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    Mythos Avatar von Gothic Girlie
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    Post [Story]Gothic Girlies Geschichte: Nela

    Hallo,

    ich hatte mal eine Folge der gespaltenen Jungfrau geschrieben, die natürlich nicht offiziell ist und nichts mit Spellbound zu tun hat. Inzwischen hat sich das ganze verselbstständigt, und es ist etwas entstanden, was man als Gothic-dreieinhalb-Querstrich-Multiplayer-Girlie-made bezeichnen könnte.

    Nela, die Frau mit der die Geschichte beginnt, entkam mit weiteren Personen nach der Ork-Invasion in einem kleinen Fischerboot aus Khorinis. Die Umstände der Flucht waren Inhalt einer Kurzgeschichte, meiner Wettbewerbsgeschichte von letztem Jahr, aber ich habe den ganzen Stil jetzt sehr geändert.

    Hier der Link zur Geschichte der Flucht, aber ich empfehle Euch, erst mal in die jetzige Geschichte reinzulesen.

    http://forum.worldofplayers.de/forum...6&#post7468006

    Hier eine Beschreibung zweier Personen, ebenfalls nur zur Ergänzung gedacht.

    http://forum.worldofplayers.de/forum...5&#post8235545

    Viel Spaß beim Lesen! Rückmeldung erwünscht. Zur Diskussion gehts hier: http://forum.worldofplayers.de/forum...d.php?t=596993


    Nela

    "Wir sind als Flüchtlinge von Khorinis gekommen, im Herbst werden es zwei Jahre. Wir, das waren mein Sohn Gero und ich, Nela, und meine Freundin Mineti mit ihrem Mann und Sohn. Mineti hatte ich erst kurz vorher kennen gelernt. Wir waren alle fünf in der Hafenstadt gestrandet, in der es viel zu viele Flüchtlinge gab, kaum noch Vorräte und kein Schiff mehr, um der drohenden Eroberung durch die Orks zu entkommen. Gero und ich waren vom Hof am Steinkreis geflüchtet. Nur mit der Hilfe eines jungen Feuermagiers war es uns möglich gewesen, der Orkinvasion zu entgehen.
    Später, im Verlauf der Kämpfe um die Stadt, gelang es uns fünf, auf der vorgelagerten Insel ein kleines Fischerboot von Orks zurück zu erobern, die dort gelandet waren. Dabei wurde jedoch Minetis Mann schwer verwundet, und er starb in einem Sturm, der einige Tage später unser Boot zum kentern brachte. Unser Glück, dass wir uns damals, obwohl auf dem weiten Ozean verirrt, in der Nähe dieser Insel befanden, und so konnten wir Frauen mit unseren Söhnen uns schwimmend retten. Gero war damals im Stimmbruch, schon so groß wie ich, aber noch ungelenk. Er kannte diesen Männer-Körper noch nicht, der ihm so schnell wuchs, dass man glaubte, zusehen zu können. Minetis Sohn Jaru war etwas jünger, schweigsam nach dem Erlebten. Gero und er hatten sich im Boot angefreundet.
    Doch dann brach erneut das Unglück über uns herein. Während wir uns noch am Strand befanden und Gero sich weiter entfernt hatte, um Wasser zu suchen, überfielen uns Sklavenjäger. Sie verschleppten Jaru und töteten Mineti, die dazwischen gehen wollte. Mich übersahen sie zwischen den Felsen, und als Gero mich später fand, weinte ich nur stumm und war wie verrückt, und es dauerte Wochen, bis ich ihm alles erzählen konnte.
    Wir fanden freundliche Menschen, die uns aufnahmen, und fast zwei Jahre lebten wir hier, an der Westküste auf einem Bauernhof, bevor die Geschichte beginnt, die hier erzählt wird."



    Murdra wischte sich die Hände an dem rauen Lappen ab. Dies war ein übler Tag. Nebel, Kälte, und selbst die Vögel schienen trostlos zu kreischen. Ein leises Klacken – das musste die Tür sein! Murdra zögerte. Da spürte sie eine merkwürdige Veränderung im Raum, wie einen ganz tiefen Ton oder eine Nische in der Wand, wenn man daran vorbei läuft. Murdra sah auf. An der Tür stand eine große Frau ganz ruhig.
    Sie war gekleidet wie eine Bäuerin. Murdra betrachtete sie: ein alter langer brauner Rock aus gutem Stoff, stabile Lederschuhe, das Haar hochgesteckt und mit einem Tuch fest im Nacken zurück gebunden, ein dunkler Umhang verdeckte den Rest. Eine gute Arbeitskraft – Murdra hatte einen Blick dafür - nur die Augen und die Haltung der Frau waren ungewöhnlich. Sie stand ganz aufrecht und ruhig und der Blick ihrer hellen Augen lag fest in Murdras.
    „Guten Abend, Wirtin“, sagte die Fremde und lächelte ganz kurz mit den Augen. „Es ist früh – aber hast du schon etwas zum Essen fertig?“
    Da war alles normal. Murdra winkte die Fremde an einen Tisch näher am Ofen. „Setz dich. Es gibt Suppe, etwas Schinken und Brot, wenn du mehr möchtest.“ Der Akzent von Khorinis! Nur die Menschen von dort sprachen so.
    Murdra brachte ihr das Essen. Die Fremde war hungrig, das sah man, aber sie aß langsam und konzentriert. Mit jedem Bissen schien sie auch Gedanken hin und her zu schieben, und sie blickte öfter zu Murdra hinüber. Als Murdra zu ihr ging, den Teller abzuräumen, legte die Fremde kurz ihre Hand auf ihren Arm. „Verzeih mir. Ich möchte dich etwas fragen, aber ich weiß nicht, wie ich beginnen soll.“
    Murdra zog kurz die Brauen zusammen. Die Hand der Fremden war rau und trocken. Sie hielt Murdras Blick fest und ihre Augen... - ihre Augen waren grau wie die Gischt. Die braune Haut spannte etwas über ihren hohen Wangenknochen. Sie war älter, als Murdra sie erst geschätzt hätte, sie mochte sogar einige Jahre älter als Murdra sein. Murdra sah, daß sie nach Worten suchte. „Keine große Rednerin“, dachte sie bei sich. „Aber das sind mir die liebsten.“ Plötzlich war ihr die Fremde sympathisch. Sie zog sich einen Schemel heran und setzt sich an den Tisch. „Sprich. Hier ist niemand. Ich habe Zeit.“
    „ Zuerst muss ich wissen, ob du schon lange hier arbeitest? Ich brauche eine Auskunft aus einer Zeit, die viele Jahre her ist.“
    „Ja. Ich arbeite hier schon die meiste Zeit meines Lebens.“ Ihre Gedanken gingen zurück. Sie selbst ein dummes Ding von einem kleinen Hof, wie hart sie damals gearbeitet hatte, um alles Recht zu machen, und wie verliebt sie damals in Belgor war...
    Die Fremde sprach weiter. „Es gab damals in dieser Taverne ein großes Fest. Ein Händler aus Khorinis heiratete ein Mädchen, dessen Mutter von hier war. Er hatte nur wenige Tage Landgang, weil er mit einem Schiff der Paladine fuhr. Deshalb reiste die Familie der Mutter vorher aus der Hauptstadt an, und sie feierten hier. Es waren reiche Leute. Es hat vielleicht nicht viele solche Feste hier gegeben.“ Die Fremde war in Gedanken bei den Personen, über die sie sprach. Es fiel ihr nicht auf, dass ihre Worte vielleicht verletzen könnten.
    Aber Murdra achtete ebenfalls nicht darauf. Sie erinnerte sich tatsächlich. Für diese Feier war extra ein neuer Anbau errichtet worden. Die Männer hatten wochenlang daran gebaut. Sie und Belgor konnten sich kaum sehen, und wenn, dann schlief er immer sofort ein.
    Und das Fest selbst, diese ganzen feinen Leute! Sie hatten Musikanten mitgebracht und sogar ihr eigenes Geschirr. Murdra hütete noch immer einen bemalten Teller mit goldenem Rand, den einer der Gäste mit aufs Zimmer genommen hatte und der erst auftauchte, als die Gäste fort waren. Aber am besten erinnerte sie sich an die Braut. Jünger als sie, fast noch ein Kind. Ihre dunklen Locken und großen Augen... und sie tanze die ganze Nacht in ihren weichen roten Schuhen. Wie ihr Schmuck geglänzt hatte – und alle Männer sahen nur auf sie.
    „Weißt du ihren Namen?“ fragte Murdra.
    „Mineti“, sagte die Fremde leise. Und das erste Mal senkte sie ihren Blick. „Sie war meine Freundin, verstehst du? Und ich möchte ihre Familie finden und ihnen sagen, dass sie tot ist. Aber ich kenne die Familie nicht, noch nicht mal ihren Namen. Ich weiß nur, sie kamen aus der Hauptstadt, und dass sie hier gefeiert haben. Ja, sie sind reich. Ich bin nicht reich, ich kann nicht lange in der Hauptstadt leben und nach ihnen fragen. Kannst du mir helfen? Weißt du noch den Namen der Familie, oder ist er damals aufgeschrieben worden?“
    Murdra dachte an den Teller. „Was habe ich sie damals beneidet. Und jetzt ist sie also tot.“ Sie sagte es nicht laut. Es waren Zeichen auf dem Teller, aber Murdra konnte nicht lesen.
    Eine merkwürdige Bäuerin war diese Fremde, die offenbar lesen konnte! Murdra betrachtete sie ein zweites Mal. Da sah sie, was ihr vorher entgangen war: die Fremde war mit einem Bogen bewaffnet, der jetzt neben dem Umhang lag, und trug ein Kurzschwert am Gürtel. Das war eine Frau, wie nicht viele aufs Dutzend kamen.

    Es ging natürlich nicht, ihr einfach den Teller zu zeigen. Am Ende würde sie der Familie davon berichten! Genau genommen hätten sie damals den Teller in die Hauptstadt senden müssen. Murdra dachte nach. Sie wollte der Fremden helfen. Man könnte die Zeichen abmalen, und sie der Fremden geben.
    „Es ist möglich, dass ich dir helfen kann“, sagte sie. „Aber ich muss vorher etwas nachsehen. Bleibst du über Nacht?“
    Die Fremde zögerte. „Ich möchte ein paar Tage hier in der Gegend bleiben. Ich warte auf meinen Sohn, der für einen Händler etwas transportiert hat. Aber – ich habe nicht viel Geld, mir ein Zimmer zu nehmen. Weißt du jemand, der eine Arbeitskraft braucht?“
    „Die Bohnen müssen geerntet werden... und sie könnte Belgor helfen, endlich die Dachrinnen vom Moos zu befreien,“ dachte Murdra. „Er kann einfach nicht mehr auf die Leiter steigen mit seinem Holzbein.“ Sie blickte auf die muskulösen Arme der fremden Frau. „Wenn du schwindelfrei bist, kannst du bleiben,“ sagte sie.
    „Ich heiße Nela,“ sagte die Frau.

    Einige Tage später arbeiteten die Frauen im Garten. Die Fremde hatte nur wenige Worte gesprochen seit dem ersten Abend. Sie war fast ein Teil der Taverne geworden in dieser Zeit – ein schweigsamer Teil allerdings. Murdra schob sich das Haar aus dem Gesicht und blies die Lippen auf. Wie neugierig sie war auf diese Fremde!
    Am dritten Tag war eins dieser Insektenmonster aus dem Wald gerannt und die Fremde hatte tatsächlich eine Spruchrolle mit einem fremden Zauber gezündet! Und dann war sie schreiend auf das Ding zugelaufen und hatte ihm mit dem Schwert den Rest gegeben. Seitdem trug sie ihren Bogen immer bei sich. Aber danach war sie ohne Worte an die Arbeit zurückgegangen.
    Murdra fragte: „Du sprachst von einem Sohn – hast du noch mehr Kinder?“
    „Nein“, sagte die Fremde und riss weiter Bohnen ab. Murdra wartete, aber Nela sprach nicht mehr.

    Am Abend stand Nela vor der Taverne und sah in die Nacht. Kurz vorher war Murdra mit einem Holzbrettchen zu ihr in ihre Kammer unterm Dach gekommen. Auf dem Brettchen standen mit ungeschickter Hand Buchstaben, mit Holzkohle geschrieben - der Name! Nela hatte ihn sich in die Innenseite ihres Rocksaums gestickt und dann noch einmal Geros Botschaft gelesen und verbrannt.

    „Endlich habe ich unseren Freund gefunden. Aber er ist schwach, und sie
    halten ihn abseits von den anderen. Heute konnte ich eine Wache bestechen,
    ihm mehr essen zu geben, aber es reicht nicht dafür, dass er ihn laufen lässt.
    Irgendwas hat er angestellt, er gilt ihnen nicht als normaler Gefangener.
    Vielleicht hilft ein klingender Name von einer alten Familie. Du musst in die
    Taverne gehen, von der sie damals auf dem Schiff erzählt hat, und mehr über
    ihre Leute erfahren. In ein paar Wochen werden sie mich wahrscheinlich
    dorthin schicken, um von ihrem guten Schinken zu kaufen. Ich sehe dich dort.“

    „Ja“, dachte sie, „ich habe nur dieses eine Kind. Er ist jetzt ein Mann und er trifft seine eigenen Entscheidungen. Er hat sich zum Schein mit Schurken eingelassen, von denen jeder einzelne ihn leicht töten könnte, aber er ist klug und zäh, und er kann schweigen wie ich. Er glaubt an den Wert von Freundschaft, aber gerade jetzt weiß ich noch nicht mal, ob er noch lebt.“

    Grüße

    Gothic Girlie

    Hinweis zu Nutzungsrechten: die Inhalte und Charaktere dieser Geschichte sind von der Autorin nicht zu kommerzieller Nutzung freigegeben. Manche Inhalte und Charaktere sind Eigentum der Firmen, die auch die Nutzungsrechte für die Gothic-Teile inne haben.
    Geändert von MiMo (29.03.2017 um 17:54 Uhr)

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    Mythos Avatar von Gothic Girlie
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    Im Sklavenlager

    Der dicke Venuto lachte schallend und schlug Gero heftig auf die Schulter. Dann packte er unter viel Augenzwinkern, Hüftenschieben, Blicke-in-die-Runde-werfen und weiterem Gelächter die 30 Goldstücke weg, die er Gero gerade abgenommen hatte. Die Runde lache ebenfalls, haute ihm ebenfalls auf die Schulter und die andere, und verspottete Grünschnäbel, die wohl meinten, dass sie klüger seien, als die alten Hasen.

    Gero arbeitete nun schon seit neun Tagen für die Betreiber des Sklavenlagers, und er hasste jeden einzelnen. Andererseits war er seinem geheimen Ziel, das er seit fast zwei Jahren verfolgte, das erste Mal nahe gekommen, und so machte er gute Miene dazu, dass er jetzt wohl doch den Wegzoll des dicken Venuto hatte bezahlen müssen.
    Ihm neun Tage ausgewichen zu sein, war vielleicht nicht soo schlecht, und hatte ihm die Gelegenheit verschafft, den Rest seines Goldes sicher zu verstauen.

    Knappe zwei Jahre hatte er mit seiner Mutter auf dem Hof gelebt, wo sie nach der schrecklichen Flucht aus Khorinis Aufnahme gefunden hatten. Schon bald war Gero öfter für Tage verschwunden, in denen er die Küstengegend erkundete, unauffällig nach den Sklavenhändlern fragte, und immer weiter in Richtung Gebirge kam. Er suchte Jaru, seinen Freund, der damals verschleppt worden war. Nela wusste das. Sie hatte ihn bloß nach seiner ersten Rückkehr lange angeschaut und genickt. Auch die anderen auf dem Hof hatten wenig an seinen Ausflügen auszusetzen. Solange er nicht zur Erntezeit wegging und solange er Fleisch mitbrachte, wenn er zurück kam, oder Pilze, Heilpflanzen, Honig oder wertvolles Strandgut... war eben dies sein Beitrag zur Versorgung der Gemeinschaft.

    Gero war jetzt ein guter Bogenschütze. Er besaß inzwischen auch einen richtig guten Bogen. Und so konnte er sich dem Sklavenlager als Jäger anbieten, als er es vor etwa zwei Wochen in den Bergen fand. Sogar Jaru hatte er gesehen – es mußte Jaru sein – der magere Dunkelhaarige in dem besonders bewachten Bergloch, wo die Sklaventreiber ihn und zwei andere extra hielten.

    Das Lager lag in einem bitter riechenden, immer staubigen, kahlen Tal mit einer schlechten Quelle und wenig Schatten. Die Sklaven bauten irgendetwas ab – Gero hatte noch nicht ganz verstanden, wozu es gebraucht wurde. Sie benutzten ein südliche-Inseln-Wort dafür, das er nicht kannte. Es gab unterirdische Stollen, aber sie zerkleinerten auch die zu Tage geförderten Brocken und packten irgend etwas in kleine Fässer, die streng bewacht wurden.
    Die Wasserversorgung war schlecht. Man hätte sie verbessern können – nicht weit vom Talausgang floss ein frischer Bergbach - aber den Wachen war das zu viel Arbeit. So hieß es: Bier für die Treiber und Durst für die Sklaven. Gero versorgte das Lager mit Fleisch und Beeren. Aus diesen musste einer der Sklaven Schnaps brennen.

    Gero blickte in die Runde. Nach Venutos Erfolg standen immer noch ein paar Wachen um ihn herum und feixten. Aber irgendwie schienen sie ihn jetzt auch mehr als einen der ihren zu betrachten. „Wahrscheinlich haben noch mehr von ihnen 30 Goldstücke abgedrückt“, dachte er plötzlich. Er ging sein Fleisch abliefern, bekam seinen Lohn und kaufte sich gleich Pfeilspitzen dafür – die würde ihm niemand abnehmen, das wusste er. Den Rest des Nachmittags baute er Pfeile.

    In der Nähe der Hütte, die sie ihm zugewiesen hatten, fiel ihm plötzlich ein Kerl auf, den er noch nicht vorher gesehen hatte. Er war blass und groß und stark wie ein Ochse. Er blickte ein paar mal her, so als wolle er was, aber wisse nicht mehr, was. Dann kam er plötzlich an Geros Feuer, haute ihm auf die Schulter, und fragte, „Hey, Jäger, machst du mit mir ein Spielchen!?“
    Gero sah ihn an. Besonders klug war er wohl nicht. Aber er hatte auch nichts Unfreundliches, er war eher ungeschickt. „Ich habe bloß Pfeilspitzen“, sagte er. „Und wenn du die gewinnst, verlieren wir alle unser nächstes Abendessen.“
    „Ich bin Oleg. Ich gebe dir deinen ersten Einsatz“, bot er an. „Ich bin nicht oft hier im Hauptlager und gerade heute will ich Venuto und seine Bande nicht sehen.“
    „Du hast nicht zufällig heute 30 Goldstücke verloren“, fragte Gero.
    „Woher weisst du...“ fuhr Oleg auf. Gero grinste: „Wer noch alles?“
    Oleg holte sich ein Bier, einen Schnaps und ein Spiel, das auf einem Stück Baumstamm mit Löchern gespielt wurde. Er erklärte Gero die Regeln – vertat sich – erklärte sie nochmal und fing an, sehr schnell den Schnaps zu saufen. Gero spielte, so wie er es verstanden hatte – er wunderte sich ein bisschen, aber er schien sehr leicht gegen Oleg gewinnen zu können. Er setze die Hälfte von seinem Gewinn, und so ging es noch ein paar Runden, bis Oleg blitzeblau, er um 30 Gold reicher und der Mond am Aufgehen war.
    “Isch musch schurügg schu mein Poschtn.“ Oleg wirkte nicht, als könne er noch weiter laufen, und im Gebirge schon garnicht.
    „Wo ischn der ...Poschtn?“ Gero spielte auch ein bisschen besoffen und Oleg war so fertig, daß es ihm nicht auffiel, dass einer, der nur Wasser aus seinem Schlauch getrunken hatte, plötzlich lallte.
    „Schaeissaussschenlager, verdammich, nur ... die Schkavenärsche, die blosss Ä...ärger machn.“
    „Ich bring dich nach... Hausche, du bischt mein Fro...ind“, brummelte Gero.
    „Gu..ut. Haschu..nochn...Schnabss?“ wollte Oleg wissen. Gero gab ihm welchen, den er immer bei sich trug, um Wunden zu desinfizieren. Es war Wacholder, kein Beerenschnaps, und Oleg war schwer beindruckt.

    Dann begaben sie sich auf eine lange Reise. Als Gero das erste Mal alleine zum Aussenlager gefunden hatte, war es etwa in einer Viertelstunde erreichbar gewesen, aber Oleg erwies sich als schwer zu transportieren. Er schwankte, blieb stehen und schimpfte, fiel fast in die Schlucht, fing sich in letzter Sekunde und setzte sich dann, um erst mal noch einen Schluck zu trinken. Als Gero ihm aufhelfen wollte, rollten sie beide ein Stück den Weg hinunter. Als sie am Aussenlager ankamen, sah man im Osten das erste Sonnenlicht. Oleg hatte inzwischen Gero einen Großteil seines Weltbilds unterbreitet, und darin kam etwas vor, das er „den Göttern opfern“ nannte. Das hatte er dann getan. Mehrmals. Gero sehnte sich nach dem Wildbach auf der anderen Seite des Lagers. Sein Geist arbeitete fieberhaft. Wie konnte er die Situation für Jaru nutzen?

    „Wasch koschd einglich son Schklawe?“ fragte er Oleg.
    „Was willsn middem“, nuschelte Oleg.
    „Weis nich... mussich nimmer aabeidn.“
    „Die hier kannse nich kaufn. Die sinn Aufrührer, die hat der Chef extra einge...schpert.“
    Gero merkte, dass das Thema Oleg zu ernüchtern schien und lachte ein verrücktes Lachen, setzte sich hin und hielt sich vor Lachen den Bauch, bis er nach hinten kugelte. Oleg versuchte, ihm aufzuhelfen, was länger dauerte.

    Später kamen sie an einer Hütte des Aussenlagers an. „Ich bring den Dreggsäggen jedz iar Essn, dann kann ich Resd vom Dag schlafn.“ Oleg fummelte nach drei Holzschüsseln, die auf einem Sims standen, und füllte sie mit je einer Kelle undefinierbaren Breis aus einem kalten Kessel. „Ers die schwei Schmiedbrüder“, brabbelte er. Er stellte die Schüsseln auf ein Brett und wankte an den Wachen vorbei ins Lager. Zwei große, magere, grimmig aussehende Männer erhoben sich vom Talboden. Er reichte ihnen die Schüsseln und haute dem einen das Brett seitlich gegen Kopf. Die Brüder fuhren auf, aber die Wachen hatten schon die Schwerter gezogen. Einen Moment erstarrten alle, dann zogen sich die Brüder zurück. Oleg kam zu seiner Hütte. Er sah jetzt noch blasser aus, fast grün, und Gero befürchtete, er könnte einfach umkippen. Er nahm das Brett und stellte die letzte Schüssel darauf.
    Gero lachte: „Den hassd dus gegebn“, er nahm den Krug Wasser, der auf dem Tisch stand, zog laut Spucke hoch und spuckte hinein – oder er wollte hineinspucken, aber die Spucke landete auf dem Brett. Er lachte wild, grabschte nach einem Stück Fleisch auf dem Tisch, „würzte“ es mit Asche und steckte es wie einen Wegweiser in die Schüssel. Mit der anderen Hand haute er einen Apfel so auf das Brett, dass er ein ein paar Stücke zerplatzte, und steckte einen Tannenzapfen hinein. Oleg lachte. Ihm gefiel das Spiel. Aber er war inzwischen kaum noch fähig, etwas anderes zu tun. „Futter muss ssu Wache obn“ murmelte er, und fiel aufs Bett. Gero betrachtete ihn. Der war nicht zum Sklavenhalter geboren, der war ein Bauer, und das Lager machte ihn kaputt. „Wie hat Venuto einen Bär wie dich besiegen können?“ fragte er halblaut und vergaß, zu lallen. Oleg merkte nichts. „Weisnich, had ... Magie gemachd“, flüsterte Oleg und fing an, zu schnarchen.

    Gero steckte schnell noch ein paar Nüsse und Beeren unter den Brei, und einen kleinen Gegenstand. Er wischte die Spucke vom Brett und schüttete seinen letzten Heiltrank in den Krug. Dann nahm er ein Brot, hielt es kurz ins Feuer, bis es auf einer Seite etwas schwarz war und drehte diese Seite nach oben. Das legte er auch aufs Brett und ging die obere Wache suchen. „Oleg... äh, kann heute nicht“, begrüßte er den Posten. „Hier ist das Essen für den Sklaven.“ Der Posten musterte Gero, dann das Brett, dann noch mal Gero. „Hast du das von Oleg?“ fragte er.
    „Bitte, mach Oleg keinen Ärger“, bat Gero. „Venuto hat ihn ausgeplündert und er hat sich besoffen.“ Der Posten zögerte. „Ich geb dir 30 Gold, wenn du Oleg nicht anschwärzt.“ Gero hatte noch nie jemanden bestochen. Der Posten grinste. „Na, du weißt ja schon, wie`s hier läuft!“ sagte er. Er nahm das Brett und das Gold ging in einen Gang. Gero erwog, ihm zu folgen, da sah er an einem Schatten, dass noch eine zweite Wache im Raum war. Rasch ging er fort.

    Gero lief zum Bach, wusch sich, trank, soviel er konnte, ging durch das menschenleer wirkende Lager und legte sich auf das Bett in seiner Hütte. Beim Gedanken daran, Oleg das nächste Mal zu begegnen, wurde ihm übel. Ob der Posten den Mund halten würde? Und sein Kollege? An was sich Oleg wohl erinnerte, wenn er aufwachte? Irgendwann schlief er ein.

    Ein unsanfter Knuff riß ihn aus dem Schlaf. „Aufwachen, Schlafmütze“, brüllte jemand in sein Ohr. „Pack dein Jagdgerümpel zusammen und sei in fünf Minuten am Tor!“
    „Wassis“, kam bloß von Gero.
    „Wir bringen heute die Fässer weg und dieser Herr Saufnase ist unser Begleitschutz.“ In seiner Hütte rumorte Faid, einer der schwer bewaffneten Oberwachen. „Vielleicht sollte ich meinen Plan noch mal überdenken, du siehst aus, als sollten wir dich auch in ein Fass packen. Mit viel Stroh drumrum vielleicht? Und mit Deckel drauf, damit´s schön dunkel ist?“ Gero fiel alles wieder ein. Solange sie glaubten, er sei betrunken gewesen, war alles gut. Und der Ausflug würde ihn etwas von Oleg entfernen. Er brummte ein bisschen, stand absichtlich ungeschickt auf, packte Bogen und Pfeile, ließ die Pfeile aus dem Köcher gleiten, stöhnte, und sammelte sie wieder ein. Bis dahin war Faid weitergestürmt.

    Am Tor stand Faid mit zwei normalen Wachen und einigen der Arbeitern, die keine Sklaven waren. Diese mussten nur arbeiten, wenn die Fässer weggebracht wurden, und waren entsprechend schlecht gelaunt. Faid erklärte ihm, wie es weiter ging: die Fässer würden mit einer Seilbahn ins Tal gebracht und dort auf Flöße geladen. Weiter unten sei ein Dorf mit einem Lagerhaus, dort übernähmen andere die Fässer. Seine Aufgabe sei es, auf alles zu schießen, das sich der Seilbahn, den Flößen oder den Fässern nähere. Um die Seilbahn herum seien die üblichen Verdächtigen kleine braune Wichte, auf dem Fluß hätten sie öfter grüne schuppige Haut und im Dorf Kapuzen trotz heißer Sonne. Was das Schießen auf Dorfbewohner betraf, war sich Gero nicht sicher, ob selbiges stattfinden würde, aber er nickte und biss in seinen Apfel. Die Seilbahn kannte er: so war er auf das Lager gestoßen. Den Rest des Tages lief er unter der Seilbahn hin und her, aber er schoss nichts, außer ein paar Wölfen. Abends schliefen sie in der Nähe der fertig gepackten Flöße unter einem Zelttuch. Faid hatte gute Laune, er sang und erzählte Geschichten von Tavernen mit leckerem Schinken und erfolgreichen Raubzügen. Der Überfall auf Jaru und Mineti war nicht dabei.

    Der nächste Tag verlief nicht ganz so erlebnisarm. Einer der flößenden Arbeiter fiel ins Wasser, und sofort waren drei von den genannten Viechern da. Jaru erschoss zwei, bevor sie den Mann erreichten, aber das dritte verletzte diesen schwer, bevor Faid es töten konnte. Der Mann wurde verbunden und auf die Ladung gebettet, aber er stöhnte viel und starb gegen Nachmittag. Sie begruben ihn ohne Zeremoniell am Ufer und fuhren weiter.

    Das Dorf war von einer Palisade umgeben. Das Lagerhaus war ein festes Gebäude aus Stein. Gero zog ein grimmiges Gesicht, während er, Faid und die anderen Sklaventreiber das Ausladen überwachten. Gestalten mit Kapuzen blieben zuhause. Am frühen Abend kam ein Mann, der eine ähnliche Rüstung wie Faid trug, nur war er helmlos und trug dafür einen Samtumhang. Die beiden verschwanden im Lagerhaus.
    Korl und Benn waren die Namen der beiden anderen aus dem Lager. Sie schleppten Gero erst in eine Taverne, und später zu einer Wiese nahe der Palisade, wo eine Art Arena war. Korl kämpfte gegen einen jungen Schwarzen und gewann knapp. Benn maß sich mit einem der anderen Dörfler im Armbrustschießen und gewann um Längen. Und dann kam plötzlich ein langer Kerl mit einem abgestoßenen Schild und forderte Gero heraus.

    Gero hatte noch nie gegen einen Mann mit Schild gekämpft. Genau genommen, hatte er bisher nur gerungen, mit Fäusten gekämpft und gejagt. Er hatte noch nicht mal ein Schwert!
    Ratlos sah er sich nach einer Waffe um. Am Rand des Platzes lag Holz zum Trocknen. Daraus suchte er sich einen dicken Ast, der noch nicht zu trocken war und schnitt ihn kurz hinter einer Astgabelung ab, sodass er vorne dicker als hinten war. Der andere hatte ein Schwert, aber Gero sah Rostflecken, und das machte ihm Mut. „Der größte Held des Dorfes ist der eher nicht“, dachte er.
    „He, du“, schrie er. „Sind deine Knochen genauso rostig wie dein Schwert, oder hat dich die Feigheit übermannt!“ Der Lange bekam einen roten Kopf und griff an. Als er ausholte, drehte er den Schild weg. Gero schlug ihm mit dem Ast so fest von innen gegen den Daumen und die Finger, daß der andere aufheulend das Schwert fallen ließ. Aber er fasste sich schneller, als Gero erwartet hatte, griff den Schild mit beiden Händen am verstärkten Rand, täuschte einen Tritt an, und versuchte, Gero den Schild auf den Kopf zu schmettern. Gero wich aus, und als das Gewicht des Schildes den Langen weiter nach unten zog, als dieser wohl gewollt hatte, haute er ihm den Ast gegen den Kopf. Der Lange ging zu Boden und Benn und Korl jubelten Gero zu. Gero hob das Schwert vom Boden auf. Er ging auf den Besiegten zu – eigentlich eher, um zu sehen, ob der wieder zu sich kam, aber sofort traten Dorfbewohner dazwischen. Gero hob das Schwert: „Ich nehme das Schwert als Siegerpreis!“ rief er. „Nimm das Schwert und verschwinde!“ schrie ein älterer Bauer und schwenkte drohend einen alten Speer. „Was soll das – er hat mich herausgefordert!“ schrie Gero. „So wie ich jetzt“, kam eine Stimme von hinten.

    Gero wirbelte herum. Der zweite Gegner stand ruhig etwa vier Meter von ihm entfernt, ein älterer Mann mit einem Kurzschwert. Gero kannte ihn, er war vom Hof, auf dem er lebte. Marik. Nur hatte er dort noch nie ein Schwert an ihm gesehen. Ihm wurde schwindelig. Das letzte, was er jetzt wollte, war, seine beiden Leben zu vermischen. Er atmete heftig. Er war immer noch aufgeregt vom Kampf vorher, und er hatte nicht viel Lust auf diesen weiteren Kampf. Gero hielt das alte Schwert wie eine schräge Barriere vor seinen Körper. Es war ihm schon jetzt zu schwer. Er wusste, er würde damit nie so schnell reagieren können, wie er vorhin mit dem Ast reagiert hatte. Als der Alte ihn angriff, warf er es in Richtung seines Gesichts, und ergriff – während der andere auswich – die Schwerthand des anderen auf dessen Fingern. Dann wendete er einen Ringergriff an und warf ihn zu Boden. Dabei blieb das Schwert in Geros Hand zurück.

    Marik war schneller wieder auf den Beinen als Gero erwartet hatte, aber er lächelte. „Du bist nicht schlecht, junger Fremder.“ Gero war erleichtert. Aus irgendeinem Grund spielte Marik mit. „Der Kampf gehört dir, aber mein Schwert hätte ich gerne wieder. Es begleitet mich jetzt schon so viele Jahre, ich würde mich ungern umgewöhnen.“
    „Warum sollte ich es dir wiedergeben?“
    „Ich gebe dir Gold dafür, wenn du mich zu dem Haus begleitest, wo ich lebe.“
    Gero nickte. „Einverstanden.“

    Später im Haus kritzelte Gero schnell eine Nachricht für seine Mutter, während er Marik flüsternd ein paar Erklärungen gab. Er konnte nur kurz bleiben, weil Korl und Benn darauf bestanden hatten, ihn zu dem Haus zu begleiten. Marik gab ihm tatsächlich etwas Gold. „Pass auf dich auf.“
    Gero nickte. Das Sprechen fiel ihm schwer. „Ein gutes Schwert hast Du da, Alter“, schrie Gero von draussen ins Haus zurück. Korl gab ihm das rostige Schwert vom ersten Kampf, das er aufgehoben hatte. „Besser als keins, und es hat eine höhere Reichweite. Vielleicht zeigt dir Faid jetzt ein paar Kniffe, nachdem du gezeigt hast, dass du sie wert bist.“

    Sie gingen zurück zum Lagerhaus. Faid wartete schon, aber als ihm Korl und Benn das Geschehene erzählten, grinste er erfreut. „Gute Leute können wir brauchen. Du hast auch auf der Reise gut reagiert. Wenn du möchtest, zeige ich dir, wie man mit dem Schwert kämpft.“
    „Ja, gerne,“ sagte Gero. „Wie kriegt man eigentlich den Rost ab?“
    „Ich sehe schon, du denkst auch richtig.“ Gero wurde das Herz schwer. In einem anderen Leben hätte er mit den Dreien gut auskommen können. Aber so standen Mineti und Jaru zwischen ihnen.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (19.08.2012 um 22:03 Uhr)

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    Wasser

    Alles hatte damit begonnen, dass Jaru einen Geruch erkannte.

    Jaru lag auf der Pritsche und öffnete langsam die Augen. Er war bereits daran gewöhnt, daß der Durst und die Austrocknung bewirkten, dass er ein paarmal zwinkern musste, bis er klar sehen konnte. Durch das kleine Fenster kurz unterhalb der Decke sah er ein kleines Stück eines perfekten Sonnenuntergangs, Vorbote eines weiteren heißen Tages. Die Zelle war erfüllt von einem roten Glühen.

    Jaru hatte nichts Kindliches mehr. Seine dünne Gestalt war jetzt mittelgroß, und seine Schultern hatten begonnen, sich zu weiten. Ihm war ein dünner, dunkler Bart gewachsen, der sein Gesicht spitz erscheinen ließ. Er war dunkel geworden - braun gebrannt von der gnadenlosen Sonne - und seine dunklen starken Brauen und sein ernster Gesichtsausdruck bewirkten, dass er älter wirkte – und bitter.

    Er verlor den Fokus und seine Gedanken wanderten – zurück zu diesem Tag, als mal wieder sein ganzes bisheriges Leben zusammengebrochen war.

    Wasser. All sein Denken hatte darum gekreist, seit er das erste Mal in diesem Tal erwachte. Nie war genug Wasser da, dass sich alle satt trinken konnten. Die Wachen verteilten Wasser beim Abliefern einer Schute. Dann ging es zurück in den Schacht – und die Zeit, bis die nächste Schute gefüllt war, erschien ihm jedes Mal wie eine Ewigkeit.

    Für die an der Ramme war es noch härter, da sie in der Sonne arbeiteten – es sei denn, es regnete, aber das war hier nicht oft der Fall. So hatte es nach einem sehr vernünftigen Plan geklungen, einen Teil der Arbeitskraft der Sklaven dafür einzusetzen, eine neue Quelle zu erschließen. Jaru hatte den Geruch des Stoffes erkannt, den sie abbauten, und er wusste als einziger der Gefangenen, was man damit tun konnte.

    Die Substanz in den Fässern

    Seine Gedanken wanderten weiter. Er war noch ein Kind, und er fuhr mit seinem Vater auf einem Kriegsschiff der Paladine. Sein Vater war Händler und auf die Waren spezialisiert, die die Paladine kauften. So ergab es sich, dass er auch öfter auf ihren Schiffen mitfuhr. In diesem Jahr grassierte ein Fieber in Ardea, wo die Familie sonst lebte. So nahm er seinen Sohn kurzerhand als Schiffsjungen mit.
    Jaru war streng genommen zu jung dafür. Er fügte sich in die Disziplin, wo es klare Anweisungen und Aufgaben gab, aber in der restlichen Zeit stöberte er irgendwo im Schiff herum, spielte mit den Sachen, die er fand, und lebte in einer Traumwelt, in der er ebenfalls ein Paladin war, und alle vor seinem Schwert zitterten.
    Und so hatte er eines Tages mit einem Stück abgebrochenem Zundereisen gespielt, in der Kammer mit den kleinen Fässern, die so komisch rochen.
    Und ausgerechnet Ingmar kam vorbei und sah ihn. Im selben Moment war Jaru klar, daß er einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Ingmar war schneller bei ihm, als er es dem großen Mann in der schweren Rüstung zugetraut hätte, und nahm ihm das Eisen aus der Hand. Dann setzte er an, und Jaru erwartete mindestens eine Standpauke. Aber der Ritter atmete ein, atmete aus, und sagte dann ruhig: „Jaru, du hast einen Fehler gemacht. Aber ich möchte, dass du das selbst verstehst. Geh jetzt aufs Deck, und frage nach einer Arbeit. Heute Nachmittag werde ich dir etwas zeigen.“
    Jaru lernte Eimer dichten von Jannis, einem der Maate. Und es kam ihm vor, als hätte er bis nachmittags etwa 200 davon dicht bekommen, die Hälfte davon zweimal, weil sie komischerweise bei Jannis wieder leckten, obwohl Jaru sie für dicht befunden hatte. Ihm war heiß, und der Geruch von Teer schien an ihm zu kleben.
    Dann kamen Ingmar, ein weiterer Paladin, und zwei der Matrosen. Sie brachten eine Steinplatte, eine Mühle, eine Reihe von Mörsern und Fässern nach oben. Zuletzt stellten sie ein Sonnensegel auf, so dass der Arbeitsplatz im Schatten lag und vom Rest des Decks nicht eingesehen werden konnte. Die anderen gingen wieder. Und dann begann Ingmar zu sprechen. Er erzählte ihm von den Orkkriegen, von den hohen Verlusten, und davon, wie wichtig es war, bei allem Tun die Konsequenzen zu bedenken. Er erzählte, wie es manchmal kam, dass die Unachtsamkeit einer Person die anderen in Bedrängnis brachte, und wie es vorkommen konnte, dass durch einen einzelnen, der im richtigen Moment das richtig tat, viele gerettet wurden. „Die Geschehnisse in der Welt sind miteinander verbunden, und deshalb möchte ich, dass auch du dich mit dieser Welt verbindest. Aus diesem Grund zeige ich dir heute, wie sehr einfache Dinge eine große Wirkung haben können.“

    Er grub etwas von der Substanz aus dem kleinen Fass und legte es auf eine Ecke der Steinplatte. Dann mahlte er noch andere Substanzen in in einem Mörser und fügte sie dazu. Es war immer noch ein sehr kleines Häuflein. Zum Schluss nahm er Jarus abgebrochens Stück Zundereisen, rieb es darüber an an einem Barren Rohstahl und trat schnell zurück. Funken fielen hinunter und plötzlich gab es ein lautes Zischen und eine Stichflamme, so hoch wie Jaru.
    Ingmar wandte sich zu Jaru, der ihn erschrocken anstarrte: „Das war jetzt eine kleine Menge und an Deck konnte die Flamme einfach verpuffen. Mit der großen Menge in den Fässern und in der engen Kammer, hätte es das Schiff zerrissen und uns alle getötet. Dies ist ein Kriegsschiff, Jaru. Du hast bisher nur noch nicht viel vom Krieg gesehen. Aber der Krieg ist hier, in diesen Fässern, in dem, was wir tun. Es ist wichtig, dass es richtig getan wird, Jaru. Wirst du in Zukunft achtsamer sein?“ Jaru nickte. Ingmar zog die Brauen hoch und sah ihn weiter an. „Ja,“ sagte Jaru. „Dann geh zurück an Deine Arbeit und erinnere Dich an diesen Tag.“

    Ingmar werkelte noch bis Sonnenuntergang hinter seinem Sonnensegel und ein paar Stunden später setzen sie einen Trupp Paladine an der Küste ab. Ingmar fuhr mit ihnen im Beiboot und übergab ihnen an Land etwas. Danach kam er zurück und das Schiff fuhr weiter. Die Paladine sah Jaru nicht wieder.

    Jaru hatte sich schrecklich geschämt. Ein paar Tage tat er alles, was ihm aufgetragen wurde, mit großem Ernst und sah in der restlichen Zeit schweigend den Matrosen und Paladinen zu. Bis Mikal, der andere Schiffsjunge, ein faules Ei in der Kombüse fand und sie damit in den Ausguck kletterten und dort oben warteten, bis einer der Matrosen darunter durchlief... Das Ei hatte übrigens nicht getroffen, aber das war eine andere Geschichte.

    So hatte er im Lager als einziger Sklave gewusst, was der Substanz in den Fässern für eine Kraft innewohnte, auch wenn ihm inzwischen klar war, dass Ingmar ihn ein bisschen reingelegt hatte und die eigentlich wirksame Substanz die Mischung gewesen war. Die Mischung hatte er zwar vor Jarus Augen hergestellt, ihm aber weder die Zutaten, noch das Mischungsverhältnis erklärt. Jaru fragte Jahre später seinen Vater danach, und der nannte ihm drei davon, sprach davon, wo man welche der Ingredenzien am besten erwarb, was ein guter Preis dafür war, wie man die Qualität beurteilte, und was bei der Lagerung zu beachten war. Die genaue Mischung kannte er nicht, wusste aber, dass es verschiedene gab, für verschiedene Zwecke.

    Eine Quelle für alle


    Jaru fragte unter den Sklaven nach ehemaligen Matrosen oder Soldaten, es waren aber keine dabei. Ein alter Buddler wollte wissen, warum er das wissen wolle. Jaru wich aus und fragte, ob es im Gestein des Tals kein Anzeichen für eine verborgene Quelle gäbe. Er erzälte von seinem Plan, diese für die Gefangenen freizulegen.

    Anzeichen für eine Quelle seien vorhanden, meinte der alte Buddler. Auf der halben Höhe der terrassenförmig abgetragenen Felswand gäbe es eine feuchte Stelle. Aber die Wachen würden nie erlauben, dass da jemand grübe, ohne dass sich das Ergebnis hinterher in Fässern verkaufen ließe. Ob man nicht von einem der Stollen sich von innen der Stelle nähern könne? Jaru beharrte. Da sei zu viel Fels abzutragen, das sei unmöglich zu schaffen neben der eingetriebenen Fördermenge. Da erzählte Jaru eine erfundene Geschichte, in der die ominöse Mischung vorkam. Der Alte wurde nachdenklich.

    Ein paar Tage später kam er auf Jaru zu mit zwei großen starken Männern im Schlepptau. Er stellte die beiden als Kolut und Berhan vor und sagte, sie seien Brüder und Schmiede, und könnten ihm vielleicht helfen, die Mischung zu finden, da beim Schmieden auch manchmal mit solchen Substanzen gearbeitet werde. Ab da arbeitete Jaru in ihrer Schicht und erzählte ihnen nach und nach alles, was er wusste.

    Die Brüder, Jaru und der Alte gingen nach Arbeitsende in unterschiedlichen Besetzungen heimlich in die Stollen zum experimentieren. Und eines Tages sagte ihm Berhan, alles sei fertig. Sie beratschlagten mit dem alten Buddler das weitere Vorgehen. An diesem Abend sah es gewittrig aus, und so wurde beschlossen, das Gewitter abzuwarten und die Ladung zu zünden, wenn niemand im Stollen war. Die Sklaven sollten sich am Tor herumdrücken, einen Streit fingieren und so die Wachen ablenken.

    Das Gewitter entwickelte sich großartig. Es gab einen Moment, als es direkt über dem Talkessel war. Da sah Jaru plötzlich Kolut aus dem Stollen flitzen. Und dann geschah sehr viel auf einmal. Zwei Blitze brachen herunter mit einem einzigen langen ohrenbetäubenden Krachen. Einer schlug in die Felswand ein und der andere in eine der Sklaven-Hütten. Die Felswand sah einen Moment aus, als sei sie von einem orange-farbenen Netz durchzogen. Dann brach die komplette Terrasse an dieser Stelle in den Talkessel und verschüttete den Stolleneingang. Im nächsten Moment war alles taghell erleuchtet. Die Hütte brannte lichterloh mit lautem Prasseln. Funken stoben auf – und im nächsten Moment ging ein Platzregen nieder. Alle Sklaven rannten in den Regen. Jeder versuchte, soviel Wasser, wie möglich aufzufangen. Noch Stunden danach sah man Männer an Stofffetzen saugen und an den Felsen lecken. Die Quelle blieb übrigens weiterhin irgendwo in der Felswand verschollen. Die Wachen kamen kurz, um nach den Fässern zu sehen, aber die standen unbeschadet im Unterstand. Nur die zusätzliche Plane fehlte.

    Es war die Plane, die indirekt zu ihrer Entdeckung führte. Zuerst hatten die Wachen wohl an einen Abrutsch aufgrund des Blitzeinschlags geglaubt. Der Stolleneingang wurde am nächsten Tag wieder ausgegraben und die Arbeit ging weiter. Die Plane blieb aber verschwunden, was Faid, einen der Oberwachen, ärgerte. Faid war keiner der üblichen faulen Banditen-Hänger. Er hatte normalerweise die Kontrolle über das, was er tat oder befehligte, und er befahl eine Durchsuchung. Und dann fanden sie in einem der Stollen die Reste der Experimente.

    Alle Gefangenen wurden auf halbe Ration gesetzt. Faid kündigte an, dass dieser Zustand andauern sollte, bis der Schuldige oder die Schuldigen bekannt seien. Alle, die zur Aufklärung beitrügen, sollten wieder die volle Ration bekommen.

    Die Vorbereitungen waren vor den Sklaven nicht völlig zu verbergen gewesen. Trotzdem wurden die Brüder, der Alte und Jaru nicht verraten. Allerdings verschlechterte sich der Zustand einiger Sklaven rapide. Manche waren schon so lange hier, dass sie keine Reserven mehr hatten. Da hielten es die Brüder nicht mehr aus. Sie hielten sich für unentbehrlich, weil sie die ganzen Werkzeuge herstellten und die Ramme reparierten. Sie stellten sich und nehmen alle Schuld auf sich. Sie wurden sofort in ein anderes Lager gebracht – und Jaru mit ihnen. Berhan und Kolut hatten ihn nicht verraten, aber die Wachen erinnerten sich, die drei oft zusammen gesehen zu haben. Der alte Buddler war ihnen nicht aufgefallen, er gehörte schon zum Tal, wie die grauen Felsen.

    Und seitdem war er hier. Das rote Glühen war einem schwachen lila Glanz gewichen. Es wurde kalt. Jaru fröstelte. Was war das für ein Kindertraum gewesen – Wasser für alle! Als ob die Wachen zugelassen hätten, dass eins ihrer Druckmittel aus ihrer Hand glitt! Das Schlimme war, dass der Plan in anderer Form sehr wohl hätte funktionieren können. Wenn sie ihre Bemühungen auf das Tor konzentriert hätten...

    Einen Moment kreiste er um den Punkt, warum Faid ihn wohl extra hielt. Und immer noch war er auf halber Ration. Wollte Faid genaueres wissen? Oder war er im Zweifel? Ob Jaru wohl irgendeine Chance hatte, je wieder ein normales Leben zu führen? Er wurde mit jedem Tag schwächer. Diesen Tag war er kaum aufgestanden. Dann verlor er sich in Bildern aus seiner Jugend: das Meer und grüne Landschaften. „Ich möchte im Wald sterben“, war das letzte, was er dachte, bevor er einschlief.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (19.08.2012 um 22:09 Uhr)

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    Frühstück

    Jaru fuhr erschreckt zusammen, als die Riegel an der Tür zurückknallten. Die Wache kam auf ihn zu, dann krachte etwas auf den Tisch. Rums – und die Tür war wieder zu. Jaru setzte sich mühsam auf. Ihm war schwindelig.

    Etwas roch anders als sonst. Irgendwie verbrannt – aber eindeutig nach Essen. Was auf dem Tisch stand, war nicht die übliche Hungerration. Er erhob sich. Auf dem Tisch sah er ein Brett mit mehreren Gegenständen. Ein Krug mit Wasser! Er stürzte sich auf ihn und trank. Das Wasser war kühl und schmeckte nach Kräutern. Als Kind hatte er manchmal so etwas bekommen, aber es war lange her. Er zwang sich, den Krug abzusetzen. Noch nie hatte er morgens gleich etwas zu trinken bekommen! Das bekam er normalerweise nach dem Essen, in derselben, nicht gespülten Schüssel, die kurze Zeit später wieder geholt wurde.
    Er schaute sich die Sachen auf dem Tisch an. Brot! Es war angebrannt, aber das war es, das so gut gerochen hatte! Er brach ein großes Stück ab und steckte es sich in den Mund. Mhm! Er versteckte sofort den Rest in seiner Jacke. Er kaute so lange auf dem Brot herum, wie es ging. Dann schluckte er und betrachtete den Rest. Die übliche Schüssel – aber mit Fleisch! Ein Apfel, wenn auch zermatscht. Er setzte sich. Es kam ihm vor, als habe jemand seine verworrenen Gedanken vom Tag zuvor gelesen, und wolle ihm zeigen, dass es noch nicht soweit war. Und die Schüssel war voller als sonst. Er fing mit Essen an, und zwang sich mehrmals, nicht alles sofort in sich hinein zu stopfen.

    Jaru fing an, zu überlegen. Was war die Erklärung hierfür? Würde Faid ihn ins andere Lager zurückbringen? Plötzlich stutzte er. In seinem Mund war ein stacheliger Gegenstand. Voller Ekel spuckte er ihn in seine Hand. Ein Tier? War das ganze ein derber Scherz der Wachen? Und dann wurde ihm ein zweites Mal schwindelig.

    Auf seiner Hand glitzerte Perlmutt: ein Angelhaken, aus einer Muschel geschnitzt. Die Erinnerungen stürzten auf Jaru ein.
    Das kleine Boot – die Flucht aus Khorinis – Gero, wie er diese Art Haken schnitzte, aus dicken Muscheln, die sie in einem Eimer an Bord fanden. Gero. Gero war hier!?! Und auf der anderen Seite der Riegel! Und er wusste, dass Jaru hier war!

    Jetzt war Jaru klar, dass er das Essen besser aufaß – bis auf das Brot vielleicht. Jedenfalls sollte dann alles aussehen, wie immer. Er kaute weiter. In dem Brei waren noch Nüsse und Beeren. Was für ein Festmahl! Zum ersten Mal seit Wochen war Jaru satt. Dann trank er das restliche Wasser – und fühlte sich danach stärker und ruhiger. Er stellte den Krug unter das Bett, wo man ihn nicht sofort sah. Dann legte sich wieder darauf, und tat, als schliefe er. Gero. Sein Freund.

    Die Wache kam und holte die Schüssel und das Brett. Kurze Zeit später brachte der Mann die Schüssel zurück, mit Wasser gefüllt. Jaru leerte es in den Krug und teilte es sich ein. Jaru dachte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder an seine Eltern. An seinen Vater, von einem Ork schwer verwundet, wie er langsam ins Fieber sank, bis er sie alle nicht mehr kannte. Und seine Mutter... er erlebte noch einmal, wie sie auf den Sklavenhändler zulief, der sie mit einem Streich fällte. Danach weinte er lange, aber seltsamerweise ging es ihm dann besser.
    Später stand er auf und bewegte Arme und Beine. Es waren Übungen, die Mineti, die so gerne getanzt hatte, ihn gelehrt hatte. Nach ihrem Tod war es ihm unmöglich gewesen, die Formen zu erinnern. Jetzt kamen sie zu ihm zurück und trösteten ihn.
    Er erwartete jede Minute, dass weitere Wunder geschähen. Es ging ihm so viel besser, er konnte die Untätigkeit kaum aushalten. Aber dann geschah wieder lange Tage nichts.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (11.05.2009 um 00:06 Uhr)

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    Ein Seil in der Nacht

    Gero erforschte nach seiner Rückkehr ins Lager systematisch die Umgebung und legte Vorräte in nahe gelegenen Höhlen an. Dies war nicht schwer: Für die Wachen war Essen nicht knapp.

    Außerdem erkundete er den Hang oberhalb des Extralagers. Jaru sah er nicht nochmal. Einmal – vor Olegs Besäufnis - hatte Faid Jaru eines Tages aus der Zelle geholt und war mit ihm ein paar Schritte die Talsohle hinauf und hinunter gegangen. Die Wachen hatten die beiden anderen Gefangenen zurückgehalten, die versuchten, sich auf Faid zu stürzen. Jaru hatte geschwankt und alle paar Schritte innegehalten. So hatte Gero ihn das erste Mal gesehen – und in diesem Zustand war an Flucht nicht zu denken.

    Wenn Jaru eine Chance haben sollte, musste er ihn regelmäßig versorgen. Und so kletterte er eines Nachts – es war ein windiger Neumond – an einem gestohlenen Seil vom oberen Hang auf das Gebäude, in dem Jaru eingeschlossen war. Er legte sich auf das Dach und streckte von oben den Kopf durchs Fenster. Jaru kletterte auf den Tisch. Er füllte mehrmals Jarus Krug aus einem mitgebrachten Wasserfässchen und reichte ihm Lebensmittel, die Jaru unter dem Bett verstaute. Morgen würde er ein besseres Versteck dafür schaffen. Dann sprachen sie lange miteinander.

    Gero erfuhr die Geschichte der gescheiterten Quellenfreilegung und einiges, das er so nicht erwartet hatte. So hatte sich die Versorgung der „Aufrührer“ um einiges verbessert, seit Oleg die Aufgabe übernommen hatte. Er verkochte zwar nur die Lebensmittel, die Faid ihm gab, aber er zweigte nichts davon ab, wie sein Vorgänger. Außerdem wurde das Essen wirklich jeden Tag gebracht. Gero erinnerte sich, wie Oleg selbst mit dem Kopf voller Schnaps als erstes an die Gefangenen gedacht hatte, sobald er ins Lager kam.

    Manchmal waren die Dinge anders, als sie aussahen.

    Jaru kündigte an, nur zusammen mit den Schmieden zu fliehen. Er fühlte sich verantwortlich, weil die Sache mit der Quelle seine Idee gewesen war. Gero gab ihm Recht: falls Jaru alleine floh, verlor Faid dermaßen das Gesicht, dass Gero keinen Vogelpilz für das Leben der Brüder gegeben hätte. Und zu viert konnten sie sich entweder aufteilen und die Verfolger damit ebenfalls verteilen, oder die beiden anderen, die noch stärker waren, konnten ihm helfen Jaru zu stützen. Wobei – er sah sich Jaru genau an – dem ging es schon besser. Seine Augen blitzten, und er war mühelos mehrmals auf den Tisch und hinunter geklettert.

    Zum Schluss schrieb Jaru eine Botschaft für Berhan und Kolut. Dann kletterte Gero zurück.

    In der nächsten Nacht kletterte er wieder mit Wasserfässchen und Lebensmitteln - diesmal zu den Brüdern. Sie verhielten sich sehr still. Das Eis brach erst, als er ihnen Jarus Botschaft gab. Dann bestürmten sie ihn mit Fragen. Sie waren sehr geknickt gewesen, als sie Jarus Zustand sahen, an dem Tag, als Faid ihn ihnen vorgeführt hatte. Und sie bestanden darauf, Oleg mitzunehmen. Da er ihnen das Essen selber bringen konnte, hatte er bei ihnen öfter schon eine saftige Vogelkeule oder ein Brot fallen gelassen. Er schlug sie dann immer, damit es keiner merkte.

    Die Brüder zeigten ihm zwei Stellen im Talkessel, die von den Wachen nicht eingesehen werden konnten. „Fiele“ dort öfter mal was zu Essen hin, könne er sich das Abseilen sparen. Gero war erleichtert, die nächtliche Kletterei war gefährlich, und wenn der Mond schien, kaum möglich.
    Und dann war um ein Haar alles vorbei.

    Einer der Wachen öffnete die Tür und schrie etwas in die Nacht. Von oben antworteten die Wachen von Jaru. Gero legte sich hinter den Brüdern auf den Boden. Das Seil schwankte im Wind. Für Geros verzweifelte Augen sah es aus, als sei es beleuchtet. Aber der Posten war wohl vom Lampenlicht geblendet. Er ging wieder hinein. Kurze Zeit später kamen die oberen Wachen mit ein paar Flaschen. „Gestern war Zahltag“, flüsterte Kolut. „Jetzt den Riegel bei Jaru öffnen!“ dachte Gero wild. Aber es war zu früh dafür. Wenn die Wachen öfter den Zahltag begossen, würde es andere Gelegenheiten geben.

    Ein paar Tage später vermisste Faid das Seil. Gero hatte es aus dem Häuschen genommen, wo die Ersatzteile für die Seilbahn lagerten: Bohlen, Rollen, und eben Seile. Da es dort mehrere Seile gab, hatte er nicht erwartet, dass jemand das Fehlen bemerkte. Er legte es auf das Transportbrett der Seilbahn selber, wo es auch beim Fässer-Wegbringen gelegen hatte, und dort wurde es gefunden. Ab da prägte er sich jedes Mal ein, wie es lag, und brachte es nach jedem Ausflug sofort zurück. Faid schien nichts zu merken.

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    Stadtluft

    Als der Ritter durch die Tür trat, wurde es im Raum einen Moment dunkel. Dann baute er sich vor ihr auf. Das schräge Sonnenlicht schien auf seine Rüstung und blendete Nela fast.
    „Berichte“, befahl er der Stadtwache.
    Die Wache platzte fast vor Wichtigkeit, und erzählte, wie Nela beim Diebstahl ertappt wurde. Nur hatte sie nichts gestohlen. Der Kerl hatte etwas gesehen, was er nicht wirklich verstand und sein kleines Hirn hatte für diese Fälle nur „Alarm“ für arme und „Ignorieren“ für reiche Leute zur Auswahl. Nela schämte sich, und das machte es ihr schwer, richtig zu denken. Noch nie war sie verhaftet, durchsucht und beschuldigt worden, eine Diebin zu sein.

    „Stimmt das?“, fragte der Ritter. „Nein“, sagte Nela und sah ihn an. Sie stand aufrecht vor ihm, und sie war fast so groß wie er. „Nein, und weiter?“ fragte der Paladin. „Wie erklärst Du das?“ Er hielt ihr einen Zipfel ihres eigenen Rockes unter die Nase. Zum Glück war der Rest ihres Rockes, wo er hingehörte. Aber auch so war die Situation unangenehm genug. Nela schwieg. Das Rockstück war der Teil des Saums mit dem Namen von Minetis Familie. „Du hast den Rock gestohlen“, sagte der Paladin. „So wie den Bogen und das Schwert. Warte, bis wir auch deren Besitzer finden. Das reicht dann fürs Hängen.“ „Den Rock habe ich gewebt. Der Bogen gehört mir. Das Schwert ist geliehen. Es gehört Marik, dem Bauer, bei dem ich arbeite. Du kannst ihn fragen,...Herr“, antwortete Nela fest. „Und wo ist dieser Marik?“ fragte der Ritter. Er kannte einen Marik, aber das brauchte dieses Weib nicht zu wissen. Er sah sich das Schwert genauer an. Das war wirklich Mariks Schwert, er hatte es ihm selbst aus der Waffenkammer geholt. „Marik lebt an der Küste auf einem Hof“, sagte Nela.

    „Talakaidis“, las der Paladin vor. Seine Stimme war hart. „Heißt Du so?“ Plötzlich spürte Nela eine heiße Welle seines Zorns. Es war wie eine heiße Nadel, sie zuckte zusammen und sah ihn an. Aber er war äußerlich ruhig.

    „Ich bin Nela, Bäuerin von einem Hof auf Khorinis. Der Name ist von einer Freundin. Wir sind zusammen aus Khorinis entkommen. Aber sie starb auf der Flucht, und ich bin hier, die Familie zu informieren. Ich kannte den Namen der Familie nicht, ihr Mann hieß anders. Und der Name klang mir fremd. Deshalb habe ich ihn in meinen Rock gestickt, damit ich ihn nicht vergesse.“

    „Ein bewaffnetes Bauernweib, das lesen kann!“ unterbrach die Wache höhnisch. „Du musst uns ja...“ „Du warst aufmerksam, geh wieder auf Deinen Posten“, unterbrach ihn der Ritter. Die Wache zögerte. „Jetzt.“ Sein Ton wurde schärfer. Als die Wache nicht sofort regierte, wurde die Haltung des Ritters einen Tick aufrechter. Die Wache grüßte, rannte durch die Tür, wobei er sich den Ellenbogen schlug, und trampelte die Treppe hinunter.

    Nela atmete auf. Aber der Ritter ließ ihr keine weitere Zeit, und fragte sie über Khorinis aus. Er unterbrach sie oft mit Fragen nach für sie unwichtigen Kleinigkeiten, wollte alles über die vorgelagerte Insel hören, stellte die Eroberung infrage, fragte vor allem nach den Paladinen und einem bestimmten Schiff.
    Nela gab Auskunft, so gut sie konnte. Erst jetzt fiel ihr so richtig auf, dass sie tatsächlich während ihres ganzen Aufenthalts in Khorinis nicht einen einzigen Paladin zu Gesicht bekommen hatte. Über das Schiff konnte sie ihm nur vom Hörensagen berichten, es sei gestohlen worden. Aber es hatte so unterschiedliche Gerüchte über die Beteiligten gegeben – Söldner, Feuer – UND Wassermagier wollten die Leute gesehen haben, manche sprachen sogar von Paladinen – dass der Ritter Nela gereizt unterbrach. Sie hob die Hände: „Ich weiss nichts über das Schiff, Herr. Ich weiß nur, dass dem Mann meiner Freundin ein Anteil gehört hat. Aber sie wussten genauso wenig darüber, wie es verschwand, wie ich.“

    Der Ritter wechselte das Thema. „Der Posten hat Dich gesehen, wie Du Bogen und Schwert unter Deinem Umhang verbargst. Als er Dich durchsuchen wollte, hast Du Dich gewehrt. Warum?“ Jetzt war es an Nela, zornig zu werden. Aber auch sie hatte sich unter Kontrolle. „Weil er respektlos war. Und am anderen Tor haben sie mich mit den Waffen nicht eingelassen. Deshalb habe ich sie verborgen.“

    „Wie ist der Name Deiner Freundin“, wollte der Ritter nach einer Pause wissen. Seine Stimme war leise. „Mineti“, sagte Nela.

    Er trat zum Fenster und stand dort eine ganze Weile. „Ich bin Ireg Talakaidis.“

    Erst nach einigen Atemzügen sprach er wieder. Nela hatte den Eindruck, dass es ihm nicht leicht fiel. „Mein Vater ist der Bruder Minetis´ Mutter. Mineti hat eine Zeitlang bei uns gewohnt.“ Er wandte sich wieder zu Nela um. „Komm heute Abend in das Haus meiner Familie. Es ist direkt gegenüber. Dort kannst Du uns erzählen, wie sie gestorben ist. Du kannst jetzt gehen.“

    Den Bogen und das Schwert gab er ihr nicht wieder.


    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (07.08.2012 um 09:40 Uhr)

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    Ausbruch

    Gero versuchte Oleg zu treffen, wann immer es ihm beiläufig möglich erschien. So ging er oft, wenn er vom Jagen kam, über das obere Lager und den Weg, den er Oleg damals nach Hause geschafft hatte. Manchmal hielt er ein Schwätzchen mit den Wachen, gab ihnen was vom Fleisch ab, und ging danach kurz in Olegs Hütte, um dasselbe zu tun. Oder er forderte Oleg zu einem Spielchen auf, wenn der im Hauptlager war.

    Er achtete darauf, dass andere sehen konnten, was sie taten, und dass es kurze, freundliche Begegnungen waren. Oleg war dankbar. Er schien wirklich ziemlich einsam zu sein. Und eines Tages begegneten sie sich auf dem Weg zwischen den Lagern, und niemand war in der Nähe.

    Beide blieben stehen. Gero war etwas verlegen, er dachte an das Besäufnis und wie er Oleg reingelegt hatte. Oleg sah ihn einfach nur an. „Weißt Du, dass Krawid mich erpresst, seit Du ihn damals bestochen hast?“ Krawid war die Wache vor Jarus Zelle.
    „Woher weißt Du...“ fuhr Jaru auf. „Von Krawid.“ Oleg blickte Gero mit gerunzelten Brauen ins Gesicht.
    Gero sah zu Boden. „Ich hatte keine Ahnung, Oleg. Ich habe gedacht, Du bist jemand anders. Ich meine, ich hab nicht gewusst, dass Du versuchst, den Gefangenen zu helfen.“ Jetzt war es heraus.
    Oleg schwieg eine ganze Weile.
    Gero fragte: „Warum gehst Du nicht weg hier? Du bist nicht wie die anderen Wachen. Du merkst es – und sie merken es – und eines Tages merkt es Faid. Dann bist Du schneller im Sklavenlager, als Venuto seinen Schnaps kippt.“
    „Ja. Ich denke darüber nach. Aber ich weiß nicht wirklich, wohin, Gero, und hier kann ich den Gefangenen helfen.“
    „Die nehmen wir mit“, sagte Gero.

    Oleg schwieg. „Wen? Alle Sklaven?“ „Kolut, Berhan, Jaru“, zählte Gero auf. „Ist das der Kleine? Den müssen wir tragen.“ Oleg spuckte in die Schlucht hinunter. „Nein“, sagte Gero mit Überzeugung. „Er ist nicht mehr so schwach. Er spielt das.“
    „Hast Du einen Plan?“ fragte Oleg. „Wenn die oberen Wachen wieder zusammen saufen, hole ich Jaru aus seiner Zelle und bringen ihn den Weg hinunter zum Bach. Dort versteckt er sich. Ich komme dann hoch, und helfe Dir mit den Wachen. Vielleicht können wir so tun, als ob wir mitsaufen wollen, und geben ihnen einen präparierten Schnaps aus. Wenn sie schlafen, holen wir die Brüder. Du nimmst mit den Brüdern die Seilbahn, da seid ihr schnell vom Lager weg. Ich gehe mit Jaru einen anderen Weg. Sie werden die Flucht erst morgens entdecken.“
    „War der Schnaps auch präpariert, den Du mir damals ausgegeben hast?“ grollte Oleg. „Nein“, sagte Gero fest.

    Oleg trat an den Rand der Schlucht und sah hinunter. Dann sah er hoch in den Himmel, über den Wald, Richtung Küste. Er lächelte, strecke sich. Dann wurde er wieder ernst. „Einverstanden, Gero.“ Er hielt ihm die Hand hin. Gero schlug ein.

    Natürlich kam alles ganz anders.

    Drei Tage später polterte Faid mal wieder im Morgengrauen in Geros Hütte. „Aufstehen! Mitkommen! Heute werden wir einen Wurm zappeln sehen!“ Er warf Gero eine Seilrolle zu. „Nimm die mit!“ Er lachte. Gero stand auf und nahm seine Waffen, eine Provianttasche und das Seil. Er folgte Faid. Faid ging ins obere Lager zu den Wachen. „Warte hier, und lerne“, er zwinkerte ihm zu und marschierte zu den Brüdern in den Talkessel. Er weckte sie mit Tritten und stieß sie herum. Dabei fragte er sie immer wieder etwas, aber Gero verstand nicht, was. Er zog sie an den Haaren, und schlug sie. Kolut und Berhan versuchten, sich zu schützen, aber sie wagten nicht, sich zu wehren. Die Wachen standen herum und lachten. So ging das eine Weile. Gero sah Oleg stehen, fassungslos, so wie er selber.

    Dann befahl Faid den Wachen, die Brüder zu Jarus Gefängnis zu bringen. Dort holten sie Jaru aus der Zelle, und sperrten stattdessen die Brüder ein. Jaru spielte großartig den erschöpften Gefangenen. Er schwankte, lehnte sich an die Wand, verdrehte die Augen, rutschte am Türrahmen herunter und fiel auf die Knie. Faid verlor die Geduld, und befahl den zwei unteren Wachen, ihn zwischen sich zu nehmen. Dann brüllte er die eine obere Wache an, ein Fass zu holen - „Beweg Deinen Arsch“ - und ihnen zu folgen. Einen Moment blieb Gero mit Krawid in dem Raum vor der Zelle zurück. Krawid wackelte mit den Augenbrauen und feixte Gero an. Er öffnete den Mund, etwas zu sagen. Gero hörte es nie, er schlug ihm im selben Moment sein Schwert in den Hals.
    Krawid fiel mit einem Gurgeln zu Boden. Da kam Oleg in den Raum. Gero wandte sich an ihn: „Der Plan startet heute. Euer Proviant und Waffen liegen unter den Flieder-Büschen rechts neben der Seilbahn. Hier ist das Seil zum Bremsen. Ihr geht los, sobald Faid Euch nicht mehr sehen kann.“ „Aber die anderen...“ „Faid plant, jemand zu hängen. Ich fürchte, es wird Jaru sein. Alle werden dort sein. Ich muss mich jetzt um Jaru kümmern. Haut ab – und Glück auf dem Weg.“ Gero wartete keine Antwort ab und rannte hinter Faid und den Wachen her.

    In Geros Magen war eine große Kälte. Sie standen auf dem Dreckhügel an der Palisade zum Sklavenlager. Dort war ein Ladekran, mit dem sonst die Fässer aus dem Lager gehoben wurden, ohne dass man das Tor öffnen musste. Unter dem Kran stand jetzt ein Fass. Auf dem Fass stand Faid und hielt eine Rede. Die Sklaven waren an der Palisade versammelt. Die Arbeiter und Wachen standen auf der anderen Seite der Palisade im Halbkreis um den Kran, das Fass und Jaru und seine beiden Wachen. Jetzt, wo die Sklaven ihn sehen konnten, hatte Jaru die „hilfloser-Gefangener-Nummer“ eingestellt. Er stand aufrecht zwischen den Wachen. Niemand fiel es so richtig auf. Alle blickten auf Faid.

    Faid erzählte etwas in der Art: „Die Mine wird laufen, mit oder ohne Euch“. Er machte einen Sabotageversuch aus der missglückten Quellenaktion und stellte die Schmiede als die Schuldigen dafür hin. „Nun ist es aber Euer Pech, dass wir die Schmiede brauchen. Deshalb wird heute ein anderer Gefangener hängen. Und jedes Mal, wo ich sehe, etwas gefällt mir nicht, wird ein Gefangener hängen. Ihr könnt das verhindern, indem Ihr dafür sorgt, dass mir das, was ich sehe, gefällt. Und jetzt vorwärts. Gero – das Seil.“ „Ich habe es oben liegen lassen – ich dachte, es sei, um ihn zu binden, und als das nicht nötig war...“ „Hol ein anderes, aber doppelt so schnell“, brüllte Faid ihn an.

    Gero stolperte weg. „Er weiß immer noch nicht, dass Jaru der Drahtzieher war“, dachte Gero. „Er hat ihn ausgesucht, weil er der Jüngste ist, und er will, dass die Sklaven Berhan und Kolut umso mehr hassen.“
    Sein Geist raste. Was konnte er für Jaru tun? Er konnte doch unmöglich die Wachen angreifen. Er würde das nicht überleben – und Jaru auch nicht. Er holte das Seil. Er gab es nicht aus der Hand, sondern kletterte selber auf den Kran.

    Er hatte erst einmal einen Menschen hängen sehen – damals, in Khorinis auf der Flucht. Die Stadtwachen hatten eine große und eine kleine Schlinge geknotet, die große über den Galgen geworfen und die kleine am aufrechten Galgenbalken an einem Haken eingehängt. Gero hatte beim Steigen auf den Kran die Drehbremse unauffällig gelöst. Jaru war der einzige, der ihm zusah, die anderen blickten immer noch auf Faid, der eine neue Rede begonnen hatte. Gero warf die Hälfte des Seils vom Kran und befestigte die Mitte des Seils am Kran – mit einem Knoten, den ihnen Jarus Vater in einem seiner lichten Momente gezeigt hatte. Da rannte Jaru zwischen seinen Wachen heraus, nahm Anlauf, ergriff das Seil und schwang sich in Richtung Palisade. Der Kran drehte. Jaru landete auf den Querstreben, die die Palisade oben zusammenhielten. Einen Fuß links auf der Strebe, einen Fuß rechts, die Spitzen der Palisade zwischen den Beinen, rannte er auf der Palisade entlang bis zu den Felsen am Taleingang. Dort stand niemand. Jaru sprang von der Palisade und rannte Richtung Bach. Nach wenigen Sprüngen war er zwischen Büschen verschwunden. In diesem Moment sirrte die Seilbahn. Dann warfen sich die Sklaven gegen das Tor.

    Faid brüllte Kommandos. Er behielt den Großteil der Wachen am Tor, unter dem Kommando von Tigral, einer anderen Oberwache. Dann sandte er Venuto und und einige andere zur Seilbahn. Zum Schluss winkte er Gero und dem Rest der Wachen, ihm zu folgen. „Er verdächtigt mich nicht“, dachte Gero, „Er hat nicht gesehen, was ich auf dem Kran getan habe.“

    Gero wusste, wohin Jaru fliehen würde. Er war zum Bach gerannt und würde im Bach bergaufwärts gehen, bis er irgendwann an eine Höhle käme, in der Gero Proviant versteckt hatte. So war es beschlossen worden, nachdem es Jaru zu riskant gefunden hatte, am Bach, wo doch öfter jemand vorbei kam, zu warten. Damals, als sie den tollen Plan besprochen hatten. Aber jetzt war alles anders, und Gero rannte hinter Faid zum Bach hinunter. In dem Moment, als sie ankamen, hörten sie lautes Gebrüll von Venutos Gruppe. Faid hielt sich nicht am Bach auf, sondern rannte links den Berg hinunter zur Seilbahn. Und da sah Gero die anderen drei auf der Platform stehen. Das Sirren war nicht ihre Abfahrt gewesen, sondern das Hochziehen des Bretts. Jemand hatte es unten gelassen, obwohl Faid das bestrafte. Jetzt wirkte sich der Fehler des anderen zu seinen Gunsten aus. Von allen Seiten rannten Wachen auf die Seilbahn zu. Da stiegen sie alle drei auf das Brett und stießen sich ab.

    Für so viel Gewicht war die Seilbahn nicht gebaut. Der Plan hatte vorgesehen, dass erst die Brüder, und dann der große, schwere Oleg die Seilbahn benützten. Das hätte auch den Vorteil gehabt, dass Oleg vielleicht einen Beobachter mit einem erfunden Auftrag belügen konnte, falls jemand nur ihn sah. Dafür war es jetzt zu spät. In rasender Fahrt fuhr das Brett zu Tal. Ausgeschlossen, zu bremsen. Die ganze Konstruktion vibrierte, und die Rollen kreischten. Das Brett flog in einer Kurve zu weit nach aussen und krachte gegen einen Träger. Der schwankte, aber die Bahn war schon weiter. Jetzt konnte Gero sie nicht mehr sehen. Aber er hörte mehr Kreischen, Sirren, Krachen, und Schreie. Dann klang es nach einem Erdrutsch. Offenbar fielen jetzt die Träger und die ganze Konstruktion polterte zu Tal. „Hoffentlich haben sie abspringen können“, dachte Gero verzweifelt. Er sah, wie das Seil schlaff wurde.

    Faid schickte Venutos Gruppe den Berg hinunter. Der Vorteil der kaputten Seilbahn war, dass die Wachen jetzt nicht auf diesem Weg folgen konnten. Gero wusste, dass sie in dem zerklüfteten Tal darunter nicht leicht vorwärts kommen würden. Und dann wandte sich Faid zum Bach um und betrachtete den Boden. „Da ist er!“ schrie Gero und rannte nach rechts in den Wald hinunter. Die anderen folgten ihm.

    Gero keuchte. Faid keuchte hinter ihm. Sie waren schräg die rechte Bergseite hinunter gerannt und waren auf einer Art Plateau gelandet, das tiefer als die Mine lag, aber den Rest des rechten Tals überblickte. Gero trat an den Rand. „Ich sehe ihn nicht mehr“, sagte er außer Atem zu Faid. Faid trat ebenfalls an den Rand. Die anderen Wachen waren noch nicht so weit, man hörte ihre Schritte auf dem Weg nach unten. Im Tal unten sah man Bäume.
    Faid blickte Gero an. Plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einer Fratze des Hass. Heiser zischte er: „Das wundert mich nicht. Er war nie hier. Er müsste was am Kopf haben, in diese Sackgasse zu laufen.“ Er kam auf Gero zu. Faid zog sein Schwert. „Du Verräterdrecksack! Was hast Du mit diesem Sklavenlumpen zu schaffen! Ich habe Dich gefördert!“ Gero trat von der Kante weg und ging Schritt für Schritt zurück, Faid fest im Auge. Der war zum Glück wirklich außer Atem. „Ich weiß nicht, was Du meinst...“ „Woher weiß er das plötzlich?“ dachte er. Seine Gedanken überschugen sich.
    „Du hast Blut auf der Tunika. Und ich wette, das ist nicht Dein Blut. Olegs Kleidung war sauber. Das habe ich gesehen. In welchem Zustand werden wir Krawid finden? Willst du mich zu ihm begleiten? Du Schwein! Du hast keine Ehre!“ Faid griff an. Gero wich aus. Faid war immer noch außer Atem. Geros Stimme war ein tiefes Grollen: „Was Du so von Ehre erzählst. Ihr überfallt Schiffbrüchige. Ihr tötet Frauen. Heute hättest Du um ein Haar ein Kind gehenkt. Aus Ratlosigkeit. Ihr seid das Letzte.“

    Und dann, als Faid wieder angriff, drehte er sich herum und spurtete den Hang hoch.

    Gothic Girlie
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    In den Bergen

    Gero kletterte in der Felswand über dem Sklavenlager, weil ihn die Wachen rechts davon auf der Höhe in die Enge getrieben hatten, und er gehofft hatte, dass ihm kletternd nicht viele folgen würden. Das war tatsächlich so, aber nun musste er schneller den Wald auf der linken Seite erreichen, als die Wachen durchs Tal laufen konnten. Im Moment sah es gut aus, obwohl sie ihn von rechts beschossen. Aber die Wachen waren nicht wirklich gut mit der Armbrust und die Felsen boten auch gute Deckung. Die Sklaven feuerten ihn an und beschimpften die Wachen. Als er genau über ihnen war, warf er seinen Proviantbeutel nach unten. Die Sklaven bedankten sich mit weiterem Gebrüll. Wenn er bis zur Dunkelheit überlebte, würde er sich zu einer seiner Vorratshöhlen durchschlagen. Bis dahin konnte er sowieso nichts essen.
    Er erreichte den linken Rand, zog sich hoch, spannte seinen Bogen und schlich in den Wald. So leise und so schnell er konnte, versuchte er, Distanz zum Lager zu gewinnen ohne in ein aufsteigendes Tal zu geraten, das eine Sackgasse war. Er hörte die Wachen, als sie diesen Teil des Waldes erreichten. Die meisten machten mehr Krach als ein Wildschwein. Trotzdem war er vorsichtig, und nutzte jede Deckung aus. So vermied er im letzten Moment Faid, der regungslos hinter einem Baum stand und lauschte. Gero wartete, bis die Wachen miteinander brüllten, dann zog er sich vorsichtig zurück und umschlich Faid weiträumig. Dieser Kerl war gefährlicher als der ganze Rest der Truppe. Er hatte etwas an sich, eine kalte, selbstverständliche Präzision, die nicht zu den anderen Sklavenlagerwachen passte. Zum Glück fing es an dunkel zu werden – zu dunkel zum Spurensuchen.
    Gero lief weiter vom Lager davon und erreichte eine seiner Höhlen. Er aß und trank etwas und ruhte sich aus. Dann bepackte er sich mit dem Rest und schlich zum Weg, der die Lager verband. Es erschien Wahnsinn, aber er rechnete damit, dass die Wachen ihn woanders wähnten. Als es ganz dunkel war, band er sich Lappen um die Schuhe und schlich den Weg entlang. Er begegnete niemandem. Er erreichte den Bach und lief in ihm bergaufwärts. Kurz vor dem Morgengrauen krabbelte er in die Höhle. Jaru schlief. Gero weckte ihn, und sie nahmen auch die Vorräte dieser Höhle mit.

    Sie kamen gut vorwärts. Das Tal war weit, von Felsen durchzogen und waldbewachsen genug, um viel Deckung zu bieten. Aber es gab nicht viel Unterholz, das sie behinderte. Sie trafen auf Vögel und Wölfe, die Gero schoss. Jaru kämpfte mit Geros Schwert gegen einen Wolf, und Gero war erstaunt, wie gut er war. Aber im Gegensatz zu Gero hatte Jaru schon als Kind Schwertunterricht bekommen.
    Jaru war voller Energie. Er gab das Tempo vor, und zwar ein schnelles. Anfangs kam Gero kaum mit, aber gegen Mittag zeigte es sich, dass Jaru noch immer nicht so viele Reserven hatte, und das Tempo wurde langsamer.
    Irgendwann kamen sie zur Quelle des Baches, an dem sie ganze Zeit entlanggegangen waren. Sie rasteten, füllten alle Flaschen und tranken, so viel sie konnten. Dann folgten sie weiter dem Tal.
    Gero hatte es gewählt, weil es ein unwahrscheinlicher Fluchtweg war. Normal wäre gewesen, so schnell wie möglich menschliche Behausungen und die Küste zu erreichen. Das war der Weg, den die anderen gehen würden, und es gab nur ein Boot am Steg unterhalb der Seilbahn. Gero hatte es verworfen, sich ohne Boot durch das Flusstal zu wagen. Dieses Tal führte Richtung Hauptstadt, und da lebte Jarus Familie.
    „Hast du nie überlegt, die Sklavenhändler mit dem Namen Deiner Familie zu erschrecken? Vielleicht hätten sie dich gegen Lösegeld freigegeben?“ fragte er Jaru.
    „Wer als Sklave die Mine betritt, hat keinen Namen mehr. Weißt du, ich glaube, dass das, was Faid und seine Jungs da treiben, in den Städten nicht unbedingt gern gesehen ist. Sie können nicht riskieren, dass es bekannt wird. Und was die Talakaidis betrifft: nein, ich habe nicht daran gedacht. Ich bin zwar hier geboren, aber ich kenne sie nicht wirklich. Wir haben immer in Ardea gelebt, beim Vater meiner Mutter.“
    „Wenn das stimmt, was du über die Mine sagst, können sie nicht riskieren, dass wir entkommen“, sagte Gero.
    „Nein“, Jaru sah zurück. „Sobald sie die Spuren erkennen können, werden sie uns folgen. Aber sie kommen dabei weniger schnell vorwärts als wir.“ Sie pflückten ein paar Beeren und gingen rasch weiter. Und dann standen sie am späten Nachmittag vor einer Höhle, die das Ende des Tals war.
    „Dieses Tal ist eine verdammte Sackgasse!“ Jaru trat gegen einen Felsen. Gero schlich auf die Höhle zu. Sie roch komisch. Am Höhlenausgang wuchsen blaue Blumen, die aussahen wie eine zur Kralle geformte Hand. Er erwog kurz, sie zu pflücken, aber dann schalt er sich einen Narren. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass hier was lebt, was ich noch nicht gejagt habe.“ „Du meinst den Geruch.“ „Ja.“ „Meinst du, hinter der Höhle geht das Tal weiter?“ „Wenn du dir die Form der Berge anschaust, sieht es so aus.“ „Berge wären mir im Moment lieber.“ „Dann versuchen wir es mit klettern.“ „Ja.“

    Bis die Dunkelheit einbrach, hatten sie tatsächlich den Berg überklettert, unter dem die Höhle lag. Das Tal ging dahinter weiter. Es war steinig, aber dafür gab es wieder einen Bach, der von der anderen Seite in die umgangene Höhle floss. Sie rasteten kurz und tranken. Der Mond ging auf.
    „Wie siehts aus – gehen wir noch ein Stück weiter?“ fragte Gero. Er sah, dass Jaru jetzt wirklich erschöpft war. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen und stolperte öfter. „Wir können schlecht mitten im Tal schlafen.“
    „Nein.“
    „Also laufen wir bis zur nächsten Höhle?“
    „In der dann wieder was lebt, was wir nicht kennen? Das sollten wir ausgeruht angehen.“
    „Wir gehen einfach weiter, bis wir was finden, das etwas mehr Schutz zum Schlafen bietet – vielleicht ein Felsüberhang, oder so was.“
    „Gut.“
    „Wir können langsamer gehen.“
    „Ja.“

    Vor der nächsten Höhle lagen drei riesige Steine, auf denen ein verkrüppelter Baum wuchs. Gero erkundete den Höhleneingang, aber er roch, sah oder hörte nichts. Sie kletterten auf die Steine. Dort legten sie sich zum Schlafen hin. Sie wachten nicht abwechseld. Sie waren beide zu müde und wollten vor dem Morgengrauen weiter. Wölfe würden sie hier nicht erreichen.

    Gero erwachte von einem Vogelschrei in der Nähe. Es war kalt, und er sah einen helleren Schimmer am Himmel hinter den Bergen. Er weckte Jaru und sie aßen und tranken etwas. Dann kletterten sie vom Felsen. Jaru entzündete eine Fackel und nahm Geros Schwert in die andere Hand. Gero nahm seinen Bogen und zwei Pfeile. Dann gingen sie in die Höhle. Der vordere Teil war leer. Sie fanden ein Skelett mit einem guten Degen und ein paar Heiltränken. Jaru probierte den Degen aus, und gab dann Gero sein Schwert wieder. Sie sprachen nicht, aber sie dachten dasselbe: es war keine gute Neuigkeit, dass jemand mit einem guten Degen und ausreichend Heiltränken hier gestorben war.

    Hinten an der Wand gab es einen gewundenen Gang. Sie schlichen ihn entlang. Und dann war das Viech über ihnen. Es kreischte und grunzte, und es war sehr stark. Es war borstig und hatte schleimtropfende Hauer, mit denen es versuchte, sie zu erreichen. Gero wich langsam in den Gang zurück und verschoss Pfeil auf Pfeil. Jaru blieb an seiner Seite und hieb auf es ein, wenn es ihnen zu nahe kam. Bevor es endlich fiel, sahen sie noch ein zweites dahinter auftauchen, und ein drittes. Das zweite konnten sie mit derselben Taktik ebenfalls im Gang besiegen. Aber für das dritte reichten Geros Pfeile nicht mehr, und es kam ihnen näher, während er sein Schwert zog. Sie griffen es von zwei Seiten an, und das Viech versuchte erst, Gero zu beißen. Jaru sprang vor, und das Viech wandte sich ihm zu. Jetzt schrie Gero, und stieß ihm das Schwert in die Seite. Aber das Ding ging immer noch nicht zu Boden. Es ignorierte Gero und drängte Jaru an die Felswand. Gero schnitt ihm die Beinsehnen durch, aber es konnte Jaru immer noch erreichen. Da sprang Gero über das Viech und stach ihm in den Hals. Endlich fiel es um und regte sich nicht mehr. Gero wandte sich zu Jaru. Die Fackel lag neben ihm, und er war verletzt. Gero verband ihn und gab ihm Heiltränke, aber irgendwas war mit Jaru geschehen. Er schien nicht ganz bei sich zu sein. Seine Augen erschienen riesig groß und er keuchte. Er stand auf und ging den Gang entlang, aber alle paar Schritte hielt er inne. Gero sammelte die Pfeile auf, die sich noch verwenden ließen und sie durchquerten die Höhle. Im hinteren Teil gab es ein paar Molerats, die er wegen dem Fleisch schlachtete. Dann machten sie ein Feuer und brieten es.
    Die Höhle war nach dem Molerat-Teil wieder zu Ende, und das Tal öffnete sich zu einem Hochplateau. Sie erkundeten es verzweifelt: aber an allen Seiten fielen die Felswände steil ab. Die Sonne ging auf, und sie konnten in der Ferne eine Stadt sehen. Sie gingen in diese Richtung an den Abbruch und sahen hinunter: Da war ein kleines Tal mit einem See. Der See entstand aus einem Wasserfall, der irgendwo in der Mitte der Felswand entsprang.

    Jaru war immer noch in diesem merkwürdigen Zustand. Gero sprach ihn an, aber Jaru murmelte nur etwas. Und dann hörten sie die Wachen in der Höhle.

    Bis ans Ende seines Lebens wunderte er sich, wie schnell die Wachen ihnen gefolgt waren. Es war, als habe Faid einen sechsten Sinn dafür, wie Gero dachte. Und sie hatten sich wahrscheinlich nicht mit Klettereien aufgehalten, sobald sie sich sicher waren, dass die Flüchtenden vor ihnen in dem Tal waren.

    Gero sah Jaru an. Der stand noch am Abbruch und seine Augen waren jetzt klar. Er hatte sich ganz aufgerichtet, und sah zurück. Er hatte plötzlich einen so entschlossenen Ausdruck, wie Gero noch nie an ihm gesehen hatte. Dann hob er die Arme in einem unendlich eleganten Schwung – und sprang. Gero fühlte sich, als hätte ihm jemand einen Schlag in den Bauch versetzt. Er kämpfte um Luft und stürzte an den Rand. Einen Moment erschien Jaru wie ein menschlicher Vogel, bevor er ewig fiel. Gero sah wild zurück. In wenigen Sekunden kämen die Wachen aus der Höhle. Unten im See schwamm etwas wie ein kleiner brauner Frosch an den Rand und versteckte sich im Gebüsch. Gero überwand seine Starre und sprang hinterher.


    Gothic Girlie
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    Marlan

    Marlan zählte bis dreißig, ehe sie die nächste Zutat dazu kippte und umrührte. Gleichzeitig zählte sie für den Trank auf der anderen Seite mehrmals bis zehn, warf eine Beere hinein, zählte wieder bis zehn, warf eine weitere Beere hinein, und das ganze genau 23 Mal. Sie arbeitete mit sparsamen Bewegungen und dachte dabei an ihr Gemüsebeet, und ob sie riskieren konnte, die Zwiebeln weiter an die Hecke zu setzen, ohne dass die Möhren von Schnecken gefressen wurden.
    Die beiden Tränke wurden natürlich nicht gleichzeitig fertig, weshalb sie auf der bis-dreißig-zählen-Seite mit einem Manatrank begann, aber dafür musste erst mal das Wasser sieden. So zählte sie 13 Körner in einen Mörser, während sie weiter Beeren-und-bis-zehn und so weiter.
    Was Marlan konnte, das konnten nicht viele, egal, ob Männer oder Frauen, und so hatte das Dorf beschlossen, dass sie dem alten Guran ein bisschen zur Hand gehen sollte, bevor er sich ein weiteres Mal aus Zerstreutheit vergiftete. Guran war der alte Magier, den das Kloster in den Landstrich an die Küste gesandt hatte, damit die Leute dort mit Heiltränken versorgt wären und das Kloster regelmäßig mit frischem Fisch.

    Und seit Marlan Gurans Gehilfin geworden war, hatte das alles wieder wunderbar geklappt. Der Grund, warum es trotzdem einen Eklat gab, lag auf einem anderen Gebiet. Irgendwann starb der alte Guran, und wurde mit Respekt vom ganzen Dorf begraben und betrauert. Marlan beteuerte später, sie habe das dem Kloster in einem Brief mitgeteilt. Die andere Seite, die aus dem Kloster, den infrage kommenden reisenden Händlern und Mink, dem Gaukler, bestand, behauptete, in der fraglichen Zeit sei kein Brief transportiert worden. Marlan fragte ein klein wenig zu aufmüpfig und vor allen Dingen das Falsche, nämlich warum denn dann die wöchentliche Tabakration für den alten Magier seit seinem Tod nicht mehr geliefert worden sei? Und so hatte das Kloster ein Problem.

    Eigentlich hätte niemand ein Problem haben müssen, denn objektiv gab es keinen Geschädigten. Das Dorf hatte weiterhin einen erfolgreichen Magier, das Kloster wöchentlich seinen frischen Fisch und Marlan eine respektierliche Arbeit. Lange war niemandem aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Bis so ein Magier auf der Durchreise mit einem Pack Ripper nicht klarkam, und den Magier des Dorfes als Verstärkung anforderte. Dieser kam und erledigte die Ripper. Und der Alte erlitt einen Schwächeanfall und musste ins Kloster gebracht werden. Dort erzählte er im Fieber merkwürdige Dinge, die er aber leider wiederholte, als das Fieber längst vorbei war. Und so kam eines Abends eine Delegation würdiger Magier ins Dorf geschritten und fragte nach Marlan.

    Die Magier prüften Marlan. Sie prüften sie in Alchemie, in Sternkunde, ihr Pflanzenwissen, ihr Wissen in den alten Mythen und Gesetzestexten. Sie testeten ihre magische Stärke, ihr Gedächtnis und nahmen sie am Abend mit an den Strand, wo sie sie gegen einiges Getier aufstellten. Am nächsten Tag ließen sie Bücher aus dem Kloster kommen, und testeten sie weiter.
    Der alte Guran war jahrzehntelang der Bibliothekar des Klosters gewesen. Irgendwann hatte er sich freiwillig zum Dienst im Dorf gemeldet, und keiner hatte wiedersprochen. Und nun stellte sich heraus: Marlan wusste alles, was er je gewusst hatte. Marlan war zu diesem Zeitpunkt achtzehn und eine voll ausgebildete Feuermagierin Kreis vier.

    Eine Woche später zog sie allein in die Berge mit allen ihren Habseligkeiten in einem kleinen Beutel auf dem Rücken. Nun, sie konnte sich nicht beschweren. Immerhin hatte man sie wählen lassen. Und es gab Dinge zur Auswahl, nun - ... In ihrem Fall sah das so aus, dass sie sich sehr schnell und ohne Zögern für die kleine Bergklause entschieden hatte.

    Das war vor sechs Monaten gewesen. Marlan hatte die Klause repariert, den Brunnen gesäubert, einen Garten angelegt, ein paar Hasen und Vögel gefangen und versucht, einen Innosschrein aufzustellen. Allein die letztere Tätigkeit sah sie als nicht ganz so erfolgreich an. Sie war sich nicht sicher, wie Innos wirklich aussah. Sie hatte nämlich ihr ganzes Leben immer mit geschlossenen Augen gebetet.

    Vor kurzem war sie das erste Mal in einem Dorf am Rand des Marschlandes gewesen, um sich Flaschen zu kaufen, Schwefel und ein paar andere Dinge. Eben verarbeitete sie die letzte Ernte zu diversen Tränken. Das einzige, was jetzt noch fehlte, waren Scharen an geplagten Menschen, um sie zu trinken.

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    Drei Tränke und ein langes Gespräch

    Gero lag unter einem Busch an dem kleinen See, in den sie gesprungen waren und blickte in Richtung Wasserfall hoch, und dann noch höher. Oben auf dem Abbruch stand regungslos Faid. Gero bewegte sich langsam und griff nach seinem Bogen und den Pfeilen. „Nicht“, murmelte Jaru.
    „Wenn er springt, wird er im See sterben, bevor er am Ufer sein Schwert ziehen kann. Keiner seiner Leute wird hinter ihm her springen.“ Gero überlegte, sich Faid zu zeigen, damit er spränge.
    Faid zog sich zurück. Sie warteten noch etwas, und lauschten. Sie hörten und sahen nichts mehr von den Wachen. Sie achteten auf Deckung von oben und schlichen vom See weg.
    Gero machte sich Sorgen um Jaru. Er geriet schnell außer Atem, musste oft anhalten zum Luft schöpfen und schwitzte, obwohl die Luft kalt war.
    „Dieses Tier...“, begann Gero.
    Jaru nickte. „Seit dem Biss ist mir kalt, und ich... sehe nicht richtig. Dafür höre ich etwas wie Wind...die ganze Zeit....“ Er brach ab.
    „Wir sind bald bei einer Siedlung.“
    „Ja“ sagte Jaru, und ging ein paar Schritte.

    Gegen Mittag erreichten sie die Klause. Gero half Jaru auf das Bett. Jaru schlief sofort ein. Gero machte sich auf die Suche nach dem Bewohner, denn es gab Feuer und einen Kessel mit heißem Wasser auf dem Herd, und die Tiere im Gehege machten einen wohlgenährten Eindruck.
    „Keinen Schritt weiter.“ Zwischen ihm und dem Haus stand ein junger, schlanker Feuermagier mit einem Pilzkopf aus kurzen braunen Haaren. ...Äh, nein, kein Magier. Gero starrte. Das hatte er nicht gewusst, dass es Feuermagierinnen gab.

    Marlan starrte ebenso. Seit sechs Monaten war sie hier allein, und hatte sich manchmal überlegt, wie es wäre, wenn jemand käme, um Heiltränke zu kaufen. Oder Eier. Oder wenn ein Jäger käme, und Felle gegen Spruchrollen tauschte. Diese normalen Dinge, die sie früher täglich getan hatte, ohne nachzudenken. Aber nie war jemand gekommen, und jetzt fiel ihr nicht mehr ein, was man sagte, bevor man anfing zu handeln.
    „Edle Magierin, mein Freund braucht deine Hilfe,“ sagte Gero, und zeigte zur Klause.
    „Innos zum Gruß, Fremder“, sagte Marlan mit ihrer Magierstimme, breitete die Arme etwas aus, und wies ihm den Weg, bevor sie hinter ihm her segelte. Sie kam sich komisch vor, und schrecklich alt, aber sobald sie Jaru sah, vergaß sie das Feuermagier-Gehabe. Sie untersuchte Jaru, und fragte Gero, wieviel Zeit seit dem Biss vergangen war.
    Gero erzählte es ihr, und von dem Sklavenlager. „Ah“, sagte sie. „So ist nicht alles von diesem Biss... das ist besser so... Dein Freund braucht einen Trank, aber die wichtigste Zutat habe ich nicht da. Es ist eine blaue Blume, die aussieht, wie eine Kralle.“
    „Ich habe die Blume gesehen, auf dem Weg, den wir gekommen sind.“
    „Ja, sie helfen gegen Ripperbisse, und sie wachsen, wo Ripper leben, Man weiß nicht, ob man sich darüber freuen oder ärgern soll.“
    Gero lächelte unbewußt. Er sah sie plötzlich als ein Mädchen, vielleicht etwas älter als er, und sie gefiel ihm.
    „Habt ihr oben in dem Tal alle Ripper getötet?“
    „Nein, wahrscheinlich nicht.“
    „Und du hast noch vier Pfeile“, rechnete sie. „Ich würde selbst gehen, aber ich kann deinen Freund besser schützen.“ Gero runzelte die Stirn. Die Entwicklung des Gesprächs entsprach nicht seinen Vorstellungen, aber sie hatte Recht.

    Marlan winkte ihn aus der Klause und gab ihm draußen drei Verwandlungstränke. „Ich brauche vier Pflanzen. Acht sind besser, falls du auch noch gebissen wirst. – Halte dich nicht mit Tieren oder den Wachen auf. Dein Freund hat noch etwa bis morgen Mittag, und der Weg führt ganz um den Berg, so, wie ihr gegangen seid. Ich brauche drei Stunden für den Trank.“
    Gero sah sie erschreckt an.
    „Ja, es ist so ernst“, sagte Marlan.

    Die Tränke waren ein Wolfstrank, ein Rippertrank und ein Blutfliegentrank. Gero beschloss, den Blutfliegentrank für den Rückweg aufzuheben und den Rippertrank für die Höhle mit den Pflanzen. Am Eingang hatte er nur drei davon gesehen. Er wandte sich Richtung Berge, und lief los.

    - - -

    Nela stand zum zweiten Mal vor Ireg Talakaidis, und es war nicht angenehmer als das erste Mal. Ireg stand am Kamin der Halle, davor saßen eine sehr alte Frau: Minetis Großmutter, ein alter Patrizier: Iregs Vater, seine Frau, Iregs Bruder Tasso, der ebenfalls Paladin war, aber zu einem Schiff gehörte, und ein Hausknecht. Sie hatten Nela keinen Platz angeboten, und sie erzählte die Flucht aus Khorinis mit sehr wenigen Worten. Noch hatte sie Jaru nicht erwähnt. Die vielen Fragen des Paladins nach dem Schiff hatten sie misstrauisch gemacht. Wenn das Erbe ins Spiel kam, würde Ireg Jaru vielleicht nicht helfen. Es gab solche Familien.
    „Wart ihr zu dritt auf dem Boot?“ wollte Tasso wissen.
    „Nein“, sagte Nela. „Es war noch mein Sohn Gero dabei und ein Junge.“
    „Jaru!“ rief Tasso, und sein Gesicht leuchtete. Man sah, dass er Jaru mochte.
    Nela zögerte etwas. „Sklavenjäger haben ihn am Strand bei Mariks Hof gefangen. Mineti ging dazwischen, und wurde getötet.“ Tasso presste die Lippen aufeinander. Er sagte nichts mehr.

    Die Stille wurde drückend. Ireg hieb mit der Faust auf den Kaminsims. „Und das ist zwei Jahre her! Wo sollen wir jetzt anfangen zu suchen! Er kann inzwischen überall sein. Verdammt, zwei Jahre! Weißt du, was das heißt!“ Er brach ab. Die alte Frau stand auf, richtete ihre Stola und ging hinaus, ohne jemand anzusehen. Die andere Frau folgte ihr. Der Hausknecht sah den alten Mann fragend an, und der nickte. Da verließ er ebenfalls den Raum.
    Die Brüder sahen sich an, und hatten Nela einen Moment vergessen. Ireg lief hin und her. Als er vor dem Kamin stand, drehte er sich und schrie plötzlich: „Ich wusste von dem Vorfall. Es kommt immer häufiger vor. An der ganzen Küste gibt es Banden. Marik schreibt mir Berichte, er war selbst ein Schiffbrüchiger. Aber er erwähnte keine Namen. Ich hatte keine Ahnung...“ Er sah plötzlich Nela und riss sich zusammen.
    „Was kann man tun, falls man wüsste, wo er wäre?“ fragte sie.
    „Das ist abhängig davon, wo er ist. Wenn er in einem Lager ist, wird es schwierig. Wir haben ein Lager befreit, auf der anderen Seite der Insel. Die meisten Sklaven sind bei der Befreiung gestorben. Solche Lager liegen oft in der Wildnis und sind sehr geschützt. Wenn er auf einer Galeere ist, wird es noch schwerer. Ich glaube nicht, dass er bei einer Familie ist. Die kaufen Sklaven als Kinder, und die Sklaven bleiben, weil sie nichts anderes kennen. Solche Sklaven kann man freikaufen, aber ich glaube nicht, dass Jaru...“

    „Es gibt ein Sklavenlager oberhalb des Dorfes Grauben in den Bergen. Es ist eine Mine. Man erreicht es über den Fluss und sieht nach etwa einem Tag am Ufer eine Seilbahn. Die Sklavenhändler kommen alle paar Wochen in das Dorf, um zu handeln.“

    Tasso hatte Nela beobachtet. „Woher weißt du das?“ fragte er sie.
    „Mein Sohn ist dort.“ Die Brüder sahen sie jetzt beide an. Nela beobachtete, dass Iregs Kiefermuskeln arbeiteten.
    „Als Sklave?“ fragte Ireg.
    „Er arbeitet als Jäger für das Lager.“
    Ireg wandte sich um und spuckte ins Feuer.
    „Er sucht Jaru“, sagte Nela hart. Sie mochte diesen Ritter nicht.

    „Warum kommst du jetzt?“ fragte plötzlich der alte Patrizier.
    Nela schwieg und überlegte. Sie ließ sich Zeit. „Würde euer Name Jaru im Lager helfen?“ Sie blickte dem alten Patrizier ins Gesicht. Der Alte verzog keine Miene.
    „Wenn er dort seit zwei Jahren ist, würden sie ihn umbringen, wenn der Name bekannt wird“, Iregs Stimme kam gepresst. „Seit Jahren arbeite ich dafür, dass es eine Küstenwache gibt. Die wenigen Aktionen, die es gegen Sklavenhändler gab, haben Tasso und ich geleitet. Aber ich kann mich Befehlen nicht widersetzen. Leute wie Marik tun im Moment hier an der Küste mehr zum Schutz des Landes als der König.“

    So war das also. Nela dachte an Khorinis, an das Chaos in der Stadt, und kein Paladin zu sehen.

    „Jaru ist in dem Lager. Gero hat ihn gesehen. Sie halten ihn abseits von den anderen Gefangenen. Es geht ihm schlecht. “

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (20.08.2012 um 12:24 Uhr)

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    Eine Blutfliege mit Ohren

    Gero rannte verzweifelt. Weiter unten im Tal hatte er nur mit Mühe ein Rudel Snapper abgehängt. Er musste dringend demnächst etwas essen, bevor er in die Nähe des Sklavenlagers kam. Und es wurde schon dunkel.

    Er hielt inne. Hier schien alles ruhig zu sein. Er aß etwas Fleisch und ein paar Beeren, und überlegte sein weiteres Vorgehen. Es war gut möglich, dass er Faid und seinen Leuten in dem oberen Tal begegnete. Ab dem Zeitpunkt bliebe keine Zeit mehr für die Pflanzen, und Jaru ... Er konnte nicht weiter denken. Er musste einen Weg finden, ungesehen zu bleiben. Vielleicht würde die Dunkelheit helfen. Jaru und er waren nachmittags an der Höhle gewesen, aber er war noch weit von seiner Vorratshöhle entfernt, von der sie damals losgelaufen waren. Er rechnete. Es war nicht zu schaffen.

    Er musste den Blutfliegentrank jetzt benutzen, um schnell zur Höhle zu gelangen, und auf dem Rückweg wieder in den See springen. Er verinnerlichte sich noch mal den Weg und das Aussehen des Höhleneingangs. Dann trank er schnell den Trank aus.

    Am Anfang ging alles sehr gut. Er war erstaunt, wie schnell das Lager auftauchte. Er bog am Bach ab und benutzte ihn wie einen Weg. Wenige Minuten später schien bereits die Vorratshöhle an ihm vorbeizufliegen.
    Ab da wunderte er sich aber, wie viele Windungen das Tal hatte. Es schien länger zu sein, als er es in Erinnerung hatte. Es war jetzt dunkel und er fand es schwierig, sich zu orientieren. Und dann spürte er an einem Prickeln, dass die Wirkung des Trankes bald nachließe. Wo war der Eingang zur Ripperhöhle? Das Prickeln wurde zu einem Brennen. Da war die Höhle! Faid stand davor.

    Gero flog in die Spalte hoch, durch die sie die Höhle umklettert hatten. Aber er schaffte nur wenige Meter, bevor seine Flügel wieder zu Armen wurden und er auf den Fels krachte. Er war einen Moment benommen. Er kauerte nur wenige Meter hinter Faid auf dem Felsen. Wenn Faid den Kopf in seine Richtung drehen würde, könnte er ihn sehen und mit einem Satz erreichen. Das einzige, was ihn schützte, war die Dunkelheit, und wenn er bewegungslos bliebe.

    „Was war das?“ Venutos Stimme. Wie kam der hierher?
    „Eine Blutfliege.“ Faid trat einen Schritt Richtung Höhleneingang. Gero sah jetzt nur die die Oberseite seines Kopfes, aber dafür hatte Faid sich herumgedreht, und Gero war in seinem Wahrnehmungskreis.
    „Mistviecher.“

    „Wir müssen eine Entscheidung treffen.“ Faid. Er sprach rasch weiter. „Ich glaube nicht, dass wir die beiden jetzt noch erwischen.“
    „Ich mache mir um die beiden weniger Gedanken, als um die Schmiede. Das Problem mit den Schmieden ist, dass wir sie mitten aus einem Dorf weg entführt haben, das an der Grenze zum Orkwald liegt. Sie sind dort bekannt, und die Leute werden ihnen glauben. Und die Leute am Orkwald sind den Umgang mit Waffen gewohnt.“
    „Ein Dorf wird trotzdem keine Strafexpedition starten. Es sind mehr als zwei Tagesreisen, und bald beginnt die Ernte. Und sie können ihr Dorf auch nicht ungeschützt lassen. Woher kam eigentlich dieser Kleine?“
    „Schiffbrüchige. Das ist normalerweise eine sichere Sache. Falls es Angehörige gibt, resignieren sie schnell, wenn Wrackteile oder andere Tote gefunden werden. Und wenn es Zeugen gibt, haben sie meist alles verloren und keine Mittel, die Suche zu verfolgen.“
    „Gab es noch weitere aus dieser Gruppe?“
    „Nein, es gab noch eine Frau, aber sie machte Scherereien und wurde getötet.“
    „Es stimmt also tatsächlich. Sie haben sich gekannt. Ich hätte darauf achten müssen, dass dieser Gero sprach, wie einer aus Khorinis. Warst du damals dabei?“
    „Nein, das war Tigrals Trupp. Er hat mir davon erzählt. Er sagte, keiner habe sie gesehen.“

    Nach Venutos letzten Worten entstand eine Pause. Dann begann wieder Faid.
    „Gomez hat einen Informanten unter den Sklaven. Er hat ihm eine Geschichte erzählt, die ich bisher nicht geglaubt habe. Danach soll dieser Kleine das Geheimnis der Mischung gekannt haben. Aber das ist unmöglich. Das ist Paladinwissen. Du weißt so gut wie ich, dass Außenstehende so Dinge nie erfahren.“

    „Abtrünnige Paladine!“ dachte Gero. Das war ja was zum Nachdenken. Jetzt verstand er, warum Faid anders war, als die anderen Wachen. Aber Venuto... offenbar gab es auch unter den Paladinen Kirschen und Galläpfel.

    „Dieser war ein Kind, als er zu uns kam. Er ist zu jung für einen Paladin.“ Venuto.
    „Aber woher kann er es gewusst haben? Ich mache mir diese Gedanken nicht ohne Grund. Wenn er aus einer Familie mit Paladinen kommt, bedeutet das einen Haufen Ärger. Es gibt einen Ritter, der uns schon ein ganzes Lager gekostet hat. Sein Bruder ist auf einem Schiff, das damals die Strafexpedition begleitete. Wenn sie davon erfahren...“
    „Der König wird nichts unternehmen. Er hat im Moment andere Sorgen.“
    „Was schlägst du vor?“
    „Wir halten ein paar Wochen die Füße still und machen weiter, wie bisher. Die Seilbahn ist sowieso kaputt. Wir sollten die Reste davon verstecken und alles am Fluss zerstören, das darauf hinweist, dass eine Mine in der Nähe ist. In ein paar Wochen ist alles wieder ruhig, und wir können die Bahn wieder aufbauen.“
    „Wir brauchen einen Schmied. Aber ich möchte, dass wir für diesmal einen anwerben und bezahlen.“
    „Gut. Dann machen wir das so? Falls etwas schief geht, haben wir die Teleportrunen für diese Höhle. Die Mine ist zu ertragreich, um sie aufzugeben wegen nichts.“
    Faid überlegte. Dann pfiff er ein Signal. Gero hörte Schritte. Offenbar kamen die Wachen aus der Höhle. „Abmarsch. Zurück zum Lager!“ befahl Faid.

    Gero wartete noch eine ganze Weile, bevor er es wagte, aus seiner Felsspalte hinunterzuklettern. Und dann war er so steif, dass er das letzte Stück abrutschte und vor den Eingang fiel.

    Er wandte sich zu der Seite, wo er die drei Pflanzen gesehen hatte, aber sie waren nicht mehr dort.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (19.08.2012 um 11:43 Uhr)

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    Von Röcken und Blumen

    Im Anschluss an das Gespräch mit Nela hatte Ireg ihr den Bogen, die Pfeile, das Stück Rock und das Schwert wiedergegeben und sie als Gast in seinem Haus willkommen geheissen. Danach war er mit seinem Bruder weggegangen. Nela saß in dem Zimmer, in das sie der Hausknecht geführt hatte, und nähte ihren Rock. Sie achtete besonders sorgfältig darauf, alle Stiche mit dem Namen zu entfernen. Sie war müde. Sie überlegte, was jetzt wohl geschehen würde. Wenn Ireg und Tasso nichts täten, würde sie in das Dorf gehen, wo Marik Gero getroffen hatte, und sehen, ob sie von dort aus helfen konnte. Andererseits begann bald die Ernte, und dann hatte sie versprochen, wieder auf Mariks Hof zu sein.
    Es klopfte an der Tür. Nela öffnete. Draußen stand die alte Frau mit der Stola. Sie hielt ein Paket Stoff vor sich wie ein Tablett. „Die Wachen haben deinen Rock zerrissen“, sagte sie und gab ihr das Paket. Bevor Nela sich bedanken oder ablehnen konnte, drehte sie sich um und ging wieder. Nela sah sich den Stoff an. Er war sehr gleichmäßig dunkelgrün gefärbt und haltbar. Man sah, dass jemand schon mal ein Kleidungsstück daraus zugeschnitten hatte, aber der Rest reichte wahrscheinlich sogar für ein Kleid. Das war ein wertvolles Geschenk. Nela war froh. Sie hatte sich schon den ganzen Winter am Webrahmen gesehen. Sie konnte weben, und wie alles was sie tat, konnte sie es gut, aber sie zog es vor, im Freien zu sein – egal, bei welchem Wetter.

    Sie stand wie immer im Morgengrauen auf und ging in den Hof des Hauses. Dort stand der Hausknecht und kehrte. Er lud sie zum Frühstück ein und beschrieb ihr den Weg in die Küche. Da war eine Frau am Brot backen, die Nela noch nicht gesehen hatte. Sie war freundlich und stellte sich als Enita vor. Dann gab sie Nela eine Tasse Tee und eine noch warme Semmel.
    Im Flur hörte Nela plötzlich ein lautes Scheppern. Dann fluchte Ireg. Sie hörte Schritte. Ireg stand in er Tür. Er war voll gerüstet. Er nahm sich eine Semmel. Als er Nela sah, wirkte er zufrieden. „Der König hat endlich erlaubt, dass wir handeln. Es war natürlich hilfreich, dass in diesem Fall jemand meiner Familie betroffen ist. Wir brechen in wenigen Minuten auf.“
    „Ich komme mit.“
    „Das ist völlig ausgeschlossen. Dies wird kein Spaziergang.“
    „Ich habe gegen Orks gekämpft. Ich bin keine Last. Ich kann für euch jagen und kundschaften. Und mein Sohn ist im Lager. Ich will sicher gehen, dass niemand auf ihn schießt.“ Sie hatte nämlich auf Iregs Rücken eine Armbrust gesehen.
    Ireg zögerte. „Einverstanden. Aber du hörst auf meine Befehle. Und wir müssen sofort los. Enita kann den anderen Bescheid sagen.“

    So zog sie mit einem Trupp Paladine Richtung Berge, sobald die Sonne aufging.

    - - -

    Gero ging vorsichtig ein Stück in die Ripperhöhle, bis er sicher war, dass der Schein einer Fackel nicht mehr bis draußen zu sehen war. Dann zündete er eine Fackel an. Er durchsuchte die Höhle gründlich. Die Wachen hatten mehrere Ripper getötet, und offenbar war dabei eine Wache ums Leben gekommen. Sie hatten dem Toten die Waffen und persönlichen Gegenstände abgenommen, ihn dann aber liegen gelassen. Gero fand Pilze und ein paar Armbrustbolzen, aber nur eine einzige blaue Krallenblume. Er suchte sicherheitshalber noch einmal, aber er fand nichts. Auch vor dem anderen Eingang waren keine weiteren Pflanzen. Er wusste, dass im Rest des Tals ebenso keine mehr wuchsen. Verzweifelt ging er zu dem Ort, wo er die Pflanze das erste Mal gesehen hatte. Vielleicht hatte er eine übersehen? Der Mond schien jetzt hell. Als er die Stelle untersuchte, sah er ein paar weiß-graue Brösel. Venuto! Er trug immer Sonnenblumenkerne bei sich und knusperte sie die ganze Zeit, wenn er nicht soff oder jemand sein Gold abnahm.
    Gero rannte hinter den Wachen her und versuchte, trotz seiner wachsenden Angst klar zu denken. Venuto war ein Gegner, wie er noch keinen besiegt hatte. Auch wenn er nur eine einfache Wachenrüstung trug – was Gero im Nachhinein sehr wunderte – war er ein ehemaliger Paladin. Gero hatte schon einmal gegen ihn verloren, und da hatte Venuto noch nicht mal sein Schwert gezogen. Und als Paladin verfügte er noch über Magie, Oleg hatte davon erzählt. Und er war nicht allein. Wie, um Himmels willen, sollte er an die Pflanzen kommen? Und dann noch ohne Vorbereitung. Es war Wahnsinn.

    Er hörte die Wachen, bevor er sie sah. Sie redeten und riefen, während sie zu Tal trampelten. Er hielt vorsichtig gerade so viel Abstand, dass er nicht zu sehen war. Venuto ging als letzter. Gero nahm seinen Bogen und einen Pfeil. Es wäre eine Verzweiflungstat. Die anderen würden ihn sofort angreifen. Und Faid war ebenfalls ein Paladin. Gero erinnerte sich, wie er das Monster im Fluss mit zwei Schwertstreichen getötet hatte.

    Da half ihm die Natur. Als die Wachen ein paar große Steine passierten, machte Venuto eine Bemerkung zu den anderen und blieb zurück. Dann öffnete er den Schwertgurt, und lehnte das Schwert an die Felsen. Er ging noch ein paar Schritte, und fummelte an seiner Kleidung. Gero trank den Rippertrank und griff an. Er erinnerte sich, wie der Ripper Jaru an die Wand gedrückt hatte, und versuchte, es mit Venuto genauso zu machen. So blieb diesem keine Zeit für Magie. Es ging erstaunlich leicht. Aber er tötete ihn nicht, denn er hörte die anderen Wachen zurücklaufen. Sobald Venuto das Bewusstsein verloren hatte, verwandelte er sich zurück und durchwühlte seine Taschen. In einer fand er die Pflanzen und den Teleportstein. Er nahm beides und sprang in die Büsche. Die Wachen bogen um die Felsen und bildeten einen Ring um Venuto. Gero rannte, ohne sich umzusehen. Seine Gedanken rasten, er versuchte sich daran zu erinnern, was er damals hatte tun müssen, um die Verwandlungsspruchrolle des jungen Feuermagiers auf Khorinis zu aktivieren. Als es ihm einfiel, bleib er stehen und benutze den Teleportstein.
    Ein lautes Brausen und blaues Licht umgab ihn. Dann stand er wieder vor dem Eingang der Ripperhöhle. Ohne einen Moment zu warten, rannte er durch die Höhle und durch das angrenzende Tal bergauf. Er sah die Steine, auf denen sie übernachtet hatten – weiter – durch die zweite Ripperhöhle und auf die Hochebene. Am Abbruch schöpfte er das erste Mal Atem. Der Morgen graute. Er sprang.

    Diesmal kostete es ihn fast das Leben. Ein Lurker nahm ein morgentliches Bad im See und betrachtete Gero als sein pünktlich eingetroffenes Frühstück. Der konnte im Wasser sein Schwert nicht ziehen und fing zwei schwere Streiche. Mit Mühe erreichte er das Ufer und rannte. Er rannte um sein Leben. Dann hielt er kurz inne und trank schnell zwei Heiltränke. Er riss sein Schwert heraus, aber der Lurker war zum See zurückgekehrt. Gero rannte weiter.

    Die Sonne stand voll am Himmel, als er die Klause erreichte. Marlan saß bei Jaru am Bett. Jaru atmete flach und sehr schnell. Seine Augen waren einen Spalt geöffnet, aber man sah nur das Weiße. Marlan legte beide Hände auf seine Schläfen. Ihre Handflächen schienen zu glühen, wo sie Jaru berührten. Jaru fiel etwas zurück, seine Augen schlossen sich, und er atmete um ein geringes ruhiger. „Ich habe einen Schlafzauber auf ihn angewendet. Das spart ihm Kraft“, sagte Marlan, als sie Gero wahrnahm.
    Gero gab ihr die Pflanzen. Sie ging in den anderen Raum, in dem ein Alchemietisch stand.
    Gero setzte sich zu Jaru. Er nahm seine Hand. Die Hand war kalt und erschien ihm ohne Leben. Da hielt er es nicht mehr aus und ging zu Marlan.

    Sie hatte die Pflanzen zerpfückt und in kaltes Wasser gelegt. Auf der anderen Seite des Alchemietisches siedete ein Topf mit Wasser. Sie schälte Heilwurzeln und schnitt sie in den Topf. „Die Wurzeln müssen erst weichkochen, bevor der Schwefel dazukommt“, sagte sie.
    „Kannst du mir beibringen, wie man diesen Trank zubereitet?“ fragte Gero.
    „Hast du schon einmal einen normalen Heiltrank hergestellt?“
    „Nein.“
    Sie zeigte es ihm. Dann waren die Wurzeln weich, und sie zeigte ihm, wie man den Trank gegen die Krankheit des Ripperbisses zubereitete. Es waren viele Arbeitsschritte, und es war Mittag, bis sie fertig waren.
    „Wie flössen wir den Trank jetzt Jaru ein?“ fragte Gero. „Der Trank muss noch etwas abkühlen. Ich kann Jaru rufen, aber nur einmal. Mach dir jetzt keine Sorgen mehr, so frisch ist der Trank sehr stark.“

    Marlan saß an Jarus Bett und hielt wieder die Hände an seine Schläfen. Sie murmelte etwas, das Gero nicht verstand und rief dann Jarus Namen. Jaru öffnete seine Augen. Sie gab ihm den Trank. Zuerst geschah nichts. Dann stand Jaru auf und sagte: „Ich habe Hunger.“


    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (20.08.2012 um 12:32 Uhr)

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    Abschied

    Jaru, Gero und Marlan saßen vor der Klause an einem Tisch und aßen Eintopf. Jaru war bei seinem dritten Teller, und es sah noch nicht so aus, als ob das sein letzter wäre. „Was werdet ihr jetzt machen?“ fragte Marlan.
    Gero erzählte den beiden von dem erlauschten Gespräch zwischen Faid und Venuto. „Wir sollten diese Paladine finden, von denen er sprach“, schlug Jaru vor.
    „Wie bist du eigentlich aus dem Lager entkommen?“ wollte Marlan wissen. Sie erzählten es ihr. „Vielleicht sollte ich bei meiner nächsten Unternehmung Richtung Seilbahn gehen, und schauen, ob da jemand Hilfe braucht“, überlegte sie.
    „Pass bloß auf dich auf!“ entfuhr es Gero. Sie sah ihn einen Moment sehr ruhig an, und er wurde rot.
    „Was ist deine nächste Unternehmung?“ fragte Jaru. „Ich möchte sehen, ob ich nicht einen Ripper zähmen kann. Dann könnte ich mit seiner Hilfe vielleicht die blaue Krallenblume hier im Garten ziehen. Ab nächstem Jahr hätte ich dann diesen Trank immer vorrätig“, meinte Marlan. „Falls im Laufe des nächsten Jahres mal jemand vorbeikommt“, dachte sie, aber sie sagte es nicht laut.
    „Können wir dir etwas geben, für die Verwandlungstränke und deine Hilfe?“ fragte Gero. „Und den ganzen Eintopf“, grinste sie. „Nein, braucht ihr nicht.“ Sie überlegte kurz. „Ihr könntet bloß, wenn ihr mal später in der Nähe vorbeikommt, mir Flaschen oder Fläschchen oder Schwefel mitbringen.“ Gero nickte. „Kannst du mir auch noch mehr über Alchemie beibringen?“ „Wenn es soweit ist. Ja.“ Sie stand auf. Plötzlich hatte sie wieder diese unnahbare Feuermagierpose.
    Die beiden anderen standen ebenfalls auf. „Lebwohl Marlan“, sagte Jaru. „Und danke für alles.“
    Gero gab ihr zum Abschied zwei goldene Pokale, die er beim Einlagern von Proviant in einer der Höhlen gefunden hatte. Sie nahm einen, füllte ihn mit klarem Wasser und stellte ein paar Blumen hinein. Den anderen füllte sie mit Beeren. Dann platzierte sie die beiden Pokale rechts und links der Innos-Statue.
    Gero war plötzlich befangen. Er öffnet den Mund, aber dann schloss er ihn wieder. Marlan breitete die Hände aus, Handflächen nach oben. „Geht mit Innos Segen“ wünschte sie ihnen. Sie ging zur Tür der Klause, stellte sich auf die oberste Stufe und legte die Hände zusammen. Sie verschwanden in den weiten Ärmeln ihrer Robe.
    Einen Moment sahen Gero und Jaru zurück. Dann brachen sie auf, Richtung Stadt.

    - - -

    Ireg hatte Nela genau beobachtet, seit sie die Stadt verlassen hatten, aber keinen Grund zur Beanstandung gefunden. Sie lief genauso schnell wie die Männer. Später am Tag verschwand sie für einige Zeit und kehrte mit ein paar erlegten Vögeln zurück. Am Abend sammelte sie Holz wie die anderen, briet die Vögel und bot den Männern davon an.
    Im Morgengrauen war sie abmarschbereit.
    Sie stiegen den ganzen Tag bergan. Ireg kannte diese Berge gut. Es waren die Berge seiner Heimat und er hatte oft hier gejagt. So musste er auch nicht den Umweg über Grauben nehmen, sondern führte sie direkt Richtung Mine. Diesmal gab er früher den Befehl zum Lagern. Als Nela sich entfernen wollte, hielt er sie zurück. „Wir sind jetzt ganz in der Nähe des Lagers, und ich will nicht, dass sie uns frühzeitig bemerken. Keine Jagd heute, und kein Feuer."
    Sie sah ihn an.
    „Diese Augen“, dachte er. „Wenn sie jünger wäre...“ Er verpasste es fast, als sie nickte.

    - - -

    „Ich brauche dringend Pfeilspitzen oder Pfeile“, sagte Gero später. Jaru reagierte nicht. Er kniff die Augen zusammen und blickte durch die Bäume. „Da unten marschiert ein Trupp Paladine“, antwortete er nach einer Weile.

    - - -

    Ireg legte die Armbrust an, als er die beiden Gestalten an der Böschung auftauchen sah. „Das ist mein Sohn!“ rief Nela. Ireg packte die Armbrust weg und wartete. Die beiden rutschen die Böschung hinunter, bis sie vor ihm standen.
    Ireg sah einen hochgewachsenen jungen Mann in braunen Lederhosen, einer grünen Tunika und einer grauen Gugel mit breiter brauner Stickerei, die Tiere darstellte. Er hatte ebenfalls graue Augen, aber sie waren etwas dunkler als Nelas. Er führte einen großen Bogen mit sich, aber nur sehr wenige Pfeile. Der zweite Mann war eher noch ein Jüngling, kleiner und dunkler und sah aus wie ein Strauchdieb.
    „Wer ist der andere?“ fragte Ireg.
    „Ich bin Jaru, Sohn eines Händlers aus Khorinis“, sagte Jaru.
    Ireg musterte ihn – relativ lange. „Wir haben uns noch nicht gesehen, Jaru, aber du kennst meinen Bruder Tasso. Ich bin Ireg Talakaidis.“
    „Tasso! Geht es ihm gut?“, Jaru strahlte, was ihn völlig veränderte.
    Ireg lächelte. „Es wird ihm gut gehen, wenn er hört, dass du frei bist.“ Er gab ihm ein Amulett. „Das hat er mir für Dich mitgegeben, für den Fall, dass wir dich finden.“ Jaru staunte. Es war ein sehr starkes Schutzamulett.

    - - -

    Die Paladine, Nela und Jaru standen im Kreis um Gero, der an einer sandigen Stelle einen Lageplan des Lagers gezeichnet hatte und erklärte. Sie waren jetzt in Bachnähe an der Mündung des Tales, durch das Gero und Jaru geflohen waren. Ireg dachte kurz nach, dann teilte er Gruppen ein und sagte jedem einzelnen Mann, von wo aus er angreifen sollte und was das Signal zum Angriff war.
    Es gab noch einen anderen Paladin-Bogenschützen, Berlot. Er gab Gero Pfeile. „Wer schützt die Sklaven?“ fragte Jaru.
    Ireg sah Jaru durchdringend an, aber er änderte seinen Plan noch mal. Dann befahl er den Gruppen, sich zu trennen.

    Gero, Jaru und Berlot schlichen sich von der Seilbahnseite an das Lager an. Dann verschwand Berlot in der Felswand oberhalb. Gero und Jaru schlichen weiter bis an den Punkt, wo die Palisade die Felsen berührte und Jaru hinunter gesprungen war. Als sie das Signal hörten, begann Berlot, die Wachen am Tor zu beschießen. Die verließen den Turm am Tor und gingen hinter der Palisade in Deckung. Da trafen sie Geros Pfeile von der anderen Seite. Zwei Wachen fielen schnell, aber Tigral mit seiner besseren Rüstung stürzte auf Gero zu. Gero hörte nicht auf, ihn zu beschießen. Als Tigral direkt vor Gero stand, trat Gero einen Schritt zurück. Jaru sprang vor, und fällte Tigral mit einem einzigen Streich.

    Auf der anderen Seite hatte Ireg mit zwei Armbrustschützen zunächst einen großen Bogen um das Hauptlager geschlagen und sich dem oberen Lager genähert. Aber dort war niemand mehr. Ireg schickte die beiden Schützen in die Felswand oberhalb des Lagers und ging zurück zu seinem Haupttrupp. Dann gab er das Signal und griff mit seinen Leuten das Lager an.

    Nela war nicht eingeteilt, und Ireg erwartete, dass sie sich abseits hielte. Sie schlich langsam durch die Büsche am Bach Richtung Lager. Sie sah, wie Berlot die Wachen von oben beschoss und wie Tigral auf Gero losstürmte. Als er vor Gero stehen blieb und mit dem Schwert ausholte, hatte sie ihn im Visier. Aber Gero stand direkt hinter ihm und sie schoss nicht. Als Tigral dann fiel wollte sie sich Richtung Hauptlager wenden, als sie eine Bewegung in der Felswand wahrnahm.
    Korl und Benn waren plötzlich oberhalb von Berlot in der Wand aufgetaucht, und Benn beschoss Berlot mit der Armbrust. Gero konnte das nicht sehen, weil er selbst zu nah an der Wand stand. Als Nelas Pfeil Benn traf, war er aufgrund der großen Entfernung zwar nicht tödlich, zwang ihn aber, selbst in Deckung zu gehen und den Beschuss zu beenden. Er und Korl stellten Berlot in einer abgebrochenen Stelle, wo Nela sie von unten nicht sehen konnte, und sie stachen zu zweit auf den jungen Paladin ein. Er schwang sein Schwert im Kreis um sich und hielt sie so auf Abstand. Aber dann - Steine lösten sich, und mit einem reißenden Geräusch begann die ganze Stelle zu rutschen und ins Lager zu kippen. Alle drei stürzten ab, und fielen hinunter ins Sklavenlager.
    Da öffneten Gero und Jaru das Tor, um Berlot zu helfen. Ursprünglich wollten sie die Sklaven erst befreien, wenn die Wachen besiegt wären. Jetzt stürmten die Sklaven zum Tor, während Gero und Jaru zu Berlot rannten. Berlot war zum seinem Glück auf Korl gefallen, was seinen Sturz gedämpft hatte. Korl war tot. Benn war noch am Leben, als Jaru und Gero auf die drei zu liefen, aber die Sklaven erschlugen ihn mit Steinen vor Geros Augen.
    Nela wich den Sklaven aus, die an ihr vorbei rannten und ging Richtung Lager. Manche der Sklaven griffen sich ein Werkzeug oder eine Waffe und beteiligten sich am Kampf, der noch im Wachenlager tobte, andere flüchteten in den Wald. Nela kletterte auf den Dreckhügel mit dem Kran, weil man von dort ins Wachen-Lager sehen konnte. Ihr stockte der Atem. Faid und Ireg duellierten sich in der Mitte des Platzes. Beide waren mit Wunden übersät und kurz vor dem Ende. Da sah Nela, wie Venuto in einer Ecke mit einem Zauber auf Ireg zielte. Sie hob den Bogen und schoss. Venuto ließ etwas fallen. Durch die Ablenkung gewann Faid einen Moment Zeit. Er war plötzlich von blauem Licht umgeben. Dann war sein Platz leer.
    Ireg heilte sich schnell. Dann zog er wieder das Schwert. Er ging auf Venuto zu, der ihm nicht gewachsen war. Der Kampf war schnell vorbei.

    Auf der Seite der Paladine hatte es keine Verluste gegeben, aber Berlot war immer noch bewusstlos. Ireg ging herum und heilte die Verwundeten. Nur für Berlot konnte er nichts tun. Sie brachten ihn ihn eine Hütte, und zwei seiner Kameraden hielten dort Wache.

    Sie legten die toten Wachen auf einen großen Holzstapel. Jaru sah nach. Bis auf Faid waren alle Sklavenlagerwachen tot. Sie zündeten den Holzstapel an. Nur zwei Sklaven waren gefallen. Sie wurden begraben. Aber nicht viele der überlebenden Sklaven blieben nach Ende des Kampfes. Obwohl Ireg sie bat, zu warten, verschwanden die meisten Sklaven im Wald, selbst die, die erst noch gekämpft hatten. Die anderen kochten ein Festmahl.
    Nela war unauffällig an dem Ort vorbeigegangen, wo Venuto mit dem Zauber auf Ireg gezielt hatte, und hatte eine Rune mit einem Blitz darauf gefunden. Sie steckte sie ein.

    Sie fragte Ireg, was Venuto getan hatte, und wie Ireg die Verwundeten heilte. Aber der Paladin war nicht sehr gesprächig. „Es soll hier in den Bergen eine Klause mit einer Magierin geben, die Alchemie lehrt. Dort kannst du etwas lernen, das Dir und Marik auf dem Hof nützlich ist“, sagte er. Nela wandte sich ab. Dieser Kerl und sie – sie lebten einfach nicht in derselben Welt. „Er hätte sich wenigstens bedanken können“, dachte sie.

    Am Abend versammelte Ireg die ehemaligen Sklaven und machte ihnen ein Angebot. Er nannte sie Buddler und sprach von ihrer Erfahrung in der Mine. Seine Familie wolle die Mine weiter führen, und ob sie nicht bleiben wollten gegen Bezahlung. Die Buddler zogen sich zur Beratung zurück. Nach einer Weile riefen sie Jaru. Dann kamen sie zu Ireg mit vier Forderungen. Sie wünschten, dass die Wohnhütten der Arbeiter im Wald gebaut werden sollten. Eine Wasserleitung sollte frisches Wasser in die Mine bringen. Die Palisade an der Mine sollte abgerissen werden, und die Buddler sollten die Erlaubnis haben, einfache Waffen zu tragen und hin und wieder jagen zu gehen. Jaru hatte ihre Forderungen aufgeschrieben. Der alte Buddler, er hieß Grimes, übergab sie. Ireg drückte sein Siegel darunter.

    Später rief er Gero und Jaru. Er ließ sich die Geschichte der Flucht erzählen und lobte ihren Einsatz bei der Befreiung des Lagers. Danach beschrieb er die unsichere Situation an der Küste und die Schwierigkeit, den König zum Handeln zu bewegen. Es gäbe eine Reihe von Häusern, in denen sich Menschen trafen, die bereit seien, den Banditen und Sklavenhändlern die Stirn zu bieten. Sie sammelten Informationen, halfen sich gegenseitig und befestigten die Dörfer. Marik sei einer von ihnen.
    Dann bot er ihnen an, in diesem Kreis unter seinem Kommando mitzuarbeiten. Dabei sah er die ganze Zeit Gero an. „Wenn nichts anderes anliegt, kannst Du weiterhin Marik auf dem Hof helfen. Dann wissen wir, wo wir Dich erreichen.“ Am nächsten Tag wollte Ireg mit dem größeren Teil der Paladine und Jaru in die Stadt zurückkehren. Bis dahin sollten sie sich entscheiden.

    Dann sprach er länger mit Jaru allein.
    Gero ging zu Nela, die bei den Buddlern saß und mit ihnen feierte. Er erzählte ihr alles, was er im Lager erlebt hatte, von der Flucht, der Klause und von Iregs Angebot. „Mach das“, sagte sie. „Du bist auf dem Hof immer unruhig. Du bist keiner, der sein ganzes Leben auf seinen Feldern bleibt.“
    „Was machst Du?“ „Ich werde zurückgehen zu Marik und ihm mit der Ernte helfen. Und danach... Ich denke, ich werde im Herbst mal diese Feuermagierin besuchen, von der Du erzählt hast.“ „Sie hat mir Alchemie beigebracht.“ Nela wartete, weil es schien, als ob er noch etwas sagen wollte, aber Gero schwieg.

    Später kam Jaru ans Feuer und die Buddler packten ihn und warfen ihn dreimal hoch. Jaru war einer von ihnen gewesen, und mit seinem Traum von der Quelle hatte alles begonnen. Jaru lachte. Später erzählte er Gero, was Ireg mit ihm besprochen hatte. Er hatte ihm noch ein paar andere Angebot gemacht. Er könne auch in die Fußstapfen seines Vaters treten und wieder mit Tasso zur See fahren. Der Reichtums seines Vaters sei zwar wahrscheinlich verloren, da niemand genaueres über die Schiffe wisse, an denen er Beteiligungen besessen hatte. Aber die Familie werde solange für ihn bürgen, bis er eigenes Gold habe, und Tasso werde ihm das nötige beibringen. „Wahrscheinlich hofft er, dass ich wenigstens die Esmeralda eines Tages in einem Hafen wiederfinde.“ „Wenn sie nicht Euch findet, mit einer schwarzen Fahne gehisst“, grinste Gero.
    Das zweite Angebot war, die Mine zu führen, vielleicht auch nur eine Zeitlang. „Er sagte, dann könne ich kontrollieren, dass alle Forderungen erfüllt werden. Aber ich würde gerne diesen Ort verlassen.“ „Und was ist mit dem Angebot, für den Aufbau der Küstenwache zu arbeiten? Hat er das zurückgenommen?“ „Nein, aber ich habe den Eindruck, dass er dich deutlich mehr schätzt.“ „Deshalb hat er dir auch drei Angebote gemacht, und mir nur eines,“ Gero runzelte die Stirn.
    „Wenn Du auch das allererste Angebot so leichtfertig ausschlägst! Du hättest Faids Seilträger werden können!“ lachte Jaru.
    Er war glücklicher bei ihnen als bei seiner Familie.

    Am Morgen sagten sie beide Ireg für den Schutz der Küste zu. Da überreichte er ihnen neue Schwerter, dicke Lederwämser, Kettenhemden und je ein Horn. Das Horn war zum Signale geben. Er erklärte ihnen auch eine Reihe Lichtzeichen und gab jedem von ihnen eine Karte. Dann schrieb er Marik einen Brief, und gab ihn Gero.
    „Jaru wird zuerst mit mir gehen, aber ihr werdet Euch später durch die Arbeit sehen.“
    Damit waren sie entlassen.

    Gero ging alleine zum Tor. Dort wartete Nela. Ireg hatte mit ihr nicht mehr gesprochen. Gero und sie hatten beschlossen, zusammen zu Marik zurückzugehen, denn der Weg durch das sumpfige Flußtal war gefährlicher als der Umweg über die Stadt.

    Sie liefen vier Tage ohne viele Worte und dann stand Nela vor Marik und gab ihm sein Schwert wieder. „Ich habe mir ein eigenes gefunden, es gehörte einem der Sklavenwachen.“ Marik sah es sich an. Es war ein schlanker, ganz leicht gebogener Anderthalbhänder mit einer sehr scharfen Schneide und einem Handschutz wie eine Eisenblüte. Er war erstaunt, dass sie es richtig zu tragen und zu führen wusste. „Einer der Paladine hat es mir gezeigt, während Gero und Jaru bei Ireg waren“, sagte sie. „Und es gab schon ein paar Viecher, an denen ich es testen konnte. Es ist ein gutes Schwert.“ „Ich hoffe, Du weißt noch, wie man eine Sense hält“, sagte Marik und teilte ihr eine aus.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (18.08.2012 um 17:05 Uhr)

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    Belgor trifft Jaru

    Jaru lebte nun schon mehrere Wochen in der Stadt bei den Talakaidis. Das Willkommen in dem alten Haus war seltsam einsilbig gewesen, und er fühlte sich dort nicht wohl. Am Abend hatte ihn der Hausknecht in ein großes Zimmer geführt, in dem ein neues Hemd und ein dunkelblaues Gewand für ihn bereit lagen, aber niemand kam dorthin, um mit ihm zu sprechen. Er vermutete, dass es das alte Zimmer seiner Mutter war, in dem sie vor ihrer Hochzeit bei den Talakaidis gelebt hatte. Tasso traf er nicht, er war auf See.
    Die einzige Person, die hin und wieder mit ihm sprach, war Enita, und bald war die Küche sein eigentliches Zuhause. Enita ließ ihn großzügig probieren, wenn sie etwas besonders leckeres kochte oder buk, und da das nicht gerade selten vorkam, kam sich Jaru manchmal vor, wie im Schlaraffenland.

    Ireg gab ihm einige Aufträge für die Paladine, und Jaru erledigte sie schnell und zuverlässig, aber sie kamen sich dadurch nicht näher. Jaru kannte bald die Stadt gut und traf viele der Bewohner in den unterschiedlichen Vierteln. Ohne dass es ihm selbst auffiel, wurde er bekannt, und da er ganz normal zu den Menschen sprach – ohne das arrogante Gehabe, mit dem sich Ireg oder die anderen Paladine umgaben – traf er auch auf viele freundliche Menschen.
    Den Rest der Zeit verbrachte er beim Schwertkampf-Training. Er hatte sich in der kurzen Zeit sehr verändert. Er war ein Stück gewachsen und war auf dem besten Weg, so breitschultrig und stark zu werden, wie Ireg. Er rasierte sich jetzt, und nichts erinnerte mehr an den „Strauchdieb“, den Ireg bei der ersten Begegnung geglaubt hatte, vor sich zu haben.
    In Iregs Gegenwart war er schweigsam, konzentriert und befangen. Der Paladin erschien ihm streng und unfreundlich. Er sah auch nicht allzu viel von ihm, denn Ireg hatte viele Pflichten und Aufgaben und war nicht oft im Quartier der Paladine oder zu Hause. Aber als er doch mal in dem alten Herrenhaus übernachtete, fragte ihn Jaru, ob er ihm nicht den Umgang mit der Armbrust zeigen könne. Ireg freute sich sichtlich, zeigte ihm einiges und versprach, ihm eine Armbrust aus der Waffenkammer mitzubringen, wenn er den nächsten Auftrag gut erledigte.
    In einem Fischerdorf gab es seit einigen Tagen Gerede um Orks, und Ireg wollte wissen, ob dahinter Tatsachen steckten.

    Jaru ließ sich den Weg beschreiben und brach auf.

    Unterwegs kam an einer Taverne vorbei, die „Zur gespaltenen Jungfrau“ hieß, und er erinnerte sich, wie seine Mutter davon erzählte, wie sie dort geheiratet hatte. Zwei Tage rauschendes Fest auf dem Land, und danach viele Wochen Seereise, mit schlechtem Wetter, karger Verpflegung und den unglaublichsten Geschichten über merkwürdige Tiere, Seemannsbräuche und Wetterphänomene.
    Er öffnete die Tür zur Taverne, und sah einen brummeligen Mann mit Holzbein. Er fragte nach dem Weg ins Dorf, und erhielt eine einsilbige Antwort und einen Wink nach Westen. Der Mann hätte ihm etwas über die Orks erzählen können, aber Jaru konnte das nicht wissen, und der Einbeinige wusste nicht, was es diesen Fremden anginge.

    - - -

    Gero kam gegen Abend in das Fischerdorf, aus dem Marlan stammte. Es fiel ihm ein, sobald er das Kloster sah, das sich in der Nähe auf einem Felsen über das Meer erhob. Die Ernte war vorüber, und er war froh, mal wieder ungebunden über das Land streifen zu können. Marik hatte keinen Auftrag für ihn, war aber einverstanden gewesen, als Gero ihm vorschlug, sich für ein paar Tage an der Küste umzusehen.
    Gero suchte das Haus, in dem, wie er wusste, Marlan bei Guran gelebt hatte, und sah davor einen jungen, dicken Feuermagier stehen. Gero sprach ihn nicht an.
    Ein paar Häuser weiter kam er zum Haus eines Tischlers, und Gero hielt an, um nach Dietrichen zu fragen. Der Tischler bat ihn ins Haus, und plötzlich sah Gero ein Bild von Marlan an einer der hölzernen Säulen. Er trat näher heran. Das Bild war eine Kinderzeichnung, aber Marlan war trotzdem gut zu erkennen: die braunen Haare, die wie ein Pilzkopf über ihrer Stirn glänzten, die großen grünen Augen und die Feuermagierrobe. Die Marlan auf dem Bild weinte. „Das hat meine Tochter Irla gemalt“, sagte der Tischler. „Es zeigt eine Person, die wir sehr vermissen.“
    „Marlan“, sagte Gero.
    Der Tischler trat neben ihn. Man sah, dass er etwas fragen wollte, aber er fand zuerst keine Worte.
    „Marlan lebt in einer kleinen Klause in den Bergen. Ich habe sie erst vor ein paar Wochen gesehen. Es geht ihr gut“, sagte Gero.
    Der Tischler sah ihn eine Weile an, aber Gero erschien es, als wolle er durch seine Augen hindurch Marlan sehen. „Wir hatten so wenig Zeit, uns zu verabschieden“, sagte der Tischler, als ob das irgendetwas erklärte.
    „Kommst du öfter zu ihrer Klause“, fragte er Gero.
    „Ja, ich wollte diesen Herbst noch mal vorbei gehen.“
    „Kannst du ihr diesen Beutel mitnehmen? Irla hat ihn versteckt, weil sie nicht wollte, dass Marlan weggeht. Aber Marlan ... sie musste ja gehen, und so hat sie ihn nicht mitgenommen.“
    Was eine gute Gelegenheit, Marlan wiederzusehen! „Ja", sagte Gero. Der Tischler gab ihm einen kleinen Lederbeutel. Dann verkaufte er ihm ein paar Dietriche.
    Als Gero ging, sah er im Hintergrund des Raums ein kleines Mädchen stehen. Sie hatte lange dünne Zöpfe in der gleichen Farbe, wie Marlans Haar war, stand ganz still und sah ihm mit großen Augen nach.

    - - -

    Jaru fand eine Fischerhütte, in der man etwas zu essen bekommen konnte, und kehrte dort ein. Die Menschen betrachteten ihn neugierig, aber seine kriegerische Kleidung hielt sie wohl auf Abstand, und er war der einzige, der allein an einem Tisch saß. Er hörte auf die Gespräche an den anderen Tischen, und er hörte mehrmals die Worte „Ork“ und „dunkler Krieger“. Als er bezahlte, fragte er den Wirt danach, aber der nahm bloß das Gold, und sagte: „Wir wollen hier keinen Ärger haben.“
    Jaru ging durch das dunkle Dorf bis an den Strand, wo er besser sah, da der Mond hell auf den Sand und die See schien. Er ging Richtung Süden, bis er an einige Felsen kam, und plötzlich hörte er Waffengeklirr und Kampfeslärm. Vorsichtig schlich er darauf zu.
    Als er um eine Felsnase bog, sah er, daß dort ein Ork gegen einen Lurker kämpfte. Jaru hiel inne und starrte. Der Ork trug eine Rüstung, wie er sie nicht kannte und kämpfte mit einem großen Schlachtbeil. Der Lurker war wohl zwischen zwei Felsen herausgesprungen, und der Ork traf manchmal die Felsen mit dem Beil. Das war das Geräusch, das Jaru gehört hatte. Der Lurker fauchte und und bedrängte den Ork hart.

    Jaru überlegte. Er hatte keine guten Erinnerungen an die Orks auf Khorinis, aber er wusste, dass hier auf den Inseln einiges anders war. Er hatte sogar von Orksklavenlagern gehört, und zu Zeiten, als er selbst noch im Sklavenlager war, hatte er sich manchmal vorgestellt, in ein anderes Lager verlegt zu werden und Orks kennenzulernen.
    Aber hier war er mit diesem Ork alleine. Er beschloss, ihm zu helfen, um so eine Basis für ein Gespräch zu schaffen, und griff den Lurker von hinten an. Zu zweit konnten sie ihn schnell besiegen. „In diesem Gemetzel liegt keine Ehre“, sagte der Ork plötzlich und steckte seine Waffe weg. Sie standen sich einen Moment gegenüber und starrten sich im Mondlicht an.
    Jaru blickte auf die rote Tunika, den Brustharnisch und die Beinschienen des Orks, und die Musterlinien auf seinem großen Schlachbeil. Jaru sah, wie der Ork sich abwenden wollte. „Kennst du den dunklen Krieger?“ fragte er aufs Geradewohl. Der Ork brüllte vor Wut auf, und griff ihn an.
    Es war Jarus Glück, dass der Ork noch von dem Kampf mit dem Lurker geschwächt war. Er hätte ihn sonst nie besiegen können. Der Ork griff mit unglaublich wuchtigen Schlägen an, für die er den Schwung aus einer Drehung um die eigene Achse holte. Jaru gelang es zweimal, auszuweichen, und beim dritten Mal griff er direkt danach von der Seite an. Der Ork fiel nach hinten, und Jaru traf ihn ein weiteres Mal. Doch dann stand der Ork plötzlich wieder auf und schlug Jaru hart an die Schulter, so daß er fast das Schwert fallen gelassen hätte.
    Sie umkreisten sich mehrmals. Dann holte der Ork wieder Schwung. Diesmal verkürzte Jaru die Distanz, und traf den Ork tief in die Seite, als er ihm noch den Rücken zuwandte. Abermals ging der Ork zu Boden, und diesmal setze Jaru mit einem Stich nach. Er hörte nur noch ein Gurgeln, und dann war der riesige Ork-Krieger tot.

    Jaru bereute seine Frage nach dem schwarzen Krieger. Er hatte nichts dadurch erfahren, und einen Ork getötet, ohne dass wusste, warum. Er konnte noch nicht mal besonders stolz auf den Sieg sein, da der Lurker ihm mehr als die halbe Arbeit abgenommen hatte. Er nahm das Beil des Orks an sich, und durchsuchte seine Taschen. Er fand etwas gebratenes Fleisch, eine Flasche Schnaps, ein paar Beeren und Dietriche und einen merkwürdigen Schlüssel.
    Er zog den Ork zwischen die Felsen, sodass er kaum zu sehen war, schob etwas Sand über die Leiche und legte den toten Lurker darauf. Dann sah er sich weiter zwischen den Felsen um.
    Er musste noch einige Kämpfe gegen Lurker bestehen, aber zuerst fand er nichts. Später, als die Sonne emporstieg, fand er zwischen Algen einen massiven Rundschild mit fremden Zeichen, und noch etwas später eine Ork-Armbrust. Sie hatte keine Kurbel, sondern war dazu gebaut, sie direkt zu spannen, aber er war nicht stark genug dafür.
    Das waren beunruhigende Neuigkeiten. Der Ork musste aus Myrtana oder Nordmar gekommen sein. Er suchte noch einige Stunden den Strand in der Nähe ab, aber er fand weder Spuren, noch andere Orks, noch weiteres Strandgut.

    So beschloss er umzukehren, um Ireg von dem Kampf und den gefundenen Gegenständen zu berichten.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (20.08.2012 um 12:46 Uhr) Grund: Sig aus ;)

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    Die Rune

    Nela schnitt die Federn ihres letzten Pfeils etwas schräger, dann legte sie ihn beiseite und wandte sich den Bündeln und Päckchen auf ihrem Bett zu.
    Da lagen Flaschen und Fläschchen in mehreren Größen, ihr neues grünes Kleid, ein frisches Hemd, ein Päckchen Schwefel, ein kleiner Beutel mit Venutos Runenstein, ihr Messer, eine kleine Axt, viele Bündel mit getrockneten Pflanzen, Salz, ein Beutel Gold, gebratenes Fleisch, Brot, selbstgemachte Marmelade, ihre Waffen, und... Fischköpfe. Genauer gesagt, gesalzene, gebackene Köpfe kleiner Fische. Letzteres war natürlich ein gewagtes Geschenk, aber Gero hatte diese Leckerei von der Küste geliebt als Kind – liebte sie immer noch – und möglicherweise teilte ein anderes Küstenkind diese Vorliebe.
    Sie packte alles, bis auf die Waffen, in eine geflochtene Kötze (Tragekorb). Sie verstaute die Pfeile in einer Pfeiltasche. Dann wandte sie sich dem Bogen zu und untersuchte ihn gründlich. Danach steckte sie ihn in den Köcher, und befestigte diesen an der Kötze, und die Pfeiltasche an der anderen Seite. Zuletzt ölte sie ihr Schwert und legte es auf den Tisch.
    Marik kam den Flur entlang, sah durch die geöffnete Tür ins Zimmer, klopfte und trat im selben Moment ein. Nela lächelte ihn an. Marik legte einen Arm um ihre Schulter. „Wenn man deine Vorbereitungen sieht, könnte man glauben, du ziehst in den Krieg.“
    Sie lachte leise. „Ich bin ganz aufgeregt. Ich habe noch nie eine Magierin getroffen“, sagte Nela. „Und so, wie Gero von ihr schweigt, muss sie hübsch sein.“
    Jetzt lachte Marik. Er schloss die Tür von innen.

    - - -

    Am nächsten Morgen brach sie auf, sobald sich der erste graue Schimmer zeigte. Nela lief den Weg durch den Sumpf, den sie im Sommer mit Gero von den Bergen gekommen war. Diesmal brauchte sie nur zwei Tage, weil sie ihn kannte und wusste, wo sie Bäche kreuzen und Tiere vermeiden musste. Sie schlief sehr wenig, da sie alleine war, und aß von dem mitgebrachten Proviant. Als sie die Berge erreichte, fand sie einen großen Flecken voller Waldbeeren. Da konnte sie nicht widerstehen, rastete ausgiebig und aß sich an den Beeren satt.
    Es war Abend, und ein Sonnenuntergang tauchte alles in rotes Licht, als sie die Klause erreichte.
    Marlan stand an einem Holzblock vor der Innos-Statue, und hackte Holz.

    Als sie Nela hörte, wandte sie sich um. „Ich grüße dich, edle Magierin“ grüßte Nela.
    „Innos zum Gruß, Fremde“, antwortete Marlan und winkte sie zu dem Tisch vor der Klause.
    Nela und Marlan stellten sich vor, und Marlan kam es so vor, als habe sie Besuch von einer Nachbarin.
    Sie kochte Tee, und Nela packte ihre Kötze aus. Nela tauschte die Flaschen und Fläschchen, den Schwefel, die getrockneten Pflanzen und das Salz gegen Heiltränke und Verwandlungstränke.
    Als der Tee fertig war, stellte sie die selbstgemachte Marmelade und die Fischköpfe auf den Tisch. „Das hab ich dir als Bezahlung mitgebracht, weil ich dich etwas sehr Spezielles fragen möchte, Marlan.“ Marlan untersuchte das Paket, fand die Fischköpfe, lachte, und fiel Nela um den Hals. Sie lachte immer noch, als sie den Tee eingießen wollte, und verschüttete einen Teil.
    „Woher wusstest du das, Nela? Gero und ich haben gar nicht über Fischköpfe gesprochen!“ Nela sah sie freundlich an. Sie mochte sie schon jetzt. „Es war nur so ein Gedanke“, sagte sie lächeld. „Gero mag sie auch sehr gerne.“
    Plötzlich stand Geros Name zwischen ihnen, und beide Frauen wurden etwas verlegen.

    „Bitte, setz dich.“ Marlan winkte zum Tisch. „Du hast erwähnt, dass du etwas fragen möchtest.“ Sie erwartete eine Frage über Alchemie oder nach einer Salbe.

    „Ich möchte kämpfen lernen – mit Magie“, sagte Nela.

    Marlan stand plötzlich wie eingefroren, und sah sie ernst an. „Wie kommst du auf diese Idee, Nela“, fragte sie, aber es war weder Abwehr, noch Spott in ihrer Stimme.
    Nela erzählte ihr von der Flucht aus Khorinis und den Verwandlungsspruchrollen, die ihr der junge Feuermagier geschenkt hatte, dann von den Mann von der Stadtwache, der ihr den Bogen abgenommen hatte und zuletzt von Venutos Ende und der gefundenen Rune.
    „Aber ich kann sie nicht anwenden, und ich dachte, du könntest es mir beibringen.“

    „Und jetzt denkst du, eine Rune können sie dir nicht nehmen, Nela?“ Marlan trat ganz nah an sie heran und sah sie eine Weile prüfend an. „Du täuscht dich, Nela. Meine Runen haben ihre Kraft verloren.“

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (20.08.2012 um 12:50 Uhr) Grund: Sig aus ;) Vol. 2

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    Marlans Bericht

    „Gero und Jaru waren hier nach Jarus Befreiung. Jaru ging es schlecht, er war von einem Ripper gebissen worden und völlig erschöpft. Gero ließ ihn hier zurück, um eine Zutat für einen Heiltrank zu besorgen. Als er zurück kam, brauten wir den Trank und Jaru wurde geheilt.
    Bevor die beiden gingen, erzählten sie mir von der Flucht dreier anderer, und so ging ich später dorthin, wo die drei anderen möglicherweise noch waren und Hilfe brauchten.
    Es ist ein zerklüftetes Tal auf der anderen Bergseite. Die Sklavenhändler hatten dort eine Seilbahn gebaut, die aber jetzt kaputt ist.
    Ich suchte eine ganze Weile, aber ich fand niemanden. Dann ging ich weiter in die Berge Richtung Orkwald, denn ich wollte einen Ripper zähmen. Aber ich sah keine Ripper, nur Vögel, Snapper und Wölfe. Ich jagte ein bisschen und briet das Fleisch, weil ich dachte, ich könnte auf dem Rückweg den Sklaven etwas zu essen in die Mine werfen.
    Dann geriet ich plötzlich in eine sehr missliche Lage. Ich hatte mich in der Nähe eines Snapperrudels auf einem Felsen platziert, und hatte begonnen, sie zu beschießen, als plötzlich meine Runen versagten. Du musst wissen: ich habe überhaupt keine anderen Waffen. Ich habe immer nur mit Magie gekämpft. Ich hatte noch nicht mal meine Axt dabei, oder ein Küchenmesser. Das, was mich in diesem Moment rettete, war, dass ich noch einen Blutfliegen-Verwandlungstrank bei mir hatte, und fliehen konnte.

    Ich flog über die Mine zurück, und da sah ich, dass sie inzwischen befreit war. Paladine bewachten sie, und die Arbeiter bauten sich neue Häuser im Wald. Da verwandelte ich mich in einer ruhigen Ecke zurück, um mit ihnen zu sprechen.
    Sie berichteten mir ähnliches über ihre Runen. Sie hatten es bemerkt, weil eine der Sklavenlagerwachen, der bei der Befreiung entkommen war, sich früher am Nachmittag in der Nähe gezeigt hatte. Sie wollten ihn mit Magie bekämpfen, weil er so weit entfernt stand, aber ihre Runen funktionierten auch nicht.
    Dann baten sie mich, nach einem verletzten Paladin zu sehen, der bei der Befreiung der Mine von einem Felsen gefallen war, und immer noch bewusstlos war. Ich konnte ihm mit Magie nicht helfen. Erst, als ich mich an etwas erinnerte, was ich von meiner Mutter gelernt habe - ...
    Weißt du, der Kopf eines Menschen ist nicht ganz fest. Es sind lauter einzelne Knochen, und sie können sich gegeneinander verschieben. Manchmal geschieht es, dass bei einem Sturz die Knochen falsch zusammengedrückt werden. Dann muss man versuchen, sie zu lösen. Aber es geht nur ganz sanft. Ich untersuchte ihn, und ich fand eine solche Stelle. Ich bewegte seinen Kopf hin und her, und plötzlich gab es ein kleines Geräusch, und er schlug die Augen auf. Er erinnerte sich, aber er konnte noch nicht aufstehen. Ich blieb über Nacht, und am nächsten Tag behandelte ich ihn noch einmal. Und danach ging es ihm besser. Ich denke, dass er jetzt wieder ganz normal seinen Dienst versehen kann.

    Er und die anderen Paladine waren sehr froh, und baten mich darum, dass ich ihnen etwas sage, womit sie mich entlohnen können. Ich bat um einen Bogen, damit ich mich hier verteidigen kann, aber es hatte nur Berlot einen Bogen, und den konnte ich nicht spannen. Sie boten mir ein Schwert an, aber das wollte ich nicht.“

    Nela hatte den Bericht staunend gehört. Sie war froh, dass es Berlot wieder besser ging. „Wie kann es sein, dass die Magie plötzlich versagt? Ist so etwas jemals vorher passiert?“
    „Es gab in den vielen Jahrhunderten vor uns immer wieder andere Magie. Manchmal verändert sich die Kultur, und die Menschen beten zu anderen Göttern. Dann verändert sich auch die Magie. Ich denke, es gibt immer noch Magie, die ohne Runen funktioniert, aber ich kenne sie nicht. Ich gäbe viel dafür, jetzt in den alten Bücher des Klosters nachschauen zu können, aber ich bin verbannt, weil es jemanden wie mich gar nicht geben sollte.“
    „Weil Du eine Frau bist.“ „Ja.“

    „Wie kommt es, dass du Magierin geworden bist?“ „Es war eine Art Versehen. Sie haben mich als Magd zu einem alten hilflosen Magier gegeben, weil er sich aus Zerstreutheit vergiftet hatte. Er brachte mir ein paar Sachen bei, damit ich ihm helfen konnte, und ich war gut darin, mir alles zu merken. Und dann lernte ich einfach immer weiter. Und er erzählte, von Büchern, die sie im Kloster haben, von Ritualen, Beschwörungen,... und ich lernte einfach alles und probierte es aus. Und ich denke, das Beten hat irgendwie auch geholfen. Manchmal betete ich, und danach fühlte ich mich geschickter oder im Geist gestärkt.
    Als er starb, versah ich die Arbeit einfach weiter. Irgendwann zog ich mir eine seiner Roben an, weil ich gewachsen war, und mein Kleid nicht mehr passte und ich kein Geld für neuen Stoff hatte. Die Leute im Dorf hat es nicht gestört. Sie kannten mich, und wussten, dass meine Heiltränke wirken, und der Rest war ihnen egal.“
    „Und dann hast du dir auch die Haare geschnitten.“
    „Oh, nein, das war meine Mutter, bevor sie mich weg gaben. Manche alte Männer sind... aber er war nicht so. Er war einfach nur freundlich. Es hat mir so weh getan, wie sie gesprochen haben, als die Magier kamen und alles untersucht haben. Als ob er dumm gewesen sei. Er war nicht dumm. Er war einfach nur alt, und ich glaube, es war ihm eben nicht wichtig. Er hatte einen klugen Schüler, und er bekümmerte sich nicht mehr darum, was das Kloster dazu zu sagen gehabt hätte. Weißt du, in all diesen Jahren, die er im Dorf war, hat ihn keiner der Magier auch nur ein einziges Mal besucht...“
    „Kannst du nicht vielleicht jetzt zurückkehren, wo die Runen ihre Macht verloren haben?“
    „Ich weiß nicht, Nela. Ich habe Angst.“
    „Was haben sie dir angedroht, dass du freiwillig in die Wildnis gegangen bist?“
    „Das - oh, sie haben mich schon wählen lassen, weißt du...“
    Nela schwieg und wartete.
    „Ein Vergessensritual“, sagte Marlan und fing an, zu weinen.

    Als sie wieder ruhiger atmen konnte, fing sie an, zu erklären: „Das ist nicht wie ein normaler Vergessenszauber, wo man dann ein bisschen was vergisst, aber einem sonst nichts zustößt. Es hätte mir passieren können, dass ich meine Familie nicht mehr kenne, oder auch nichts mehr weiß, von dem was mir meine Mutter beigebracht hat...“
    Nela nickte. Niemand würde so etwas freiwillig erdulden.
    Später kochten sie zusammen, und nach dem Essen brachte Marlan Nela bei, wie man Heiltränke zubereitete. Sie kannte verschiedene, aus verschiedenen Pflanzen.
    „Das ist sehr praktisch, weil in unterschiedlichen Regionen auch unterschiedliche Pflanzen wachsen.“
    Dann saßen sie zusammen, sahen ins Feuer und erzählten sich Geschichten. Nela erzählte noch einmal ausführlich die Flucht aus Khorinis. Das erste Mal sprach sie länger über Mineti. „Sie war so freundlich zu allen Menschen, und es ging so schnell, als sie sie umbrachten. Ich stand dabei, aber ich konnte einfach nichts machen. Wenn ich damals mit Magie hätte kämpfen können... Vielleicht hätte ich sie lange genug aufhalten können, dass sie Zeit gehabt hätte, wegzulaufen.“
    Marlan nickte. „Ja, ich fand immer, dass es ein Geschenk ist, wenn man sich aussuchen kann, wie man handelt. Ich habe ganz selten Magie gegen Menschen angewandt, und wenn, dann waren es eher Schlafzauber, oder ähnliches, aber allein, dass ich es gekonnt hätte, hat mein Leben verändert. Deshalb würde ich gerne nach dieser anderen Magie forschen, die keine Runenmagie ist, aber es ist wirklich ein Problem, dass mich die Magier jetzt kennen. Sie würden mich nie ins Kloster einlassen. Sie haben solch eine Angst davor, ich habe es nie verstanden.“
    „Vielleicht kann ich dir helfen“, schlug Nela vor. „Mich kennen sie nicht, und wenige wissen, dass ich lesen und schreiben kann. Für die meisten bin ich einfach ein Bauernweib. Zumindest solange sie mein Schwert und den Bogen nicht sehen.“ Den letzten Satz sagte sie mit einem so zufriedenen Grinsen, dass Marlan kichern musste.

    Dann schmiedeten sie Pläne, aber viel Gesprochenes wurde wieder verworfen. Erst als der Himmel hell wurde, gingen sie schlafen.

    Am nächsten Mittag, als sie zusammen einen Frühstückstee tranken, zog Nela einen kleinen Beutel aus der Tasche und spielte gedankenverloren mit Venutos Rune. „Zeig sie mir mal“, bat Marlan.
    „Das ist ja komisch“, fand sie. „Sagte Gero nicht, Venuto sei ein abtrünniger Paladin? Das ist aber eine Feuermagierrune – oder zumindestens fast.“ Sie untersuchte die Rune jetzt eingehender. Am Rand der Lichtung, auf der die Klause lag, hatte die ganze Zeit ein Vogel gescharrt. Plötzlich stand Marlan auf, und spannte den Körper. Der Himmel schien sich zuzuziehen, und langsam bildete sich über dem Vogel ein Knäuel aus Blitzen. Marlan hielt die Spannung einen Moment, und dann krachte eine Entladung in den Vogel. Der Vogel fiel sofort tot um.
    Nela war sprachlos. Es war das erste Mal, dass sie einen Magier kämpfen sah, und diese Vorstellung war wirklich beeindruckend. „Er hat den Bergkristall durch einen schwarzen Turmalin ersetzt! Ich wusste nicht, dass man so etwas machen kann!“ Marlan war ebenfalls erstaunt.
    „Und die Rune funktioniert noch“, sagte Nela. „Möglicherweise ist das die einzige Rune auf dieser Insel, mit der man noch kämpfen kann.“

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (28.08.2012 um 12:41 Uhr) Grund: Sig aus vol. 3

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    Neue Magie

    „Was wirst du jetzt weiter tun? Mit der Rune sieht es so aus, als ob du die neue Magie nicht brauchst.“ Nela hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah Marlan mit schmalen Augen an.
    Marlan stutzte. „Nein. Nela. Es ist etwas Komisches an Magie, die man anwendet, ohne sie zu beherrschen. Und genau genommen gehört die Rune dir, obwohl ich sie im Moment gern behalten würde.“
    Nela fragte: „Wie lange würde es dauern, bis ich gelernt hätte, wie man sie anwendet?“
    „Es ist eine Rune des vierten Kreises, des höchsten, den ich beherrsche. Es kommt natürlich auf die Erfahrung an, aber normalerweise fängt man mit einfachen Feuerpfeilen oder ähnlichem an... Man baut die Runen, die man benutzt selber, an einem Runentisch. Aber ich habe keinen hier, deshalb konnte ich auch keine Spruchrollen herstellen, weil man dafür ebenfalls einen Runentisch benötigt.
    Und in die Magiekreise wird man normalerweise feierlich eingeweiht... Allerdings war es bei mir anders – ich weiß nicht – entweder hat Guran mich heimlich geweiht, oder es ist nebenbei passiert – auf jeden Fall bin ich mir nicht sicher, dass ich Dir alles weitergeben kann, das ich empfangen habe.
    Und dann ist die Magie, die wir Feuermagier entwickelt haben, ja auch kraftlos geworden. Ich weiß nicht genau, was Venuto anders gemacht hat. Ich würde das gerne herausfinden, bevor ich die Rune viel verwende. Allerdings hast du mit einem Recht – die Rune könnte mich schützen, bis wir etwas anderes gefunden haben.“
    „Was schlägst du vor?“ „Die Rune hat mich auf eine Idee gebracht, wie wir dich ins Kloster bringen. Ich werde dir einen Brief schreiben, in dem ich den Feuermagiern davon berichte, dass es einen Abtrünnigen gab. Mir wäre nur recht, wenn du die Rune nicht erwähnen würdest, und vor allem nichts darüber, was ich über den schwarzen Turmalin gesagt habe.
    Du gibst den Brief nicht an der Pforte ab, sondern bestehst darauf, ihn persönlich dem hohen Rat zu übergeben. Du kannst ja sagen, wie wichtig es ist, dass sie von dem Kampf zwischen Faid, Ireg und Venuto aus erster Hand erfahren.
    Und die Zeit im Kloster nutzt du, soviel zu lesen, abzuschreiben und ...äh, nun, das musst du entscheiden, sagen wir, zu finden, wie du kannst. Ich werde dir eine Liste von Büchern mitgeben, von denen ich denke, dass sie besonders wichtig für uns sind. Und wenn du damit zurückkommst, dann verspreche ich dir, dass ich dir alles, was ich weiß und was ich aus den Büchern schließen kann, dir auch beibringe. Wenn du mich bei den Feuermagiern nicht verrätst, Nela. Denn das, was wir vorhaben, würde sie dazu bringen, uns bis in die hinterste Ecke dieser Insel zu verfolgen. Wir dürfen mit niemandem darüber sprechen.“
    „Einverstanden“, sagte Nela. Sie erinnerte sich an die Panne mit dem Rock. „Aber die Liste werde ich auswendig lernen. Der eine Tag mehr, den das dauert, wird unseren Plan nicht gefährden. Und du kannst Venutos Rune so lange behalten, bis ich zurückkomme.“


    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (20.08.2012 um 12:59 Uhr) Grund: Sig aus Vol. 4

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    Das Baumhaus

    Gero ging in der Nähe des Klosters an den Strand, um sich eine ruhige Stelle für die Verwandlung in eine Blutfliege zu suchen. Er brannte darauf, Marlan wiederzusehen.
    Vorher hatte er dann doch noch mit dem jungen dicken Feuermagier gesprochen und ihm Flaschen, Fläschchen und Schwefel abgekauft.
    Der Strand erschien ihm ungewöhnlich schmutzig, voller geschwärzter Holzstücke und undefinierbarer Stofffetzen. Er suchte ein bisschen herum, fand aber zunächst nichts Verwertbares und auch keine größeren Trümmer. Plötzlich sah er eine Kiste, die bis zur Hälfte in den Sand eingesunken war. Er grub sie aus, konnte sie aber nicht öffnen.
    Er beschloss, sie ebenfalls zu Marlan mitzunehmen. Sie freute sich sicher über einen zusätzlichen Zeitvertreib.
    Er verwandelte sich und flog Richtung Berge.

    - - -

    Als er die Klause erreichte, war Marlan nicht dort. Er stand einen Moment unschlüssig, da hörte er Axtschläge aus dem Wald. Er folgte dem Geräusch, und fand sie ein Stück Richtung Berge beim Fällen kleinerer, gerader Bäume.
    Als sie ihn kommen hörte, drehte sie sich um und lächelte.
    „Was machst du da“, fragte er. „Das ist keine Frauenarbeit.“
    Sie grinste. „Wenn ich einen richtig dicken Baum brauche, darfst du ihn mir gerne fällen. Und zur Klause schleppen.“ Mit diesen Worten wandte sie sich zu den etwa 10 gefällten Baumstämmen um, streckte die Hand aus, brachte sie ins Schweben, und transportierte sie bis zu einem sehr alten, verästelten Baum mit dichter Krone.
    Gero folgte ihr.
    „Ich habe deine Schwester Irla gesehen“, sagte er. „Dein Vater sendet dir Grüße und diesen Beutel.“
    Sie wandte sich strahlend um. „Wirklich!“ freute sie sich. „Zeig her.“
    Gero gab ihr den kleinen Beutel. Sie öffnete ihn, und etwas Glitzerndes fiel auf ihre Handfläche. Bergkristalle! Und sehr schöne! Einen Moment stand sie wie in Gedanken, dann wischte sie sich verlegen über die Wange. Er sah, dass sie feucht war. „Irla“, sagte sie, nur dieses eine Wort.
    Plötzlich atmete sie tief ein, hob den Kopf, winkte Richtung Klause und sagte: „Also ich brauche jetzt erst mal einen Tee.“

    Ein paar Tassen Tee später – Marlan hatte sich jede Einzelheit seines Aufenthalts in ihrem Dorf beschreiben lassen – gab er ihr die Flaschen und den Schwefel und zeigte ihr die Kiste, die er am Strand gefunden hatte.
    Sie probierte etwas am Schloss herum, aber das bewegte sich nicht. Sie ging in den Raum, in dem Jaru gelegen hatte, kramte in einer Schatulle, die am Kopfende des Bettes auf einem Sims stand, und kam mit einem kleinen Gegenstand zurück. „Ich wär nicht die Tochter eines Tischlers, wenn ich das Ding nicht aufbekäme“, sie warf Gero einen verschwörerischen Blick zu und versuchte ein zweites Mal, die Kiste zu öffnen. Diesmal war ein Klacken zu hören, und dann noch ein zweites und drittes, und die Kiste sprang auf.
    Beide beugten sich neugierig darüber. Die Kiste enthielt etwas Kleidung und – Bücher. Da die Kiste sehr fest schloss, war alles trocken und sauber. Marlan griff ein Buch heraus: „Über die ewigen Sterne am Firmament und ihr Wandel in den Jahreszeiten“ stand darauf. Marlan blätterte darin. Es gab Zeichnungen verschiedener Sternenhimmel, Tabellen und kurze Texte mit einzelnen bekannten Buchstaben und fremden Symbolen.
    „Kannst du das lesen?“ fragte Gero.
    „Mhm, ich weiß, wie man das liest, ja. Aber es ist nicht zum Lesen, sondern zum Nachschlagen. Man kann damit navigieren, und die Zeit der Aussaat berechnen und solche Sachen.“
    „Die Bauern wissen das auch so“, sagte Gero. „Sie kennen die Erde, und es gibt bestimmte Tage, wenn an denen das Wetter so oder so ist...“
    „Ja“, sagte Marlan. „Manchmal gibt es verschiedene Wege.“
    Sie zog das nächste Buch heraus. „Über das Feuer das wohnet in den verschiedenen Kristallen so man fyndet in der Erden.“ Diesmal war Marlan wie elektrisiert. Es war eins der Bücher, das sie Nela ans Herz gelegt hatte, zu suchen, und nun hielt sie es so schnell in ihren Händen! Sie schlug es auf. Auf dem Inneneinband stand ein Name und darunter eine Widmung mit einem anderen Namen:

    Ingmar

    Meinem Waffenbruder Tasso

    Gero stutzte einen Moment, als er das sah. Hatte er nicht einen der Namen in letzter Zeit nennen hören? Er zergrübelte sich den Kopf, aber es fiel ihm nicht ein.
    Die anderen Bücher enthielten Karten, Materiallisten und Beschreibungen von Seereisen in Küstennähe.
    Die Kleidung war alt und viel getragen: ein Hemd, eine leichte blaue Hose, eine dunkelblaue Tunika mit grün-weißer Stickerei. Ganz unten in der Kiste lag ein merkwürdiger Zettel mit Buchstaben, wie von Kinderhand geschrieben.
    „Tasso ist für imer meyn froind.“ Und ein Bild von einem Segelschiff.

    - - -

    Als sie sich verabschiedeten, fragte Gero: „Soll ich die Kiste nicht vielleicht mitnehmen und Ireg zeigen? Möglicherweise hat die Kiste einem Paladin gehört.“
    „Wer ist Ireg?“ Gero erzählte ihr von der Befreiung des Sklavenlagers und von dem Paladin, der ein Cousin Jarus Mutter war.
    „Man sollte ihn darüber informieren, vielleicht kennt er diesen Ingmar oder einen Tasso. Aber bis sie oder ihre Verwandten nicht gefunden sind, werde ich die Kiste verwahren, Gero. Ich bin eine Feuermagierin. Ich bin eine von den Personen, denen solche Bücher anvertraut werden.“
    Gero nickte, lächelte und winkte. Dann wandte er sich zum Gehen.
    Marlan wandte sich sofort ab und stürzte in ihre Klause.
    „Ich werde ab jetzt Tag und Nacht schreiben“, dachte sie. „Dieses Buch hat mir Innos gesandt für die Tage meiner geduldig ertragenen Einsamkeit.“

    Das Baumhaus konnte warten.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (28.08.2012 um 12:44 Uhr) Grund: Sig aus Vol. 5

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    Das Kloster

    Die Überlieferung will wissen, dass es am Anfang der Ausbildung zum Feuermagier eine Zeit der Demut gibt, der Entbehrungen und der Zweifel.
    Nela sollte später ersteres immer bekräftigen, wenn sie auch stets zu betonen pflegte, dass nur Bauern wirklich wüssten, was Entbehrungen waren, und was die Zweifel betraf – nun, darüber sprach sie nicht.

    Sie war nun seit drei Tagen im Kloster, und war sich sicher, dass die ihr abverlangte Demut für die Ausbildung von mehr als einem Feuermagier ausreichte.
    Sie hatte schweren Herzens ihr Schwert in der Nähe des Klosters zwischen Felsen versteckt. Dann sammelte sie ein langes Bündel Reisig, in das sie ihren Bogen und die Pfeile steckte, und ging langsam den Weg zur Pforte hoch.
    Nachdem sie ihr Anliegen vorgebracht hatte, wurde sie zuerst gründlich durchsucht. Das Bündel nicht – sie hatte es gleich zu Anfang innen an der Klosterwand abgestellt. Sie war sehr froh, weder Venutos Rune, noch die Bücherliste dabei zu haben. Als sie die Hände des Pförtners über ihren Körper streichen fühlte, fragte sie sich ärgerlich, was der alte Sack wohl suchte – von seinem Vergnügen abgesehen - und ihrem Ärger – manchen gefällt ja auch so etwas.
    Dann rief der Alte einen jungen Feuermagier, und trug ihm auf, „das ehrlose Weib dem Rat vorzustellen, denn sie behauptet, etwas gesehen zu haben, was ehrenhafte Frauen, die ihre Häuser versorgen, nicht zu sehen bekommen.“
    Der junge Feuermagier grinste, packte sie an einem Oberarm und zog sie in Richtung des größten Gebäudes im Klosterhof. Sie gingen eine kurze Treppe hinunter, und kamen in eine Art Wirtschaftskeller. Hier wandte sich der Magier Nela zu, fasste sie mit einer Hand unters Kinn und wollte sich gerade über sie lehnen, was etwas missglückte, da sie größer war, als er. Da hörte Nela eine dünne Greisenstimme etwas fragen. Der junge Magier fluchte, ließ sie los und stürmte eine Treppe hoch.

    Nela sah sich um. Von dem viereckigen Raum am Eingang gingen sieben Keller ab, sowie eine Treppe nach oben und eine nach unten. Nela wagte nicht, die Treppe nach unten zu gehen, aber sie sah sich in den anderen Räumen um. Im ersten stand eine Schubkarre, ein stinkendes Fass, mehrere Schaufeln und ein altes Paar Holzschuhe.
    Zweifellos das Werkzeug für den armen Wicht, der hier die Latrinen zu säubern hatte. In Nela entstand eine vage Ahnung, die Knospe einer Idee.
    Der zweite Raum enthielt allerlei kaputte Regale und zerbrochene Gefäße in unterschiedlichen Größen. Ganz unten im Regal lag eine dicke verstaubte Schriftrolle. Sie zog sie vorsichtig heraus und fing an, zu lesen. In einem kurzen Vorwort vor dem Titel stand verworrenes Zeug über Innos und Adanos, wobei Adanos als ein Bruder Innos dargestellt wurde. Nela wollte diesen offensichtlichen Blödsinn schon wieder in das Regal zurück schieben, als das Aufgerollte sich ein kleines bisschen mehr öffnete und den Titel freigab. Oh. Dieses Schriftstück schien tatsächlich eins der gesuchten Bücher zu sein! Nela hörte Schritte auf der Treppe. Sie zögerte nicht, steckte sich das Ding in den Rockbund, zog den Umhang darüber und ging in den Eingangsraum zurück.
    Der junge Magier kam mit flatternder Robe die Treppe hinunter. „Der hohe Rat ist bei einer wichtigen Beratung. Es ist undenkbar, dass du jetzt dort mit deinem profanen Geschwätz die hohe Konzentration störst.“ „Mittagessen“, dachte Nela, und betrachtete die frischen Fettflecken auf seiner Robe.
    „Ich warte gerne, bis der hohe Rat geneigt ist, sich meinen einfachen Beobachtungen über den unwichtigen abtrünnigen Magier zuzuwenden“, säuselte sie, und hätte sich hinterher am liebsten auf die Zunge gebissen. Verdammt! Der schnelle Fund des ersten Buches hatte sie unvorsichtig gemacht. Aber der junge Magier stutzte nur kurz, baute sich kurz vor ihr auf – wieder dieses irritierende Problem mit der Augenhöhe – Nela half ihm ein bisschen, indem sie ihre Augen niederschlug – und knurrte sie an: “Du wartest hier.“
    Dann schwebte er wieder die Treppe hoch. Nela durchsuchte schnell die anderen Räume. Sie enthielten eingekochtes Gemüse und Obst und Wein auf Regalen, an den Wänden rund um einen Hackklotz aufgestapelte, ofenfertige Holzscheite, kleine, merkwürdig riechende Fässer, auf Schnüre gezogene Wurzeln, die dort zum Trocknen hingen und ein riesiges Fischbassin voller Wasser mit zwei dicken Karpfen.
    Nela schlich leise die Treppe hoch. Im nächsten Geschoss gab es vier Schlafgemächer mit je vier Betten. Es war niemand dort. In einem der Gemächer sah sie eine Tür zu einer Art Balkon in der Mitte der Felswand, auf dem das Kloster sich erhob. Nela merkte sich das als möglichen Abflugplatz für Nela, die Blutfliege. Auf einem hohen Stehpult lag ein Buch über Alchemie. Sie las etwas darin, und merkte sich ein paar Hinweise, wie man Manawurzeln am besten vorbereitete, damit sie einen wirkungsvolleren Trank ergaben. Danach durchsuchte sie systematisch ein paar Truhen, die an den Fußenden der Betten standen, fand aber kein Buch. Sie ging eine weitere Treppe hoch, und stellte fest, dass die Decke der Schlafräume eine Art Innenhof war, um die weitere Gebäude in den Fels geschlagen waren. Wenn sie dort umher schliche, sähe man sie aus allen Fenstern der in den Fels geschlagenen Gebäude.
    Sie lief zurück auf die Ebene ihres ersten Fundes, und von dort in den Keller. Dort gab es weitere Weinregale, eine abgeschlossene Tür, die Nela mit ihren Dietrichen nicht aufbekam, Regale mit Heil- und Manatränken, einen Alchemietisch, einen Runentisch und ein weiteres Stehpult mit einem Buch. Dieses Buch enthielt leider nur die Wirtschaftslisten des Klosters. Sie suchte weiter, und plötzlich sah sie an einem Nagel im Alchemietisch einen Schlüssel hängen. Sie nahm ihn an sich und probierte ihn an der verschlossenen Tür, aber er passte nicht.
    Sie ging wieder in den Raum, wo der Magier sie geheißen hatte, zu warten. Sie horchte, überlegte kurz und sah dann durch die Tür, durch die der Magier sie gebracht hatte. Dort lag der untere Klosterhof vor ihr, mit dem Tor, durch das sie gekommen war, an der gegenüberliegenden Seite. Und dort lehnte immer noch ihr Reisigbündel an der Wand.
    Sie sah in das Gebäude links von ihrem. Dort waren ein paar Novizenkammern, und einer der Novizen kehrte. Das Gebäude rechts war die Küche. Im Moment war dort niemand mehr, aber der Herd war noch heiß. Auf Regalen und Tischen standen ein paar Teller mit Mahlzeiten, Krüge, Äpfel und Brot. Nela rührte nichts an. Durch die Tür der Küche blickte sie Richtung Eingangstor, und plötzlich sah sie aus dem Gebäude neben dem Tor einen Paladin treten. Er stellte sich in die Sonne und aß einen Apfel. Dann kehrte er in das Haus zurück. „Offenbar eine Wachstube“, dachte Nela.
    Sie hörte einen ärgerliche Ruf und rannte in das Haus, in dem sie warten sollte. Der junge Magier stand im Flur, schalt sie eine Herumtreiberin, griff sie grob am Arm und führte sie die Treppe hinauf. Nela versuchte unauffällig, das entwendete Buch am Rutschen zu hindern.
    Als sie durch die Tür in den oberen Hof hinaustraten, kamen ihnen aus einem Haus auf der linken Seite viele Magier und Novizen entgegen und verteilten sich auf die verschiedenen Gebäude. Nela merkte sich den Schattenstand im Innenhof und den Sonnenstand über der Kirche. Die Kirche lag gegenüber. Dorthin brachte sie der junge Magier jetzt.

    Die Kirche war nicht groß, aber sehr hoch. Das Licht fiel von oben auf die Innosstatue in der Mitte, und Innos Strahlenkranz leuchtete golden. Man musste um die Statue herum gehen und sah erst dann ein Podest, das am anderen Ende in den Fels geschlagen war, und auf dem vier Magier auf hohen Stühlen saßen. Ein fünfter Stuhl war leer.
    „Was bringst du uns da, Ebonel?“ fragte der Magier, der am ältesten aussah. Nela erkannte die Greisenstimme. „Ein Weib, das an der Pforte eine abstruse Geschichte über einen abtrünnigen Magier erzählt hat.“
    „Ah.“ Die Wirkung war stärker als erwartet. Alle Magier sahen sie jetzt aufmerksam an: keine Schläfrigkeit mehr, und kein Alte-Herren-Gehabe. Der junge Magier setzte an, noch etwas zu sagen, da sagte der Alte auf der Linken Seite: „Ebonel, wir sehen deine Bemühungen. Geh jetzt zurück zu deinen Aufgaben.“ Der junge Magier verbeugte sich und ging.

    Die Alten ließen sich Zeit; sie musterten sie von oben bis unten, und dann noch mal von unten nach oben. Nela hielt den Blick gesenkt. Sie merkte, wie ihr Gesicht heiß wurde. „Was für ein unwürdiges Theater“, dachte sie und erinnerte sich an den jungen Feuermagier, dem sie ihr Leben verdankte. Die Menschen waren so verschieden, man durfte niemals nur auf die Kleidung sehen.

    „Sprich jetzt“, sagte die Greisenstimme. Das erste Mal, seit sie sich erinnern konnte, begann Nela nicht mit ihrem Namen. Sie hielt den Blick gesenkt, und hielt Marlans Brief hoch, den sie bereitgehalten hatte. „Ein ehrwürdiger Magier hat die Dinge aufgeschrieben, die sich zugetragen haben, besser als ich sie berichten könnte. Ich wurde nur angewiesen, den Brief euch persönlich zu übergeben, weil ich die Ereignisse, die dort geschrieben sind, mit meinen eigenen Augen gesehen habe – falls die Herren Magier mich fragen möchten, wenn sie den Brief gelesen haben.“ Nela verbeugte sich und hielt den Brief dem Magier auf dem mittleren Stuhl hin, der bisher noch nicht gesprochen hatte.
    Der mit der Greisenstimme nahm ihn, öffnete ihn, drehte ihn herum, um die Unterschrift zu betrachten und zeigte sie den anderen. Die Temperatur im Raum schien zu sinken. Er las den Brief still durch, dann reichte er ihn weiter. So machten es alle. Als der Brief wieder zur Greisenstimme zurück kam, fragte dieser: „Kennst du den Inhalt des Briefs?“
    „Ich weiß, dass es um den abtrünnigen Magier geht, den ich gesehen habe, wie er versucht hat, mit Magie einen Paladin zu töten, der mit einer Sklavenlagerwache kämpfte.“
    „Was hattest du in dem Lager zu schaffen?“
    „Mein Sohn führte die Paladine zu dem Lager. Er wollte nicht, dass ich alleine im Wald zurückbliebe.“
    „Was hast du gesehen?“
    „Der Paladin und die Sklavenlagerwache kämpften auf Leben und Tod. Beide waren schon sehr geschwächt. Die anderen Paladine und mein Sohn waren in andere Kämpfe verwickelt. Eine andere Wache zielte mit Magie auf den Paladin. Ich sah, wie Blitze sich über dem Haupt des Paladins sammelten. Da traf ein Pfeil den Abtrünnigen und er ließ den Zauber fallen. So konnte der Paladin sich heilen und ihn töten.“
    „Wie genau sahen die Blitze aus?“
    „Sie waren bläulich, und es war ein Knäuel. Es sah aus, wie Schlangen aus Blitz.“
    „Und als er den Zauber fallen ließ, was geschah mit der Spruchrolle?“
    Das kannst du gerne versuchen, aber nicht mit mir, dachte Nela. Sie erinnerte sich an die genaue Formulierung, die Marlan und sie besprochen hatten.
    „Es war kein Papier, es war ein kleiner Stein.“
    Die Magier zeigten alle eine Reaktion. Einer wurde starr, einer rief etwas, einer rieb sich die Augen.
    „Hast du den Stein genauer gesehen?“
    „Nein.“
    „Wo ist der Stein jetzt?“
    „Sie werden ihn mit dem Toten verbrannt haben.“
    „Warst du da dabei?“
    „Nein, das haben die Paladine und die Sklaven getan.“
    „Und dein Sohn?“
    „Nein, der hat einen verletzten Paladin ins Lager getragen.“
    „Woher weißt du, dass es ein Stein war?“
    „Das Ding war grau. Es fiel zu Boden.“
    „Hast Du mit dem Paladin gesprochen, der ihn getötet hat?“
    „Nein. Er war mit den anderen Männern beschäftigt.“
    „War der... war die Magierin bei dem Kampf dabei?“
    „Nein. Sie kam später, um den verletzten Paladin zu heilen.“
    „Und da hast du ihr von deinen Beobachtungen erzählt.“
    „Ja. Sie war die einzige, die mit mir sprach.“
    „Und dann hat sie dir diesen Brief geschrieben? Wann war das?“
    „Vor der Ernte. Sie wollte, dass ich ihn sofort ins Kloster bringe, aber ich... ich konnte während der Ernte nicht weg.“
    Die Magier fluchten und redeten aufgeregt durcheinander.
    „Wo ist die Magierin jetzt?“
    „Ich weiß nicht, sie ist einfach wieder gegangen.“
    „War sie bei den Toten?“
    „Nein, ich glaube nicht. Ich habe sie nur bei dem verletzten Paladin gesehen.“
    „Wer hat sie geholt?“
    „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich einer der Paladine.“
    Nela gefiel die Wendung des Gespräches nicht besonders. Aber sie blieb ruhig und wartete.
    „Kennst du die Namen der beteiligten Paladine?“
    „Ja. Der den Abtrünnigen tötete, das war Ireg Talakaidis. Der Verletzte heißt Berlot, aber er ist nicht mehr verletzt. Und der Abtrünnige hieß Venuto. Mein Sohn hat seinen Namen gekannt, weil er für die Paladine Informationen gesammelt hat.“
    „Ireg hat uns über die Aktion informiert. Er wollte mal wieder Unterstützung für seine Pläne“, sagte ein großer, breitschultriger Magier, der bisher noch kein Wort gesprochen hatte.
    „Aber er sprach doch von einem abtrünnigen Paladin, diesem Faid, der entkommen ist.“ Greisenstimme. Dann erinnerten sie sich, dass Nela noch vor ihnen stand, und schwiegen.

    Dann sprach plötzlich wieder der Große. „Wir müssen uns beraten. Du, Weib, gehst in eins der Wirtschaftsgebäude und suchst dir Arbeit. Du verlässt das Kloster erst, wenn wir es dir erlauben. Es kann sein, dass wir dich noch etwas fragen müssen.“ Er nickte zur Tür hin.
    Nela verbeugte sich und ging rückwärts um die Innosstatue. Vorwärts ging nicht, das verdammte Buch rutschte nach hinten durch. Zum Glück waren die Magier eitel. Als sie außer Sichtweite war, griff sie sich unter den Rock und zog das Buch heraus. Dann wickelte sie es in ihren Umhang, und legte sich diesen über den Arm. Bis hierhin hatte ja alles sehr gut geklappt, auch wenn das ganze unterwürfige Getue sie schmerzte. Sie pflegte sich durch ihre Arbeit zu empfehlen, nicht durch Gebuckel.

    In den folgenden drei Tagen leerte sie die Latrinen, arbeitete etwas in einem kleinen Gemüsegarten zwischen den Felsen, fegte die Treppen, hackte Holz, aber vor allem lief sie mit einem Eimer, einem Feudel und unterwürfigem Gewusel überall herum, wo gerade niemand war, tat beschäftigt und suchte nach Büchern. Sie fand zwei weitere in dem Observatorium neben der Kirche, für das der Schlüssel vom Alchemietisch im Keller passte. Da der verantwortliche Magier verzweifelt nach dem Schlüssel suchte, fiel der Diebstahl nicht auf. Ihr Reisigbündel hatte sie in den oberen Burghof geholt und dort in einen Winkel beim Garten gestellt.
    In der Bibliothek war keines der gesuchten Bücher. Nela fand das sehr merkwürdig und suchte ein zweites Mal die Regale ab, weil sie es nicht glauben konnte. Sie las ein weiteres Buch über Alchemie und eins über Schwertpflege.
    Das vierte Buch lag unter einem Bett in einem der oberen Schlafräume, die den oberen Hof umgaben.
    Zwei weitere waren in kaputten Regalen in einem dunklen Gang hinter der Kirche verborgen.
    Und dann, in der dritten Nacht, gelang es ihr, den Schlüssel zu dem Gemach im Keller zu entwenden. Ein Magier und ein Novize zechten bis zum Morgengrauen in der Küche, wo sie am Tisch einschliefen. Nela schlich um sie herum und räumte die Becher weg. Da sah sie den Schlüssel auf der Platte liegen. Sie nahm ihn, und probierte ihn im Keller aus. Er passte.

    Als sie leise die Tür öffnete, war sie sehr erstaunt. Das Gemach dahinter war sehr prächtig, schöner als alles, was sie bisher im Kloster gesehen hatte. Und auf den zwei mit Kostbarkeiten übersäten Tischen, auf dem mit rotem Samt bezogenen Bett und den Wandregalen standen zwölf weitere Bücher ihrer Liste.
    Es gab Momente, da machte es keinen Sinn, zurückzublicken. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit ihrer Mutter gesprochen hatte, mit Gero im Bauch, aber keine Hochzeit in Sicht.
    Ein ähnliches Gefühl überkam sie. Sie packte alle Bücher in ihren Umhang, und trug sie auf den Balkon, den sie sich am ersten Tag gemerkt hatte. Dann verschloss sie die Tür zum Gemach wieder, legte den Schlüssel in der Küche neben den Ellenbogen des Magiers, und holte ihr Reisigbündel.

    Sie nahm Bogen und Pfeile heraus, hängte sie sich um und knotete einen Sack aus ihrem Umhang. Dann warf sie das Reisigbündel über die Brüstung, trank einen Blutfliegentrank und flog in die Obstgärten hinter dem Dorf am Fuß des Klosters. Dort in der Nähe im Wald lag ihr Schwert zwischen Felsen.

    Gothic Girlie
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    Irla

    Nela ging hinter dem Dorf durch die Obstgärten und dann die Böschung zum Wald hoch. Vor ihr in einer kleinen Senke spielte ein Mädchen mit braunen dünnen Zöpfen mit einem viereckigen Stein und ein paar Muscheln.
    Nela lächelte das Mädchen an: „Ich bin Nela. Wie heißt du?“ „Irla.“ Das Mädchen lächelte nicht. Nela stieg noch ein bisschen höher in den Wald, fand ihr Schwert und sah zurück auf das Meer und das Dorf. Sie erschrak. Am Strand lagen fremde Schiffe – und es waren sehr viele. Boote bewegten sich zwischen Schiffen und Strand hin und her, Menschen rannten, wurden von anderen Menschen angesprungen und fielen in den Sand. Die ersten Hütten und Häuser brannten. Es zog ihr das Herz zusammen. Sie dachte einen Moment an Gero – er war außerhalb ihrer Reichweite. Aber er war längst ein Krieger, auch wenn er von sich noch nicht so dachte, und er würde seine eigenen Entscheidungen treffen. Die Nächte mit Marik fielen ihr ein – vorbei. Es gab nichts, das sie für ihn tun konnte. Es gab hier und jetzt nur dieses fremde Mädchen, und sie selbst.
    „Immer werde ich bei den Überlebenden sein“, dachte sie erstaunt. Sie besaß noch zwei Blutfliegen-Verwandlungstränke. Sie ging zu dem Kind zurück. Eine dunkle Reihe von Kriegern zog brandschatzend durch die Hauptstraße des Dorfes. „Schau mal, was ich hier habe“, sie zeigte den Trank dem Kind. „Das ist ein Blutfliegen-Verwandlungstrank“, sagte das Mädchen stolz. „Meine Schwester ist ein echter Feuermagier und ich bin schon mit ihr geflogen!“
    „Möchtest du jetzt mit mir fliegen? Ich kann dich zu ihr bringen.“
    Das Mädchen sah sie ernst an. Die Krieger hatten den Dorfrand erreicht und durchsuchten die angrenzenden Obstbaumwiesen. Danach käme die Böschung, und danach ein sehr kleines Stück Wald, und danach ...
    „Ich kenne dich nicht“, sagte das Mädchen und wandte sich seinen Steinen und Muscheln zu.
    „Schau mal“, Nela zeigte in die Berge. „Da steht ein runder Berg vor einer Reihe anderer Berge. Dort ist Marlan.“ Das Mädchen sah auf, und sah auf die Berge. Nela hielt ihr den Trank hin. Die Krieger waren in der Mitte der Obstbäume angekommen. Man konnte sie jetzt hören, aber das Kind beachtete sie nicht.
    Nela sprach weiter: „Ich kenne Marlan. Mein Sohn Gero war bei deinem Vater und hat einen Beutel für Marlan mitgenommen, den du versteckt hattest...“
    „Wenn du das weißt, weißt du auch, was drin war“, kicherte Irla. „Es ist ein Geheimnis für ihre erste vierter-Magie-Kreis-Rune!“ „Vierter Magie-Kreis, vierter Magie-Kreis...“ Nelas Gedanken rasten. Was hatte Marlan über Venutos Rune gesagt? „Er muss den Bergkristall durch einen schwarzen Turmalin ersetzt haben...“
    „Es war Bergkristall.“ Nela wurden die Knie weich. Die Krieger kamen die Böschung hoch. Jetzt hatten sie die Frau und das Mädchen gesehen.
    „Genau“, lachte Irla. Sie sprang mit einem Hüpfer auf, griff den Trank und leerte ihn mit einem Zug. Nela trank ihren einen Moment später. Die Krieger gafften.

    Nela flog mit Irla Richtung Berge.

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    Geändert von Gothic Girlie (20.08.2012 um 20:54 Uhr)

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