Sie aber fast durchbekommen, Respekt. Aber an Ihrer Stelle wäre ich wenigstens im Auto sitzengeblieben, statt mich hier in diesen Trümmern schlafen zu legen. Sie haben ganz schön was intus, oder?“
    „Ich weiß gar nichts“, antwortete Laido und sagte damit alles, was er momentan wusste. Die ganze Situation überforderte ihn. Als er sich endlich aufsetzte und von Schwindel geplagt den Kopf nach links und rechts bewegte, sah er sich am Rande einer Autobahn auf einem Rastplatz sitzen, genauer gesagt auf einem Rastplatz inmitten von Trümmern eines halb abgerissenen Gebäudes, das wohl mal eine Gaststätte oder vielleicht sogar ein Motel gewesen sein musste.
    „Hat Ihnen das Ihr Anwalt gesagt?“, mischte sich der jüngere Polizist nun wieder ein. Er nahm nun doch noch seine Mütze ab. Auf dem Kopf war er ebenso haarlos wie am Gesicht. Augenbrauen und Wimpern, das war alles.
    „Ihren Namen werden Sie aber doch wohl noch wissen, oder?“, setzte der Glatzkopf nach.
    „Wie ist Ihr Name?“, hakte der ältere Polizist nach einer kleinen Pause in etwas milderem Tonfall nach.
    „Laido…“, murmelte Laido kraftlos. „Laidoridas.“
    „Na, der geht ja mal voll in seiner Bühnenrolle auf, was?“, sagte der Glatzkopf. „Wäre er mal besser dabei geblieben.“ Der Polizist drückte ein paar mal auf die fast leere Wasserflasche in seiner Hand. Laido fühlte sich in seiner Wahrnehmung zwar noch etwas eingeschränkt, aber das mit dem Kerl dort nicht gut Kirschen essen war, das erkannte er auch so.
    „So sind sie wohl, die Künstler“, murmelte sich der ältere Polizist in seinen Bart, aber Laido hatte schon wieder ganz vergessen, an welche Worte seines Kollegen er damit anschließen wollte. Rauschen füllte wieder Laidos Kopf. Es kam von den vorbeirasenden Autos auf der Autobahn.
    „Aber Ihren bürgerlichen Namen, den bekommen Sie doch auch noch hin, oder?“
    Laido wollte seinen Kopf schütteln, blickte aber starr irgendwo hin. In die Ferne. Dort sah er einen Zaun, einen hohen, grünen Zaun, wie er den Rastplatz von einem Wald abtrennte. An einer Stelle, nicht weit von seiner momentanen Position, sah er ein geparktes Auto, bis er erkannte, dass es nicht geparkt, sondern gecrasht war, mitten in den Zaun hinein. Eine schöne, schwarze Limousine. Ein bisschen sehnte sich Laido nach bequemen Autositzen, selbst wenn er Autositze eigentlich immer unbequem fand. Aber es tat ihm so vieles weh, sein Rücken, seine Gelenke, sein Kopf. Es schüttelte ihn vor Kälte, alles schien nass, es musste vor kurzem geregnet haben.
    „Ihren Namen!“, forderte der alte Polizist ihn noch einmal auf und packte ihn streng an beiden Schultern, um den Blick wieder auf sich zu ziehen. Laido starrte noch ein bisschen mehr. Dann fühlte er einen schmerzhaften Ruck durch seinen Leib gehen, wurde wie von Geisterhand vornübergebeugt – und erbrach sich mitten auf die schwarzen Schuhe des Polizisten, der sich nur noch nach hinten kippen lassen konnte, um irgendwie auszuweichen.
    „Boah, nee ey…“
    „Ich hab’s dir doch gesagt. Komm dem Mörder nicht zu nahe.“
    „Brauche eh neue Schuhe, die Dinger sind schon lange fertig“, brummte der ältere Polizist verärgert.
    „Ja, dann viel Spaß beim Anträgeausfüllen bei der Verwaltung. Du bist dann wahrscheinlich Nummer einhundertvierzehn auf der Liste.“
    Laido hatte sich inzwischen wieder gefangen, zumal sein Würgen und Erbrechen mehr Wasser als Festes zu Tage befördert hatte. Er schnappte noch ein wenig nach Luft, während er sich an den älteren Polizisten wandte, der vorsichtshalber wieder aufgestanden war und sich mit ein paar welken Blättern aufs Gröbste die Schuhe zu säubern versuchte.
    „Tut mir leid, mir ist einfach so… komisch. Ich wollte das nicht… ich weiß ja nicht einmal, was hier los ist.“
    „Da zeigt er dann doch noch Reue, was?“, sagte der Glatzkopf und beugte sich nun doch zu Laido herunter, indem er seinen Oberkörper mit den Händen auf den Oberschenkeln abstützte. Die blauen Augen funkelten Laido aggressiv an. Es schien, als wollte der Polizist noch etwas sagen, stattdessen aber blieb es bei dem strengen Blick.
    „Können Sie mir vielleicht sagen, was los ist? Ich fühle mich hundeelend und weiß gar nicht, wie ich hier hergekommen bin.“
    „Mit dem Auto, wie sonst?“, meinte der Glatzkopf. Sein älterer Kollege übernahm wieder.
    „Sie wissen es wirklich nicht, oder?“
    „Was weiß ich nicht?“, fragte Laido, und das ungute Gefühl in ihm, das sich nach und nach aufgebaut hatte, intensivierte sich umso mehr. Der Polizist mit dem Bart baute sich noch einmal vor ihm auf.
    „Thomas Leidel, Sie sind Beschuldigter im Mordfall Theodor Greco. Ihnen wird vorgeworfen, Ihren Manager getötet zu haben. Sie sollen ihm vor einem Auftritt im Backstagebereich des Jokus mit einem Messer siebzehn Mal in die Brust gestochen haben, gestern Abend um circa 20:10 Uhr. In Betracht kommt also eine Strafbarkeit wegen Mordes nach Paragraph 211 des Strafgesetzbuches. Nach dem Gesetz steht es Ihnen frei, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder gar nicht zur Sache auszusagen. Sie können außerdem…“
    Weiter kam der Polizist nicht, denn der Rest an Flüssigkeit, der sich ganz tief in Laidos Magen versteckt haben musste, kam nun doch noch einmal hervor. Dann wurde Laido wieder schwarz vor Augen.

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    „Bitte haben Sie noch einen Moment Geduld. Herr Martini ist gleich bei Ihnen.“
    „Gut. Dankeschön.“
    Das waren die einzigen paar Worte, die Laido bis jetzt an diesem Tage vom bei ihm abgestellten Wachmann gehört hatte, während er dort im Sprechraum an einem krummen Tisch auf einem noch krummeren Stuhl saß – gefertigt von Gefängnisinsassen – und mit bangem Blick und pochendem Herzen wartete.
    Es waren einige Stunden vergangen, in denen Laido gehofft hatte, dass sich alles wieder beruhigen und irgendwie aufklären würde. Dem war aber nicht so gewesen. Nach weiteren Gesprächsversuchen der Polizisten auf dem Rastplatz, bei denen Laido eher minder denn mehr klare Antworten gegeben hatte, war er zunächst auf eine Polizeiwache unweit des Kölner Flughafens gebracht worden. Dort war es zwar immerhin trocken und warm gewesen und die Beamten hatten Güte gezeigt, indem sie Laido mit etwas zu essen und etwas zu trinken versorgt hatten. Weniger gnädig war aber die darauf folgende Entscheidung gewesen, Laido – zu diesem Zeitpunkt wieder einigermaßen klar im Kopf – dem Haftrichter vorzuführen, der gegen Laido kurzum Haftbefehl erlassen und somit Untersuchungshaft angeordnet hatte, nachdem der kurzfristig herbeigezogene Arzt keine Einwände gegen die grundsätzliche Haftfähigkeit erhoben hatte. Weitere medizinische Untersuchungen sollten aber erfolgen, hatte er gesagt und damit im Gefängnis gemeint.
    Laidos Lage hatte sich darauf zusehends verschlechtert, vor allem seine Gemütslage – daran hatten auch die etlichen Belehrungen über Anträge auf Haftprüfungen und sonstige Rechte nichts geändert, die Laido sich hatte anhören müssen und die er entweder interessiert zur Kenntnis genommen, oder aber gleich wieder abgeblockt hatte. Auf das Recht, seine Angehörigen zu benachrichtigen, hatte er in dieser Situation mehr als gut verzichten können. Wenn es stimmte, was ihm gesagt wurde, war sein Fall sowieso überall in den Nachrichten. Wer jetzt noch nicht Bescheid wusste, der sollte es auch besser nie erfahren. Gleichwohl, vom Recht auf einen Anwalt, das, wie ihm umständlich erklärt worden war, in diesem Fall so etwas wie eine Pflicht auf einen Anwalt war, von dem hatte er dann doch Gebrauch gemacht, denn sonst wäre ihm ein Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Sich in dieser Situation einem Fremden öffnen zu müssen, war ihm noch unangenehmer, als seinen Bekanntenkreis informiert zu wissen, und so hatte sich Laido tatsächlich für einen Anwalt aus seinem Bekanntenkreis entschieden – im Grunde der einzige Anwalt, den er kannte.
    Genau dieser Anwalt war es, den Laido nun in einiger Entfernung den Sprechraum betreten sah, den grimmig dreinschauenden Wachmann an der gegenüberliegenden Seite des Raumes überfreundlich mit Handschlag begrüßend und noch ein paar Worte wechselnd, die Laido von seinem Sitzplatz aus nicht verstand. So hektisch, wie der Mann im viel zu feinen Anzug – Banker’s Blue oder so ähnlich hieß die Farbe – mit dem Wachmann gesprochen hatte, so eilig löste er sich auch wieder von ihm los, als er seinen Mandanten am Tisch sitzen sah.
    „Na Herr Leidel, wie sieht’s aus?“, rief er schon von weitem und streckte bereits die Hand zum Gruße aus, als er noch einige Schritte zum Tisch zurücklegen musste. Laido hielt ihn für unangemessen gut gelaunt. Natürlich hätte ihm ein depressiv anmutender Anwalt auch nicht gerade geholfen, aber es musste ja auch nicht immer um Extreme gehen. Ein ganz normales, nicht zu fröhliches, aber auch nicht zu niedergeschlagenes Verhalten hätte ihm schon gereicht.
    „Drissig sieht’s aus“, sagte Laido, während er seinem Wahlverteidiger – so hatte es auf Justizdeutsch geheißen – die Hand schüttelte. Dieser setzte ein breites Lächeln auf, zog sich den Stuhl an der gegenüberliegenden Tischseite in Position, ließ sich mit einigem Jackettgezupfe nieder, knallte seinen Aktenkoffer auf den Tisch und faltete erst einmal die Hände. Und lächelte noch ein bisschen.
    Jacob Martini. Laido hatte ihn während seines unterbrochenen – nicht abgebrochenen – Germanistikstudiums kennengelernt, als er einen freien Mittag in der Mensa verbracht hatte, während seine Studienkumpels noch eine Übung hatten nachholen müssen, die er selbst bereits im Semester davor bestanden hatte. Jacob Martini war es ähnlich gegangen – nur, dass er zwar tatsächlich noch eine Übung in jenem Semester hatte bestehen müssen, dafür aber im Gegensatz zu seinen Studienkumpels so wenig Hoffnung gesehen hatte, dass er statt zur Veranstaltung lieber direkt zum Essen gegangen war. „Als Jurist muss man lernen, seine eigenen Erfolgschancen richtig einzuschätzen“, hatte er damals selbstbewusst gesagt und diese Einschätzung auch nicht revidiert, als seine Kommilitonen am Ende des Semesters alle spielend leicht ihre Übungsscheine eingesackt hatten, während er noch ein Semester hatte dranhängen müssen. An jenem Tage in der Mensa jedenfalls hatten er und Laido sich mangels anderer Gesellschaft zufällig kennengelernt und waren sich seitdem immer wieder mal begegnet. Laido, dem die Bekanntschaft zu dem quirligen Jurastudenten anfangs noch unangenehm gewesen war, hatte dessen Gesellschaft nach und nach schätzen gelernt, selbst wenn er ihn immer für ein bisschen zwielichtig gehalten hatte. In seiner Wankelmütigkeit aber war Jacob stets konstant geblieben, was wohl auch eine Art von Verlässlichkeit war. Als Laido vor ein paar Jahren die Nachricht erreicht hatte, dass Jacob tatsächlich nicht nur sein erstes sondern sogar auch sein zweites Staatsexamen mit wohl nicht ganz so schlechten Resultaten bestanden hatte, war er kurz überrascht gewesen, nicht aber so sehr erstaunt. Laido hatte schon während ihrer mehr oder minder gemeinsamen Zeit an der Universität das Gefühl gehabt, dass Jacob jede Menge drauf hatte – es aber bloß nicht so zeigen konnte. Gleichwohl hegte Laido nun nach wie vor Zweifel, ob Jacob in fachlicher Hinsicht der geeignetste Anwalt war, um ihn bei dieser Sache zu vertreten. Dass er aber sicherlich die angenehmste Wahl war, vor allem weil er sich mit irgendwelchen menschlichen Bewertungen im Umfeld von Enttäuschung, Ermahnung und Entrüstung sehr zurückhielt, war für Laido schließlich ausschlaggebend gewesen. Und nun saß Jacob ihm gegenüber, breit grinsend, wie wohl noch nie ein Strafverteidiger zuvor seinen des Mordes dringend verdächtigen Mandanten angegrinst hatte.
    „Da bist du ja in etwas reingeraten“, sagte er dann, nachdem seine flinken Augen ihn lange genug gemustert hatten.
    „Das brauchst du mir nicht zu sagen“, antwortete Laido. „Das wirkt alles wie ein ganz schlimmer Traum.“
    „Es gibt nichts, was man nicht wieder geradebiegen könnte“, erwiderte Jacob und klang dabei sehr überzeugt. Laido wusste aber, dass er nicht so überzeugt davon sein konnte, wie er tat. So naiv war Jacob nicht. Es gab täglich weltweit genug Vorfälle, in denen überhaupt nichts mehr geradegebogen werden konnte. Sachen, die auf ewig krumme Dinger blieben. Laido versuchte, seine Katastrophengedanken etwas im Zaum zu halten. Aber so, wie er sich kannte, war gerade er in eines dieser krummen Dinger hineingeraten, bei denen es kaum noch Chancen gab.
    „Ich bin hier, damit ich mir eine Verteidigungsstrategie zurechtlegen kann“, fuhr Jacob seltsam distanziert fort und fingerte an seinem Aktenkoffer herum. Jetzt wirkte auch er nervös.
    „Ich bin unschuldig, wofür brauchen wir dafür eine Strategie?“
    „Ja, das ist immer die beste Strategie. Aber auch dafür musst du mir alles sagen, was du weißt. Und dann entscheiden wir, was von dem, was du alles weißt, du auch offiziell weißt.“
    „Können wir darüber denn so reden?“ Laido ließ seinen Blick kurz zur Tür gleiten, an welcher der Justizbeamte bewegungslos wie ein Mannequin herumstand. „Ich meine, der Wachmann…“
    „… ist vorübergehend schwerhörig. Das sollte er sowieso sein, immerhin spreche ich mit dir als dein Verteidiger. Aber um auf Nummer sicher zu gehen, habe ich ihn noch einmal mit Nachdruck darum gebeten.“
    „Mit Nachdruck? Was für ein Nachdruck?“
    Jacob schüttelte den Kopf. „Das ist jetzt überhaupt nicht wesentlich. Wichtig ist, dass wir dich irgendwie hier herausbekommen.“
    „Wem sagst du das“, murmelte Laido und kam nicht umhin eine bittere Miene zu verziehen.
    „Klo mitten in der Zelle, keine Trennwände, nehme ich an?“
    Laido nickte. „Klingt fast so, als hättest du selbst schonmal gesessen“, mühte er sich ein mildes Lächeln ab.
    „Selbst wenn es so wäre, dann wäre das eine andere Geschichte. Wichtig ist jetzt deine Geschichte. Du musst mir erzählen, was passiert ist. Was wirklich passiert ist. Was Zeitungen, Fernsehen und irgendwelche obskuren Internetblogs berichten, kann ja wohl kaum der Wahrheit entsprechen. Dazu kenne ich dich zu gut. Herrgott, du singst in deinem Beruf über heimatliche Wälder und kleine Osterhasen, da wirst du ja wohl nicht auf einmal zum Killer werden!“
    „Das scheint das Gericht ja leider anders zu sehen.“
    „Vor allem die Staatsanwaltschaft“, sagte Jacob halb verneinend, halb bejahend und strich sich mit der rechten Hand über die rechte Wange. Laido hatte diese Geste in der Vergangenheit schon häufiger bei Jacob gesehen. Jacob selbst war es vermutlich gar nicht bewusst, aber er tat das immer, wenn ihm irgendetwas bevorstand, das Anlass zur Sorge gab. Laido beruhigte dieser Anblick nicht gerade, aber er konnte Jacobs Reaktion natürlich gut nachvollziehen.
    „Aber deshalb bin ich ja gerade auf dich angewiesen“, fuhr der Anwalt fort. „Nur du kannst mir jetzt sagen, was Sache ist. Die Staatsanwaltschaft wird es nämlich nicht tun.“
    „Aber warum denn nicht?“, wandte Laido ein. „Ich muss doch wissen, was mir vorgeworfen wird! Wir sind hier doch nicht bei, äh, Kafka, oder was!“
    Jacob lachte kurz auf, etwas zu locker, und änderte den Tonfall seines Lachens hin zur Bitterkeit, als ihm offenbar gewahr wurde, dass die Situation etwas zu ernst für irgendwelche Späße war. „Wir sind hier doch nicht bei Kafka oder was, ja“, wiederholte Jacob noch einmal mit tiefer Stimme. „Dann siehst du ja jetzt mal, wie ich mich täglich fühle.“ Er schüttelte den Gedanken ab.
    „Was dir vorgeworfen wird, das weißt du doch. Mord. Du sollst Theodor Greco umgebracht haben. Heimtückisch, zur Verdeckung einer Straftat, aus niedrigen Beweggründen. Das volle Programm. Was du und was ich aber nicht wissen, ist etwas viel Wichtigeres: Nämlich, was die Staatsanwaltschaft weiß oder zu wissen glaubt. Worauf sie diesen Verdacht gründen. Das sagen die nämlich nicht.“
    „Bin ich hier beim Scherbengericht oder Femengericht gelandet oder wie das heißt?“, empörte sich Laido, der sich tief im Innern eigentlich gar nicht kräftig genug zur Empörung fühlte, sich aber trotzdem zu solchen kleineren Ausbrüchen zwang, um dieses Gefühl der Hilflosigkeit irgendwie zu übertünchen.
    „Femen, ja, das wär jetzt schön… aber als Frauenrechtler gehst du wohl beim besten Willen nicht durch, von daher können wir auf deren Hilfe schon einmal nicht setzen.“
    Laido verdrehte die Augen, und Jacob setzte wie auf Befehl einen geschäftsmäßigeren Habitus auf.
    Volle Akteneinsicht erst nach Abschluss der Ermittlungen.“ Er machte eine Pause und verdrehte nun selbst die Augen. „Der beliebteste Textbaustein seit Staatsanwälte wissen, was Computer sind.“ Noch eine Pause. Jacob wirkte, als wollte er sich jetzt gerne profimäßig eine Zigarette anzünden, aber Rauchen war im Aufenthaltsraum natürlich verboten – und außerdem rauchte Jacob gar nicht.
    „Die geben nur so viele Informationen heraus, wie nötig sind, um den dringenden Tatverdacht zu begründen. Muss man ja zugeben: Wenn der Manager des Schlagersängers ermordet wurde und der Schlagersänger selbst auf einmal Hals über Kopf über irgendwelche Autobahnen düst… ja, schau nicht so, deshalb ist es doch so wichtig, dass du mir alles erklärst! Wie gesagt, wir wissen eben nicht, was die Staatsanwaltschaft wirklich in der Hand hat und wie viel Substanz dahinter steckt. Dem Ermittlungsrichter hat’s jedenfalls gereicht. Aber naja, was denen alles reicht, das ist noch einmal ein ganz anderes Thema. Weißt du, das ist ja gerade das ganze Problem an der Sache… ich schreibe ohnehin gerade an einem Aufsatz zur Stellung des Verteidigers im Ermittlungsverfahren, und der Reformbedarf liegt da auf der Hand. Seit Jahren schon! Unsere Herren Strafverfolger hier ermitteln und ermitteln und ermitteln, und ich bekomme das Ergebnis erst zu sehen, wenn es, ja, wenn es halt ein Ergebnis ist. Und dann ist es doch schon alles zu spät. Wenn du da vorher diese Eindrücke nicht zerstreust, dann setzen die sich für das ganze Verfahren fest, auch beim Richter. Perseveranzeffekt nennt sich das. Psychologie. Und wusstest du, dass das Ganze noch dadurch verstärkt wird, dass derjenige Richter, der über die Zulassung der Anklage und die Eröffnung der Hauptverhandlung entscheidet, auch derjenige ist, der die Hauptverhandlung führt und schlussendlich das Urteil fällt? Der prüft nämlich genau das Gleich… Laido, du machst gerade den Hans-guck-in-die-Luft, ist dir das klar?“
    „Ich versuche gerade, meine Erinnerungen zu sammeln“, sagte Laido und senkte seinen Blick von der Betondecke wieder auf Jacob herab. Er war etwas rot im Gesicht geworden. „Ich muss dafür aber erst noch verstehen, was jetzt passiert… damit ich weiß, was helfen könnte. Habe ich denn überhaupt eine Chance aus der Untersuchungshaft herauszukommen, oder wie ist das jetzt? Das klingt doch alles nicht so rosig…“
    „Wir werden natürlich einen Antrag auf Haftprüfung stellen. Das kann man im Übrigen so oft machen, wie man will. Ob das so klug ist, ist natürlich eine andere Frage, weil die Leute natürlich irgendwann die Schnauze voll von einem haben, aber…“
    „Du beantwortest gerade nicht meine Frage“, wandte Laido kraftlos ein. Jacob atmete einmal tief durch.
    „Bei Kapitaldelikten ist das so eine Sache… also Mord und Totschlag und so weiter. Ich will dich jetzt nicht wieder mit irgendwelchen rechtspolitischen Argumenten nerven, deshalb sage ich es einfach so, wie es ist: Des Mordes Verdächtige werden eigentlich grundsätzlich in die Untersuchungshaft genommen, weil die Leute im Land sonst ausrasten, wenn sie erfahren, dass so einer frei rumläuft. Für die bist du ja quasi schon überführt. Deshalb kommt es gar nicht mehr so auf solche Sachen wie Fluchtgefahr oder Verdunkelungsgefahr an. Man kann die beiden Aspekte aber über die Verhältnismäßigkeit quasi durch die Hintertür wieder einführen, oder aber versuchen, den dringenden Tatverdacht…“
    „Jacob“, unterbrach Laido. „Ich fühle mich, als hätte ich drei Wochen unter Steinen gelegen. Mir schwirrt der Kopf, ich bin froh, wenn ich überhaupt noch ein paar klare Sätze denken kann. Also lass bitte diesen ganzen Rechtskram für mich sein und sag mir einfach…“
    „Ja, ja, dazu wollte ich jetzt kommen“, nahm Jacob den Faden wieder auf und bekam dabei ein Leuchten in die Augen. „Ich glaube nämlich, die Staatsanwaltschaft ist sich der Sache viel weniger sicher, als sie nach außen hin vertritt. Also nicht, dass das nicht sowieso schon immer so wäre, aber… also, vielleicht bekommen wir dich doch irgendwie heraus. Es ist nur… ach Mensch, das ist alles so verflucht kompliziert geworden die letzten Jahre! Also, jetzt mal das Pferd von hinten aufgezäumt: Wir können dich vielleicht mit einer Kaution herausbekommen. Wie in Fernsehserien läuft das, quasi. Dazu muss ich aber nachweisen, dass auf keinen Fall die Gefahr besteht, dass du irgendwelche weiteren Morde begehst und vor allem, dass du nicht stiften gehst. Ich weiß gar nicht, was davon uns jetzt mehr Probleme bereiten wird…“
    Laido sah Jacob weiterhin ausdruckslos an. Seine Kehle war viel zu trocken, um etwas zu sagen. Er wartete einfach nur ab, dass Jacob endlich etwas sagte, womit er etwas anfangen konnte.
    „Wir werden da auf mehreren Ebenen angreifen. Mit dem, was du mir gleich hoffentlich berichten wirst, werde ich erst einmal versuchen, den Verdacht weg vom Mord zu lenken, hin zu einer Körperverletzung mit Todesfolge oder so. Das kriegt man der Öffentlichkeit vielleicht noch verkauft, dass du deinen Manager nicht umbringen wolltest.“
    „Natürlich wollte ich ihn nicht umbringen!“, erwiderte Laido und fühlte seine Stimme mitten im Satz brechen. „Und was heißt hier Körperverletzung mit Todesfolge?“, sprach er heiser weiter. „Ich bin doch kein Schläger!“
    Jacob hob abwehrend die Hand. „Zu diesem Zeitpunkt müssen wir nehmen, was wir kriegen können. Und jetzt lass mich weiterreden. Also: Parallel dazu bin ich schon im Gespräch mit dem leitenden Oberstaatsanwalt. Dr. Reepers. Das sind zwar alles keine Kumpeltypen bei der Staatsanwaltschaft, aber die Herren Doktoren reden gerne. Ich glaube, da habe ich den richtigen gefunden, um ihm zu verklickern, dass du auf keinen Fall fliehen willst. Oder… ja, nicht auf keinen Fall, das hat sich mit deiner seltsamen Irrfahrt da ja schon erledigt. Aber auf jeden Fall, dass es sehr unwahrscheinlich ist.“
    „Und was hast du dem da bis jetzt erzählt?“
    „Erstens mal, dass du vollkommen ohne irgendwelches Reisegepäck unterwegs warst. Und so flüchtet man ja nicht. Nach Argentinien erst recht nicht.“
    „Wieso denn Argentinien?“, fragte Laido nun wieder verwundert. Mittlerweile kam es ihm vor, als würde Jacob selbst sehr gut in die Reihe dieser Staatsanwälte passen, die seiner Meinung nach nichts Klares von sich geben wollten. Aber Jacob war schon immer ein bisschen so gewesen.
    „Das ist jetzt erstmal egal, das sagt man so, wegen Auslieferungen und so. Jedenfalls kann man gut darüber streiten, ob das ein Fluchtversuch war, den du da unternommen hast, und nicht vielmehr irgendeine Panikreaktion. Die Labortests wegen der Drogen stehen ja noch aus.“
    „Labortests wegen der Drogen…“, wiederholte Laido leise seufzend. „Was passiert hier nur mit mir…“
    „Reiß dich bitte zusammen, ich bin doch bei dir!“, sagte Jacob, drückte Laido bestätigend am Unterarm und fuhr mit schnellem Sprechen fort.
    „Mach dir keine Gedanken über ungelegte Eier, das ist schließlich mein Job. Also, weiter: Einen Reisepass hast du auch nicht dabei gehabt, stimmt’s?“
    Laido schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht einmal einen Reisepass.“
    „Keinen Reisepass? Gut!“ Jacob wirkte kurz sehr begeistert, schien sich dann aber wieder selbst zu dämpfen. Es war erstaunlich, wie schnell so etwas bei ihm wechseln konnte, wenn er einmal so richtig in Fahrt war.
    „Wobei… vielleicht auch nicht gut. Ich hatte jetzt gehofft, wir könnten deinen Reisepass nehmen und ihn abgeben, dass die den in Verwahrung nehmen. Das wäre natürlich eindrucksvoller gewesen, um zu belegen, dass du gar nicht ins Ausland abhauen willst. Wenn du jetzt gar keinen hast… tja, hm, beweis mal, dass etwas nicht existiert, ne? Aber wir können dann ja eine Auskunft bei deinem Meldeamt beantragen, dann haben wir das schriftlich, dass du keinen Reisepass hast. Gut, gut.“
    „Mit ’wir’ meinst du hoffentlich ’ich’ beziehungsweise ’du’, oder? Ich fühle mich gerade zu gar nichts mehr in der Lage.“
    „Jaja, natürlich. Das mache ich alles für dich. Achja, wo wir gerade dabei sind und bevor wir es vergessen, für den ganzen Kram müsstest du dann noch ein paar Vollmachten ausfüllen, damit ich das für dich machen kann.“ Jacob wurde immer hektischer und klappte nun zum ersten Mal seinen mitgebrachten Aktenkoffer auf, um dort drei, vielleicht vier eng bedruckte Blätter Papier herauszufischen. Laido fragte gar nicht mehr weiter nach, nahm die Blätter und den mitgereichten Kugelschreiber von Jacob entgegen und setzte fleißig Unterschriften, während sein Studienfreund und nun auch Verteidiger weitersprach.
    „Aber das alles wird noch nicht reichen.“
    „Noch mehr Blätter?“, fragte Laido verständnislos.
    „Nein nein, ich meine, wegen dieser Fluchtsache. Deshalb habe ich Dr. Reepers noch von deinem großen Vermögen hier erzählt, welches du wohl schwerlich im Stich lassen wirst.“
    „Was für ein großes Vermögen?“ Laidos Augen wurden groß und seine Stimme wurde laut. „Ich habe doch gar kein Vermögen, was erzählst du denn -“
    „Shht, jetzt schrei doch nicht so!“, unterbrach Jacob. Sein Gesicht war wieder rot geworden. „Ich weiß nicht, ob ich dem Wachmann gegenüber nachdrücklich genug war, für solche Sachen. Natürlich weiß ich, dass du kein großes Vermögen besitzt. Aber irgendetwas musste ich doch sagen! Deshalb habe ich dem Staatsanwalt von deiner großen Industriellenvilla in Deutz erzählt.“
    „Industrieellenvilla in Deutz?“, fauchte Laido, dämpfte seine Stimme auf Anraten Jacobs aber sofort wieder. „Bist du denn bescheuert? Das kriegen die doch in Nullkommanix raus, dass das nicht stimmt! In Deutz, oh Mann. Da gibt es sowas wahrscheinlich doch nichtmal…“
    „Doch doch, ganz bestimmt, ich hab das mal gesehen! Da gibt’s zig Gebäude die als so etwas durchgehen könnten. Ich habe dem Staatsanwalt gesagt, dass ich die genaue Adresse noch einmal bei dir erfragen muss… naja, und du kannst dich jetzt halt nicht mehr daran erinnern. Der Schock, die Drogen… da hat man eben so ein bisschen Amnesie.“
    „Aber das bringt doch alles nichts… Jacob, ich… tut mir leid wenn ich das so sage, aber das klingt so, als würde das alles nur noch schlimmer machen. Wenn die das rausbekommen, dass du denen so einen Schwachsinn erzählt hast…“
    „Wenn die das rausbekommen, dann war das eben nur ein Missverständnis! Willst du hier raus, oder willst du nicht hier raus? Mir ist schon klar, dass ich die Geschichte nicht lange aufrecht erhalten kann. Aber wenn du nur einmal wieder aus der U-Haft freigelassen wirst und ein paar Tage beweisen kannst, dass du nicht sofort Pflug spielst und dich vom Acker machst… ja, dann wird es schwierig für die, zu begründen, warum du doch wieder herein musst.“
    „Auch nicht mit der Begründung, dass der Verteidiger des Angeklagten lügt?“, wandte Laido kühl ein.
    „Angeklagter bist du erst, wenn das Hauptverfahren eröffnet ist“, gab Jacob ebenso kühl zurück. „Momentan bist du noch Beschuldigter.“
    Da war sie wieder, diese spezielle Art Jacobs, auf unangenehme Fragen ausweichende Antworten zu geben. Oder besser: Gar keine Antworten. Richtige Nichtantworten waren das. Laido fühlte sich wie kurz vor einem Nervenzusammenbruch, wusste aber nur gut genug, dass ihn wohl keine rettende Ohnmacht von dieser Situation erlösen würde.
    „Das hat natürlich zur Folge, dass das mit der Kaution ein wenig komplizierter wird. Wenn das denn überhaupt klappt.“
    „Wie denn? Daneben auch noch eine Kaution?“
    „Je nachdem, wie sich die Dinge entwickeln. Aber nachdem ich von deiner Villa erzählt habe, hat sich die potentielle Kaution natürlich, äh… in der Höhe etwas angepasst, sagen wir mal. Das könnte in die Millionen gehen.“
    „Millionen? Mir schmerzt der Kopf…“
    „Ich kann es natürlich noch nicht definitiv sagen, aber es könnte dazu kommen. Wenn es dazu kommt. Und das Schlimmste: Man muss das in bar einzahlen. Stell dir das mal vor: Mehrere Millionen Euro in bar auftreiben. Müsste man mal den Hoeneß anrufen, wie er das damals hinbekommen hat…“
    Laido hatte den Kopf gesenkt, knetete nervös an seinen Fingern herum und hatte Mühe, überhaupt noch zuzuhören.
    „Das wirkt alles so chaotisch…“, murmelte er. „Jacob, bist du sicher, du kriegst das alles hin? Hast du so etwas überhaupt schon einmal gemacht?“
    „Was gemacht?“
    „Jemanden gegen einen Mordvorwurf verteidigt?“
    „Naja… Mord nicht direkt… aber der Nachbarsjunge hatte mal versehentlich die Katze seiner Vermieterin mit seinem Mofa überfahren, und den habe ich lupenrein da rausgehauen, trotz Fellspuren in den Speichen!“
    Laido starrte einfach nur, und seine Augen drohten, feucht zu werden. Jacob fing diesen Blick wohl auf und wurde auf einmal bitterernst.
    „Tommy, jetzt einmal ganz im Ernst. Ich kann mir denken, dass das jetzt alles ziemlich heftig für dich ist. Ich weiß auch, dass das alles nicht ganz so gut aussieht. Aber wenn du den Mord nicht begangen hast, dann wird dich dafür auch keiner verknacken können, ganz ehrlich. Und aus der U-Haft bekommen wir dich auch irgendwie heraus. Und wenn ich dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dafür verklickern muss, dass ein Scheißhaus mitten in der Zelle keine menschenunwürdige Unterbringung bedingt. Was da auch kommt, ich lasse mir was einfallen. Ich bin schließlich dein Anwalt. Aber ich bin auch dein Freund. Ich habe gerade fast alle parallel laufenden Mandate an Kollegen abgegeben, um mich ganz auf deinen Fall konzentrieren zu können. Ich bin vielleicht kein Überprofi, aber ich verstehe etwas von meinem Beruf. Und wenn ich sehe, dass ich an meine Grenzen gerate, werde ich auch nicht zögern, einen Kollegen dazuzunehmen. Wir kriegen das schon irgendwie hin. Capisci?“
    „Ja… danke“, sagte Laido nach einigem Zögern. Was blieb ihm auch anderes übrig? Und es stimmte: Er war Jacob dankbar für sein Bemühen und dafür, dass er einfach da war. Und er vertraute ihm auch. Ein bisschen. Er fürchtete sich allerdings trotzdem.
    „Gut“, nahm Jacob den Faden wieder auf. „Dann musst du mir jetzt alles sagen, was du über den Mordtag und die Geschehnisse danach weißt. Wirklich alles. Einfach alles komplett erzählen. Wir könnten vorher noch kurz ein kleines Aussagetraining machen, damit du dich besser einstimmen kannst…“
    „Aussagetraining?“, war Laido nun schon ein bisschen wacher. „Ist das das, wo ich erst noch erzählen soll, was beim letzten Mal Tanken passiert ist und so ’nen Kram? Nee, nee, das lassen wir mal. Ich kann mich noch gut daran erinnern wie ich das mit dir für irgendsoeine Fachprüfung von dir geübt habe. Mann, war das ein Driss! Und hinterher konnte ich den Kram besser als du. Also bloß nicht!“
    „Schon gut, schon gut“, winkte Jacob ab, „also dann ohne.“ Er zog aus seinem noch immer geöffneten Aktenkoffer einen großen Notizblock hervor und ließ sich den Kugelschreiber von Laido wiedergeben, wobei er bei dieser Gelegenheit gleich noch die unterschriebenen Vollmachten entgegennahm. „Dann leg mal los.“
    „Vorher bräuchte ich aber vielleicht noch…“
    „Was denn?“, markierte Jacob nun den Ungeduldigen.
    „Könntest du mir am Automaten ’ne Flasche Cola ziehen? Ich hab Durst, kein Geld dafür und wenn ich so erzählen muss…“
    Jacob grinste. „Wenn’s der Wahrheitsfindung dient.“
    Geändert von John Irenicus (13.08.2017 um 16:42 Uhr)

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    Ich war an diesem Abend im Jokus, einem kleinen Konzertsaal, den manche wohl als Tanzschuppen bezeichnen würden, weil dort fast ausschließlich Schlagerpartys und Artverwandtes gegeben werden. Der Jokus liegt in Köln-Ehrenfeld und macht dort neben den moderneren Veranstaltungssälen eine etwas veraltete, wohl aber auch erfolgreiche Figur. Mein Manager Theo jedenfalls meinte, der Jokus sei immer noch beliebt bei jung und alt und ein ideales Sprungbrett für uns, wenn wir noch ein wenig Publikum für den anstehenden ESC-Vorentscheid ziehen wollten. Deshalb hatte er den Jokus als Veranstaltungsort für eines meiner Konzerte gebucht.
    Wir waren dann pünktlich am Dienstagabend dort, letzten Dienstag war das, der sechzehnte Februar. Wir kamen gegen achtzehn Uhr an, wobei das sogar noch ein wenig zu früh war, weil wir kaum Bühnenaufbauten zu bewerkstelligen hatten. Der Jokus ist noch ein Schuppen der ganz alten Schule, der seine eigenen Bühnentechniker hat, sodass wir nicht noch extra jemanden anmieten mussten. Der Veranstalter hatte Theo zwar geflüstert, dass sie sich das mit dem Mindestlohn auch nicht mehr lange leisten könnten, aber für uns jedenfalls ging alles klar. Wir waren deshalb auch nur zu dritt dort: Theo, unsere Maskenbildnerin Melanie und ich. Daniel hätte eigentlich auch noch kommen sollen um den Kuckuck zu spielen, aber der hatte sich kurzfristig wegen einer Grippe krankgemeldet. Das war mir auch ganz lieb, mal wieder eine Show ohne diese drissigen Kuckuck-Einlagen zu spielen. Theo war von dem Ausfall zwar alles andere begeistert, aber er verzichtete zum Glück darauf, einen der Bühnentechniker des Jokus zu dieser Rolle zu überreden. Selbst ins Kostüm zu schlüpfen, das zog er natürlich gar nicht erst in Betracht. Es hätte ihm aber vermutlich eh nicht gepasst. Deshalb musste es an diesem Abend auch mal ohne Theos erdachtes Maskottchen gehen, was Theos Laune wenig zuträglich war, meiner dagegen schon.
    Ich glaube, Theo war nicht entgangen, dass ich mich insgeheim und versteckt über diesen Ausfall freute. Immerhin wusste er von meiner Abneigung gegen dieses Kuckuck-Kostüm wie überhaupt gegen dieses ganze neue Image, was er sich für mich ausgedacht hatte. Wir hatten uns schon oft genug darüber gestritten, wobei ich zugeben muss, dass ich seine Ideen weg von einem eher stillen Singer/Songwriter-Dasein hin zu etwas schmissigeren Songs samt passendem Image anfangs gar nicht so schlecht gefunden habe. Irgendwann im Laufe der Zeit war es mir aber zu viel geworden, und mit der Einladung zum nationalen ESC-Vorentscheid war seit Anfang des Jahres noch mindestens eine ganze Schüppe Kitsch hinzugekommen. Ich sollte irgendwann nur noch über irgendwelche Heimatgefühle und Liebesabenteuer singen, im netten Schunkeltakt. Zugegeben: Schlecht verdient haben wir daran nicht, und ja, das Geld habe ich anfangs auch gerne mitgenommen. Aber irgendwann ist mir das einfach zu viel geworden. Das war nicht mehr das Künstlerleben, was ich mir vorgestellt hatte. Und so waren mir die Auftritte mehr und mehr zuwider geworden, was mein Lampenfieber an so manchem Abend ins Unermessliche gesteigert hatte. Dass ich nun an jenem Abend so ruhig, entspannt und gut gelaunt war, legte mir Theo schnell als Gehässigkeit aus. Das kann ich auch nicht verleugnen, dass das so ein kleiner Sieg für mich über ihn war, mal wenigstens ohne diesen lächerlichen Kuckuck auftreten zu dürfen. Aber man kann sich vorstellen, dass Theo deshalb schon zu Beginn des Abends unterschwellig auf Stunk aus war. Das wurde in den darauf folgenden Stunden auch nicht besser.
    Für die Stunden bis zum Auftritt waren wir im kleinen Backstagebereich des Jokus untergebracht. Ich habe ja nun schon von kleinsten Clubs bis mittelgroßen Konzerthallen alles Mögliche gesehen, im Positiven wie im Negativen. Die Räumlichkeiten des Jokus liegen wohl irgendwo in der Mitte davon. Es gab einen Aufenthaltsraum, der gleichzeitig meine Garderobe war, sowie einen gesonderten Raum für die Maske. Ansonsten gab es noch ein paar Requisitenkammern für die ein oder andere Revue, die in diesem Laden noch gegeben wird, aber die haben wir ja nicht gebraucht. Da waren auch noch andere Garderoben, nicht mehr viele, vielleicht zwei oder drei, aber mit denen hatten wir auch nichts am Hut. Den Konzertsaal selbst habe ich nur einmal kurz im Überblick gesehen, als wir durchgeführt wurden. Eine mittelgroße Bühne, der Raum davor mit Parkett ausgelegt, Tanzparkett, wie Theo fachmännisch festgestellt hatte, woher auch immer er das wissen wollte und wie auch immer da der Unterschied ist. Eine Tanzfläche gab es aber so oder so nicht, der ganze Saal war bestuhlt. „Sauerei“, hatte Theo zu dieser vom Veranstalter getroffenen Feststellung gesagt, und dann haben beide gelacht, wegen der Doppelbedeutung des Wortes „Stuhl“ oder besser gesagt „bestuhlt“. Ich glaube, das war einer von zwei oder drei Momenten an diesem Abend, an denen Theo gelacht hat.
    Wie auch immer, da wir mit der Halle ganz zufrieden waren und es bis auf Theos Gespräche mit den ortsansässigen Technikern eh nicht viel zu tun gab, verbrachte ich die gesamte restliche Zeit hinter der Bühne, den größten Teil davon wiederum in meiner Garderobe, dem Aufenthaltsraum. Die braune Holzverkleidung ringsum habe ich noch sehr gut vor Augen. Überhaupt wirkte der ganze Raum braun und irgendwie muffig. Theo hatte etwas von „Gemütlichkeit“ und „schön rustikal“ gesagt, aber ich war da ganz anderer Meinung, als ich sah, wo ich die nächsten Stunden verbringen sollte. Außerdem war es warm, sehr warm, aber vielleicht kam der Eindruck auch nur vom kurzen Besuch im Saal selbst, in dem es noch sehr kühl war. Jedenfalls fand ich den Raum nicht besonders ästhetisch und konnte Theo in Sachen „rustikal“ nur deshalb irgendwie zustimmen, weil ich unter dem Wort seit jeher einen Schleierbegriff für „Bruchbude“ verstehe. Es war ein ganz schön seltsames Bild, wie Theo sich fast schon wie ein König auf so einem wackeligen Regisseurstuhl niederließ, als wären das alles seine stolzen Privatgemächer gewesen. In seinem schwarzen Smoking und der Fliege – er wollte immer schick sein, falls doch mal das Fernsehen auftauchte – wirkte er unglaublich fehl am Platze. Man muss dazu sagen, dass ich mich ähnlich overdressed fühlte, denn auch für mich bestand Theo auf schicke Kleidung, die sich in meinem Falle als für meine Begriffe langweiliger Standardanzug in schwarz darstellte. So ganz wollte das nach meinem Dafürhalten ja nicht zum Image eines Schlagersängers passen, aber Theo hatte stets gemeint, dass betonte Seriosität in unseren kriselnden Zeiten, was auch immer er darunter verstand, auch bei Unterhaltungskünstlern angesagt war und das Publikum zog. Immerhin trug ich keinen Binder um den Hals, und wenn ich mir mein Sakko wegdachte und nur das weiße Hemd und die schwarze Hose samt schwarzen Lackschuhen betrachtete, war das alles noch im Rahmen des Erträglichen. Auch wenn ich mir an solchen Abenden meine früheren Auftritte in Turnschuhen und Kapuzenpulli nur noch sehnlicher zurückwünschte.
    Theo dagegen, der saß da, fein gekleidet wie König Theodor Greco I. Mehr als zwei Zentner Kerl auf einem Stuhl, der unter der Last flehend quietschte. Aber das sagte ich Theo natürlich nicht, wie ich an diesem Abend seit Daniels Absage lieber überhaupt nichts mehr zu Theo sagte.
    Leider gab es im Aufenthaltsraum nichts, was unser Schweigen hätte übertönen können. Es war zwar ein Fernseher an einer Ecke angebracht, wie es zum Beispiel in Hotels üblich ist, aber der lief einfach nur stumm vor sich hin, der Ton ausgeschaltet und keine Chance, ihn wieder einzuschalten. So schlimm fand ich das aber nicht, da der Reihe nach nur irgendwelche öden Quizshows im Fernsehen liefen. An Theos Gesicht aber konnte ich die ganze Zeit ablesen, dass er bei den gestellten Fragen am Mitraten war und er sich ganz weise dabei fühlte, er, Theo, mit seinen altersgrauen Haaren und dem Wohlstandsbauch. Ich glaube, in etwa in dieser Phase war es dann auch, dass ich an diesem Abend dann doch noch einen richtigen Groll gegen ihn entwickelte, denn obwohl er wenig sagte, strahlte er doch mit jeder Geste so eine Portion Selbstgefälligkeit aus, die ich noch nie an ihm gemocht habe.
    „Kennst du noch diese alten Quizshows mit Ingo Dubinski?“, fragte er dann irgendwann, als er genug von den Ratereien mit Jörg Pilawa hatte.
    „Nein“, antwortete ich und log dabei, einfach nur, weil ich keine Lust hatte, mit Theo über alte Quizshows mit Ingo Dubinski zu reden.
    „So welche wie den gibt es auch nicht mehr“, fuhr er unbeirrt fort. „So ’nen richtigen Lockenkopf.“
    Ich musste ihm insgeheim recht geben, denn so einen richtigen Lockenkopf, zumindest bei Männern, den sieht man heutzutage wirklich irgendwie nicht mehr. Aber wenn ich da an Ingo Dubinski zurückdenke, hat das ja auch sicherlich seine Gründe.
    „Das wäre doch vielleicht auch was für dich“, sagte Theo dann wieder nach einer kurzen Pause. „So ein Lockenkopf. Da gibt es sicher passende Perücken für.“
    „Oh nein, Theo, das kommt nicht in die Tüte!“, wehrte ich ab und ärgerte mich nicht nur über ihn, sondern auch darüber, dass ich mir dieses Gespräch aufzwingen ließ. „Ich habe jetzt schon genug von deinen Vorschlägen umgesetzt. Auftritt in diesen schicken Klamotten, Songs über Liebe, Wälder und Skifreizeiten. Lustige Kuckucksfiguren, die eigentlich Uhus sind, als Sidekicks auf der Bühne. Und jetzt noch eine Perücke? Ich bin nicht Ingo Dubinski!“
    „Ingo Dubinski war aber sehr erfolgreich“, gab sich Theo unbeeindruckt.
    „Ja, zu seiner Zeit vielleicht“, gab ich noch unbeeindruckter zurück. „Und jetzt? Das letzte Mal, als ich was im Arztwartezimmer in einer der Zeitschriften, SuperIllu oder so, von ihm gesehen habe, hatte er diese Frisur jedenfalls auch nicht mehr. Außerdem war der doch blond, und ich bin es nicht.“
    „War ja nur ein Vorschlag“, brummte Theo darauf. „Musst es ja nicht machen.“
    „Zu gnädig“, antwortete ich, aber nicht zu aggressiv, weil ich ihn wirklich nicht reizen wollte. Im Hinterkopf hatte ich allerdings schon, dass bisher jede Idee, die er bei mir durchgedrückt hatte, zunächst mit einem „Musst es ja nicht machen“ begonnen hatte. Und wie entspannt Theo auf meine Ablehnung reagierte, konnte ich nicht anders, als zu glauben, dass er sich schon wieder sehr sicher und vor allem selbstsicher war, auch diese Idee irgendwie durchzukriegen.
    Bevor sich doch noch ein handfester Streit entwickeln konnte, klopfte es an der Tür und Melanie trat ein. Ihre Haare wirkten ziemlich durchgewuschelt, mit einer Strähne spielte sie herum, während sie angelehnt im Türrahmen stand. Ich kannte das schon, das hat sie schon immer so gemacht, wenn sie jemanden zur Maske abholen wollte. Das ist ihre Form des unterschwelligen Drängelns.
    „Die Maske wäre dann soweit“, sagte sie in augenzwinkernder Förmelei. „Wenn ich bitten darf, Laidoridas?“
    Sie musste nicht lange bitten. Nicht nur bin ich schon immer gern zu Melanie in die Maske gegangen, selbst wenn mir Geschminke, Gekämme und „Gedresse“, wie sie es gerne sagte, schon von Anfang an zum Hals heraushingen. Aber mit Melanie konnte man schon immer gut plaudern. Und gerade in diesem Moment war sie eine angenehme Abwechslung zu Theo, der sich vor allem in diesem Augenblick mal wieder eine seiner stinkenden Zigarren anzündete, weshalb ich umso mehr froh war, meine Garderobe verlassen zu können.
    Der Raum für die Maske war nebenan, sodass wir nur wenige Schritte über den etwas siffigen Teppich gehen mussten, schweigend, um schließlich im nächsten Raum zu verschwinden. Ich merkte richtig, wie Melanie sich hier sicherer fühlte, die Maske, das war schon immer ihr Reich gewesen, und mir selbst war auch direkt viel wohler, als wir dort drin waren und ich mich auf einen dem Äußeren nach ausrangierten Friseurstuhl setzen konnte. Besonders schön eingerichtet war der Raum nicht, aber das ist ganz bestimmt kein Alleinstellungsmerkmal des Jokus, das habe ich eigentlich fast immer so erlebt, mit Ausnahme einer Show im Stadttheater Lüdenscheid, da war das alles richtig etepetete. In der Maske im Jokus jedenfalls sah es so aus, wie sonst überall auch: Drei Sitze, drei große Spiegel, pro Spiegel drei große Flecken und vielleicht einmal ein Kratzer, ansonsten leerstehende, weiße Schränke, die vermutlich eh nie benutzt wurden. Ein Alleinstellungsmerkmal dieses Maskenraumes war allerdings der Boden, der war nämlich ein beiges Fliesenimitat aus PVC, das biss richtig unangenehm in den Augen.
    Kurz nachdem ich mein Sakko ausgezogen und mich gesetzt hatte, fing Melanie schon mit der gewohnten Prozedur an – gewohnt, seit Theo das so wollte, versteht sich. Hier ein Abdeckstift, dort ein bisschen Puder, ich habe das Ganze bis heute nicht richtig verstanden, und um ehrlich zu sein habe ich nie große Unterschiede zwischen vorher und nachher bemerkt, bis auf meinen Haarwirbel natürlich, den Melanie stets mit jeder Menge Haarspray zu bändigen wusste. An diesem Abend war die Routine aber ein bisschen anders als sonst. Melanie war ungewöhnlich schweigsam, und wenn ich mal ihr Gesicht im Spiegel erwischte, sah sie alles andere als glücklich aus. Es brauchte nicht lange, da wurde mir dieses Schweigen, welches nur durch gelegentliche Kommandos, wie ich denn gerade meinen Kopf zu drehen hatte, unterbrochen wurde, zu viel.
    „Und… wie läuft’s bei dir so?“, fragte ich etwas unsicher, da mich in der Maske, so gern ich sie auch im Beisein von Melanie mochte, immer eine seltsame Nervosität ergriff, die ich bisher immer auf mein Lampenfieber geschoben habe. Sonst ergriff Melanie immer das Wort und wusste irgendein Gesprächsthema. Dass ich nun etwas unbeholfen unseren Plausch beginnen musste, war eine eher fremde Situation für mich. Melanies Antwort machte die Situation dann auch nicht gerade angenehmer.
    „Naja, es geht so“, sagte sie, und genau in diesem Augenblick schon tat es mir leid, dass ich überhaupt so blöd gewesen war, danach zu fragen, denn ihr Gesichtsausdruck und nun auch ihr Tonfall sprachen eine eindeutige Sprache. Es war in unserem kleinen Team nämlich schon länger bekannt, dass Melanies Mutter schwer krank ist. Und das wohl auch schon seit einigen Jahren und ohne Aussicht auf Besserung. Melanie hat zwar nie erzählt, was genau ihre Mutter hat, aber dass es ernst ist, das hat sie immer wieder anklingen lassen. Auch hat sie immer etwas von Kurzzeitpflege, teuren Behandlungen und überhaupt allen möglichen Nöten erzählt, die sich vor allem in chronischer Geldknappheit äußerten und äußern. Die Gelegenheiten, zu denen ich Theo deswegen mal an die Seite genommen habe, kann ich jedenfalls nicht mehr an nur einer Hand abzählen. Theo war nämlich neben seiner Funktion als Manager auch unser Geschäftsführer. Es war seine Idee gewesen, zum Imagewechsel auch das Geschäft, was vorher ja im Grunde gar nicht vorhanden gewesen war, auf eine ganz neue Basis zu stellen. Deshalb hatte er damals so eine Firma gegründet, keine GmbH, sondern Unternehmergesellschaft hieß das, jedenfalls auch etwas, wo seine – und ich hoffe mal auch unsere – Haftung irgendwie begrenzt ist. Jedenfalls leitete Theo dieses Unternehmen und war damit auch für die Auszahlung der Löhne zuständig. Meine Bitten, Melanie in ihrer Lage vielleicht doch mal etwas mehr oder dann und wann einen Bonus zu zahlen, sind aber nie erhört worden. Ich glaube nicht einmal, dass Theo Lohnerhöhungen aus reiner Bosheit oder Ignoranz verweigert hat. Denn bei aller Kritik war er doch zumindest im Kern ein ganz guter Kerl, der nur eine etwas verquere Vorstellung von meiner, von unserer Karriere hatte. Ich denke mal, er wird in seiner Finanzplanung einfach keinen Raum für höhere Löhne gesehen haben. Ich selbst habe ja auch keinen besonders großen Teil vom Kuchen abbekommen, auch wenn ich mich da in Sachen Geld und allgemeiner Lebenssituation keinesfalls mit Melanie vergleichen möchte. Sie hatte wirklich hart zu knabbern. Und genau in einer solchen verzweifelten Lage hatte ich sie an jenem Abend wieder erwischt.
    „Das Übliche eben“, fuhr Melanie nach einigem Gezupfe an meinen Haaren schließlich fort.
    „Deine Mutter?“, fragte ich, weil es nun ohnehin keinen Weg mehr zurück gab, wo ich das Thema schon unabsichtlich angeschnitten hatte.
    „Auch. Sie hat mal wieder eine schlechtere Phase erwischt, glaube ich. Naja und sonst, so dies und das, du weißt ja. Mit dem Geld… mein Vermieter, der Gerd, der war jetzt schon so lange geduldig und lieb, aber lange macht der das auch nicht mehr mit. Kann ich auch schlecht von ihm verlangen. Ach, aber weißt du, ich will lieber gar nicht darüber sprechen. Mir hilft es nicht und dir hilft es erst recht nicht, wenn ich dich auch noch damit belaste. Du sollst heute Abend doch schließlich gute Laune verbreiten, nicht wahr?“
    Melanie hatte zur Bekräftigung ihrer Worte ein Lächeln aufgesetzt, was sogar nicht mal so sehr gezwungen wirkte. Vielleicht munterte sie der Gedanke an die Show wirklich etwas auf. Immerhin hatten wir so etwas wie eine stille Übereinkunft getroffen, nicht offen über dieses Schlagerimage zu lästern, gleichwohl wir da beide einer Meinung waren. Mit ein bisschen Humor und einem geheimen Mitverschwörer lässt sich so etwas jedenfalls viel leichter ertragen, und so sollte es auch an diesem Abend sein. Und wenn so ein Gedanke dann Melanie auch noch von ihren eigenen Problemen ablenken sollte, war mir das umso lieber.
    „Ich werde mein Bestes geben“, antwortete ich auf Melanies Frage. „So gut das eben klappt. Die Show ist jedenfalls ausverkauft, wenn man dem Veranstalter glauben kann.“
    „Na dann“, grinste Melanie. „Fast schon schade, dass dann gerade heute Abend Daniel nicht da sein kann, was?“
    „Ach, hör bloß auf!“, gab ich halb gespielt, halb im Ernst empört zurück und schloss die Augen, weil Melanie mir mit irgendeinem Pinsel über das Gesicht fuhr. „Ich bin froh, dass ich heute Abend mal keinen Wackel-Uhu neben mir stehen habe. Nichts gegen Daniel, natürlich. Für ihn bedeutet das ja kein Geld heute Abend, selbst, wenn es nur sein Nebenjob ist. Was immer er auch hauptberuflich macht, das habe ich immer noch nicht so richtig verstanden.“
    „Ich auch nicht, aber vielleicht wollen wir das auch gar nicht so genau wissen“, meinte Melanie etwas nachdenklich und legte den Pinsel wieder weg. Sie wusste offenbar genau so wenig wie ich, wie viel Daniel sich hier noch dazu verdiente, und vermutlich wollte sie auch das lieber nicht so genau wissen. Der Vergleich wäre unter Umständen schmerzhaft für sie gewesen.
    „Aber den ’Kuckuck’ spielt ihr heute Abend doch trotzdem, oder?“, fragte Melanie, während sie routiniert ein schmales, langes Schminkkästchen aufklappte.
    „Geht ja kaum noch ohne“, murrte ich zurück. „Ist ja schließlich unser ESC-Song. Aber gut, was heißt schon ’wir’? Ich und das Halbplayback aus dem Keyboard. Naja, zumindest kann man so unter realistischen Song-Contest-Bedingungen üben, was?“
    „Gitarre heute Abend nicht dabei?“
    „Passt nicht ins Konzept. Theos Worte.“
    „Du spielst heute also keinen einzigen deiner eigenen Songs?“
    Aus Melanies Stimme war ein kleines bisschen Enttäuschung herauszuhören. Die Enttäuschung, die ich mir selbst zu diesem Zeitpunkt schon längst abgewöhnt hatte.
    „Naja, einen schon, nämlich ’Der Himmelskutscher’ als Zugabe. Aber das ist ja jetzt auch nicht gerade etwas, worauf ich stolz bin. Von den früheren meiner Songs gibt’s aber heute Abend nix. Theo wollte das nicht. Und wenn Theo nicht will…“
    Ich brach ab und hüllte mich lieber ein wenig in Schweigen. Ich bemerkte nämlich, dass ich nun meinerseits meine Problemchen und Sorgen ins Gespräch einbrachte, die Sachen, von denen Melanie ihre eigenen, viel gewichtigeren ja absichtlich herausgehalten hatte. Sie selbst schien das aber nicht zu stören.
    „Theo ist manchmal schon ein harter Hund, nicht?“, fragte sie. Sie gab sich ziemlich verständnisvoll, was es mir nur noch unangenehmer machte, sie mit diesem Thema belästigt zu haben.
    „Ja, irgendwie schon“, meinte ich. „Wenn man mich hier jetzt so reden hört… der große, strebsame Künstler, der dann doch im Schlagergeschäft an der Kandare eines Managers gelandet ist.“
    „Kann ich verstehen, dass dir das nicht so ganz passt, meine Musik ist es ja auch nicht immer“, erwiderte Melanie und klappte das Schminkkästchen wieder zu, ohne dass ich bemerkt hätte, dass sie damit überhaupt etwas angefangen hatte. „Aber lass den ganzen ESC-Kram vorbei sein, dann sieht das schon wieder ganz anders aus. Man muss Theo ja auch ein bisschen dankbar sein, immerhin kriegt der es immer irgendwie hin, die Konzertsäle auszuverkaufen und überhaupt tolle Buchungsdeals abzuschließen. Wenn das nicht wäre, ich würde wohl noch weniger Kohle bekommen als jetzt. Und du auch. Da muss man wohl manchmal auch in den sauren Apfel beißen. Aber wer weiß, wenn du wirklich durch den ESC-Vorentscheid kommst, dann bist du so bekannt, dass du auch wieder deine eigentliche Musik machen kannst. Das wird Theo dann sicher genau so sehen! Ich glaube nämlich, insgeheim findet er deine Musik von vorher auch viel besser. So habt ihr euch doch auch kennengelernt, oder? Er war auf einem deiner Clubkonzerte, oder wie war das?“
    „Weil er den Betreiber des Clubs kannte, ja. Naja… ja, wollen wir es mal hoffen, dass sich das alles wieder einrenkt.“
    „Ja…“, stimmte Melanie nochmal etwas abwesend zu und tat dann ein paar Schritte von meinem Stuhl weg. Sie schien nach etwas zu suchen.
    „Hm, ich habe das Puder gar nicht hier“, sagte sie dann. „Das muss ich wohl noch in deiner Garderobe liegen haben, in meinem Rucksack. Ich gehe es eben holen.“
    „Ach… können wir das nicht mal weglassen?“, bettelte ich.
    „Nee du, also, ich halte es ja auch nicht für unbedingt nötig, dich zu schminken, darüber haben wir ja schon einmal gesprochen. Aber wenn, dann muss Puder sein. Du in diesem Scheinwerferlicht, dann sofort am Schwitzen… Theo hatte im Vorfeld was von irgendwelchen Fotos oder sogar Filmaufnahmen geredet, die er wohl machen wollte. Wenn dann noch Blitzlicht dazu kommt und du vor Schweiß glänzt, dann sieht man auf dem Bild hinterher nur noch ein weißes Leuchten.“
    „Aber das Puder vermischt sich dann immer so ekelig mit meinem Schweiß!“, nörgelte ich noch einmal, wusste aber bereits, dass ich damit keinen Erfolg haben würde.
    „Keine Widerworte“, befahl Melanie und wandte sich um, den Raum zu verlassen. „Ich bin gleich wieder da!“
    Und dann war ich erst einmal alleine.

    Ich musste einige Zeit auf meinem Friseurstuhl in der Maske gesessen haben, genug Zeit jedenfalls, um über dieses und jenes nachzudenken. Die Setlist für die Show; das von Theo verordnete, von mir aber nie ernst genommene Lächeltraining, insbesondere für Songs, die ich so gar nicht mochte; richtige Mikrofonhaltung beim Singen. Alles Sachen, die ich schon hunderte Male durchdacht hatte und die für mich in diesem Moment eigentlich gar nicht interessant waren, mich aber irgendwie ablenkten und durch die Wartezeit brachten. Natürlich dachte ich auch über Melanie und ihre Probleme nach – bis ich sie dann laut vom Nebenraum her lachen hörte. Ich bereitete mich darauf vor, dass sie nun innerhalb der nächsten Augenblicke wieder die Maske betreten würde. Als jedoch einige weitere Minuten vergangen waren und ich immer noch nicht wieder was von Melanie gehört oder gesehen hatte, wurde ich unruhig. Ich traute es Melanie nicht wirklich zu, aber irgendwie hatte ich trotzdem das Gefühl, dass sie mich vergessen hatte. Ich schob mich daher aus meinem Stuhl heraus und machte mich auf den Weg in den Flur.
    Im Flur fiel mir auf, wie viel kälter es dort drin im Gegensatz zur Maske war. Die Wände zum Saal waren ziemlich dünn, und dementsprechend konnte ich auch schon hören, wie sich der Zuschauerraum offenbar langsam füllte. Ich hatte keine Uhr dabei, schätzte aber, dass noch genug Zeit bis zu meinem Auftritt verblieb. Trotzdem wollte ich die Schminkerei lieber jetzt als später hinter mich bringen, zumal noch das einzig Relevante, nämlich das Legen meines Haarwirbels, ausstand. Außerdem hatte ich ein wenig Hunger bekommen, den ich noch bekämpfen wollte, bevor es mir das ansteigende Lampenfieber unmöglich machen würde und ich mit leerem Magen auf die Bühne gehen musste. Und beim Gepudertwerden essen, das kam mir schon einmal gar nicht in die Tüte.
    Vor der Tür zu meiner Garderobe hörte ich wieder Melanie lachen und einmal kurz Theo husten, und als ich die Tür dann aufmachte und eintrat, sah ich die beiden an dem kleinen, weißen Campingtisch sitzen, den sie in die Mitte des Raumes gezogen hatten. Theo immer noch auf dem ächzenden Regisseurstuhl sitzend, Melanie in einem alten, beigen Sessel, den der Betreiber des Jokus wahrscheinlich irgendwann einmal vom Straßenrand als Sperrmüll eingesammelt hatte.
    „Sag mal, hast du mich vergessen? Du wolltest doch noch das Puder…“
    Ich brach ab, als ich sah, was dort an dem Tisch eigentlich gerade stattfand. Theo und Melanie waren etwas umständlich über den Tisch übergebeugt und stierten auf etwas, was sich für mich im ersten Moment als ein Schwung Kochsalz oder Zucker darstellte. Ich erkannte allerdings relativ schnell, dass die beiden weniger einen spontanen Koch- und Backkurs veranstalten wollten.
    „Spinnt ihr eigentlich? Dafür ist Geld da, oder was?“
    Die beiden schauten mich mehr oder minder schuldbewusst an. Ich konnte nur vermuten, ob die weißen körnigen Linien, die sie dort auf dem Tisch augenscheinlich mit Hilfe der beiden ebenfalls auf dem Tisch liegenden Löffel gezogen hatten, die ersten ihrer Art waren, oder ob schon eine oder zwei vorher verschwunden waren. Dass es Kokain war, war allerdings leider ziemlich eindeutig. Das erkannte ich nicht, weil ich auf einen großen Erfahrungsschatz in Sachen Drogen bauen könnte. Ganz im Gegenteil, nachdem mir einmal beim Kiffen vor der Abifeier speiübel geworden war, hatte ich meine Konsumentenkarriere, kaum angefangen, direkt wieder beendet. Und Alkohol habe ich sowieso nie getrunken – abgesehen vom Messwein bei der Konfirmation und gelegentlichen Sektflöten zu Silvester. Nein, was mich das Koks auf dem Tisch erkennen ließ, war, dass das nicht der erste Vorfall dieser Art war, in dem Theo involviert war. Auch wenn das an diesem Abend wohl die offensichtlichste aller bisherigen Situationen darstellte. Die besorgniserregende Entwicklung Theos war jedenfalls zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu leugnen. Ich hatte ihn vorher schon zwei, drei Male mit – um es vorsichtig zu formulieren – verschnupfter Nase erwischt. Auch hatte es immer mal wieder Andeutungen oder dubiose Telefonate gegeben, die Theo auch gar nicht versucht hatte, zu verstecken. Ganz am Anfang, als wir uns kennengelernt hatten, war das noch nicht so gewesen, mit der Zeit aber hatte Theo kaum ein Klischee eines Managers ausgelassen, und dazu hatte schließlich auch die Kokserei gehört. Ich war noch nie wirklich begeistert davon gewesen, aber ich habe es toleriert, wie ich auch so vieles andere toleriert habe, was Theo so gemacht hat, weil ich ihn eigentlich bis zum Ende im Kern für einen guten Kerl gehalten habe. Dass er nun aber in unserem Aufenthaltsraum und meiner Garderobe offen seine Drogen auspackte und noch dazu Melanie da mit herein zog, das machte mich absolut fassungslos.
    „Jetzt stell dich mal nicht so an“, sagte Theo unwirsch und lächelte mich viel zu freundlich dabei an. „Das ist doch nichts Neues. Gehört doch dazu. Ausverkauftes Haus heute! Da kann man sich schonmal was gönnen. Und es hebt die Laune. Frag mal Melanie!“
    Ganz automatisch wanderte mein Blick zu ihr hin, wie sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht hinters Ohr strich und ihr helles Lachen lachte, was ich sonst nur aus witzigen Gesprächen mit ihr kannte. Und nun saß sie neben Theo vor einem Campingtisch und lachte eine kleine Linie Kokain an. Ich war schon ziemlich getroffen, auch wenn ich in diesem Augenblick nicht so ganz festmachen konnte, wieso. Ich hätte jedenfalls nicht gedacht, dass Melanie sich einfach mal so zwischendrin irgendwelche Drogen reinpfeifen würde, zumal sie an diesem Abend zuvor ja noch in ganz anderer Stimmung gewesen war.
    „Ach, das Puder!“, sagte sie dann an mich gewandt und meinte nicht das weiße auf dem Tisch. „Sorry, Tommy, das habe ich ganz vergessen. Wir machen das dann später, okay? Es ist ja noch Zeit.“
    Ich konnte nur mutmaßen, ob und wie viel Melanie von diesem Zeug schon geschnupft hatte, aber ihre sehr großen, beinahe glühenden Augen weckten einen gewissen Verdacht in mir. Ich war ziemlich enttäuscht von ihr.
    „Ja, wisst ihr was, dann ist es mir auch egal“, meinte ich beleidigt und drehte mich um, um den Raum wieder zu verlassen. „Sagt mir dann Bescheid, wenn ihr… fertig seid. Ich muss jetzt erstmal was essen. Wenn ich noch kann.“
    „Den Gang ganz runter, gegenüber von den Toiletten“, rief Theo mir noch nach, aber ich wollte es gar nicht mehr hören. Ich nahm so schon nicht gerne Ratschläge von ihm an, da brauchte er mir in diesem Zustand erst recht nicht damit kommen. Sollte er doch Melanie seine Weisheiten erzählen, wenn sie sich jetzt offenbar so gut verstanden.
    Zurück auf dem Flur – die Tür zur Garderobe hatte ich vorsichtshalber mal wieder zugemacht – kam ich nicht umhin, dann doch Theos Anweisungen zu folgen, und tatsächlich: Am Ende oder besser gesagt am Anfang des Ganges, unweit vom Backstageausgang aus dem Jokus sowie dem Zugang zum Saal, war noch ein gegenüberliegendes Pärchen von Türen vorhanden. Da die Tür auf der rechten Seite mit einem kleinen, eindeutigen Bildnis verziert war, wählte ich die Tür auf der linken Seite, um in die Küche zu kommen. Oder zumindest in das, was man hier unter einer Küche verstand.
    Der Raum, in dem ich nun stand, hatte die Größe einer Küche, allerdings einer Teeküche. Offenbar hatte man hier den letzten Rest PVC-Boden in beiger Kacheloptik verlegt, der von der Maske noch übrig geblieben war. Dabei hatte dieser Rest aber wohl nicht ganz gereicht, denn zu einer Wand hin war der Boden bloßer Estrich ohne Belag. Das erschien angesichts der Größe des Raumes, den ich mit zwei, drei langen Schritten vollständig der Länge nach durchmessen konnte und der auch zu den Seiten hin nicht viel Platz ließ, ziemlich kläglich. Im Vergleich zum wirklich hübschen Konzertsaal war der Backstagebereich des Jokus der reinste Witz, aber das störte mich nicht sonderlich, so war es jedenfalls besser als andersrum.
    Was mich dann allerdings doch störte, war der Anblick, als ich den Kühlschrank geöffnet hatte. Hinter der Kühlschranktür voller Magnete, von denen einige leere Notizzettel hielten, gähnte mir eine große Leere entgegen. Mein erster Gedanke war, dass dafür die leeren Notizzettel gedacht waren, nämlich dafür, den Inhalt des Kühlschranks wiederzugeben, was sie dann auch folgerichtig getan hätten. Dann aber sah ich im untersten Teil des Kühlschranks doch noch ein paar Sachen: Drei übereinandergestapelte Boxen aus weißem Kunststoff, die in ihrer Farbe fast im ebenfalls weißen Kühlschrank verschwanden; sowie ein ominöser blauer Gefrierbeutel, in dem irgendetwas eingewickelt war. So etwas hatte ich fast schon befürchtet, denn auf der Hinfahrt – Theo hatte mich mitgenommen, weil Daniel wie gesagt krank war und deshalb auch keine Fahrtdienste übernehmen konnte – hatte Theo mir schon stolz erzählt, dass er das Catering einsparen konnte, weil die beim Jokus selber eine Küche mit etwas zu essen hätten, wofür wir nichts zusätzlich bezahlen müssten. Gerade im Showgeschäft aber – so viel habe ich lernen müssen – gibt es nie etwas geschenkt, und das zeigte sich dann auch wieder an diesem Kühlschrank. Theo selbst musste so etwas geahnt oder vielleicht gewusst haben, denn auf der Fahrt zum Jokus hatte er mir auch erzählt, dass er selbst nichts zu essen bräuchte, weil er am späten Nachmittag noch einmal groß zugeschlagen habe. In weiser Voraussicht, wie sich nun herausstellte.
    Ich nahm die oberste Box aus dem Kühlschrank heraus und spürte dabei wenigstens schon am Gewicht, dass sie nicht leer war. Als ich sie auf einem kleinen, wackeligen Tischchen direkt neben dem Kühlschrank abstellte, bemerkte ich aber bereits, dass ich Schwierigkeiten hatte, sie zu öffnen. Nach einigem Herumgefrickel gelang es mir dann doch, auch wenn ich dabei ein bisschen vom Plastik abbrechen musste. Als ich dann den Inhalt sah, hatte ich zumindest eine Vermutung, warum sie sich so schwer hatte öffnen lassen: Sie war uralt, und das Essen dort drin wohl auch. Ich brauchte eine Weile, um das grüngelbe, angematschte und in unförmigen Brocken aneinanderklebende Gewirr zu identifizieren, aber schließlich kam ich zu dem Schluss, dass es Spinatspätzle sein mussten. Normalerweise hätte ich mich darüber gefreut, dass tatsächlich auch etwas Vegetarisches zu essen vorhanden war. Bei dem Anblick, der sich mir dort bot, währte die Freude aber nur von sehr kurzer Dauer, denn so alt und vermutlich auch verdorben, wie diese Spinatspätzle wirkten, waren sie vermutlich auch nicht mehr allzu lang vegetarisch, denn die nächste Fliege hätte sicherlich mit Freude ihre Eier in das dahinfaulende Gericht hineingelegt. Jetzt, wo es so langsam wärmer wurde, kam auch ein Geruch aus der Box, der mich eindringlich vor dem Verzehr der Spätzle warnte. Ich machte die Box daraufhin wieder zu, so gut es ging, suchte in den Ecken des Raumes nach einem Mülleimer, fand aber zwischen einem weiteren Wackeltisch und dem kläglichen Abbild einer Küchentheke zu meiner linken Seite nur einen mit weiteren geschlossenen Boxen überfüllten Papierkorb. Wohl oder übel ließ ich die Box also auf dem kleinen Tisch neben dem Kühlschrank stehen.
    Abkürzend lässt sich sagen, dass auch der Griff nach der zweiten und schließlich der dritten Box aus dem Kühlschrank von wenig Erfolg gekrönt war, denn sie boten das gleiche Bild. Beide Male erneut vergammelte Spinatspätzle, sodass ich lediglich den Boxenstapel aus dem Kühlschrank abtrug und auf dem Nebentisch wieder aufbaute. Ein kursorisches Durchgucken der paar Schränke und Klappen, die am spärlichen Arbeitsbereich der Küche – dieser sogar mit Mikrowelle und Herd – angebracht waren, offenbarte dann auch nichts weiter als Leere, wobei die Leere einmal auch in einer unbenutzten Kunststoffbox in einem Schränkchen auf Kopfhöhe stattfand. Ich fand in einer Schublade unter einem Fetzen Alufolie weißes Plastikbesteck, das neben etwa einem Dutzend viel zu flachen Löffeln tatsächlich auch eine Gabel und zwei stumpfe Messer zu bieten hatte, aber satt wurde ich davon natürlich auch nicht.
    Es blieb mir daher nichts anderes übrig, als das Gefrierbeutelbündel aus dem Kühlschrank zu holen und zu schauen, was es damit wohl auf sich hatte. Ich setzte die blaue Tüte auf der Arbeitsfläche gegenüber vom Kühlschrank ab, entfernte zwei dieser hässlichen weißen Clips, welche die Tüte zusammenhielten und starrte in ein neues Bündel, welches aus Alufolie geformt war. Nach dem Fund der Spätzle hatte ich zwar ein bisschen Bedenken, die Alufolie abzublättern, aber die Neugier siegte dann doch. Zum Vorschein kamen weiße Bröckchen in annähernder Würfelform, die irgendwie ein bisschen Flüssigkeit absonderten. Nach einigem Getaste und Geschnüffel kam ich zu dem Schluss, dass es süß mariniertes Tofu sein musste. Es wirkte auf mich nicht besonders appetitlich, aber froh und erstaunt war ich schon, dass aus der Alufolie nicht die unvermeidlichen Frikadellen oder Bockwürstchenreste gekommen waren.
    Teller oder etwas ähnliches hatte ich bei meiner vorigen Suche – wenn man mal von der unbenutzten Plastikmenübox absah – nicht gefunden, weshalb ich das Tofu wohl oder übel aus der Alufolie heraus essen musste. Ich war alles anderes als begeistert, aber es war besser als nichts, und so stak ich mit der Plastikgabel in einen größeren Klumpen hinein und schnitt ab. Die Konsistenz war gleichzeitig bröckelig und ein bisschen wie Gummi. Das klingt widersprüchlich, aber es war nun einmal so. Innen drin in den einzelnen Klumpen schien ich wie auf Sand zu beißen, das hatte ich so bei Tofu auch noch nicht erlebt. Trotzdem, ich hatte Hunger und mein Magen spielte vor dem Auftritt noch mit. Deshalb nutzte ich die Chance.
    Nachdem ich die ersten zwei größeren Würfel vom Tofu heruntergeschlungen hatte, wurde mir jedoch plötzlich schlecht. Es war vielleicht nicht ganz so plötzlich, weil ich nach den ersten paar Bissen auch kurz Anflüge eines Übelkeitsgefühls gespürt hatte, aber die hatte ich ignoriert und sie waren kurzzeitig wieder verflogen. Wenige Zeit später aber brachen sie dann endgültig über mich herein. Ganz unzweifelhaft wollte das Tofu wieder auf dem Weg heraus, auf dem es hereingekommen war.
    Immerhin wusste ich, wo die Toilette war, und so dauerte es auch nicht lange, bis ich den Weg aus der Küche hinaus hin zur nächstbesten Kabine im Raum gegenüber gefunden hatte. Glück im Unglück hatte ich, dass ich noch nicht so viel von dem Tofu gegessen hatte. Unglück im Unglück war dagegen, dass das Erbrechen auf fast leerem Magen zu den wohl unangenehmsten Arten des Erbrechens gehört. Während ich keuchend und krampfend vor der Porzellanschüssel kniete, verhöhnten mich ein paar mit Edding an die Wand geschmierte Klosprüche, von denen mir besonders Ich sitze wie der Führer hier, die braunen Massen unter mir in Erinnerung geblieben ist, weil der so gar nicht zu meiner Situation passte.
    Ich war irgendwann fertig – fix und fertig – und hoffte, dass die Sache damit wenigstens endgültig erledigt war. Am Waschbecken hielt ich mich noch eine Zeit auf, spülte und spülte meinen Mund aus, trank etwas, bis ich mich in der Lage fühlte, die Toilettenräume wieder zu verlassen. Ob ich noch in der Lage war, zu singen, daran dachte ich in diesem Moment gar nicht. Denn als ich den Flur des Backstagebereichs wieder betrat, stieg urplötzlich eine Wut in mir hoch, genau so plötzlich, wie es vorher meine Magensäure getan hatte. Ich legte mir innerlich die Worte zurecht, die ich Theo und eventuell auch Melanie an den Kopf werfen wollte, stapfte aufgebracht zur Garderobentür und fing schon an zu schimpfen, noch bevor ich sie ganz aufgestoßen hatte.
    „So Leute, jetzt reicht es mir aber auch so langsam! Erst gibt es in der Küche so gut wie nichts zu essen, und dann musste ich von diesem drissigen Tofu auch noch kotzen! Theo, wenn du meinst, du hättest genug Geld für deine scheiß Kokserei übrig, dann… da…“
    An dieser Stelle brach ich stammelnd ab und versaute mir meinen eigenen Auftritt, den ich eigentlich dafür hatte nutzen wollen, das Verhältnis zwischen mir und Theo zu reformieren. Ich wollte ihm zeigen, dass er nicht mit mir umspringen konnte, wie er wollte. All das war aber wieder vergessen, bei dem Anblick, der sich mir in der Garderobe bot.
    Theo, der bei meinem letzten Besuch in der Garderobe noch auf dem Regisseurstuhl gesessen hatte, saß nun breitbeinig auf dem alten Sessel daneben, den Kopf ein bisschen nach hinten übergebeugt und die Augen geschlossen. Viel mehr von ihm sah ich allerdings nicht, denn auf ihm drauf saß Melanie, von der ich in diesem Augenblick nur ihre Rückseite sah, davon aber mehr, als ich mir je zu träumen gewagt hatte – denn sie war nackt. Auch sie hatte ihren Kopf ein wenig nach hinten geworfen, während sie Bewegungen machte, die auch ohne ihr Stöhnen vollkommen eindeutig waren. Dann erkannte ich auch, dass Theo seine Anzughose nachlässig nach unten gezogen hatte, um genau den Teil zu enthüllen, den er für sein gemeinsames Vorhaben mit Melanie eben brauchte. Ich blinzelte ein paar Male, aber es war tatsächlich genau so, wie es aussah: Melanie schien gerade großen Spaß daran zu haben, mit Theo zu vögeln – und letzterer machte ein derart wonnevolles Gesicht, dass mir dabei beinahe wieder schlecht wurde. Aber im Grunde prasselten in diesem Augenblick so viele Gefühle auf mich ein, dass ich sie gar nicht mehr alle einzeln wahrnehmen konnte.
    Theo, der mich längst bemerkt hatte, ließ sich von meiner Anwesenheit gar nicht stören. Ganz im Gegenteil, sein Grinsen wurde immer breiter, als er mich im Türrahmen stehen sah. Erst nach einiger Zeit erkannte auch Melanie, wohl an Theos Blick, dass sie beide nicht mehr alleine waren, und warf einen kurzen Blick über ihre Schulter – was sie allerdings auch nicht davon abhielt, weiter auf Theo zu reiten.
    „Wenn du kein Tofu verträgst, dann solltest du keines essen“, sagte Theo kurzatmig. „Wie viel hast du denn genommen?“
    Ich war so baff, wie in einer Schockstarre, dass ich automatisch und ohne nachzudenken, vor allem aber mit erstaunlich ruhiger Stimme seine Frage beantwortete. Zu diesem Zeitpunkt fühlte ich mich schon gar nicht mehr so richtig wie ich selbst, nicht mehr so richtig in der Realität, sondern in irgendeine unangenehme Traumwelt abgedriftet.
    „Zwei Brocken oder so.“
    „Hintereinander weg?“, fragte Theo mit größer werdenden Augen und lachte dann heiser auf. „Das hätte ich auch nicht geschafft. Respekt, Laido! Das ist ja eher was kleines zum Dessert. Da kann ich dir ja nicht mal böse sein. Aber wenn du mich jetzt entschuldigst, ich habe hier auch noch ein kleines Dessert für Melanie. Maske kann ja später noch gemacht werden. Oder, Melanie?“
    Theos riesige Hand klatschte auf Melanies Hinterteil, was die Besitzerin mit einem lustvollen Stöhnen und Kichern quittierte, das noch klischeehafter kaum hätte sein können. Aber das war mir in diesem Moment egal, oder besser gesagt, nicht egal, aber ich konnte es einfach nicht mehr verarbeiten. Ich wusste nicht mehr, was ich tat, ich wusste auch nicht, wohin, aber irgendwie bin ich aus der Garderobe herausgeeilt und muss mir beim Rausgehen noch Theos Autoschlüssel von einer Anrichte gegriffen haben, den ich im Flur nach einem Ruf Theos, den ich nicht verstand, erst schon wieder fallen lassen wollte, es dann aber doch nicht tat. Ich sah auch ein Telefon im Flur, wollte mir eigentlich ein Taxi rufen, fand aber mein Geld nicht, wusste auch nicht die genaue Adresse, wollte nicht riskieren, noch länger warten zu müssen, bis ein Taxi zum Jokus kam. Ich glaube, ich bin noch einmal zurück in die Garderobe gelaufen, aber um ehrlich zu sein, weiß ich das nicht, ich wusste bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, was ich tat. Es ist nicht nur so, dass meine Erinnerungen an dieser Stelle aussetzen, auch ich selbst bin an dieser Stelle wohl vollkommen ausgesetzt. Ich muss wohl draußen in Theos Wagen gestiegen sein und es mit meinen rudimentären Autofahrkünsten irgendwie auf die Autobahn geschafft haben. Und ab da ist es in meiner Erinnerung nur noch schwarz.
    Geändert von John Irenicus (16.01.2016 um 20:20 Uhr)

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    „Schonmal überlegt, Schriftsteller zu werden? Das war ja quasi druckreif!“
    „Naja“, meinte Laido und schüttelte kraftlos den Kopf. Seine Kehle war trocken, trotz der Cola. Oder gerade wegen ihr – manchmal machte die ihm mehr Durst, als dass sie ihn stillte, und hinterließ dabei ein so raues, irgendwie entkräftendes Gefühl im Hals.
    „Bis auf die ein oder andere Stelle natürlich. Man merkt dir die Bühnenerfahrung aber an.“
    „Das ist schön“, befand Laido. „Vielleicht hätte ich ja lieber Theaterschauspieler werden sollen. Dann säße ich jetzt nicht im Knast. Höchstens als Besucher, um mich irgendwie in eine neue Rolle einzufinden, oder sowas.“
    „Wenn du glaubst, dass es im Theatergeschäft keine koksenden Manager gibt, dann hast du dich geschnitten“, sagte Jacob und lehnte sich mit Kennerblick in seinem Stuhl zurück. Laido beobachtete, wie ihm offenbar die in vollkommen falscher Neigung angebrachte Rückenlehne ins Kreuz drückte und Jacob sich sofort wieder nach vorne beugte. Jetzt setzte er erneut einen gewollt verschwörerischen Habitus auf. Aus der Verlegenheit geborenes Verschwörertum – wäre Laido Schriftsteller gewesen, dann hätte er diese Szene vielleicht so überschrieben, nur ein bisschen besser und geschliffener. Oder vielleicht doch ganz anders.
    „Aber um zurück zum Thema zu kommen“, griff Jacob den Faden wieder auf und faltete die Hände. „Dass du gerade die besonders kritischen Momente nicht mehr weißt, ist natürlich…“
    „Nicht der wahre Jacob, ich weiß. Aber es ist so, wie es ist.“
    Jacob ließ sich davon nicht irritieren. „Bist du dir denn sicher, dass es so ist, wie es ist? Könnte es denn nicht auch so gewesen sein, dass du dich sehr genau erinnerst, wie du ruhig und gelassen den Jokus verlassen hast, einfach um nach Hause zu fahren, um dort… was auch immer zu tun? Du wirst es ja am besten wissen!“
    „Jacob, jetzt ganz im Ernst“, nölte Laido. „Im Lügen war ich noch nie gut. Sowas geht bei mir immer ganz schlimm in die Hose.“
    „Noch ein Grund gegen die Schauspielerei“, warf Jacob ein.
    „Was ich sagen will: Wenn ich mich nicht mehr erinnern kann, dann kann ich mich nicht mehr erinnern. Es bringt doch überhaupt nichts, wenn ich jetzt versuche, irgendwelche Lügengeschichten zu basteln, um meine Gedächtnislücken zu überbrücken. Jetzt einmal ganz abgesehen davon, dass ich sowieso keinen Grund sehe, herumzulügen. Ich bin kein Mörder. Ich rühre nicht einmal Fleisch an. Das gilt für Fleisch von Tieren und erst recht für Fleisch von Menschen. Ich stech’ doch keinen ab!“
    „Wie gesagt, mir ist das klar. Aber du musst ja selbst zugeben, dass es zumindest mal sehr ungünstig ist, wenn du gerade bei den entscheidenden Stellen der Geschichte nicht mehr genau weißt, was du gemacht hast. Auch wenn deine kleine Story ansonsten natürlich ein Knaller ist. Wollen wir trotzdem mal hoffen, dass du demnächst nicht genug Zeit haben wirst, sie in Gänze aufzuschreiben…“
    „Danke, Jacob. Ich fühle mich bei solchen Andeutungen wirklich sehr wohl.“
    „Ich deute nichts an, ich scherze nur. Die Situation ist für dich schlimm genug, ich kann mir das sehr wohl vorstellen. Deshalb muss ich sie ja nicht noch düsterer machen.“
    „Aber das machst du doch gerade!“, wandte Laido ein.
    „Meine Herren, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen. Herr Martini.“
    Der Wachmann hatte sich während des kleinen Gezänks zwischen Laido und Jacob an den Tisch herangeschlichen, beugte sich, seiner Größe gemäß, zu den beiden Sitzenden hinunter und schaute Jacob auffordernd an.
    „Wir sind noch nicht fertig“, meinte dieser bestimmt.
    „Sie haben jetzt aber fertig zu sein“, sagte der Wachmann noch bestimmter. Vom Nachdruck, mit dem Jacob ihn angeblich um dieses und jenes gebeten hatte, war jedenfalls nicht mehr viel zu spüren, befand Laido, was immer dieser Nachdruck auch gewesen sein mochte.
    „Ich habe aber ein Recht darauf, mit meinem Mandanten zu sprechen!“ Jacob wurde ärgerlich. Laido hätte ihm gerne energisch am Ärmel seines Sakkos gezupft, um ihn ein wenig im Zaum zu halten, aber das hätte ihn vermutlich noch mehr aufgeregt.
    „Und dieses Recht haben Sie jetzt zur Genüge in Anspruch genommen. Herr Martini. Es tut mir leid, aber die Zeit ist um. Genau genommen ist sie bereits seit einer Viertelstunde um. Mehr kann ich Ihnen nicht geben. Das sind die Vorschriften. Sie müssen ein andermal wiederkommen. Holen Sie sich einfach einen weiteren Termin. Oder regeln Sie den Rest per Verteidigerpost. Oder Telefonat. Sie kennen das Prozedere ja.“
    Der Wachmann redete so ruhig, beruhigend und beschwichtigend, mit so einer sachlich-neutralen Distanz, dass es Laido in Jacobs Rolle nur noch mehr aufgeregt hätte. Er mochte es nicht, wenn Leute unbeteiligt taten, obwohl sie ganz besonders beteiligt waren. Jacob allerdings wurde tatsächlich ruhiger. Offenbar hatte der Wachmann Erfahrung im Umgang mit renitenten Anwälten.
    „Ja, ich kenne das Prozedere. Aber ich kenne auch meine Rechte. Unsere Rechte. Sie doch auch, oder? Das lernt man ganz sicher als Justizvollzugsbeamter. Der Hundertachtundvierziger sagt Ihnen was? Dem Beschuldigten ist schriftlicher und mündlicher Verkehr mit dem Verteidiger gestattet. Mündlicher Verkehr!“
    „Den hatten Sie ja jetzt. Ihren mündlichen Verkehr.“ Der Wachmann schmunzelte.
    „Aber die Zeit ist doch viel zu knapp bemessen! Wo steht eigentlich, dass die Zeit begrenzt werden darf? So ist doch keine effektive Verteidigung möglich! Von der Überwachung hier mal ganz zu schweigen!“
    „Sie wären doch der erste, der behaupten würde, dass in diesem Staat so oder so keine effektive Verteidigung möglich ist.“ Der Wachmann schmunzelte immer noch. Laido wurde das Gefühl nicht los, dass die beiden, der Wachmann und Jacob, sich schon mehrmals zuvor begegnet waren.
    „Das hat ja gar nichts mit der Sache hier zu tun“, meinte Jacob nun etwas beleidigt.
    „Herr Martini… Sie kennen die Regeln. Sie sind so, wie sie sind. Gespräche mit dem Verteidiger nur so lange und so viel, wie es die Organisation unserer Anstalt zulässt. Da sind auch noch andere, die Gespräche mit ihren Mandanten führen wollen. Da kann nicht jeder so lange, wie er lustig ist.“
    „Dann müssen eben mehr Räume geschaffen werden, mehr Möglichkeiten!“, meckerte Jacob mehr in sich hinein als dem Wachmann entgegen. Offenbar focht Jacob einen inneren Kampf aus, ob er den in dieser Hinsicht tatsächlich unbeteiligten Wachmann nun als Blitzableiter für seinen Frust gegenüber der Justizvollzugsanstalt benutzen wollte, oder lieber doch nicht.
    „Mein Schwager ist gelernter Zimmermann, den kann ich ja mal fragen“, meinte der Wachmann lakonisch. „Bis es soweit ist, bleibt es aber dabei. Ihre Zeit ist um. Herr Leidel muss wieder in seine Zelle. Sie waren so schnell da, er hat sie ja kaum von innen gesehen. Dabei muss er noch über seine Rechte als Untersuchungshäftling belehrt werden, und so weiter. Da wären Sie doch auch nicht glücklich, wenn wir das nicht ordnungsgemäß machen würden, oder? Und Sie müssen doch sicher auch noch in Ihr Büro. Kommen Sie, so schön ist es hier doch auch nicht.“
    „Und wenn ich nicht freiwillig gehen will?“, wagte Jacob die Frage, rutschte mit seinem Stuhl aber sicherheitshalber dann doch schonmal ein bisschen vom Tisch weg.
    „Herr Martini“, sagte der Wachmann in einem Tonfall geduldiger Amüsiertheit, während Jacob langsam aufstand und seinen Aktenkoffer zusammenraffte. „Ich musste in meiner Zeit hier erst einmal die Kollegen deswegen rufen. Und den armen Kerl hätten Sie danach sehen müssen. Sollte eigentlich das letzte Mal für mich gewesen sein.“
    „Für mich muss es ja auch nicht das erste Mal sein“, antwortete Jacob. Er war offenbar wieder zur Vernunft gekommen. Laido war vom Können des Wachmanns beeindruckt. Mit seinem Vollbart und der Adlernase hatte er allerdings auch ein bisschen das Aussehen eines Psychologen. Das half.
    „Wir sehen uns dann hoffentlich bald wieder, so es denn die Organisation der Anstalt zulässt“, stichelte Jacob zunächst noch einmal in Richtung des Wachmanns, um sich dann wieder ernster an Laido zu wenden, der nun auch aufgestanden war. „Tommy, ich bemühe mich, einen raschen Termin zu finden. Bis dahin habe ich wahrscheinlich auch das meiste andere geklärt. Ich werde nochmal mit diesem Dr. Reepers sprechen. Die Haftgründe muss er mir ja schon mal mitteilen. Irgendwie müssen sie ja ausgerechnet auf dich als dringend Tatverdächtigen gekommen sein. Ich melde mich also!“
    Laido ergriff Jacobs ausgestreckte Hand zum Abschied und konnte sonst nur nicken. Auch wenn bei ihrer Besprechung nicht viel herumgekommen war, ging ihm der Abschied jetzt doch ein bisschen zu schnell. Jacob war kaum aus der Glastür herausgeeilt, da fühlte sich Laido schon wieder allein. Der Wachmann wandte sich ihm zu.
    „Herr Leidel, ich werde Sie zurück zu Ihrer Zelle begleiten.“
    „Würde den Weg ja eh nicht alleine finden.“

    „… und telefonieren dürfen Sie sogar auch, der Apparat steht hier bereit. Sie müssten Ihren Gesprächspartnern dann nur sagen, dass sämtliche Telefonate über diesen Apparat überwacht werden. Normalerweise haben wir eine automatische Bandansage, aber die ist momentan defekt, weshalb Sie das machen müssten, sonst kommen wir nämlich ziemlich in die Bredouille. Achja, die Kosten stellen wir Ihnen natürlich in Rechnung, aber das ist ja im Grunde selbstverständlich. Muss ich Sie trotzdem drauf hinweisen, dass Sie hier nicht frei Haus plaudern.“
    „Meine Telefongespräche werden überwacht?“
    „Nunja, Sie sind des Mordes beschuldigt. Da gibt es nun einmal strenge Auflagen. Das Gericht hat die Überwachung angeordnet… das entsprechende Schreiben bekommen Sie wohl noch. Aber keine Angst, Sie gelten natürlich als unschuldig, also zumindest so lange, bis man Sie dann verurteilt hat. Haben Sie uns auch im Lehrgang letztens gesagt, dass wir Sie so behandeln sollen. Für mich sind Sie also auch noch unschuldig. Ist also nichts Persönliches, das mit der Überwachung und alles.“
    Laido wich dem Verständnis vermittelnden Blick des Wachmanns – ein anderer als der mit Vollbart und Hakennase, dieser eher vollschlank und grau – gen Boden aus. Im Grunde hatte er wirklich gar keine Lust mehr, überhaupt noch jemandem zuzuhören, egal wie wichtig das alles nun für ihn sein sollte. Erst das Gespräch mit Jacob, das ihn mehr aufgeregt als beruhigt hatte, jetzt die ganzen Informationen, die vom Munde des Vollzugsbeamten auf ihn einprasselten. Das war einfach zu viel auf einmal. Am liebsten hätte Laido sich auf der Stelle ins Bett geworfen, die Decke über den Kopf gezogen und sich Augen und Ohren gleichzeitig zugehalten.
    „Immerhin hat Ihnen das ja auch eine Einzelzelle verschafft, das ist in der U-Haft jetzt nicht der Standard, auch wenn es wohl von Rechts wegen so sein sollte“, begann der Wachmann dann wieder, unangemessen aufmunternd im Tonfall. „Dass man Sie ein bisschen für gefährlich hält, hat Ihnen das verschafft, meine ich. Aber ich habe keine Angst. Nie gehabt. Nicht mal vor den wirklich schweren Jungs im Haupttrakt. Sie sind ja getrennt untergebracht, wissen Sie. Nicht, dass die Zellen groß unterschiedlich wären, aber naja. Leichteste Sicherheitsstufe ist das hier aber auch nicht! Geht ja immerhin um Mord, ne?“
    Laido nickte nur und ließ ein zustimmendes Murmeln ertönen. Die Gründe, warum er in genau dieser Zelle in genau diesem Trakt des Gefängnisses sitzen musste, waren ihm tatsächlich relativ egal. Was für ihn zählte, war die schlimme Aussicht, überhaupt in diesen engen Raum gesperrt zu werden. So lange, bis man ihn endlich vom Vorwurf des Mordes freisprach. Bis Jacob irgendetwas einfiel, um dieses absurde Theater zu beenden.
    Was den Raum besonders prägte, war ein schlimmes Beige, und zwar ein solches, welches in einem früheren Lebensabschnitt mal weiß gewesen sein musste. Kacheln in beige in der kleinen Waschecke – samt abgetrennter Toilette, Tapete in einem noch angeweißten Beige im Rest des Raumes, ein kleiner Schrank in beige… aber der Fußboden immerhin aus braunen, großen Platten. Es bestätigte Laido das, was er ohnehin schon immer irgendwie vermutet hatte: Untersuchungshaft, das war einfach Knast wie jeder andere auch.
    „Alles was Sie sonst noch so wissen müssen, steht in den Merkblättern drin, die finden Sie dort auf dem Tisch. Mehr Zeit haben wir jetzt nicht, weil Ihr Anwalt so getrödelt hat, habe ich mir sagen lassen. Als hätten wir hier nicht genug zu tun. Deshalb haben Sie Ihre ärztliche Untersuchung auch erst morgen.“
    „Es gibt eine ärztliche Untersuchung?“
    „Jawohl, ist Vorschrift bei der Aufnahme. Hätte auch alles schon längst gemacht werden müssen, aber wie gesagt… wird vor allem gemacht, um zu schauen, ob Sie nicht irgendwelche ansteckenden Krankheiten haben, oder sowas. Und ob Sie selbstmordgefährdet sind. Dann müssen wir Sie nämlich vielleicht nachts jede Stunde wecken, um zu schauen, dass Sie noch leben. Ich sag ja immer, spätestens deshalb will man sich in den Tod stürzen… aber was will man machen, ne? Für die Nacht bleiben Sie davon jedenfalls verschont, und wenn der Anstaltsarzt Sie morgen für normal hält… aber naja, was ist schon normal, ne?“
    „Ich kann dagegen nichts machen?“
    „Wogegen?“
    „Gegen die ärztliche Untersuchung.“
    „Gegen die? Nein, woher denn? Mensch, seien Sie doch froh! So gründlich werden Sie bei ’nem Kassenarzt ganz bestimmt nicht durchgecheckt. Sie sind doch Kassenpatient, oder?“
    Laido hatte keine Lust, auf die Frage zu antworten. Der Drang, sich ins Bett zu stürzen und sich vor allem und jedem zu verstecken, wurde kontinuierlich stärker.
    „Sie haben außerdem das Privileg, sich Ihr Essen auszusuchen… also zumindest eine gewisse Auswahl. Mehr als normale Häftlinge. Das ist doch auch nicht schlecht. Sie finden den Zettel zum Ankreuzen irgendwo auf dem Stapel auf dem Schreibtisch dort… schieben Sie den dann einfach durch die Klappe unter Ihrer Tür durch. Frau Helfes holt ihn dann ab. Das ist ’ne ganz Nette.“
    Laidos Blick wurde auf die Zellentür gelenkt, blieb aber nur kurz an der Luke unten hängen, die er an normalen Türen als Katzenklappe identifiziert hätte. Was ihn viel mehr störte als das, war, dass die Tür von innen keine Klinke hatte. Und auch keinen Knauf. Gar nichts. Von Zellenseite aus war die Tür keine Tür, sondern bloß ein weiteres Wandstück in einem Meer aus Beige.
    „Das wäre dann erst einmal alles“, sagte der Wachmann und signalisierte mit ein paar Schritten auf den Zellenausgang, dass er nun wirklich gehen wollte. „Wie gesagt, den Rest können Sie alles auf den Merkblättern nachlesen. Sie haben ja jetzt Zeit. Ich schließe Sie jetzt ein. Nichts für ungut.“
    Wie Laido den unbeteiligten Blick des Wachmanns auffing und dann beobachtete, wie sich der Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt von ihm abwandte und durch den Ausgang schritt, kam in ihm natürlich der Drang hoch, ihn noch einmal aufzuhalten, weitere Fragen zu stellen, irgendwas zu tun. Er gab diesem Drang aber nicht nach. Man sah dem Beamten an, dass er dieses Prozedere schon tausendmal hinter sich haben musste. Nur wegen ihm würde er beim tausendundersten Mal bestimmt nichts daran ändern.
    Ein kurzer Impuls durchfuhr Laidos Glieder, als die Tür von außen zugedrückt wurde und ein kräftiges metallenes Rasseln ertönte – ein der Anstalt eigentümlicher Ton, der, so wie Laido vermutete, wohl keinem Häftling jemals wieder aus dem Kopf ging, wenn er ihn einmal gehört hatte. Und so manche Leute in dieser Anstalt hatten ihn sicher schon oft und mehr als genug gehört. Laido wollte hoffen, dass es ihm nicht auch so ergehen würde, dass sich bald alles aufklärte und er diese Zelle und die gesamte Anstalt wieder verlassen konnte. Aber alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass es so schnell wohl nicht gehen würde. Laido wollte dabei auch nichts Böses über Jacob denken, doch seiner Einschätzung nach konnte auch und gerade das Wirken des Anwalts nichts daran ändern, dass er für eine unbestimmte Zeit hier sein neues Zuhause beziehen musste. Wenn man eine Gefängniszelle denn überhaupt ein Zuhause nennen konnte. Manche, so war Laido sich bewusst, taten das, gezwungenermaßen. Aber von denen hatten das die meisten ja immerhin verdient. Glaubte er jedenfalls.
    Es war Laido mehr als unangenehm, zu erkennen, wie schnell er mit ein paar Schritten den Raum durchmessen konnte, und es hätte ihn nicht überrascht, hätte er schon jetzt vor lauter Bedrückung die Wände auf sich zukommen sehen. Glücklicherweise taten sie das nicht, und die Angst vor der Angst legte sich etwas, als Laido sich an den improvisierten Schreibtisch setzte, um den Blätterstapel in Augenschein zu nehmen. Der ganze Wust an Papier besaß in etwa die Seitenstärke dieser einen Masterarbeit, die er nie fertiggeschrieben hatte. Ein großer Teil schienen rechtliche Belehrungen und Gesetzestexte zu sein, die Laido am liebsten ungelesen an Jacob oder sonstwen weitergereicht hätte. Beim raschen Durchblättern erspähte er Vorschriften über die Unterbringung in der Anstalt – wie präzise – , die Aufnahme eines Untersuchungshäftlings, Rechte zur Religionsausübung, zur Weiterbildung und zur freiwilligen Arbeit, zur Hygiene und zum einstündigen Freigang auf dem Gefängnishof, zur Einrichtung der Haftzelle und vieles mehr, was sicherlich gut gemeint war, ihm aber in dieser Situation irgendwie so gar nicht weiterhalf. Man hätte ihm auch einen Whirlpool in seine Zelle stellen können: Der beständige Anblick einer Tür ohne Klinke hätte ihm auch das madig gemacht.
    Nichtsdestotrotz: Fürs Erste, auch und gerade um sich abzulenken, wollte Laido diesen Stapel Papier durchgehen. Trotz der Enge seiner Zelle strömte momentan eine derartige Weite an beunruhigenden Gedanken auf ihn ein, dass er die Chance nutzen wollte, seine Konzentration auf eine nach A4 genormte, begrenzte Fläche zu richten – und das notfalls hundertmal hintereinander, bis er darüber einschlief. Weil Laido letzteres besonders billigend in Kauf nahm, griff er sich kurzerhand den gesamten Stapel Papier und legte sich mit dem Rücken auf das Bett. Wäre er ein gutes Stück größer gewesen, er hätte nicht ganz reingepasst und seine Füße hätten übergestanden. So aber schien das Bett wie für ihn gemacht – mit dem entscheidenden Unterschied, dass er sich niemals so eine schaumstoffartige Matratze angeschafft hätte. Für den Moment wollte er sich aber einfach vorstellen, als sei dies sein eigenes, nur von ihm ausgesuchtes Bett. Natürlich klappte es nicht, diese Vorstellung so fest zu verankern, dass er wirklich an sie glaubte. Darin, seine eigenen Gedanken auszutricksen, war Laido noch nie gut gewesen. Auch deshalb besann er sich nun wieder auf sein eigentliches Vorhaben, diese öden Informationsblätter durchzugehen und die Langeweile seine Sorgen überschwemmen zu lassen.
    Die Gesetzestexte überblätterte Laido, so gut es ging, auch wenn ihm ab und zu mal einer dieser Paragrafen ins Auge fiel und er dabei hängen blieb. Insbesondere ein gewisser Paragraf Zweiundzwanzig, der offenbar regelte, dass man mit seinem Anwalt unbeschränkt und ohne Überwachung reden durfte, ließ Laido aufmerken. So richtig unbeschränkt und unüberwacht war er sich unten im Besuchsraum vor den Augen und Ohren des Wachmanns ja nicht vorgekommen, und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass das Wort unüberwacht im Juristendeutsch eine von der Alltagssprache so krass abweichende Bedeutung besaß. Das allein bestärkte Laido in seinem seit Beginn gehegten Verdacht, dass die Anstalt so ein bisschen nach ihren eigenen Regeln spielte – und dass diese ganzen Gesetzesparagrafen wahrscheinlich gerade mal, wenn überhaupt, so viel wert waren wie das Papier, auf dem sie gedruckt waren. Laido konnte nur hoffen, dass er niemals ernsthaft von irgendwelchen Rechten Gebrauch machen müssen würde. Abgesehen vom Recht darauf, das Gefängnis möglichst schnell wieder zu verlassen, natürlich – eine Sehnsucht, die im Paragrafen Neun dieses schlimm betitelten Gesetz zur Regelung des Vollzuges der Untersuchungshaft in Nordrhein-Westfalen (Untersuchungshaftvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen – UVollzG NRW) ihre Entsprechung fand. Bei dem ganzen amtsschimmeligen Geschwafel beneidete Laido Jacob wirklich um nichts – abgesehen von seiner momentanen Freiheit natürlich. Aber man musste wohl schon ein ganz spezieller Mensch sein, um solchen Kram irgendwie gut finden oder überhaupt ertragen zu können.
    Nachdem Laido den Stapel um alle Seiten, die reinen Gesetzestext enthielten, erleichtert hatte, war nur noch etwa ein Drittel davon übrig – immer noch mehr als genug. Im Grunde aber, so erkannte er rasch, waren es tatsächlich nur irgendwelche sogenannten Merkblätter, die auch nicht viel anderes taten, als irgendwelche der einschlägigen Paragrafen zu zitieren oder zu paraphrasieren, oder aber derart allgemeine Ausführungen zum Ablauf in der Anstalt enthielten, dass man sie sich genau so gut hätte sparen können. So oder so war es für Laido eine äußerst trockene Lektüre. Lediglich das Merkblatt zur ärztlichen Untersuchung zog Laido dann doch irgendwie in seinen Bann, und das nicht gerade auf eine erfreuliche Weise. Impfpass, Medikamentenzettel… so etwas hatte er natürlich alles nicht dabei, wie er ja überhaupt nur das dabei hatte, was er an sich trug. Vermutlich, so befürchtete er, musste er irgendwann sogar auf Anstaltskleidung ausweichen. Dass er dazu grundsätzlich nicht gezwungen war, das hatte er im Schnelldurchlauf in den Gesetzen gesehen.
    Das Merkblatt zur ärztlichen Untersuchung war jedenfalls derart umfangreich – auch wegen irgendwelcher Bekenntnisse zur Wahrung der Schweigepflichten und so weiter – dass Laido relativ lange an ihm hängenblieb. Der Wachmann hatte wohl recht gehabt: So ausführlich wurde man als Kassenpatient ganz sicher niemals durchgecheckt. Überhaupt war Laidos letzte gründliche Untersuchung nun schon einige Jahre her – über ein Jahrzehnt. Denn im Grunde war die Musterung das letzte Mal gewesen, dass sich überhaupt ein Arzt erbarmt hatte, etwas mehr zu tun als nur mit mitleidigem Blick ein Rezept oder eine Überweisung auszustellen. Laido erinnerte sich, wie unangenehm die Musterung damals gewesen war, dabei aber kein Vergleich zu den unangenehmen Gefühlen und Ängsten, die er vor jener Musterung gehabt hatte und die durch Erzählungen seiner Mitschüler damals nur noch befeuert worden waren. Und ja: Auch ihm hatte man schließlich während des Hustens an die Klöten gepackt.
    Die unmittelbare Zeit vor der Musterung war jedenfalls alles andere als die beste Zeit seines Lebens gewesen, und wie zahlreiche seiner Mitschüler, die nach Laidos Dafürhalten gesund und sportlich gewesen waren, mit teils horrenden Wertungen ausgemustert worden waren, hatte sich für ihn die Frage gestellt, ob diese dubiose T-Skala überhaupt genug Stufen für seinen eigenen Gesundheits- und Fitnessstand bereithielt. Das und das Risiko, irgendeine niederschmetternde Diagnose aufgetischt zu bekommen, hatten in Laido damals so etwas wie eine innere Barriere entstehen lassen. Eine Barriere, die ihn davon abhalten wollte, überhaupt zu dieser Musterung hinzugehen. Eine Barriere, die versprach, ihn nie wieder herauszulassen, sollte er sie doch durchschreiten. Ein bisschen so wie die bläulich blitzende Barriere über dem Minental, die bei Gewitter elektrisch über dem Alten Lager aufzuckte und all denjenigen Respekt einflößte, die es wagten, bei so einem Wetter überhaupt draußen zu sein und dann auch noch in den Himmel zu schauen. Genau einer dieser Tage war heute wieder, nur dass er sich vorerst noch außerhalb des Alten Lagers abspielte. Nach dem Gespräch mit dem vollkommen aufgelösten Milten war klar, dass von den Feuermagiern keine Hilfe mehr zu erwarten war. In der Ferne zückte Diego seinen Bogen, doch das interessierte kaum. Stattdessen sauste das eigene Schwert hernieder, nach inhaltsleeren Worten einiger Gardisten, die das zu schützen versuchten, was längst untergegangen war. Gedämpfte Schreie schwappten durch den Äther und verschmolzen mit der wabernd-blauen Elektrizität oben am Himmel, die sich immer mehr auf die Welt herab zu senken schien.
    Irgendwann liegen alle Gardisten am Boden, unförmig in ihren schwarz-roten Rüstungen. Holz zittert, Planken markieren den Eingang zu einer überdimensionalen Bretterbude. Es gibt nicht nur den einen Weg. Das Drücken ist unangenehm, aber nicht schmerzhaft. Vorbei an den Holzlatten, durch eine Lücke, die gar nicht existieren dürfte. Dann: Das Lager von innen, den Schöpfer der Welt höchstselbst ausgetrickst, um das zu sehen, was noch gar nicht gesehen werden darf. Lautlose Schritte sinken in den erdigen Boden ein, viele Schritte. Buddler, Schatten, Gardisten. Bolzen zischen als blasse Bänder durch die Luft, doch sie treffen nicht. Der Weg in die Burg ist vorgezeichnet. Es gibt keine Wachen mehr, die ihre Waffen klirren lassen könnten. Unbesiegbar, aber nicht furchtlos rennen sie den Außenring ab. Armee gegen Armee, Feuer vom Himmel. Eckige Schritte, weg vom Haus des Herrschers, hin zu dem der Toten. Im Innern bricht der matte Sonnenschein weg, wird nach unkennbarem Geflacker durch unsichtbare Quellen ersetzt. Jetzt machen die Schritte auch wieder Geräusche, Schuhe auf Holz, Geknarze, Gepolter. Zu hohe Stufen hinauf ins Obergeschoss. Körper in Roben auf dem Parkett. Stoffe wie Teppich, die Fäden schwerer Magie auf hängenden und erkalteten Schultern. Erloschene Feuer. Sie sind im Kreis angeordnet, in ihrer Mitte eine Gestalt, die behandschuhten Hände gegen den eigenen Körper gestemmt, eine Pose wie festgewachsen. Baronenhafter Fellbesatz am Kragen, eine Rüstung, zu warm für die Hitze im Raume, die noch übrig ist. Die Gestalt hört nichts, sieht nichts und sagt nichts, und doch dreht sie sich schließlich um, zwingt alles in seinen Bann, nimmt in einem formalen Gespräch gefangen – und bricht sofort wieder ab. Nicht diese Gestalt hat sich jetzt umgedreht, sondern Daniel. Das Gesicht ausdruckslos, die Augen dann starr und schließlich trübe. Er spricht, aber ohne Mund. „Das ist jetzt ein ganz schöner Twist, was?“

    „Herr Leidel!“
    Laido schnappte nach Luft und tauchte so rasch aus seiner Anderwelt auf, dass ihm schwindelig wurde. „J-Ja?“, antwortete er, noch immer ganz benebelt. Der Tonfall in der Stimme der Frau verriet eindeutig, dass sie nicht zum ersten Mal gerufen hatte. Laido setzte sich auf und stolperte die paar Schritte zur Tür. Zur Wand, die sich als Tür verkleidete. Oder umgekehrt. Von der anderen Seite ertönte die Stimme erneut.
    „Ich war vor einer halben Stunde schon da, aber Sie haben nicht gehört. Sie hatten keinen Essenszettel ausliegen. Dabei sind Sie doch zur U-Haft.“
    „Oh, der Zettel!“
    Laidos Blick ging zum kleinen Schreibtisch, dann zum Bett, wo zahlreiche Blätter Papier über und unter der Bettdecke verteilt waren. Hektisch wühlte er durch sie hindurch, doch die unsichtbare Frauenstimme von draußen hielt ihn auf.
    „Lassen Sie nur, jetzt ist auch zu spät. Ich habe hier in meinem Essenswagen sowieso ein bisschen mehr dabei, als nötig. Für Sie hätte ich wahlweise einmal die Hirtenpfanne, einmal Gulaschnudeln, einmal vegetarisch…“
    „Ich nehme vegetarisch“, unterbrach Laido die Frau rasch. Er war immer noch etwas schlaftrunken und nicht ganz klar im Kopf, aber das war für ihn das Signalwort gewesen.
    „Gut, dann einmal vegetarisch. Ich schiebe es Ihnen durch die Klappe. Und das nächste Mal bitte an den Essenszettel denken.“
    Ein unsanftes Krachen ertönte, als wenige Augenblicke später ein Teller durch die Luke am unteren Ende der Tür geschoben wurde. Laido kniete sich hin, um das Essen entgegenzunehmen. Es gab Tofu.
    Geändert von John Irenicus (25.09.2016 um 15:13 Uhr)

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    Ein Dessert gab es nicht, und so blieb Laido nicht viel anderes übrig, als nach einigem Ringen das nahezu unberührte Tofugericht wieder zurück durch die Klappe zu schieben. Er hoffte, dass die Essensfrau oder der Essensmann oder wer auch immer das dann wieder abräumen würde, keine zu bohrenden Nachfragen stellen würde, auch wenn sicherlich nichts dabei war, zu sagen, dass man kein Tofu wollte oder es einfach nicht vertrug, und auch die „Warum haben Sie es sich denn dann ausgesucht?“-Einwände hätte Laido sicherlich noch bewältigen können. Aber derlei Umständlichkeiten waren ihm, zumal in seiner aktuellen Lage, schlicht zu viel. Im Prinzip wollte er einfach nur in Ruhe gelassen werden, vor allem von Leuten, die es gut mit ihm meinten, ihm aber eben trotzdem nicht helfen konnten. Dabei wusste Laido nicht, ob er auch Jacob dazuzählen sollte. Das würde er wohl erst wissen, wenn Jacob etwas für ihn erreichen oder endgültig nicht erreichen konnte.
    Unmerklich hatte Laido sich mit dem Rücken zur Wand auf den Zellenboden gesetzt. Er war noch immer schläfrig, etwas benebelt. „Ich komm’ gar nicht richtig bei“, hätte sein Opa dazu gesagt, wie er es immer gesagt hatte, wenn man ihn aus seinem Mittagsschlaf geweckt hatte. Laido erschrak daraufhin ein wenig: Wenn er sich nun schon wie sein Opa verhielt, dann musste der Knast wohl wirklich binnen kürzester Zeit sehr alt machen. Der Vorteil an dieser schleierartigen Schläfrigkeit war indes, dass Laidos Ängste, zumindest in ihrer akuten Form, etwas gedämpft wurden. Allerdings war sich Laido sicher, dass er nur lange genug hier an der Wand sitzen, grübeln und sich selbst verrückt machen brauchte, um die angenehm dämpfenden Effekte der Schläfrigkeit wieder zu zerstreuen. So weit wollte er es nicht kommen lassen. Er stand mit müden Beinen auf und machte den halben Schritt zum Bett. Den Papierstapel mit den merkwürdigen Merkblättern hatte er achtlos auf dem Bett liegen gelassen, und ebenso achtlos packte er den Wust jetzt und verfrachtete ihn zurück auf den Schreibtisch. Dort widmete er sich dann zum ersten Mal dem kleinen Radio, welches manche wohl ein „Kofferradio“ genannt hätten, ohne, dass er, Laido, je verstanden hätte, was ein Radio denn zum Kofferradio machte. Dieses Radio jedenfalls war klein, offenkundig alt, etwas angestaubt, und in einem Grauschwarz oder Schwarzgrau gehalten, das heutzutage wohl als „Anthrazit“ beworben würde. Die angelegte Antenne klappte nur sehr schwerfällig aus, und ausfahren konnte Laido sie nicht wirklich. Nach einigem Herumgefummel an der Rückseite fand er den Knopf zum Anmachen. Dann: Rauschen. Er drehte ein wenig am Frequenzregler, jedoch ohne feste Hoffnung, hier in dieser Zelle überhaupt ordentlichen Empfang zu kriegen – und dann war auf einmal doch ein Sender drin.
    „ …-ehrsmeldungen. A1 Köln Richtung Euskirchen, zwischen Köln-Bocklemünd und Köln-Lövenich zwei Kilometer Stau. A3 Köln Richtung Oberhausen, zwischen Köln-Dellbrück und Köln-Mülheim stockender Verkehr auf drei Kilometern Länge, Sie brauchen zehn Minuten länger. A3 Oberhausen Richtung Arnheim, zwischen Oberhausen-Holten und Kreuz Oberhausen nach einem Unfall vier Kilometer Stau. A40 Essen Richtung Duisburg zwischen Kreuz Kaiserberg und Kreuz Duisburg fünf Kilometer Stau, ebenfalls nach einem Unfall. A42 Dortmund Richtung Kamp-Lintfort zwischen Duisburg-Beeck und Duisburg-Beeckerwerth Gefahr durch Gegenstände auf der Fahrbahn. A43 Wuppertal Richtung Recklinghausen, zwischen Bochum-Gerthe und Bochum-Riemke zwei Kilometer Stau. A44 Dortmund Richtung Kassel, zwischen Kreuz Dortmund/Unna und Kreuz Unna-Ost vier Kilometer Stau. A44 Kassel Richtung Dortmund zwischen Erwitte/Anröchte und Soest-Ost Vorsicht wegen Personen auf der Fahrbahn. A45 Hagen Richtung Dortmund zwischen Schwerte-Ergste und Westhofener Kreuz zehn Kilometer Stau. A57 Nimwegen Richtung Köln, zwischen Moers-Kapellen und Krefeld vier Kilometer Stau. A46 Wuppertal Richtung Düsseldorf zwischen Wuppertal-Elberfeld und Wuppertal-Katernberg zwei Kilometer Stau. Und A46 Wuppertal Richtung Düsseldorf zwischen Wuppertal-Cronenberg und Wuppertal-Sonnborn, ebenfalls zwei Kilometer Stau. Das waren die Verkehrsmeldungen. Wir wünschen Ihnen eine gute Fahrt!“
    Als der, die, das Jingle ertönte und die sonore Männerstimme ablöste, lag Laido bereits wieder auf dem Bett. Die Augen hielt er noch offen und zur kahlen Decke gerichtet, aber er ahnte jetzt schon, dass sie bald wieder zufallen würden, ohne, dass er es so recht bemerken würde.
    Applaus ertönte.
    „Ja, vielen Dank! Liebes Publikum, liebe Hörerinnen und Hörer an den Empfangsgeräten: Herzlich Willkommen bei der telefonischen Mordsberatung! Es ist auch für Sie, liebe Zuhörer zu Hause oder wo auch immer Sie gerade zuhören, sicherlich deutlich am Klang erkennbar, auch wenn Sie gerade nicht ins Publikum schauen können: Der Saal ist gut gefüllt am heutigen Abend, bis fast auf den letzten Sitz hat man sich eingefunden, um in die Welt der Krimis einzutauchen. Mein Name ist Thomas Hackenberg, und wie immer darf ich Sie durch das heutige Programm leiten. An meiner Seite befinden sich, erstens, wie immer Krimi- und insbesondere Tatort-Experte Ulrich Noller …“
    - „Hallo, schönen Guten Abend!“

    Erneut brandete Applaus auf.
    „Und für den heutigen Abend außerdem ein ganz, ganz besonderer Gast, mit dem ich nun schon viele Jahre nicht nur meines Berufslebens verbracht habe und über den ich mich heute, zum ersten Mal hier bei der telefonischen Mordsberatung auf WDR5, ganz besonders freue.“
    „Deine Mudda“, murmelte Laido, der sich bereits wieder aufgesetzt hatte und nun vom Bett aufstand.
    „Helmut Gote, fleißigen WDR5-Hörern bekannt aus der Sendung Gans und Gar, und heute ganz und gar der Krimiliteratur verschrieben. Guten Abend, Helmut Gote!“
    „Guten Ab-“

    Wieder Rauschen. Laido hatte den Frequenzregler weitergedreht, in der Hoffnung, einen anderen Sender zu finden, aber bekam keinen anderen rein. Auch das Herumspielen an der Antenne oder das Verlagern des Radios an unterschiedliche Orte im Raum brachte keinen Erfolg. Jeder weitere Sender wurde von unerträglichem Rauschen überlagert, und wenn mal etwas durchkam, dann war es dumpfes, schläfriges Gerede einer einzelnen Person oder dramatische Klassik-Passagen, die aber im Störfeuer untergingen. Irgendwann reichte es Laido, und er machte das Radio wieder aus.
    Stille. Lediglich ein leichtes, eingebildetes Echo des Rauschens, das er zuvor noch gehört hatte. Und nun?
    Laido wollte sich gerade dazu aufmachen, mal nachzusehen, was im einzigen Schrank dieser Zelle so zu finden war, als es auf einmal an der Tür rasselte. Ein Schlüssel!
    „Umschluss!“, dröhnte eine Männerstimme von draußen, nachdem die Tür einen Spalt aufgegangen war. Laido eilte zu ihr hin und schaute hinaus auf den Gang, aber da war der Wachmann – ein unscheinbarer, älterer Kerl mit Schnauzbart – bereits zur nächsten Tür gewandert, um sie mit dem großen Schlüssel, der gar nicht so viel Ähnlichkeit mit üblichen Schlüsseln hatte, aufzuschließen. Laido war nicht sonderlich enttäuscht, denn dass die Befreiung erstens nicht ihm persönlich galt und zweitens nur befristet sein würde, das hatte er sich ohnehin schon gedacht. Er war allerdings verwirrt, weil er sich nicht im Klaren war, wo er nun hin musste oder konnte oder was jetzt überhaupt angesagt war.
    „Entschuldigen Sie“, sagte er, nachdem er dem Mann im blauen Pulli hinterhergeeilt war. „Ich bin gerade erst neu hier und weiß jetzt gar nicht …“
    „Keine Zeit“, brummte der Kerl, zog die Tür einen Spalt auf und ging schon weiter zur nächsten Zelle. Laido wollte ihm erneut hinterher, wurde aber von einem Häftling geschnitten, der aus seiner Zelle kam und beinahe mit ihm zusammenstieß. Laido war froh, dass es nicht der Klischee-Knacki mit zwei Metern Körperlänge und jeder Menge Muskeln war, aber noch froher war er, dass er die Kollision trotzdem gerade noch so vermieden hatte. Der Häftling, ein eher kleinerer Typ, vielleicht zehn Jahre älter als Laido und weißblau gekleidet – wohl die Anstaltskleidung. Laido traute sich nicht, ihn anzusprechen, beschloss aber, ihm unauffällig hinterherzugehen. Bei dem Trubel, der sich auf dem tristen Gang nun breit machte – von Tür zu Tür kamen immer mehr Häftlinge hinaus – schien es zunächst kein Problem zu sein, in der Masse unterzugehen. Zwar sahen einige, aber längst nicht alle nach typischen „Knastbewohnern“ aus, wie Laido befand und wie er ohnehin schon im Vorhinein vermutet hatte. Dennoch unterschied ihn etwas von den meisten der anderen: Er selbst trug eben keine Anstaltskleidung. Nur drei, vier andere kamen im eigenen, aber wenig schicken Dress daher, der Rest war eine kleine, weißblaue Armee. Den Mann aus der Zelle nebenan hatte Laido bereits wieder aus den Augen verloren. In Laido wuchs ein ungutes Gefühl heran, das auch nicht besser wurde, als sein Blick wieder auf die Netze fiel, die den Zwischenraum zwischen den gegenüberliegenden Gängen überbrückten, als seien die kahlen Metallgeländer nicht schon genug gewesen. Mittlerweile war Laido ganz eingereiht in den Strom, der sich einmal hallend den Gang entlang bis hin zu einer Treppe schlängelte, zu der sich dann auch der zweite Strom von der gegenüberliegenden Seite hinzugesellte. Auf der Treppe selbst mischten sich die Ströme, viele weißblau gekleidete Männer auf einem Haufen, kaum ein Stufenabschnitt unbetreten, und trotzdem kein Gedrängel. Es war wie eine organisierte Maschine – aber dieser bedeutungsschwanger aufgeladene Eindruck war wohl einfach Laidos Gemütsverfassung geschuldet.
    Bevor Laido die Lage noch weiter dramatisieren konnte, waren sie, er und die Häftlinge, bereits im Erdgeschoss angekommen, dessen einzelner Trakt trotz seiner Breite fast noch beengender wirkte als die Gänge oben, die Laido wie die Takelage eines Metallschiffs vorgekommen waren. Der Großteil des Männerstroms bog nach rechts ab und wanderte durch eine geöffnete Doppeltür draußen, flankiert von den mehr oder weniger, eher weniger wachsamen Blicken zweier Beamter. Ein kleinerer Teil der Männer aber ging weiter geradeaus, bis kurz vor eine doppelte Sicherheitstür, und bog von dort dann rechts in eine eher versteckte Tür ab. Weil Laido nicht so recht wusste, wo er nun hin musste oder wollte oder sollte, und weil er die große Menschenansammlung um sich herum eigentlich die ganze Zeit schon verlassen wollte, nahm er den selben Weg – und fand sich rasch in einer der schäbigsten öffentlichen Toiletten wieder, die er je gesehen hatte, obwohl diese hier nicht einmal im eigentlichen Sinne öffentlich war.
    Im Grunde sah sie aus wie eine einfache Rastplatztoilette, wie man sie sonst auf der Autobahn in Bungalows aus Backstein oder Beton fand. Mehr Dunkelheit als Licht aus den Neonröhren, viel zu dunkle und außerdem schmierige Kacheln, ein Sammelurinal in Form einer einzigen, breiten Wand aus Aluminium oder was auch immer das für ein Material war, keine einzelnen Pissoirs, in der Ferne lediglich drei Kabinen, von denen – so vermutete Laido – sicherlich mindestens eine stets verschlossen war, obwohl niemand drin war. Immerhin gab es ein Waschbecken, dessen Zugang Laido allerdings gerade versperrte, wie er am vorwurfsvollen Blick eines bulligen Mannes mit Glatze erkannte. Rasch ging er ein paar Schritte zur Seite. Er wollte sich selbst zwar vor dem Vorurteil bewahren, dass alle Insassen eines solchen Gefängnisses gewissenlose Schläger waren – er selbst war es ja auch nicht. Aber ebenso wenig wollte er es darauf ankommen lassen, sich mit den falschen Leuten anzulegen. Und ja, er hatte kein Problem damit, sich selbst einzugestehen, dass er Angst vor seinen Mithäftlingen hatte. Es half auch nicht viel, dass er selbst, also seine Person, auf manche Leute äußerst gefährlich gewirkt hätte, hätten sie gewusst, dass er wegen Mordverdachts in U-Haft saß. Denn erstens waren unter seinen Gefängnisgenossen, die er eigentlich gar nicht als solche sehen wollte, sicherlich mehr als genug tatsächlich verurteilte Mörder, und zweitens war seine eigene Statur nun wirklich alles andere als furchteinflößend, da machte er sich gar nichts vor. Dennoch: Sollte er in einer Notlage die Gelegenheit dazu bekommen, die Quasi-Mörder-Karte zu spielen, er würde es tun – auch wenn so etwas so gar nicht seine Art war. Aber besondere Situationen bedurften eben einer besonderen Herangehensweise, und solange er diese eventuelle Rolle vom mit allen Wassern gewaschenen Knasti wieder ablegen konnte, wenn er hier wieder herauskam …
    „Sach ma, hast du noch nie ’n Scheißhaus von innen gesehen, oder was?“
    Ein älterer Herr, runzelige, tätowierte Haut, graue Haare, grauer Schnauzbart, drängelte sich etwas zu sehr bemüht an ihm vorbei, um nun ebenfalls zum Waschbecken zu gelangen, welches der Glatzkopf gerade freigemacht hatte. Laido ignorierte den Kommentar und marschierte zu den Kabinen. Es war zwar ziemlich dämlich, dass er, wo er doch sogar ein eigenes WC auf der Zelle hatte, nun hier aufs Klo ging. Aber weil es mehr als merkwürdig gewirkt hätte, wenn er jetzt einfach wieder unverrichteter Dinge herausspaziert wäre, blieb ihm wohl kaum etwas anderes übrig.
    Eine der blau umhüllten Kabinen war belegt – oder jedenfalls verschlossen – und die anderen beiden offen. Laido entschied sich für die letzte in der Reihe und ahnte beim Eintreten schon das Schlimmste – und war sodann über die Sauberkeit des stillen Örtchens überrascht. Spätestens hier merkte man, dass diese Toiletten eben nicht wirklich öffentlich waren. Besonders erstaunlich war für ihn die Wand hinter ihm – nicht ein mickeriger Filzstiftstrich zierte die Kacheln. Laido schloss von innen ab und ließ sich auf der schlichten, aber makellos sauberen Klobrille nieder. Auch die Wände der Kabine links und rechts neben ihm wie auch die Tür waren bar jeglicher Kritzeleien. Laido konnte nicht sagen, dass ihm diese Sauberkeit, diese Ordnung gefiel. Es wirkte so gestellt, als sei dies gar keine wirkliche Toilette, sondern schlicht eine Requisite, eine noch unfertige Requisite sogar, denn hätte er ein Stück schreiben wollen, in dem Toiletten vorkamen, er hätte sie mit Sprüchen aller Art versehen. Hier aber: Nichts, ein Unwohlsein vermittelndes Nichts. Es war ein seltsames Zwiegefühl aus einerseits der Sicherheit, hier in dieser Kabine ganz alleine zu sein, obwohl dies doch nur eine weitere, selbst gewählte Zelle war, und andererseits der Unsicherheit, die diese seltsam entrückte Unberührtheit der Toilette verursachte. Es war fast so, als hätte man diese Toilette eigentlich gar nicht benutzen dürfen. Aber zwei Kabinen weiter wurde sie ja auch benutzt. Wenn es denn nicht doch die obligatorisch leerstehende aber versperrte Kabine war. Vielleicht als Lagerraum für Toilettenpapier. Aber allein in seiner Kabine hier standen auf dem Spülkasten drei feinsäuberlich gestapelte Ersatzrollen parat.
    Das Schlimmste war, dass Laido sich irgendwie überwacht fühlte. Er hatte bereits die Wände und die Decke nach irgendwelchen Kameras oder sonstigen verdächtigen Stellen abgesucht, aber da war einfach nichts. Er hielt es auf rein rationaler Ebene auch nicht für sonderlich wahrscheinlich, dass die Kabinen überwacht wurden, Gefängnis hin oder her. Dennoch: Allein das Gefühl, der Gedanke daran, dass es so sein könnte, zeigte Wirkung. Vielleicht war das die Erklärung dafür, dass hier nichts beschmiert war.
    Laido öffnete die Tür, sie ging nach außen hin auf, und er hoffte, sie niemandem ins Gesicht zu schlagen. Tatsächlich schien er nun allein zu sein in den Toilettenräumen, auch die vormals verschlossene Kabine war nun wieder frei. Nach ein paar Schritten auf dem glitschigen Boden und einer Nase des üblichen Toilettenmuffs aus Reinigungsmitteln und anderen Dingen fühlte sich auch alles wieder sehr echt an. Auch, dass es am Waschbecken nur die allerklebrigste Flüssigseife aus einem alten Spender gab und zum Abtrocknen graubraunes, raues Wegwerfpapier, machte den kleinen Ausflug in die Oase der Sauberkeit hinter den blauen Trennwänden sehr schnell vergessen.
    Als Laido wieder in den Gang hinaustrat, kam ihm ein sehr jung wirkender, schlaksiger Beamter entgegen, dessen Blick nicht so ganz entzifferbar war, abgesehen von einer Grundstrenge, die in ihm lag.
    „Ich war nur … also … raus geht es da hinten, ne?“
    Der Beamte sagte nichts und verschwand in den Toilettenräumen. War das jetzt die Kontrolle, ob irgendwer, speziell Laido selbst, dort irgendwelchen Unsinn angestellt hatte? Falls ja, dann sollte der Beamte ruhig suchen. Ein schlechtes Gewissen hatte Laido natürlich trotzdem, aber das war vielleicht auch nur ein weiterer grundlegender Gemütszustand, den man als jemand, der wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft saß, einfach hatte. Und er konnte sich vorstellen: Wer diesen Gemütszustand nicht schon bei Einlieferung hatte, der bekam ihn mit Sicherheit binnen kürzester Zeit eingebläut, mochte er auch noch so unschuldig sein.
    Laido vergewisserte sich noch einmal, dass er sich richtig orientierte, und schlug den Weg zur Doppeltür ein. Diese wurde mittlerweile von nur noch einem Wachmann bewacht, der ihn aus müden Augen ansah. Der Innenhof, der sich hinter der Tür ausbreitete, sah alles andere als einladend aus, und eigentlich breitete er sich auch gar nicht wirklich aus, weil er doch sehr gedrungen wirkte. Besondere Lust, hinauszugehen, hatte Laido nicht. Er tat es trotzdem – allein schon, weil es mindestens mal auffällig gewirkt hätte, wäre er einfach wieder in seine Zelle zurück spaziert. Und auffällig war hier schlecht, das musste Laido nicht erst von jemandem gesagt bekommen.
    Das erste, was ihm am Hof auffiel: Es war kalt. Viel zu kalt, und er selbst war viel zu dünn angezogen. Allerdings hatte die Kälte auch etwas angenehm Wachrüttelndes. Der in den Trakten liegende unangenehme Muff, der sich ihm in Nase und auch Mund geschlichen hatte, war mit einem Mal fort. Laido wollte seinen Blick schweifen lassen, aber in alle Richtungen blick er rasch an hohen Mauern hängen, die mit bissig aussehendem Stacheldraht gekrönt waren. So sah also Sicherheit von Nahem aus. Es war wirklich wie in Fernsehen, und hätte es noch eines Beweises bedurft, dass Laido nicht bloß in einem heruntergekommenen, dabei aber dennoch sehr auf Disziplin bedachten Schullandheim gelandet war, dann wäre es nun jetzt dieser Hof gewesen: Er war nicht gerade weitläufig, annähernd quadratisch und überall aus abweisendem Stein, wo es nur irgend ging. Ein kleiner Grünstreifen teilte den Hof andeutungsweise in zwei Hälften, wobei die ohnehin schon mickerige Vegetation – etwas mehr als kleinere Büsche, ertränkt in Rindenmulch, war nicht drin – jetzt im Winter natürlich erst recht verloren wirkte zwischen den dräuenden Gefängnismauern. In einer Ecke war ein kleines Basketballfeld untergebracht, mit einem Basketballkorb ohne Netz. Dies war der einzige Platz im Innenhof, der nicht von Häftlingen bevölkert war. Ansonsten waren sie nämlich überall, und auch wenn sich Laido schämte, das in Gedanken so zu formulieren, als ginge es bei ihnen – und ja auch ihn selbst – um eine Art Plage, so kam er nicht umhin, eben genau so zu denken. Und wer weiß, vielleicht waren sie ja auch in dem Sinne eine Plage, dass sie sich gegenseitig plagten, denn der Hof war tatsächlich gut gefüllt und die Freiheit des Ausgangs mit der Beengtheit zwischen diesen Mauern erkauft. Es war eine Ansammlung von Leuten, die zwar nicht als Gedränge bezeichnet werden konnte, aber stets kurz davor zu stehen schien, zum Gedränge zu werden. Hinzu gesellten sich einige wenige Wärter, die an den Mauern Stellung bezogen hatten und steif wie Pappkameraden das Geschehen beobachteten. Oder besser: Das Nichtgeschehen, denn tatsächlich waren die Aktivitäten hier auf dem Hof äußerst überschaubar: Es qualmte aus allen Ecken und Enden, Zigarettenrauch gemischt mit von der Kälte sichtbar gemachtem Atem, in kleinen Grüppchen wurde geredet, mehr jedoch geschwiegen. Ein paar Leute gingen ziellos umher, meist vereinzelt, häufig wurde gesessen, auf bereitgestellten Betonquadern, die wohl die Gefängnisversion von Parkbänken waren.
    Laido war sich sicher, auf keinen Fall mit irgendeinem von den Leuten hier draußen Kontakt aufnehmen zu wollen, da sprach ihn jemand von der Seite an.
    „Läufst hier ’rum wie Falschgeld.“
    Laido drehte sich zur Seite. Er brauchte ein wenig, um das Gesicht zu erkennen, dann war er sich aber sicher, dass es der Häftling war, mit dem er vorhin beinahe zusammengestoßen war und den er dann im Menschenstrom aus den Augen verloren hatte.
    Der Mann entblößte seine Zähne. Sie waren sehr gerade, sehr weiß, und irgendwie dünn. Aber vor allem sehr weiß, äußerst weiß, ein bisschen so wie bei Hollywoodschauspielern. Laido hatte mal bei einem langen Aufenthalt in einem Arztwartezimmer gelesen, wie die das in Hollywood so machten, und das Meiste hatte er wieder vergessen, aber es hatte irgendetwas mit Wasserstoffperoxid zu tun, das wusste er noch. Ein bisschen so sahen die Zähne seines Zellennachbarn jedenfalls auch aus. Dazu ein runder Kopf mit jedoch auffällig kantigem Kinn, kurzen Haaren am Rande einer selbst geschorenen Glatze und kleine Augen. An der Seite seiner Nase war eine Narbe zu erkennen, die das Aussehen einer unfertigen Naht hatte.
    „War Falschgeld jetzt schon ein Treffer, oder warum guckst du so?“
    „Äh, nene, ich guckte nur, weil ich dachte, ich hätte dich wiedererkannt. Du bist in der Zelle neben mir, ne?“
    „Ja“, sagte der Mann mit nun kehlig verstellter Stimme, „aber es ist wichtig, welche Zelle neben dir.“
    Laido stutzte kurz. „Tja … die linke. Also, von dir aus gesehen bin ich in der rechten Zelle.“
    „Siehst du, das ist wichtig“. Er blinzelte ein paarmal, als blendete ihn die helle Sonne. Die helle Sonne war aber hinter einem Wolkenschleier versteckt. „Man muss sich immer an seinen Zellennachbarn zur Rechten halten. Weil der zur Linken ist … link eben.“
    Wieder dieses Blinzeln. Laido wurde immer nervöser, und er hatte nicht das Gefühl, das Gespräch nun einfach abbrechen zu können, zu dürfen. Das machte ihn noch nervöser. Natürlich. Auf Dauer war Vieles immer nur eine Sache von noch nervöser.
    „Du bist zu meiner Linken. Sollte ich dann nicht … ?“
    „Du lernst schnell“, sagte der Mann nun lachend. Sein Gesicht wurde dabei etwas rosig, und für Laido wurde es immer schwieriger, sein Alter einzuschätzen. So viel älter als er selbst konnte er dann doch nicht sein.
    „Aber ich verarsche dich jetzt natürlich auch ein wenig … ein wenig! Aber vor mir musst du natürlich keine Angst haben.“
    Er streckte die Hand aus, Laido ergriff sie. Ein bisschen rau vielleicht, der Griff als solcher nur ganz leicht.
    „Ich bin -“
    „Einer aus der U-Haft“, schnitt ihm der Mann das Wort ab. „Mich interessiert nicht, wie du heißt.“
    Erst jetzt bemerkte Laido, dass sein Gegenüber einen Zigarettenstummel hinter seinem Ohr stecken hatte. Der Mann angelte ihn sich und zündete ihn an, mit einem Streichholz aus seiner Hosentasche. Laido blickte sich um, zu den Mauern, an denen die Wachleute standen. Durften Häftlinge denn einfach so Streichhölzer in ihren Taschen haben?
    Der Mann zog tief an der Zigarette und stieß dann einen gewaltigen Schwall an Rauch aus. Sehr blau. Passend zu der Anstaltskleidung.
    „Hier stellt man sich nicht mit Namen vor. Und noch weniger fragt man andere nach ihrem Namen. Sowas machen nicht einmal die Wärter hier. Wie sie heißen, geben sie nicht preis, wie du heißt, wissen sie eh. Vorstellungsrunde machen nur Anwälte. Hast du einen Anwalt? Bestimmt.“
    „Ja.“
    „Und, hat er sich dir mit Namen vorgestellt? Und dich nach deinem gefragt?“
    „Naja, also, ich kannte ihn jetzt sowieso schon vorher, und …“
    „Achso, nicht das erste Mal Ärger mit der Justiz, was?“ Der Mann versuchte sich an Rauchringen, aber sie gelangen ihm nicht so ganz. „Naja, dann …“
    Es entstand eine kleine Pause, in der Laido sich nicht traute, den Irrtum seines Gesprächspartners zu korrigieren. Vielleicht war es auch gar nicht so schlecht, wenn sein Zellennachbar dachte, dass er vielleicht schon vorbestraft, ja, womöglich schon einmal im Knast gewesen war.
    „Schickes Hemd hast du da an.“
    Laido sah an sich herab. Ihm selbst waren seine Klamotten eigentlich so langsam leid, aber das konnte er seinem Gegenüber wohl schlecht sagen.
    „Dann nenne ich dich ab jetzt das Hemd. Und bevor du dich beschwerst: Gibt schlechtere Spitznamen. Wir hatten hier mal einen, dessen Schwanz sah aus wie Blumenkohl …“
    „Ich dachte, Namen seien hier unwichtig?“, wagte Laido eine Frage, die weg von diesem neu aufgekommenen unangenehmen Blumenkohlthema führte.
    „Das habe ich nicht gesagt“, meinte sein Gesprächspartner. „Namen braucht man schon. Spitznamen eben. Außerdem hat alles einen Namen. Ist wirklich so. Das hat mir mein Anwalt damals erzählt. Das war auch so ziemlich das Einzige, was ich von ihm mitgenommen habe. Jetzt ist er eh tot, von daher, was soll’s. Hat ihm auch kein Name bei geholfen.“
    „Und wie ist dein Spitzname hier? ’Hollywood’ vielleicht?“
    Die kleinen Augen zogen sich etwas zusammen. Laido schüttelte sich innerlich. Irgendwann musste er ja etwas Dummes sagen. Es hatte ja gar nicht anders kommen können.
    „Wie kommst du denn jetzt darauf?“
    „Achso, nee, ich meine … wegen deiner Zähne! Die sind ja doch recht weiß, wie in Hollywood halt. Also, bei den Leuten. Die laufen da ja alle mit so hellen Zähnen rum.“
    Der Mann lachte. „Also das hat mir auch noch keiner gesagt“, sagte er vergnügt. „Ist vielleicht auch ein bisschen schleimig, nicht? Nee, ich hab den Namen ’Nase’ weg. Frag mich nicht wieso, mit meiner Nase ist doch alles prima, oder etwa nicht?“
    „Ich denke schon“, antwortete Laido. „Solange sie gut funktioniert, meine ich.“
    „Läuft, läuft!“, rief der Mann etwas zu laut im Vergleich zur Stille auf dem Hof, und lachte nochmal kurz. „Ganz schön alberne Scheiße, hm?“
    Laido wusste nicht ganz, worauf sich der Mann genannt Nase nun bezog und was die korrekte Antwort darauf sein sollte, weshalb er in einem Mischmasch aus Schulterzucken, Kopfschütteln, aber auch Kopfnicken darauf reagierte. Sein Gegenüber nahm davon nichts wahr, weil ihn das Rauchen zu sehr vereinnahmte. Wieder zwei verunglückte Rauchringe. Vielleicht ging das bei der Kälte nicht so gut.
    „Du bist erst seit heute hier, hm?“
    „Ja“, sagte Laido, und überlegte erst im Nachgang, ob das überhaupt stimmte. Bei dem ganzen Trubel der letzten Zeit und dem Nickerchen in der Zelle war er sich über heute und morgen nicht mehr so im Klaren. Konnte das alles wirklich innerhalb von nur einem Tag geschehen sein?
    „Hast du die Duschen schon gesehen?“
    „Nein, wieso?“ Ein Schauer lief über Laidos Rücken, und das nicht in wohliger Vorstellung von wärmendem Wasser auf seiner Haut.
    „Haben die meisten Schiss vor.“ Sein Gegenüber machte eine Pause und sah ihn eindringlich an. „Naja, mit diesen ganzen Geschichten und so. ’Bück dich nicht nach der Seife’ und so. Diese ganzen Schuljungenwitze halt.“
    „Also ist das alles Quatsch.“
    „Naja“, sagte Nase, und richtete den Blick zu Boden, wo er die Zigarettenkippe hingeworfen hatte und nun austrat. „Gefickt wird hier schon. Aber es gibt beim Duschen halt keine Seife, die man aufheben könnte.“ Er sah wieder auf. „Wir kriegen Duschgel in so Plastiktütchen, wie im Hotel. Hey, du wirst ja ganz bleich.“
    Laido versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
    „Jetzt hab’ ich dich doch gekriegt, was?“, sagte sein Zellennachbar lachend. „Nein, beim Duschen passiert nix. Da brauchste nicht bange zu sein. Ganz im Gegenteil, wirst dir wahrscheinlich wünschen, häufiger da zu sein. Unter der Dusche, meine ich. Die meisten sind sowas ja nicht gewohnt. Zweimal pro Woche. Wer arbeitet oder Sport macht, häufiger. Aber naja. Kriegste auch beides nicht so einfach. Also von daher: Keine Angst vor der Dusche, die Dusche ist dein Freund!“ Er lachte wieder. Laido dagegen war gar nicht zum Lachen zumute, und bemerkte, wie sein Verstand schon ganz von alleine auf Hochtouren lief bei der Entwicklung von Strategien, wie er das Duschen auf ein absolutes Minimum herunterfahren konnte. In seiner Zelle hatte er immerhin ein Waschbecken. Dann durfte er einfach nicht so viel schwitzen, das musste bei dem Wetter eigentlich gehen – auch wenn es in den Räumen selbst warm war. Er musste sich einfach möglichst wenig bewegen, vielleicht auch seine Klamotten nicht die ganze Zeit anbehalten, damit die noch sauber waren, oder doch auf Anstaltskleidung ausweichen …
    „Wirst du jedenfalls sehen, nach ein paar Tagen hier hast du den Dreh raus“, fuhr Nase fort. „Auch wenn du das vermutlich nicht gerne hörst. Bist ja auch erst einmal in U-Haft. Wer weiß, vielleicht lassen sie dich raus! Wenn du einen guten Anwalt hast … mein Anwalt hat es damals auch versucht, und es sogar fast geschafft, glaube ich. Aber dann … naja, wie gesagt. Dann war er unverhofft unter der Erde.“
    „Hm.“
    „Und wenn du nicht raus kommst, dann bist du eben einer von uns! Das ist vielleicht auch nicht das Tollste, aber was willst du machen. Du musst das Positive sehen. Immerhin gehörst du dann zu irgendjemandem. Und der Mensch sucht das Zusammengehörigkeitsgefühl, egal mit wem, denn in der Not frisst der Teufel Fliegen. Hat mir mein Anwalt damals übrigens auch gesagt.“
    „Scheint ja kein so schlechter Anwalt gewesen zu sein“, mutmaßte Laido in Ermangelung anderer Ideen, was auf so etwas zu sagen war.
    Nase presste die Lippen zusammen, ein bisschen so, als vermisste er eine Zigarette zwischen ihnen. Eine zweite schien er nicht dabei zu haben.
    „Mag sein. Ich hoffe jedenfalls für dich, dass du hier wieder rauskommst. Ich bin da ganz der Gönner, verstehst du. Aber in der Hinsicht sind das die meisten hier. Aber auch wirklich nur in der Hinsicht. Aber hey, bis jetzt ist dir ja nichts passiert, was? Manche kriegen ja schon in den ersten paar Stunden Ärger. Oder haben die schon alle Angst vor dir? Bist du ein schwerer Junge? Ich frage nur, weil du nicht danach aussiehst, bei allem Respekt. Aber ist ja eine gute Sache, nicht danach auszusehen. Würden die meisten nicht denken. Aber je harmloser man aussieht, desto besser. Wie war das nochmal, mit meinen Hollywood-Zähnen? Vielleicht sollte ich das ja mal damit probieren.“
    Er grinste demonstrativ, und es sah gruselig aus, ein bisschen wahnsinnig. Das war aber bei den meisten Leuten so, wenn sie bewusst grinsten, hatte Laido so das Gefühl. Bei ihm selbst war das jedenfalls auch so, was ihm die Suche nach einem passenden Standardfotolächeln zeitlebens erschwert hatte.
    „Aber jetzt mal Butter bei die Fische: Warum bist du hier?“
    „Mord“, kam es wie aus der Pistole geschossen – ironischerweise. Es war, als hätte Laido innerlich nur darauf gewartet, es endlich mal jemandem sagen zu können, um auszuprobieren, was es für eine Wirkung hatte. Jetzt, wo er den Blick seines Gegenübers auffing, war er aber schon nicht mehr ganz so glücklich darüber, es verraten zu haben. „Also, Verdacht“, setzte er nach.
    „Na klar, natürlich nur Verdacht, und unschuldig sowieso“, sagte Nase mit wissender Miene, tatsächlich ohne einen Anflug von Spott in der Stimme. „Behalt dir das so bei, auch wenn es dir nichts bringt. Wenn du einmal sitzt, also so richtig sitzt, hat das eh alles keine Bedeutung mehr.“
    Er machte eine Handbewegung, die Laido erst als seltsame Geste missverstand, dann aber als Bewegung zu einer Zigarette, die gar nicht mehr da war, erkannte.
    „Und du?“, wagte Laido dann die Frage, aus einer Art verbotenen Neugier heraus, aber auch aus der empfundenen Notwendigkeit, dass sein Nachbar nicht mehr über ihn wissen durfte als er über ihn.
    „Naja“, sagte Nase und steckte seine Hände in die Hosentaschen. „Über meinen unglücklich verstorbenen Anwalt haben wir ja schon gesprochen, ne?“
    Da waren sie wieder, die Zähne. Ein Hauch von Hollywood.

    Gegen Abend am Waschbecken bemerkte Laido, dass er nicht einmal eine Zahnbürste dabei hatte. Klar, er hatte gar nichts dabei. Für heute war das kein allzu großes Problem, da er immerhin auch nichts gegessen hatte, aber er hatte diesen Geschmack im Mund, den er unbedingt herausbekommen wollte. Und, essen oder nicht: Zähneputzen am Abend musste eben sein. Deshalb behalf Laido sich damit, sich die Zähne mit dem blanken Finger und unter Hinzunahme von bloßem Wasser zu putzen. Das tat er, bis er sich zu blöde dabei vorkam und schließlich entnervt aufgab. Morgen würde er direkt die erstbeste Person nach Zahnbürste und Zahnpasta fragen oder wie er daran kam, und sei es, dass er dafür die erste bis zur letzten Person, der er morgen begegnete, danach fragen musste. Laido hoffte nur, dass diese Utensilien nicht irgendwie im Zusammenhang mit der von Nase erwähnten Duschgelausgabe herausgegeben wurden. Dann hatte Laido eher schlechte Karten.
    Vom Duschen hatte er heute nichts mitbekommen, überhaupt wusste er nicht, wie man wann zum Duschen kam und wo sich die Anlagen überhaupt befanden. Deshalb hatte er den Rest des Tages, nachdem der Ausgang im Innenhof beendet war, im Prinzip mit Warten verbracht, bis es dann noch einmal an der Tür geklopft hatte, weil es Abendbrot gab, im wahrsten Sinne des Wortes. Einen Essenszettel hatte es nicht gegeben, sodass zum Graubrot auch wirklich widerlich anmutender Wurstaufschnitt gereicht worden war, aber auch Käse, von dem Laido dann einfach mal für sich selbst beschlossen hatte, dass der schon in Ordnung ging. Die Möglichkeit, die Essensausgeberin – es war nicht die vom Mittag – darauf anzusprechen, dass er vegetarisch essen mochte, hatte er irgendwie versäumt. Deshalb hatte er auch diesen Umstand in seine imaginäre Liste von Dingen, nach denen er am morgigen Tag fragen musste, aufgenommen. Er fand das gar nicht schlecht so, denn es gab ihm eine Art Beschäftigung, die ihm ansonsten fehlte, wenn man mal vom Kreiseln in diversen Gedankenspiralen absah.
    Seit dem Abendbrot hatte niemand mehr Kontakt mit ihm aufgenommen, sodass Laido die Zeit bis hierhin tatsächlich vor allem grüblerisch verbracht hatte, und jetzt, wo er sich vom Waschbecken entfernte, mangels Alternativen auch ganz automatisch damit weiter machte. Auch ein Blick aus dem vergitterten Fenster verschaffte ihm keine Ablenkung, denn es war zum Innenhof hin ausgerichtet, welcher auch aus der Draufsicht von oben keinen Deut weniger trostlos aussah. Vielleicht hätte er noch ganz schön ausgesehen, wenn Schnee gelegen hätte, aber es lag ja nun einmal keiner. An ein lichtdurchflutetes Spektakel im Sommer wollte Laido erst recht nicht glauben. Der Hof war baulich eindeutig auf die Bedürfnisse eines Gefängnisses zugeschnitten, und die unterschieden sich, das war ihm nun schon nach nicht ganz einem Tag klar, deutlich von denen eines Hotels. Duschgeltütchen hin oder her.
    Es blieb das Radio. Als Laido einschaltete, liefen gerade die Nachrichten.
    „ … die Bundesregierung wollte den Vorfall nicht kommentieren. Köln. Die Polizei ist bei der Aufklärung des Mordfalles in einer Kölner Veranstaltungshalle einen großen Schritt weitergekommen. Ein Polizeisprecher bestätigte Medienberichte, nach denen ein Tatverdächtiger gefasst werden konnte. Der mutmaßliche Täter sitzt jetzt in Untersuchungshaft. Weitere Gerüchte rund um die Identität des mutmaßlichen Täters wollte die Polizei zunächst nicht kommentieren. Der Fall hatte landesweit für Aufsehen gesorgt, nachdem zunächst ein terroristischer Hintergrund der Tat vermutet worden war. Das aber, so bestätigte auch die Staatsanwaltschaft, könne mittlerweile sicher ausgeschlossen werden. Die Unionsfraktion im Bundestag bekräftigte dennoch ein weiteres Mal ihre Forderung, dass Konzerthallen und andere Veranstaltungsorte künftig stärker …“
    Laido hatte schon nach den ersten paar Worten wieder ausschalten wollen, doch es war ihm nicht gelungen, und es gelang ihm auch jetzt nicht, während die Sprecherin weiter vorlas, mittlerweile schon wieder über ein ganz anderes Thema. Er stand noch immer neben dem Radio und fühlte sich kraftlos. Dabei war nur das geschehen, was er ohnehin schon die ganze Zeit unterschwellig befürchtet hatte, ja, womit er eigentlich sogar fest gerechnet hatte: Natürlich berichteten die Medien über den Mordfall, und natürlich würde es dabei mehr und mehr auch um seine Person gehen. Die entsprechenden Aufmacher von Express oder des Kölner Stadt-Anzeigers hatte er dabei schon vor Augen, inklusive seines eigenen Konterfeis.
    „Und nun zum Wetter:“
    Jetzt schaffte Laido es doch, das Radio wieder auszustellen. Vielleicht wollte er die nächste Zeit lieber nicht so viel Radio hören. Oder er fand einen Sender, der nur Musik spielte, und zwar wirklich nur Musik, egal welche. Notfalls auch dieser schrachelige Klassik-Sender. Aber das war ihm jetzt zu anstrengend, weshalb er sich wieder aufs Bett legte.
    Laido lauschte ein wenig den Geräuschen, die von links und rechts aus den Zellen kamen. Mehr als Schritte, unkommunikatives Geklopfe und gelegentliches Husten war dort aber nicht zu hören, weshalb sich Laido relativ schnell wieder seinen eigenen Gedanken widmete. Und die waren, das konnte man nicht anders sagen, düsterer als je zuvor. Laido war nicht einmal einen ganzen Tag im Gefängnis, und schon fühlte er sich fertig. Selbst wenn er in ein paar Tagen, vielleicht einer Woche, wieder draußen war, fragte er sich schon jetzt, wie er selbst diese kurze Zeitspanne durchstehen sollte. Nicht auszudenken, wenn sich tatsächlich die Katastrophe ereignete und er bis auf Weiteres gar nicht mehr herauskam. Es war nicht nur, dass er nicht wusste, wie er das durchstehen sollte. Nein, es war so, dass er ziemlich genau wusste, dass er das gar nicht durchstehen würde. Die Gedanken daran, wie das alles mit ihm nun enden sollte, zogen ihn hinunter wie Blei, und er fühlte sich dabei richtiggehend in sein Bett gedrückt. Irgendwann kreisten die Gedanken so sehr, dass er sie nicht einmal mehr einzeln ausformulieren konnte, so schnell waren sie, immer schneller um ihr Zentrum herum, das eine schwarz wabernde Katastrophe war. Laido musste die Augen schließen, bevor ihm schwindelig wurde. Wenig später war er, vollkommen unverhofft und vielleicht sogar unerwünscht, vor lauter Erschöpfung eingeschlafen.
    Geändert von John Irenicus (17.09.2017 um 19:06 Uhr)

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    „Ich … träume. Oder?“

    Er schüttelte den Schwindel ab, aber ein leicht unwirkliches Gefühl blieb, wie, als sei er in einer klaren, aber gleichzeitig durch unregelmäßige Wellen- und Strömungsbewegungen aufgewirbelten Unterwasserwelt erwacht, oder als würde er auf Wolken aus Watte wandeln, die die Unterwasserwelt längst in sich aufgesogen hatten.
    „Nein, du träumst nicht.“
    „Aber ich fühle mich so -“
    „Das ist die Medizin.“
    Laido blickte sich im Raum um. Es war irgendwas mit einem Arzt gewesen, aber von den weiß-grünen Kacheln und der Liege, der Liege mit dieser unangenehmen pergamentartigen Auflage, die immer und immer wieder verrutscht war, von all dem war nichts mehr zu sehen. Man hatte ihn fortgebracht, in eine vertraute Umgebung, weil er sich dort vielleicht besser fühlen würde. Aber sie mussten trotzdem aufpassen, er konnte nicht einfach so aus dem Haus gehen. Und jetzt sprach er mit seinem Vater.
    „Ich fühle mich aber nicht gesund.“
    Sein Vater nickte. Sein Gesicht lag etwas im Dämmerlicht, aber Laidos Gefühl nach war es früher Vormittag, nicht Abend. Wäre nicht seine Stimme gewesen, allein am Gesicht hätte Laido seinen Vater vielleicht gar nicht erkannt.
    „Das gehört dazu. Aber es wird vergehen.“
    „Hoffentlich“, bat Laido. „Mein Bauch …“
    „Ja“, bestätigte sein Vater. „Ich habe es schon gesehen.“
    „Was gesehen?“
    Laido hatte nun den Saum seines Hemdes in der Hand. Auf seinem Bauch war ein schwarzer Fleck. Er war nicht riesig, aber deutlich zu groß, um bloß ein Muttermal zu sein, und dabei gerade klein genug um von Laidos Handfläche verdeckt zu werden. Er legte seine Hand aber nicht drauf.
    „Was ist das?“
    „Nichts Schlimmes. Man bekommt das, in deinem Alter.“
    „Hast du das etwa auch?“
    Sein Vater schmunzelte. „Du glaubst mir wohl nicht.“
    Laido sah, dass sein Bauch zitterte, wenn er sich beim Atmen hob und senkte, direkt am Übergang zum Brustkorb. Seine Atembewegungen erschienen ihm mit einem Mal so unregelmäßig, im natürlichen Ablauf gestört.
    „Was haben sie mit mir gemacht?“
    „Niemand hat etwas mit dir gemacht. Der Arzt hat drübergeschaut, es ist alles in Ordnung. Du solltest jetzt nur etwas wissen.“
    „Was Schlimmes?“ Laidos Finger verkrampften sich in seinem Hemd. Er konnte sich kaum von diesem dunklen Fleck auf seiner Haut lösen, höchstens, um kurz zu seinem Vater aufzublicken. Laido starrte, traute sich nicht zu blinzeln, denn er hatte Angst, dass dieser Fleck größer wurde, dass er wuchs, und er es nicht mitbekam. Wenn er wuchs, dann musste er es wissen. Aber das lange Starren führte nur dazu, dass seine Sicht verschwamm, und immer dann, wenn er gerade meinte, erkannt zu haben, dass der Fleck gewachsen war, wurde dieser Eindruck durch einen neuerlichen, anderen Eindruck widerlegt. Laido war sich trotzdem sicher, dass der Fleck wuchs. Er musste ja schließlich irgendwo hergekommen sein.
    „Komm mit“, sagte sein Vater, nachdem er eine ganze Zeit lang nichts gesagt hatte. Sein Gesicht verschwand, als er Laido den Rücken zudrehte und über den beigen Teppich ihres Wohnzimmers zu einer Holztür trat, hinter der das elterliche Schlafzimmer lag. Als er die Tür aufmachte, stand Laido noch immer an Ort und Stelle, am grauschwarz gefleckten Sofa. Sanftes Licht drang an der Silhouette seines Vaters vorbei aus dem Schlafzimmer. Erst, als sein Vater auffordernd über die Schulter nach hinten schaute, setzte Laido sich in Bewegung.
    Das Zimmer war nicht groß. Laido und sein Vater standen direkt nach dem Eintreten am Fußende eines ganz in weiß gedeckten Doppelbetts. An der Wand zum Kopfende hin waren zwei dichte, dunkelgrüne Vorhänge an einer dicken, runden Holzstange angebracht. Es war die Lücke in der Mitte zwischen den beiden Vorhängen, durch die sich das schummerige Licht seinen Weg in den Raum bahnte. Zur rechten sah Laido einen beigen Schrank. Sonst befand sich nichts weiter in diesem Zimmer. Hätte Laido nicht gewusst, dass er sich in der Wohnung seiner Eltern befand, er hätte zumindest dieses Zimmer nicht wiedererkannt. Sie mussten renoviert und im Zuge dessen offenbar entschieden haben, sich zu verkleinern. Das Bett selbst war aufs Ordentlichste gemacht worden und sah aus wie noch nie benutzt.
    Laidos Blick wanderte wieder auf den eigenen Bauch, unwillkürlich hatte er sein Hemd wieder hochgezogen. War der Fleck nun größer geworden? Laido starrte. Nur noch diese paar Sekunden, und dann würde er es erst einmal bleiben lassen. Bestimmt.
    Sein Vater neben ihm nickte wissend, lächelte mit geschlossenem Mund.
    „Du bist wirklich groß geworden, weißt du.“
    Laido ließ, wie ertappt, hektisch den Saum seines Hemdes los und verbarg den Fleck wieder unter dem Stoff. „Was meinst du damit?“, fragte er.
    „Du bist jetzt alt genug.“
    Fast berührungslos schob sich sein Vater an ihm vorbei, um an den Schrank auf der rechten Raumseite zu gelangen. Laido erhaschte dabei einen Blick in sein Gesicht. Er konnte den Ausdruck nicht deuten. Aber da war irgendetwas an den Augen seines Vaters, was zu dem anderen Gebaren gut passte, zum Tonfall, zu den Sachen, die er sagte, zu seinen Bewegungen: Wenn Laido es nicht vollkommen hätte ausschließen können, er hätte vermutet, dass sein Vater Drogen genommen hatte, dass er irgendwie berauscht war. Andererseits: Konnte er es denn unter diesen Umständen wirklich sicher ausschließen?
    Ein kurzes, ja fast angenehmes Quietschen ertönte, dann waren die Schranktüren auf. Laidos Vater hielt sie an den Seiten fest, während er durch ihre Mitte hindurch in den Schrank spähte. Einen Moment lang sah es so aus, als müsste er länger suchen, dann aber griff er zielgerichtet hinein, zog ein schwarzes Etui aus Kunstleder heraus und machte die Schranktüren wieder zu. Sie klackten wohlig, als sie nebeneinander perfekt zum Schließen kamen.
    „Setz dich doch aufs Bett“, sagte Laidos Vater dann und wies auf die rechte Bettseite, während er sich etwas umständlich an Laido vorbei hinüber zur linken Bettseite begab. Die dicke Bettdecke und die darunterliegende Matratze gaben etwas nach, als Laidos Vater sich leicht schräg mit Blickrichtung zu Laido hinsetzte. Auf der anderen Seite spiegelte Laido nun die Sitzpose. Ihm wurde etwas flau im Magen, aber er verzichtete darauf, direkt wieder seinen Bauch zu überprüfen, auch wenn ihn dieser Verzicht einiges an Kraft kostete.
    Gebannt sah Laido auf das Etui, das jetzt zwischen ihm und seinem Vater auf dem Bett lag. Die Hände seines Vaters öffneten es, langsam und geräuschlos glitt der Reißverschluss auf, dann klappte das Etui auseinander wie ein Buch. Laido dachte zuerst, es handele sich hierbei nun um ein einfaches Nagelpflegeset. Aber dann sah er die Spritzen.
    „Was …“, fing er an, aber sein Mund war mit einem Mal ganz trocken und seine Zunge schwer, seine Kehle zugeschnürt und seine Nase dicht. Für einen kurzen Moment gelangen ihm weder Atmen noch Sprechen. Laido spürte Panik in sich hinaufsteigen.
    „Ich kann dir zeigen, wie man es macht. Es ist gut, dass du endlich mal wieder hier bist. Ich wollte es dir eigentlich schon länger zeigen.“
    „Was zeigen?“, fragte Laido, seine Stimme ruhiger als er selbst.
    „Schau hin“, meinte sein Vater darauf nur und begann, eine der Spritzen mit einer Flüssigkeit aufzuziehen, die er aus einem kleinen, dunkelblauen Behälter sog, der ebenfalls aus dem Etui gekommen war und ein bisschen aussah wie ein Tintenfass. Und Laido schaute. Zwar wollte er nicht wirklich gerne sehen, was sein Vater da gerade tat, noch viel weniger aber gefiel ihm der Gedanke, nicht zu sehen, was sein Vater da gerade tat.
    Die Stummheit des Geschehens und das eigenartige Gefühl von Einsamkeit machten Laido zu schaffen. Wo war eigentlich seine Mutter? Wusste sie, was sie hier gerade machten? War es ein Geheimnis? Laido sah flüchtig zur Tür nach draußen in den dunklen Flur. Sein Vater gerierte sich zwar geheimnistuerisch, verhielt sich aber insgesamt nicht so, als wollte er um jeden Preis etwas verheimlichen.
    Die Spritze war nun vollständig aufgezogen. Laidos Vater tippte fachmännisch gegen den Hohlkörper, Laido schluckte gegen den Kloß in seinem Hals an.
    „Ist das gegen diesen … Fleck?“
    Sein Vater hielt die Spritze weiter in der Hand und betrachtete sie noch eine Weile, bevor er zu ihm aufblickte. „Wir alle haben das“, sagte er dann. „Diesen Fleck, wie du ihn nennst.“
    „Du auch?“, fragte Laido.
    Sein Vater nickte.
    „Mama auch?“
    Sein Vater zögerte kurz, nickte dann aber erneut. „Das ist normal“, fügte er dann hinzu. „Die Spritze tut nicht weh. Aber das kannst du ja nicht wissen.“
    „Ist ja auch das erste Mal“, stimmte Laido nervös lächelnd zu.
    Sein Vater schüttelte kaum merklich den Kopf. „Nicht ganz. Du hast sie dir nur noch nie selber gesetzt, das ist der Unterschied.“
    Laido fühlte sich mit einem Mal, als hätte eine kalte, unsichtbare Hand ihn in den Würgegriff genommen. „Was willst du damit sagen?“, entfuhr es ihm. „Hast du … habt ihr etwa …?“
    „Natürlich, du bist doch unser Sohn“, sagte Laidos Vater. Er klang ein bisschen enttäuscht über Laidos Reaktion. „Wir mussten uns doch um dich kümmern! Wir haben es gemacht, wenn du geschlafen hast, aber in den letzten Jahren hatten wir natürlich nicht mehr regelmäßig die Gelegenheit. Oder besser: Ich. Meistens habe ich es gemacht. Das letzte Mal ist jetzt schon weit über ein Jahr her. Ich hatte schon die Befürchtung, dass … aber ich habe es gesehen, es hat sich schon wirklich gut ausgebildet. Es ist endlich sichtbar geworden. Deine Mutter hat lange gezweifelt, ob es etwas wird, weil du auch nie Entzugserscheinungen gezeigt hast, nicht einmal, als du noch ganz klein warst. Sie wird sich freuen, dass es doch geklappt hat.“
    „Was … was habt ihr mir angetan?!“ Laido war von seinem Bett aufgesprungen, die Fäuste geballt. Er konnte sich nicht daran erinnern, seinen Vater je so angefahren zu haben. Und er war gerade erst dabei, wirklich zu verstehen, ja zu begreifen, was sein Vater ihm da erzählte.
    „Beruhige dich“, bat sein Vater. Er war nun auch aufgestanden, langsam, und versuchte Laido mit Gesten zurück auf das Bett zu komplimentieren. Laido blieb stehen. Er sah, dass sein Vater die aufgezogene Spritze weiterhin zwischen den Fingern balancierte und sie ihm hinhielt. Es war ein Angebot, ein durchaus eindringliches, aber es wirkte nicht wie eine Drohung.
    „Du brauchst diese Spritzen“, bemühte sein Vater sich zu erklären, und sein nun sehr leidender Gesichtsausdruck verriet, dass er sich gewünscht hatte, dass diese Szene sich nicht so entwickeln würde, er aber gleichwohl im Voraus geahnt hatte, dass es so kommen könnte. Er setzte sich zurück aufs Bett und wirkte mit einem Mal sehr alt.
    „Es ist nichts Schlimmes“, erklärte er weiter. „Es geht doch um dich! Du musst lernen, dir die Spritze selbst zu setzen. Sonst war alles umsonst! Dein besonderes Talent …“
    „Wovon redest du?“, schrie Laido ihn an. „Was ist hier los? Wo ist Mama? Weiß sie davon?“
    Laidos Vater sprang vom Bett auf. „Natürlich weiß sie davon!“, rief er. „Sie sieht die Notwendigkeiten genau so wie ich! Du musst lernen, mit deiner Gabe umzugehen!“ Er hielt Laido erneut die Spritze hin, aber als er sah, dass sein Sohn sie nicht annehmen würde, legte er sie vor ihm auf das Bett. „Gut“, sagte er dann. „Wie du willst. Du kannst dich frei entscheiden. Nimm die Spritze, wann du willst. Aber glaub ja nicht, dass ich dich vorher hier rauslassen kann.“
    Kaum hatte sein Vater diese Worte ausgesprochen, war er schon bei der Tür, knallte sie von außen zu und ließ hörbar einen Schlüssel im Schloss drehen. Zweimal. Laido war zu langsam, er griff erst an die Klinke, als die Tür bereits verschlossen war. Er rüttelte trotzdem noch ein paarmal an ihr.
    „Was soll das?“, brüllte er, überrascht über seine heftige Reaktion, zitternd am ganzen Leib. „Lass mich hier raus!“ Er hämmerte nun mit den Fäusten gegen die Tür, hemmungslos, in der Hoffnung, seinen Vater dazu zu bewegen, die Tür wieder aufzuschließen. Wenn er nur genug Lärm machte … sein Vater war immer darauf bedacht gewesen, in der Nachbarschaft nicht unangenehm aufzufallen. Das war der Plan, Laido musste hämmern und rufen, sodass es alle mitkriegen würden, und dann würde sein Vater sich gezwungen sehen, ihn wieder herauszulassen.
    „AUFMACHEN!“, schrie Laido aus Leibeskräften und schlug gegen die Tür, dass es nur so krachte.
    „Nachtruhe!“, rief es zurück, aber die Stimme klang nicht nach der seines Vaters. Sie schien auch nicht von der anderen Seite der Tür zu kommen. Vielleicht war das schon ein aufgescheuchter Nachbar? Laido intensivierte das Gehämmer, seine Kraft kam ihm in diesem Moment unerschöpflich vor. Es sollte doch wohl gelacht sein, wenn er hier keinen Ausweg fand.
    „Nachtruhe!“

    Laido sog tief Luft ein und öffnete die Augen. Er sah einen schmucklosen Tisch. Ihm war warm, das Neonlicht im Raum zu grell für ihn. Er lag in einem Bett, angezogen, sodass er sich nun etwas schäbig fühlte. Er fühlte sich benebelt, in einem Zustand, in dem man oft nicht wusste, wo man war. Leider wusste er mittlerweile wieder genau, wo er war. Er wusste nur nicht so recht, was passiert war. Ja, eingeschlafen musste er sein, und geträumt hatte er. Die Fragmente des Traums zerbröselten und rieselten ihm wie Sand durch die Finger. Woran genau es lag, dass er jetzt aufgewacht war, konnte er nur unter einigen Schwierigkeiten rekonstruieren, denn klar denken konnte er gerade nicht, und es fühlte sich so an, als wäre er schon wieder drauf und dran einzuschlafen. Vom Flur des Gefängnisses glaubte er noch einmal ein „Nachtruhe“ zu hören. Entweder, es wurden bestimmte Leute ermahnt, die Nachtruhe einzuhalten, oder es war die allgemeine Ankündigung, dass nun Nachtruhe herrschte. Jedenfalls war Laido sozusagen von der Nachtruhe aus dem Schlaf gerissen worden, und das passte ihm nicht wirklich.
    Benommen und leicht schwankend suchte er den Lichtschalter im Raum. Dass er vor dem Zubettgehen nicht daran gedacht hatte, das Licht in seiner Zelle auszumachen, ärgerte ihn, denn es hatte ihm sicherlich nicht dabei geholfen, durchzuschlafen. Er machte möglichst sachte Bewegungen, um sich nicht selber noch weiter in den Wachzustand zu hieven. Es hieß, dämmerig zu bleiben, damit er schnell wieder einschlafen konnte. Er wollte schlafen, dringend. Auch wenn ihm gerade ein wenig übel war. Aber das würde vergehen. Vielleicht wollte er gerade deshalb schlafen. Die Übelkeit würde dadurch sicher verschwinden.
    Es dauerte eine Weile, bis Laido den Lichtschalter gefunden hatte. Er war halb hinter dem beigen Schrank verborgen, dem einzigen Schrank in dieser Zelle, in dem sich … hatte Laido ihn überhaupt schon einmal geöffnet? Neugier brandete auf, versiegte aber recht schnell wieder. Laido stapfte auf den Lichtschalter zu, blieb dann aber auf halbem Weg – was in dieser Zelle etwa einen längeren Schritt ausmachte – stehen und blickte sich erneut um. Wenn das Licht aus war, fand er vielleicht gar nicht zurück ins Bett, oder legte sich irgendwie falsch hinein, und das konnte er nicht brauchen, weder das eine, noch das andere.
    Laido bewegte sich nun einen Schritt in Richtung Zellentür, drehte sich dann aber sofort wieder um. Direkt neben dem Bett an der Wand war noch ein weiter Schalter angebracht. Führte er zu einem anderen Licht einer anderen Lampe? Er mochte die Position des weißen, leicht gelblich angelaufenen Schalter nicht, denn Laido sah es schon kommen, dass er das Ding in der Nacht mit dem Arm streifen und sich irgendwie wehtun würde, wenn er nicht sogar das Licht versehentlich anmachte. Laido beugte sich über das Bett, streckte seinen Arm aus und verlor beinahe das Gleichgewicht, aber dann erreichte er den Schalter. Er drückte drauf – und im nächsten Augenblick war es ganz dunkel. Nach einigen Sekunden der Überraschung verstand Laido: Der Schalter bediente ein und die selbe und vor allem die einzige Lampe in diesem Zimmer, nämlich die große Deckenleuchte. Etwas umständlich setzte sich Laido nun aufs Bett und zog sich zumindest die störende Hose aus, danach legte er sich hin. Ihm war noch immer warm, die Bettdecke zog er aber trotzdem über sich, bis zum Hals. Und dann tat er so, als würde er schlafen, in der Hoffnung, bald wirklich einzuschlafen.
    Seine Gedanken kreisten wie Fliegen um ein unsichtbares Licht. Eine Fliege traf: Hatte er nicht von einem Arzt geträumt? In seinem Hals wuchs ein Kloß an und Angst stieg in ihm auf, als er Vergangenheit, Traum und Zukunft endlich halberlei sortieren konnte: Er hatte doch morgen diese Untersuchung. Hoffentlich wurde das nicht zu schlimm, hoffentlich fand dieser Gefängnisarzt nicht irgendeine seltsame Krankheit.
    Nervös rückte Laido das viel zu flache Kissen zurecht, versuchte es aufzubauschen, damit er angenehmer liegen konnte. Er durfte jetzt nicht zu viel über Morgen nachdenken, sonst würde er gar nicht einschlafen können. Er brauchte irgendein anderes Thema, auf das er sich konzentrieren konnte. Schafe zählen? Das war Blödsinn. Neue Songtitel ausdenken? Seine Karriere als Schlagerstar wirkte gerade so weit weg wie nur sonst irgendwas. Alte Schulkameradinnen und Studienkommilitoninnen in Gedanken durchgehen und überlegen, wie gut er sie im Einzelnen fand? Aus dem Alter war er doch raus, und auch das schien alles längst zu weit weg. Wobei …
    Geändert von John Irenicus (26.12.2018 um 15:22 Uhr)

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    Laido konnte sich noch daran erinnern, wie er damals im Studium eine dieser unliebsamen Gruppenarbeiten für ein Seminar zu machen hatte. Das war im Laufe seines Studiums natürlich mehrmals vorgekommen, aber diese eine bestimmte Gruppenarbeit aus diesem einen bestimmten Seminar hatte er noch besonders gut im Gedächtnis. Diskurslinguistik und Grammatik(-alisierung) - Analysen zu (Verfestigungstendenzen von multi-modalen) Sprachspielen in Online-Medien. Laido hatte es noch vor Augen, wie der Titel des Seminars in der Online-Anmeldemaske nicht vollständig angezeigt werden konnte und ausgerechnet an einer Stelle abbrach, die manche seiner Kommilitonen zu ganz eigenen Sprachspielen inspiriert hatte, die über das gesamte Semester lang auch durchaus Verfestigungstendenzen gezeigt hatten, dabei aber leider nicht einmal halb so witzig waren, wie von einem harten Kern unter den Seminarteilnehmern offenbar angenommen. Die Seminarthemen waren dann bereits im ersten Termin an zufällig gebildete Dreiergruppen verteilt worden, mit der Aufgabe, zum jeweiligen Thema einen halbstündigen bis dreiviertelstündigen Vortrag zu entwickeln, PowerPoint optional, aber doch irgendwie obligatorisch. All das wäre nicht weiter der Rede wert gewesen, wenn Laido nicht ausgerechnet mit Jan und Lena in einer Gruppe gewesen wäre, wobei Jan die deutlich uninteressantere Person von beiden war, zumal er ihnen direkt nach dem Einführungstermin mit reumütiger Miene erläutert hatte, dass das jetzt leider echt schlecht sei die nächsten Wochen, weil er da mit seinem Spanischkurs auf Kursfahrt sei, und dass er die schon mitmachen müsse, weil das quasi auch ein Lernurlaub sei, den er für unverzichtbar fürs Bestehen der Abschlussprüfung hielte, und da er dieses Sprachzertifikat auch mit Blick auf seine spätere Karriere bräuchte, könne er das leider nicht absagen. Aber, so hatte er angeboten, sie könnten ihm ja eine Mail schicken, wenn was Wichtiges sei, er würde das schon ab und an mal checken. Dann war Jan verschwunden, und sie hatten nie wieder etwas von ihm gehört.
    Lena hingegen war geblieben, und das hatte Laido gleichzeitig interessiert wie nervös gemacht. Er hatte schon aufgemerkt, als sie im Seminar mit Namen aufgerufen worden war, denn sie war Laido schon vorher aufgefallen, weil sie einen ganz sympathischen Eindruck gemacht hatte, auch ohne dass sie ein Wort miteinander gesprochen hatten. Und dieser Eindruck hatte sich längst nicht nur aus Lenas auffälligen dunkelroten, langen Haaren und ihrem markanten Gesicht gespeist, sondern schlicht aus ihrer gesamten Art, sofern Laido sie denn in der kurzen Zeit im Einführungstermin mitbekommen hatte. Der etwas exotisch anmutende Vorname Leena hatte sich dann zwar als Tippfehler in der Anmeldeliste herausgestellt, aber Laido war nach wie vor angetan von ihr gewesen – und war gerade deshalb nervös geworden, als er dann auch noch in eine Gruppe mit ihr zugelost worden war. Und noch nervöser, als dann eben klar war, dass sie mindestens den Großteil der Gruppenarbeit zu zweit bewerkstelligen würden. Nervös, aber auch erfreut.
    Tatsächlich war das erste richtige Kennenlernen dann auch erfreulich unkompliziert gewesen, ebenso wie die weitere Organisation der Gruppen- bzw. nun Teamarbeit: Nachdem Lena gleich angeboten hatte, dass sie sich auch mal bei ihr Zuhause treffen könnten und Laido gesehen hatte, dass er dort halbwegs gut mit dem Bus hinkam, war das erste Arbeitstreffen bei ihr dann auch rasch ausgemacht gewesen. Laidos Nervosität hatte dennoch durchaus merklich ausgeschlagen, und das bereits kurz nachdem sie den Termin vereinbart hatten. Er konnte nicht einmal genau sagen, wieso. Natürlich, klar, weil er Lena mochte. Aber es war nicht so, dass er sich irgendwelche Hoffnungen auf irgendetwas machte. Oder zumindest wollte er sich das nicht eingestehen. Von daher hatte es für Nervosität nie einen Grund gegeben. Aber die grundlose Nervosität war meistens die hartnäckigste.
    Am Tag des Treffens hatte Laido schnell genug von der Busfahrt und war froh, als er endlich aussteigen musste und durfte. Er hätte nicht gedacht, dass die Straßen eines Stadtteils quasi nur aus Kurven bestehen konnten. Es hatte sich zumindest so angefühlt. Immerhin war er die letzten zehn Minuten der Fahrt dadurch abgelenkt gewesen, dass er sich auf die Haltestellen konzentrieren musste, damit er auch an der richtigen ausstieg.
    Nachdem der Bus mit den üblichen knatternden und zischenden Geräuschen von der Haltestelle abgefahren war, überquerte Laido die Straße, um auf der anderen Seite in eine andere Straße einzubiegen. Muhler Straße 17, rief er sich in Erinnerung. Das war die Adresse, die Lena ihm genannt hatte. Kaum hatte Laido die Straße erreicht, fing es an zu regnen. So’n Driss.
    Die Straße stieg für diese Gegend ziemlich steil an. Laido hielt sich an der linken Straßenseite, zählte innerlich mit. 3 … 5 … keine Hausnummer … 7 … nochmal 7? Nein, 7a …
    Es dauerte eine kleine Weile, und zuerst war er versehentlich vorbeigegangen, aber dann fand er das Haus mit der Nummer 17. Oder besser gesagt: Er fand die Hausnummer 17 auf dem großen Betonklotz, der ohnehin unübersehbar aus dem Wohngebiet herausragte. Es war schon ein kleines Hochhaus, und die Balkone waren zu zahlreich, um sie in einem Atemzug durchzuzählen. Laido schätzte in etwa zwanzig Wohnungen.
    Der Eingang zum Haus Nummer 17 lag nicht direkt an der Straße, wie Laido schnell herausfand. Nach ein wenig Herumsuchen hatte er rechts um die Ecke den Treppenabgang gefunden, der zu einem Weg führte, welcher parallel zu einem schmalen, kümmerlichen Wiesenstreifen lief. Zur linken befand sich dann unter einem Vordach der Hauseingang. Es war eine weiße Tür mit vereinzelten kleinen Glasfenstern im Schachbrettmuster, durchbrochen vor allem durch einen großen Griff. Es mutete eher an wie die Eingangstür zu einem öffentlichen Gebäude. Laido trat heran und suchte nach den Klingelschildern. Er fand sie auch gleich rechts neben der Tür und ging sie von oben nach unten durch. Lena hieß Kay mit Nachnamen, das sollte doch zu finden sein.
    Zickman … Matteo … Savierra … Powell … Benson … Katal … ben Aymeen … Plummer … Valentino … Asam … Grottendinck … Fasold … ein unbeschriftetes Schild … Bogdan … Srmnzy … Diesterweg … Ladislaus … Marashi … Theobald … zu Westfeld … Carroza.
    Der Name Kay war nicht dabei. Da brauchte Laido gar nicht noch einmal über die ganzen Schilder drüberschauen. War er doch beim falschen Haus? Er wollte gerade noch einmal zurück zur Straßenseite gehen, da sah er es noch einmal links neben der Haustür angebracht, ein weißes Schild, das im Dunkeln wohl leuchten würde. Die 17. Die Hausnummer war richtig, daran gab es keinen Zweifel. Und dass er sich in der Muhler Straße befand, da war er sich auch sehr sicher, und er wollte sich nun nicht die Blöße geben, das noch einmal nachzusehen. Er war ja nicht bescheuert, er hatte das auf dem Schild ja genau gelesen, zumal sich das Straßenschild noch einmal wiederholt hatte, kurz hinter der Nummer 13, als sich die Straße mit einer anderen gekreuzt hatte. Allerdings, wenn Lenas Name hier nun einmal nicht stand … hatte er sich die Adresse vielleicht von vornherein falsch aufgeschrieben?
    Laido ging nun doch noch einmal die Klingelschilder durch. Wie beim ersten Durchgang stolperte er wieder über das eine Schild ohne Namen. Diesmal blieb er länger hängen. Hatte Lena nicht etwas davon erzählt, dass sie noch nicht lange hier wohnte? Oder bildete Laido sich das gerade nachträglich ein? Es würde jedenfalls passen. Dann hatte Lena eben noch keine Zeit gehabt, sich um ein Klingelschild zu kümmern. Aber hätte sie ihm das nicht gesagt? Wobei sie das auch einfach vergessen haben könnte. Ach, wenn er doch einfach nur länger mit ihr gesprochen hätte, statt sich nach Vereinbarung des Treffens möglichst schnell wieder zu verziehen!
    Laidos Gedanken drehten sich im Kreis. Das half alles nicht wirklich weiter. Dann kam ihm eine Idee, die er allerdings ein, zwei Blicke später wieder begraben hatte. Briefkästen oder eigene Briefschlitze hatten die Leute hier nicht. Es gab nur einen einzigen, größeren Schlitz in der Mitte der Tür, über dem ein goldfarbiger Plastikaufkleber mit der Aufschrift Post angebracht war. Da kam dann wahrscheinlich einfach alle Post gemeinsam rein, und hinter der Tür durfte sich dann jeder seine Briefe aus einem großen Haufen heraussuchen. Laido erschauderte kurz bei der Vorstellung. In so ein Haus wäre er niemals gezogen.
    Sein Blick ging wieder auf das Klingelschild ohne Namen. Er konnte ja schlecht einfach drücken. Nachher klingelte er irgendjemand Fremdes aus der Wohnung – auf derartige Peinlichkeiten konnte er nun wirklich verzichten. Nur was -
    Laido wich zurück, als die Tür plötzlich nach innen aufging. Heraus kam ein mittelgroßer Kerl mit ebenso mittlerem bis fortgeschrittenem Alter, südländischen, schwarzen Haaren und einem schwarzen Schnauzbart. Er trug einen dunklen Mantel – und in der Hand, etwas, was Laido so schnell gar nicht erkennen konnte, denn der Mann schob sich rasch an ihm vorbei.
    Laido ergriff die Chance, bevor der Kerl weg war. „Entschuldigen Sie“, sagte er laut. „Wissen Sie vielleicht, ob hier eine Frau Kay wohnt?“
    Der Mann eilte ungerührt weiter und verschwand um die Hausecke.
    Laido ging ihm natürlich nicht hinterher. Stattdessen blickte er wieder auf die Haustür – und sah, dass diese sich nicht ganz geschlossen hatte und statt einzurasten angelehnt blieb. Laido sah sich um. Es war sonst niemand in der Nähe. Und er tat ja nichts Schlimmes, schließlich war er ja genau in dieses Haus eingeladen worden, er wusste nur nicht, wo er klingeln sollte. Deshalb ergriff er die Chance, schob die Tür auf und trat in den Hausflur ein.
    Drinnen roch es sehr nach Hallenbad. Zumindest hatte Laido Gerüche in der Nase, die den Gerüchen aus dem Schwimmunterricht damals in der Grundschule nicht ganz unähnlich waren und entsprechend ungute Gefühle in Laido hervorriefen. Es war schon erstaunlich, wie es ausgerechnet Gerüche vermochten, Erinnerungen zu wecken. Und zwar vor allem solche, die man am liebsten für immer schlafen gelegt hätte.
    Der Boden war offenbar Beton, ebenso wie die Treppenstufen. Das Geländer neben ihnen war eines mit einem Handlauf aus Plastik, der Laido schon vom Hinsehen an den Händen klebte und den er deshalb lieber nicht anfassen wollte. Direkt im Erdgeschoss schien es keine Wohnungen zu geben, sondern bloß Kellerräume, eine der Türen war als Zugang zum Heizungskeller ausgewiesen, eine andere sah so aus, als wäre sie Jahrzehnte nicht mehr geöffnet worden. Eine dicke, braune oder schwarze Kellerspinne lauerte über ihr, weshalb Laidos Bedürfnis, sich der Tür zu nähern, ohnehin schwand.
    Er entschied sich also dafür, die Treppe hinaufzusteigen. Es war recht dunkel, ein Blick nach oben verriet ihm, dass längst nicht alle Neonröhren leuchteten. Sie waren augenscheinlich irgendwann einmal kaputtgegangen und dann niemals ausgetauscht worden. Ein bisschen erneuerte das alles Laidos Zweifel: Sollte Lena denn wirklich in so einem tristen Haus wohnen? Andererseits hatte man in dieser Stadt häufig keine allzu große Wahl, wo man denn wohnte, sondern freute sich bereits über die erstbeste Wohnung. Und außerdem: Nur, weil das Haus als solches einen mehr (oder weniger) als nur rustikalen Charme versprühte, hieß das ja nicht, dass es bei Lena in der Wohnung genauso heruntergekommen war.
    Laido war nun im ersten Stock angekommen und hatte Glück: Die einzelnen Wohnungen waren jeweils neben der Wohnungstür beschildert. Laido schritt die Türen ab, über einen langen Flur, der im Halbdunklen lag und muffig roch, aber nicht mehr nach Hallenbad, sondern eher nach Kellergewölbe oder privater Garage. Der Boden war definitiv verdreckt, selbst wenn Laido das nicht an einzelnen Unsauberkeiten festmachen konnte. Es war das Gesamtbild, das schäbig war; die Summe war hier dreckiger als ihre Einzelteile.
    Der erste Stock kam Laido insgesamt ziemlich verlassen vor. Man hörte und sah niemanden, sodass er schon fantasierte, hier würde überhaupt keiner mehr wohnen und das Haus sei so schon lange verlassen. Er sah aber von weitem, dass eine der Wohnungstüren weit offen stand. Laidos Herz klopfte schneller, je näher er der Tür kam, denn vielleicht gehörte sie ja zu Lenas Wohnung.
    Als er bei ihr angekommen war, wagte er einen zwar ausforschenden, aber gleichzeitig auf Diskretion bedachten Blick hinein. Er sah einen Flur, der auch im Dämmerlicht der Wohnung noch hell aussah, weil die Bodenkacheln weiß und die Wände ebenso weiß tapeziert waren. Ein einsamer, metallener Kleiderständer stand herum, dazu ein kleines Schuhregal am Boden. An der rechten Seite eine Kommode, die so ähnlich aussah wie das, was in Möbelkatalogen gerne mal als „Nussholz“ angepriesen wurde. Schön war sie nicht. Laido konnte durch den kleinen Flur und die Tür am anderen Ende hindurchsehen, die einen größeren, breiteren Raum preisgab, der freilich auch im Halbdunkel lag, sogar in einem noch dunkleren Halbdunkel, einem Dreivierteldunkel. Ganz am Ende dieses Raumes konnte Laido aber immerhin eine Fensterfront sehen, die durch halb heruntergelassene Jalousien ein paar Sonnenstrahlen durchließ. In ihrem Licht drehten sich lange Staubsäulen. Das war wieder der Moment, in dem Laido bewusst wurde, dass der Staub nicht nur dort im Licht so herumwirbelte, sondern überall war. Das Leben eines Hausstauballergikers musste wirklich eine ganz schöne Herausforderung sein.
    Da Laido noch immer niemanden sah und ihm das Starren in eine fremde Wohnung mittlerweile unangenehm wurde, hob er seine Faust, um gegen den Türrahmen zu klopfen – irgendwie musste er ja auf sich aufmerksam machen, und da es ihm zu penetrant gewesen wäre, sofort in die Wohnung hineinzurufen …
    „Hey! Hey du!“
    Laido erschrak und ließ die Hand noch vor dem Klopfen sinken. Reflexhaft wandte er sich um, im ersten Augenblick dachte er, jemand hätte ihn von hinten zur Ordnung gerufen, vielleicht ein Hausmeister oder der Bewohner der Wohnung, der gerade von sonstwo wiederkam.
    Laido lehnte sich ein wenig weiter in den Wohnungsflur hinein, weiterhin noch ohne ihn zu betreten, konnte aber nicht weit genug in den Raum am gegenüberliegenden Ende hineinschauen. Er sah aber nun zur linken des kurzen Ganges eine weiße, geschlossene Tür, die möglicherweise in ein Badezimmer oder eine Gästetoilette führte.
    „Hey, du! An der Tür! Habe ich doch richtig gehört, dass da jemand steht! Komm rein!“
    Die bestimmte, gleichwohl freundliche Aufforderung der Männerstimme duldete weder Widerspruch noch Zögern. Laido trat in den Wohnungsflur ein, verlangsamte seine Schritte dann aber wieder, weil er nicht wusste, wo er nun hin sollte, und im Zweifel lieber auf eine weitere Aufforderung wartete, den großen Raum am Ende des Flurs zu betreten.
    „Nicht stehen bleiben, ruhig weiter rein, hier am Ende des Flurs, im großen Raum! Ich bin hier!“
    Laido beschleunigte seine Schritte wieder ein wenig. Gespannt, wen er dort vorfinden sollte, trat er in den großen Raum ein.
    Da war ein radelnder Typ. Ein Typ auf einem Fahrrad. Es war ein Rennrad, aufgebockt auf einen dieser Trainingsblöcke, die wohl Rollentrainer hießen, und die von Profisportlern, also eben vor allem von Rennradfahrern, gerne mal benutzt wurden, um nach dem Radfahren draußen auch nochmal drinnen Radzufahren, vielleicht auch umgekehrt. Der fahrende Mann war, rein optisch abgeschätzt, in etwa in Laidos Alter, war aber hagerer, geradezu ausgezehrt. Eine dünne Haarsträhne klebte auf seiner feuchten Stirn, zwei kastanienbraune Augen blitzten unter dünnen Brauen hervor. Er trug ein schlabberiges, zu weites T-Shirt, das mal weiß gewesen sein musste, und eine graublaue, kurze Hose. Seine Beine, mit denen er das Rad antrieb, waren dünn, mussten aber wohl sehr kräftig sein.
    „Endlich kommt mal einer vorbei“, sagte der Typ. Obwohl er ihn nicht brauchte, ließ er beide Hände fest am Lenker. Das Fahrrad wackelte ein wenig im Trainingsblock hin und her, aber seinen Fahrer schien das nicht zu stören: Er strampelte und strampelte, die Räder sirrten leise.
    „Ich muss nämlich mal ganz dringend aufs Klo“, erzählte der Typ weiter, denn Laido hatte über all das Beobachten der Szene ganz vergessen, mit ihm zu sprechen.
    „Tja, dann … gehen Sie doch …?“, schlug Laido zögerlich vor. „Oder brauchen Sie irgendwie Hilfe?“
    „Das kann man wohl sagen“, sagte der Mann und keuchte ein wenig. Er grinste, aber ein bisschen wirkte sein Ausdruck gequält. Ein Schweißtropfen fiel von seiner Stirn auf den dürren Rahmen des Fahrrads. „Ich kann hier nämlich nicht einfach so weg“, fügte er hinzu.
    „Warum nicht?“, fragte Laido. Er musste sich ein bisschen das Lachen verkneifen, weil die Szene bei aller Bizarrheit auch durchaus komisch im wahrsten Sinne des Wortes war. Er wollte sich seine Belustigung aber nicht anmerken lassen, denn diesem Mann schien es durchaus ernst mit der Sache zu sein, und Laido wollte ihn nicht kränken.
    „Ich muss weiterradeln“, erklärte der Typ atemlos. „Und ich darf auf keinen Fall damit aufhören.“
    „Trainieren Sie etwa für einen Wettbewerb?“
    Der Mann lächelte erneut. „Lass uns doch beim ’Du’ bleiben.“
    „Äh, ja, klar, ist mir eh lieber. Also, trainierst du für einen Wettbewerb? Da muss man aber doch auch mal Pause machen dürfen!“
    „Das ist kein Wettbewerb, und ich trainiere ja auch gar nicht.“
    „Nicht? Das sieht aber doch ganz danach aus!“
    Der Typ schüttelte, eisern weiter radelnd, den Kopf. „Ich radle“, sagte er, „damit die Welt am Drehen gehalten wird. Höre ich auf zu radeln, dann hört die Welt sich auf zu drehen, und weiß Gott, was dann passiert. Jedenfalls nichts Gutes!“
    Laido verbat sich das Lachen, ein unsicheres Lächeln aber konnte er nicht verhindern. Bei jedem anderen hätte er an einen Witz geglaubt, aber dieser Mann hier wirkte erneut so ehrlich und aufrichtig, und vor allem auch so besorgt, dass Laido ihm die Sache abnahm. Oder, besser gesagt, er nahm ihm nur ab, dass er auch tatsächlich an das glaubte, was er erzählte.
    Der Mann auf dem Rad schien die Zweifel in Laidos Miene erkannt zu haben, denn er machte nun doch eine Hand vom Lenker frei und zeigte ihm etwas.
    „Du siehst doch hier diese kleinen Anschlüsse am Vorderrad und am Hinterrad.“
    Laido nickte. Da waren tatsächlich zwei Kabel angebracht, schwarz, die von den Rädern wegführten und immer dicker wurden, bis sie sich in einer Art Rohr vereinigten, das sodann in einem kleinen Kasten an der Wand verschwand.
    „Die führen dort hinein in die Wand, wie du siehst, und von dort in ein weit verzweigtes mechanisches Netzwerk tief unter der Erde, das dafür sorgt, dass sich die Erde dreht, dass wir einen Tag- und Nachtwechsel haben, dass alles im Gleichgewicht bleibt. Und ich liefere den Antrieb dafür. Deshalb kann ich nicht einfach aufhören, in die Pedale zu treten. Die Welt würde aufhören, sich zu drehen. Wie gesagt.“
    Natürlich wollte Laido dem Typen nicht glauben, und ohne es böse zu meinen, hielt er ihn für verrückt. Andererseits aber schien ihm das, was er sagte, aus irgendeinem Grund, und auf einer Ebene fernab der Rationalität, irgendwie sehr plausibel zu sein, wie, als hätte der Mann auf dem Rad nun endlich die Beweise für etwas geliefert, woran Laido schon immer gerne geglaubt hätte. Mit der Einschränkung, dass das Gerede dieses Mannes trotzdem einfach nur ein einzig großer Blödsinn war. Allerdings: Was wäre, nur mal angenommen, wenn dieser Typ, rein theoretisch, doch recht haben sollte?
    „Ich weiß, was du jetzt denkst“, setzte der Mann nach, nun wieder beide Hände fest am Lenker und neue Schweißperlen auf der Stirn. „Warum hier? Aber irgendwohin mussten sie den Antrieb für diesen Mechanismus ja bauen. Und ein großer, toll geschützter Bunker würde ja irgendwann entdeckt, und dann wüssten alle, dass sich darin etwas unglaublich Wichtiges befinden muss, und naja, wenn die Leute sowas dann erst einmal spitz bekommen, dann unternehmen sie ja erst recht alles, um dahinter zu kommen. Hier dagegen … tja, ich sag mal so: In all den Jahren, in denen ich das hier schon mache, hat sich nie jemand um diesen Ort gekümmert. Außer dir.“
    Laido wollte das Spiel nun mitspielen. „Wie lange machst du das denn jetzt schon?“
    „Wie lange dreht sich die Erde?“, lachte der Typ. „Das ist schon eine ganze Weile. Ich weiß ja nicht, ob man euch das in der Schule beibringt, seit wann der Planet Erde existiert, aber naja, dann kannst du es dir ausrechnen.“
    „Aber … so lange muss doch ja erstmal jemand leben!“
    „Wohl wahr“, meinte der Typ. „Deshalb hat man ja mich genommen. Nicht, dass man nicht jemand anderen hätte nehmen können … aber das passte halt. Außerdem kann ich gut radeln. Und naja, eigentlich wurde mir das ja aufgebürdet, weil ich in der Vergangenheit – der sehr lange zurückliegenden Vergangenheit – mal ein bisschen unehrlich war, und das hier hielt man dann für die angemessene Strafe für mich. Aber da will ich jetzt mal lieber nicht näher drauf eingehen. Jedenfalls: Ja, ich mache das schon eine ganze Zeit lang und bin älter, als ich aussehe. Und, wie gesagt, ich muss dringend aufs Klo. Ich drängele ungern, aber wenn schon einmal jemand da ist … ich weiß ja nicht, ob du das kennst, aber das ist dieses psychische Phänomen, wenn man irgendwo unterwegs ist und dringend auf Toilette muss, und man geht Meter für Meter, vielleicht sogar Kilometer, viele Minuten oder sogar eine Stunde und kann es alles noch relativ locker anhalten, aber egal wie kurz oder lang man vorher gegangen ist und es angehalten hat, die letzten Meter, die letzten Sekunden wird man dann doch immer sehr hastig und der Druck wird unerträglich. Weil die Möglichkeit eben so nahe ist. So ähnlich geht es mir jetzt gerade. Wenn du also kurz übernehmen würdest …“
    „Aber wenn du absteigst, dann kommen die Räder ja unweigerlich zum Stehen oder werden langsamer. Wie soll das funktionieren?“
    „Ja, pass auf, darüber habe ich mir natürlich schon Gedanken gemacht. Hatte ja auch genug Zeit dafür. Das kann klappen, wenn wir das genau timen. Kann vielleicht sein, dass es dann kurz mal wackelt, aber das sollte nicht so schlimm sein. Stell dich am besten mal links neben mich und präg dir ein, in welchem Rhythmus ich trete.“
    Laido tat sofort, wie ihm geheißen, denn er hatte jetzt auch ein eigenes Bedürfnis, das Ganze so ernst wie möglich zu nehmen. Wenn er schon einsprang, dann auch richtig. Gebannt starrte er auf die Pedale des Rennrads. Links, rechts, links, rechts, links, rechts … es war schon ein zügiges Tempo, das der Typ fuhr, aber das sollte Laido gerade noch hinbekommen. Er erinnerte sich zwar an einen Arzttermin, der sehr seltsam verlaufen war, als man ihm bei einem Belastungs-EKG auf so einem Rad attestiert hatte, er hätte keine guten Werte beim schnelleren Fahren. Aber daran hatte er schon damals nicht so sehr geglaubt, weil er längere Zeit täglich mit dem Fahrrad noch viel schneller gerast war, um nicht zu spät zur Schule oder zu sonstigen Terminen zu kommen.
    „Wenn ich ’jetzt’ sage, dann springe ich rechts vom Fahrrad runter, und ich versuche das so zu machen, dass das rechte Pedal in dem Moment fast am höchsten Punkt steht. Du musst dann sofort von links hinterherkommen und bestenfalls mit deinem rechten Fuß direkt auf dem rechten Pedal landen und sofort treten. Traust du dir das zu?“
    Laido wurde es zwar auf einmal ein bisschen mulmig bei der Sache, aber weil klar war, dass es für ihn jetzt kein Zurück mehr gab, sagte er einfach: „Ja.“
    „Okay … bereit?“
    „Ja“, wiederholte Laido angespannt.
    Der Typ trampelte noch ein wenig weiter.
    „Jetzt.“
    Laido war nun doch ein wenig überrascht, auch weil der Typ nicht etwa gerufen oder geschrien, sondern beinahe geflüstert hatte, aber als der Mann vom Rad sprang, reagierte er trotzdem sofort und hechtete hinüber. Er traf das rechte Pedal, noch bevor er zum Sitzen kam, und fing an zu treten. Nur einen Augenblick später begann plötzlich ein Beben, Laido bekam ein seltsames Gefühl, ihm wurde irgendwie übel, vor seinen Augen begann es zu flimmern, und es war, als würde der Boden unter ihm wegkippen, während unsichtbare Kräfte von allen Seiten an ihm zerrten.
    „Schneller, einen Tick schneller!“, rief der Typ nun hastig. „Du bist zu langsam! Schneller, aber nicht zu schnell, sonst schlingert der Planet aus seiner Umlaufbahn heraus!“
    Laidos Beine schienen in der Panik einen Moment lang nicht so zu wollen, wie er wollte, aber dann schaffte er es, das Tempo ein bisschen anzuziehen. Seine Wahrnehmung normalisierte sich langsam wieder, auch das Wackeln um ihn herum hörte allmählich auf.
    „Uuuund … gut! Dieses Tempo halten!“
    Laido bemerkte, dass er die ganze Zeit die Zähne zusammengebissen hatte, und löste die Maulsperre wieder. Seine Stirn war schweißnass, aber daran war nicht die körperliche Anstrengung schuld, sondern der Schreckensmoment.
    „Das … das stimmt ja wirklich, mit der Erde!“
    Der Typ schüttelte ein wenig verärgert den Kopf. „Ach, sach bloß! Meinst du, ich erzähl’ dir hier irgendeinen Scheiß oder was? Oh Mann, nicht auszudenken, wenn du das Ganze nicht ernst genommen und jetzt einfach Faxen gemacht hättest, dann wären wir beide jetzt nicht mehr hier und der Planet längst in die Sonne gestürzt oder sowas … eieiei. Sowas mach’ ich nicht nochmal.“
    „Tschuldigung“, murmelte Laido, nun umso mehr konzentriert darauf, das richtige Tempo beim Treten zu halten.
    Der Typ seufzte ostentativ auf und fuhr sich durch das feuchte Haar. Seine Miene hatte sich nun wieder etwas entspannt. „Ist ja alles gut gegangen“, resümierte er. „Und es ist wirklich gut, dass du gekommen bist. Danke noch einmal.“
    „Kein Problem“, meinte Laido. „Wie lange wirst du brauchen?“
    Der Typ sah ihn mit einem eigentümlichen Blick an. Und sagte nichts.
    „Auf der Toilette, meine ich“, fügte Laido hinzu.
    Der Typ sah ihn weiter einfach nur an. Lag da etwas Mitleidiges in seinem Blick?
    Und dann verstand Laido.
    „Du wolltest gar nicht auf die Toilette, oder?“, keuchte er. „Du … du wolltest nur …“
    „Hey, was hätte ich machen sollen?“, fragte der Typ und setzte ein joviales Lächeln auf. Er schien unnatürlich viele Zähne zu haben, und sie waren weiß, sehr weiß, wie bei einem Model oder Schauspieler. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist, Ewigkeiten an dieses Rad gefesselt zu sein, die Last der Verantwortung auf dem Rücken, die Erde am Drehen zu halten. Oder unter den Füßen, wie auch immer. Niemals absteigen dürfen, niemals Pause machen können. Wer will es mir verübeln, dass ich jetzt die Gelegenheit genutzt habe?“
    „Heißt das, ich bin jetzt für immer an dieses Rad gebunden?“, fragte Laido, dessen Stimme sich dabei fast überschlug. Er musste sich bemühen, aus Wut, Angst und Zorn heraus nicht noch schneller zu treten. So unglücklich, ja so demütigend sich das jetzt für ihn entwickelt hatte, es war keine Option, dafür die ganze Welt aufs Spiel zu setzen.
    „Naja, was heißt für immer“, räsonierte der Typ. „Vielleicht hast du ja Glück und es kommt jemand vorbei, der dich ablöst.“
    „Und du, du gehst jetzt einfach? Und lässt mich hier sitzen?“
    Der Typ zuckte mit den Achseln. „Wer Freiheit hat, sollte sie nutzen, bevor er sie wieder verliert. Ich wünsch’ dir was. Und: Nichts für ungut, ja?“
    Sprach’s und verließ mit zügigem Schritt den Raum. Laido hörte, wie der Typ durch den Wohnungsflur ging, das Badezimmer passierte und dann im Hausflur verschwand. Die Tür ließ er offen. Eine Schweißperle tropfte von Laidos Nasenspitze auf dem Rahmen des Rades herab. Klar, dass der Typ nicht pinkeln musste. Auf dem Rad schwitzte man ja alles aus.
    Laido war fassungslos darüber, wie er in so eine Situation hatte hineingeraten können. Er musste sich nun im wahrsten Sinne des Wortes abstrampeln, durfte keinen Deut langsamer werden, konnte nichts trinken, nichts essen, durfte nicht schlafen, denn wenn er stoppte, wenn er auch nur eine Sekunde nachgab, dann würde die Welt im wahrsten Sinne des Wortes aus den Fugen geraten, er würde alle ins Verderben reißen, alle Menschen dieser Welt und natürlich auch sich selbst. Und er verstand schnell, dass es keinen Sinn machen würde, nach Hilfe zu rufen. Niemand würde ihn hören, niemand würde kommen. Und Laido würde radeln. Nicht bis zum bitteren Ende, sondern bis in alle Ewigkeit.
    Geändert von John Irenicus (26.08.2018 um 18:31 Uhr)

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    Laidos Eltern waren wohl schon wach. Sie waren Frühaufsteher, schon immer gewesen, wie das offenbar bei fast allen Leuten ganz von selbst so wurde, wenn sie ein bestimmtes Alter überschritten hatten. Laido selbst war Langschläfer – wie alle anderen Menschen. Er war es gewohnt, dass er manchmal wach wurde, wenn seine Eltern schon auf waren und sich für die Arbeit fertig machten. Es gab dann Schritte und Rascheln im Flur, manchmal ein leises Wispern zwischen den Beiden. Häufig konnte Laido nicht oder nur wortweise verstehen, was im Flur gesprochen wurde. Es störte ihn gar nicht so sehr. Das Flüstern war manchmal sogar beruhigend, und es war natürlich angenehm, zu wissen, dass man selbst noch liegen bleiben und sogar wieder einschlafen konnte, wenn man wollte. Jedenfalls, wenn man nicht selber einen Termin hatte. Aber heute hatte Laido keine Termine. Wobei er, wenn er genauer darüber nachdachte, nicht einmal sagen konnte, welcher Tag heute war. War überhaupt noch Wochenende? War nicht gestern Sonntag gewesen?
    Laido riss die Augen auf. Er war gar nicht zuhause, und schon gar nicht war er bei seinen Eltern. Die Stimmen kamen auch nicht von draußen, auch wenn sie etwas entrückt klangen. Sie kamen direkt aus dem Radio neben ihm, und sie waren nicht leise, sondern laut. Er benötigte noch eine gewisse Zeit, um sich im Halbschlaf zu orientieren. Als er dann endlich begriff, wo er war, war jegliche Wärme, die er zuvor noch im Bett verspürt hatte, vergangen, und der kalte Griff der Angst hatte ihn wieder. Das Radio schrachelte, wechselte je nachdem, in welcher Position sich Laido gerade befand, zwischen aggressivem Rauschen und klarer Aussprache hin und her. Trotzdem verstand Laido nicht wirklich, was gerade gesprochen wurde, denn er war zu sehr damit beschäftigt, den Knopf zu finden, der das Radio wieder abstellte. Es war ihm nämlich zu laut, vor allem in den Phasen, in denen es so sehr rauschte. Laido wurde immer hastiger, schließlich wusste er nicht, wie spät es war und ob man das Geplärre aus dem Gerät auch in die Nachbarzellen hören konnte. Die Hektik half jedoch nicht. Er brauchte Licht.
    Laido setzte sich auf und ließ den Schwindel in seinem Kopf über sich ergehen, aber noch bevor er aufstand, erinnerte er sich daran, dass es ja noch einen Lichtschalter an der Wand direkt neben ihm gab. Er tastete eine Weile im dunklen Raum umher, wechselte mit der Hand dabei mehrmals die Richtung, und als er schon das Gefühl hatte, sich diesen Schalter in der vorigen Nacht nur eingebildet zu haben, erwischte er eine Ecke des scharfkantigen Plastiks – und drückte.
    Das Licht war grell, zu grell für Laidos Augen. Schmerz schoss in seinen Kopf. Er hatte das Licht ganz anders und von anderer Stelle erwartet, als kleine Nachttischlampe oder ähnliches, aber da war ja nur die Deckenleuchte, ungedimmt, entweder ganz an oder ganz aus, nichts dazwischen. Deshalb dimmte Laido nun mit seinen Augen, er hielt sie halb geschlossen. Erst als er am Radio herumtastete, öffnete er sie wieder vollständig. Nach einer Weile hatte er den passenden Knopf endlich gefunden.
    „Bisherigen Erkenntnissen zufolge soll das Kokain in kleinen Portionen in Tof-“
    Laido sah auf das kleine Zahlendisplay am Radio, um die Uhrzeit abzulesen. 6:03 Uhr. In aller Herrgottsfrühe. Für einen Knast aber wahrscheinlich nicht allzu früh. Laido vermutete, dass sein Vorbewohner in dieser Zelle – er wollte gar nicht darüber nachdenken, wer alles schon dieses Radio angegrabbelt hatte – den Wecker auf 6:00 Uhr gestellt hatte. Und das vermutlich aus einem bestimmten Grund.
    Laido trug noch immer dieses Hemd. Mittlerweile war es unerträglich siffig. Er hatte die Nacht geschwitzt und war froh, immerhin seine Hose ausgezogen zu haben. Er hatte nun aber schon Tage in diesen Klamotten verbracht, ohne Aussicht darauf, sie mal zu wechseln, und das drückte seine Stimmung nur noch mehr, als wären mit dem Schmutz auch die Erlebnisse der vergangenen Tage in sie eingezogen. Spätestens nach dieser Nacht fühlte sich Laido wieder krank, unterschwellig krank, wie zu Beginn oder zum Ende einer schweren Erkältung. Es passte, denn wie er hier in seinem eigenen Saft schmorte, in einem kargen, leeren Zimmer, in dem sich kein Mensch der Welt wohlfühlen konnte, kam er sich vor wie bei einem Krankenhausaufenthalt.
    Laido hatte gerade begonnen, sich die Hose – es half ja nichts – wieder anzuziehen, da stockte er in der Bewegung. Krankenhausaufenthalt. Damit lag er nicht ganz so falsch, wie ihm wieder einfiel, denn wenn er sich recht erinnerte, und das tat er wohl leider, dann war heute dieser Arztbesuch für ihn vorgesehen. Er hatte keine Ahnung, wie oft sich der eigene Kehlkopf, die eigene Brust, die eigene Lunge vor Angst zuschnüren konnten, bevor sie endgültig durchschnitten wurden, aber offenbar war der eigene Körper da sehr leidensfähig. Laido wollte nicht. Er wollte einfach nicht von irgendeinem Arzt untersucht werden, schon gar nicht von einem Gefängnisarzt, den er gar nicht kannte, den er heute zum ersten Mal sehen würde. Es musste doch eine Möglichkeit zum Widerspruch geben. Man konnte ihn doch nicht einfach so zwingen, es gab doch Patientenrechte. Oder hatte man die nicht mehr, sobald man einmal in einem Gefängnis eingesperrt war?
    Die Hose noch gar nicht richtig zugeknöpft, stapfte Laido zum Tisch, wo dieser Wust an Papier, die sogenannten Merkblätter lagen, die er schon einmal durchgegangen war, und fing an, den Blattstapel hastig zu durchwühlen. Er konnte sich zwar nicht daran erinnern, dort irgendetwas über ärztliche Untersuchungen gelesen zu haben, aber vielleicht hatte er es auch nur übersehen. Und er wollte auch nur die kleinste Chance nutzen, die sich ihm bot. Und wenn er zum Arzt abgeholt werden sollte, dann würde er Nein sagen, dann würde er sich nicht bugsieren lassen, sich nicht den Umständen ergeben, sondern würde klar und deutlich, notfalls auch etwas unhöflich sagen, dass er das nicht wollte und einfach nicht mitmachen würde. Das war das Mindeste, was er sich selbst schuldig war, und wenn es dann nicht klappen sollte, dann hatte er sich immerhin nichts vorzuwerfen. Er würde das dann doch zumindest noch ein wenig hinauszögern können, und in der Zwischenzeit konnte er vielleicht -
    Es klopfte. Dreimal. Dann klimperte auch schon ein Schlüssel.
    „Wach und angezogen? Dann komme ich jetzt rein!“
    Laido schrak zusammen. Metall schlug auf Metall, als die Tür mit hörbar wuchtigen Bewegungen von außen aufgeschlossen wurde. Die Tür, die nur von außen eine wirkliche Tür war, wurde aufgezogen. Zum Vorschein kam ein älterer Herr im grünen Pullover und in beiger Hose, Gesicht und Brille beide rundlich, Bartstoppeln. Laido konnte sich nicht erinnern, diesen speziellen Beamten schon einmal gesehen zu haben, aber er musste sich auch eingestehen, dass sie für ihn alle ziemlich gleich aussahen. Vielleicht war das einer der Bärtigen, die er am Vortag gesehen hatte, nur jetzt ohne Bart. Oder es war doch jemand ganz anderes. Er hätte genau so gut in einem Rathaus oder in einem Finanzamt oder sonstwo arbeiten können. Das einzig Spezifische an seinem Aussehen war, dass es ein Behördenaussehen war. Sonst war da nichts.
    „Guten Morgen Herr Leidel, Sie sind schon wach, das ist gut“, bemerkte der Beamte das Offensichtliche.
    Laido, zwei Blätter Papier noch in den Händen, war fest entschlossen, das Gespräch nicht in eine Richtung abschlittern zu lassen, von der es dann keine Abkehr mehr gab.
    „Guten Morgen. Hören Sie, ich will Ihnen das gleich direkt sagen, das mit der ärztlichen Untersuchung, ich will das nicht, muss ich …“
    Der Beamte machte eine abwehrende Geste mit den Händen. Laido brach verwirrt ab.
    „Ist abgesagt“, sagte der Beamte dann. „Keine Untersuchung für Sie, ob Sie wollen oder nicht. Übrigens auch keine Untersuchungshaft mehr. Wir schmeißen Sie jetzt raus.“
    Laidos Blick darauf war irritiert genug, um den Beamten zu einem kurzen Auflachen und weiteren Worten zu bewegen.
    „Sie können froh sein, dass man am Gericht schon so früh am Morgen anfängt zu arbeiten. Der Richter hat den Haftbefehl aufgehoben, Sie kommen auf Kaution frei.“
    „Auf Kaution? Aber wo soll ich das Geld denn herbekommen?“
    Der Beamte zuckte mit den Schultern. „Mir wurde gesagt, das sei alles schon geregelt. Und draußen vor dem Tor wartet auch schon jemand, um Sie abzuholen. Bei dem können Sie sich dann vermutlich auch bedanken.“
    Laido erstarrte in seiner Bewegung. Nicht nur in seinem Kopf drehte es sich, auch um ihn herum schien sich alles mit einem Mal gedreht zu haben. Konnte das denn wirklich wahr sein, dass er einmal in seinem Leben so viel Glück hatte?
    „Für jemanden, der gerade erfahren hat, dass er aus der U-Haft rauskommt, sehen Sie aber nicht so glücklich aus“, bemerkte der Beamte zurückhaltend. „Sie haben mich aber schon verstanden, oder? Sie sprechen Deutsch? Oder nur Kölsch?“
    „Doch, doch“, sagte Laido hastig.
    „Gut“, erwiderte der Beamte lächelnd. „Dann packen Sie Ihre Sachen, in einer Viertelstunde werden Sie offiziell entlassen. Bitte hinterlassen Sie das Zimmer so, wie Sie es vorgefunden haben, heute Nachmittag soll gleich schon der nächste hier rein.“

    „Na, da isser doch … der verlorene Sohn kehrt zurück.“
    Mit langsamen Schritten kam Laido dem weißen Auto näher. Hätte er Vertrauen zu seinen wackeligen Knien gehabt, dann wäre er geeilt, egal, wie seltsam das gewirkt hätte. Er hatte sich selten so gefreut, Jacob wiederzusehen. Vor allem, nachdem sich seine offizielle Entlassung aus dem Gefängnis dann doch noch hingezogen hatte, mit Formalitäten, Papierkram und dergleichen. Nun aber war Laido draußen, noch immer in altem Hemd und alter Hose, aber im Freien und inmitten kühler Luft. Er fror ein wenig, aber das machte ihm nichts. Als er vorbei an den Blumenkübeln, die die Einfahrt zum Gefängnis säumten, auf Jacob zuschritt, hatte er sogar kurz den Impuls, ihn zu umarmen, aber als er bei ihm ankam, gaben sie sich nicht einmal die Hand. Jacob lächelte. Er trug wieder den Anzug in blau. Seine Haare lagen etwas unsauber und seine Augen zeigten Ringe. Er sah überarbeitet, aber zufrieden aus. So waren Anwälte wohl, selbst Jacob, der sonst ja eher aus der Art schlug. Er stand vor dem weißen Auto, und Laido sah erst jetzt, dass da noch ein Fahrer hinter dem Steuer saß.
    „Jacob … bist du für all das verantwortlich?“
    Der Anwalt legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Für all das nicht, aber dass ich ausgehandelt habe, dass du überhaupt auf Kaution freigekommen bist, das würde ich dann schon mal für mich in Anspruch nehmen.“
    „Und das Geld?“, fragte Laido sofort weiter. „Wie viel war das denn? Wo hast du das aufgetrieben?“
    Jacobs Grinsen wurde immer verschmitzter. Er hielt noch immer die Hand auf Laidos Schulter. „Das sind dann wieder Sachen, die sich größtenteils außerhalb meiner Sphäre abgespielt haben. Da war ich nur Vermittler, um es mal so zu sagen. Aber darüber sprechen wir am besten erst, wenn wir im Auto sitzen. Steig schnell ein. Nach meinen Berechnungen müsste in etwa einer Stunde hier die Hölle los sein, da sollten wir uns dann schon aus dem Staub gemacht haben. Es war schon kompliziert genug, den Medien gegenüber zu verkaufen, dass du frühestens um acht Uhr herauskommst und es dann hinzubekommen, dass sie dich früher aus dem Bunker da entlassen. Das soll ja jetzt alles nicht umsonst gewesen sein.“
    „Die Medien?“, fragte Laido, während er sich von Jacob auf die linke Seite der schwarz gepolsterten Rückbank komplimentieren ließ. Der Anwalt schloss die Tür von außen, ging einmal um das Auto herum, machte dort die Tür auf und nahm neben ihm Platz.
    „Wollen die über mich berichten … immer noch?“, hakte Laido nach, während Jacob die Tür von innen zudonnerte.
    „Na klar“, antwortete Jacob. „Hast du die letzten Tage denn kein Radio angehört oder Zeitung gelesen oder so? Du hast auch in Untersuchungshaft ein Recht darauf, zu erfahren, was draußen so abgeht, weißt du.“
    „Darauf habe ich verzichtet“, murrte Laido. „Und offenbar war das auch nicht die schlechteste Entscheidung. Dann ist es ja genau so gekommen, wie ich das befürchtet habe. Kölner Stadt-Anzeiger und so wahrscheinlich voll davon, was?“
    Jacob lächelte milde. „Voll nicht, aber in etwa, ja. Einmal warst du sogar auf Seite eins. Und damit das nicht nochmal passiert …“
    Er rief etwas zum geduldig warteten Fahrer nach vorne, was Laido akustisch nicht verstand, und kurz darauf setzte sich das Auto in Bewegung. Den Mann am Steuer sah Laido nun nur noch als ein paar Augen und eine hohe Stirn im Rückspiegel. Er trug eine Kappe, die man wohl Schiebermütze nannte, und dabei ein eher schäbiges Jackett in schmutzigen Braun- und Grüntönen. Alles in allem wirkte er entspannt, und vor allem ausgeschlafen, was Laido bei Autofahrern ja sehr schätzte.
    „Hast du im Lotto gewonnen, oder warum hast du für uns einen Chauffeur engagiert?“
    Jacob lachte auf. „Wenn ich im Lotto gewonnen hätte, dann würden wir aber in einem anderen Auto fahren, das kann ich dir versprechen. Oder wir hätten direkt den Helikopter genommen.“
    „Und das Geld für die Kaution hast du dann wo genau her?“
    „Naja, weißt du, ich habe ja schon seit ich klein bin dieses große Sparschwein, und …“
    „Jacob.“
    „Schon gut, schon gut“, sagte der Anwalt und zupfte erst den Anzug an seiner Schulter, dann an seinen Taschen zurecht, unnötigerweise, ganz offensichtlich um Zeit zu gewinnen. Sie standen gerade an einer roten Ampel. Erst als sie grün wurde, fing Jacob wieder an zu sprechen.
    „Das habe ich über Kontakte organisiert.“
    Laido wollte schon Luft holen, um weiter nachzufragen, aber Jacob wurde lauter, kam ihm zuvor.
    „Und diese Kontakte haben ein berechtigtes Interesse daran, dass ich nicht verrate, wer das genau ist“, sagte der Anwalt bestimmend. „Zumindest noch nicht. Ich werde dir noch alles erklären, wenn ich darf. Freu dich bis dahin doch erst einmal, dass du wieder aus dem Knast raus bist!“
    „Ich freu mich ja“, sagte Laido, den Blick in den Schoß gerichtet. „Aber auf einmal kaufst du mich frei, mit Geld, dass du gar nicht haben kannst, du holst mich mit irgendeinem Auto ab, und wo wir hinfahren, hast du mir auch noch nicht erklärt. Da wärst du doch auch skeptisch! Ich habe halt wieder das Gefühl, dass die nächsten Probleme bereits jetzt schon auf mich warten.“
    „Willkommen im Club“, sagte Jacob nüchtern. „Nennt sich 'Leben'.“
    „Du weißt genau, wie ich das meine.“
    „Ja, weiß ich, und ja, dir mag das vielleicht ein bisschen dubios vorkommen. Aber pass auf, ich will dir erst einmal etwas zeigen, das funktioniert vielleicht besser, als wenn ich dich hier zulabere und dir alles auf einmal erkläre.“
    Laidos Blick ging wieder hinauf und zu Jacob rechts neben sich. Der Anwalt nestelte wieder an der Anzugtasche herum. Es dauerte ein wenig, und erst hatte Laido wieder das Gefühl, dass sein Bekannter nur Zeit schinden wollte – aber dann ging doch alles ganz schnell. Jacob riss ein weißes Tuch aus seiner Tasche und presste es Laido auf Mund und Nase. Noch ehe Laido genau wusste wie ihm geschah, war Jacob bereits halb auf ihm drauf, und der eigentlich so schlank wirkende Mann presste mit einem gehörigen Gewicht auf seinen Körper. Laido konnte nicht einmal mehr schreien. Ein scharfer Geruch, fast wie Alkohol, drang in seine Nase, ohne dass er es verhindern konnte. Laido schlug zur Seite hin aus und wand sich, aber er konnte dem schraubstockartigen Griff Jacobs nicht entrinnen. Zu allem Überfluss strengte ihn das so sehr an, dass er japsend umso mehr von der Substanz einatmete, mit der Jacob das Taschentuch getränkt haben musste. Laidos Blick hing hilfesuchend nach vorne, in den Rückspiegel, aber der Fahrer schaute nicht zurück. Offenbar war er eingeweiht, offenbar war alles abgesprochen. Sie hatten sich gegen ihn verschworen. Längst verdrängt geglaubte Fantasien, irgendwann einmal von einem Doppelgänger eines Bekannten in die Falle gelockt zu werden, traten bei Laido wieder an die Oberfläche. Er bemerkte allerdings schnell, wie seine Angst nachließ, und mit ihr ließen auch seine sonstigen Kräfte nach. Auch Jacobs Griff schien nachzulassen, bis er endlich wieder von ihm herunterstieg.
    Laido hatte jetzt Mühe, bei Bewusstsein zu bleiben, aber es gelang ihm noch, Jacob in die Augen zu schauen.
    Jacob schaute zurück, mit Bedauern im Blick, aber was dann geschah, bekam Laido schon gar nicht mehr mit, auch nicht, wie der Wind draußen leise pfiff und lose Blätter durch die Luft trug, sodass sie tanzten, durcheinanderwirbelten, auf und nieder; wie der Schwarm von unsichtbarer Hand geführt weiter in die Höhe stieg, schlangenförmige Bewegungen beschreibend, ohne Ziel, einfach treibend. Ein einzelnes Blatt löste sich aus dem Kollektiv, empor gehoben, über all seine Artgenossen hinweg, und für einen Moment schien es, als schwebe es nun unaufhaltsam der Sonne entgegen, doch mit einem Schwung änderte es seine Richtung, sodass das braune, welke Etwas wieder herunter fiel, aber nicht im Sturz, sondern einfach der sanft kreisenden Flugbahn erliegend, die unweigerlich zum Boden führte. Dann aber rauschte ein erneuter Windstoß heran und trug das Blatt noch eine Weile weiter, die Bewegung vor dem endgültigen Verebben bewahrend, doch bevor es zu weit in die Ferne schweifte, fing es wiederum an zu trudeln, nicht heftig, sondern gemächlich; ohne Eile sank es weiter, weiter und weiter, bis es endlich wieder Kontakt zu etwas anderem als der Luft hatte, der Frontscheibe des Autos, und ganz erschöpft durch seine Reise wollte es dort liegen bleiben und sich ausruhen, doch nur wenige Augenblicke später wurde es vom Scheibenwischer schon wieder fortgestoßen.
    „Es tut mir leid, Tommy.“
    Geändert von John Irenicus (15.09.2019 um 17:43 Uhr)

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