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    Mythos Avatar von Gothic Girlie
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    Richtung Gebirge

    Jaru pfiff leise die Melodie von „Argh roschzt ztorg rhok“. Die Versammlung und der Snapperbraten mit Kräutersoße waren ein großer Erfolg gewesen.
    Nachdem Jaru ihnen von dem Orkjungen und seiner Heimkehr erzählt hatte, entschieden ein Teil der Orkwald-Leute, im Frühling in ihr altes Dorf zurückzukehren. Ein sehr hübsches blondes Mädchen, das wohl Kerantaris Gehilfin war, hatte sich erboten, ihnen eine Fahne zu nähen mit dem Motiv seiner Tätowierung. Es erschien ihm, als spürte er ihre Finger immer noch, wo sie ihn beim Abzeichnen berührt hatte. Aber er hatte wohl bei ihr keinen tieferen Eindruck hinterlassen, außer dass sie den Kopf neigte, als er sie ansprach.

    Bis zum Frühjahr würden sie die Mine befestigen und ausbauen, Holzkohle für die Schmiede herstellen und die Berge erkunden.
    Seine Sorge, dass sie ihn nicht anerkennen würden, erwies sich als unbegründet. Dank der alten Buddler kannten sie alle seine Geschichte, und jetzt, da er wieder geheilt war, überzeugte er sie auch selbst durch seine Entschlossenheit und seine Pläne für die Zukunft der Insel. Er wollte den Transport der Fässer Richtung Stadt organisieren – mit dem Lurkersee als Station, und eine neue Seilbahn in Richtung der Ripperhöhlen errichten. Dazu musste er aber die Teleportsteine dieser Schwarzmagier einsammeln, und dafür benötigte er eine bessere Rüstung.
    So war er Richtung Gebirge unterwegs, um die Schmiedebrüder zu treffen.

    - - -

    Am Morgen nach dem Tod des dreiköpfigen Monsterhundes stand plötzlich der junge Paladin an Geros Bett und weckte ihn. Gero wurde verlegen, aber der Junge rief grinsend: „Frühstück“ und verschwand wieder nach unten. Er hatte Geros Gewand vom Kamin mitgebracht und ihm als Begrüßung ins Gesicht geworfen.
    Gero zog sich mühsam an. Eine Pause von ein paar Tagen würde ihnen allen gut tun.

    Im unteren Raum saßen die drei von der Nachtwache, Ombhau´, Tobar, Tonio, der junge Paladin und eine Stadtwache und futterten Eier mit Speck und frisches Brot. Eine Nachbarin stand am Herd und sorgte für ständigen Nachschub. Es war die selbe, die auch die Schildkrötensuppe gekocht hatte, aber so oft, wie sie sich nach Morglas umsah, war es ein Wunder, dass die Eier gerieten. Morglas wirkte aufgekratzt. Gero lächelte.

    Trotz der Trauer um John war dies ein guter Morgen. Er schickte ein Stoßgebet zu Innos und nahm sich einen gefüllten Teller.

    Kurze Zeit später waren sie alle außer Tonio unterwegs zum Palast, mit noch einigen anderen Männern, die vor der Schmiede gewartet hatten. Jetzt, da sie den schrecklichen Hund tot in der Gasse gesehen hatten, kehrte ihr Mut zurück.
    Bevor sie die Turmtreppe hinunter stiegen, hielt Ombhau´ eine kurze Ansprache. Er rief ihnen John und die tote Stadtwache ins Gedächtnis, und bat sie, aufeinander zu achten und kein Risiko einzugehen. Dann stiegen sie ab. Der junge Paladin und Gero gingen als erste und schützten Ombhau´, Petar, Kerem und Morglas folgten. Sie stießen auf einzelne Skelette im Tunnel, und plötzlich sahen sie Sonnenlicht. Der Gang endete an der Mole.

    Schnell war das Hafenviertel durchsucht. Ombhau´ fand eine größere Machete in einem verlassenen Lagerhaus und ersetzte damit zufrieden die alte, schartige. Die Städter jagten Ratten und Lurker, die sich in die leeren Häuser gewagt hatten.

    Gero fand sich plötzlich mit dem jungen Paladin auf den Treppen wieder, auf denen er Ireg gefunden hatte. Leise erzählte er davon. „Ich sah ihn fallen.“ sagte der Junge und Gero blickte ihn erwartungsvoll an, weil er mehr erfahren wollte. Aber der Paladin drehte den Kopf weg und ging weiter zur Festung hinauf, und hier trafen sie noch auf einige der Skelett-Krieger. Seltsamerweise waren sie nicht schwer zu besiegen, obwohl Gero nur das Kettenhemd trug, aber seine Stärke und sein Schwertgeschick schienen sich verbessert zu haben nach den Kämpfen gegen die Monster im Tunnel.

    Im Innenhof fanden sie Berge von Waffen und Rüstungen, die die Invasoren hier zusammengetragen, aber dann doch nicht auf die Schiffe gebracht hatten. Gero fiel Iregs Schwert und Rüstung auf, die er an einem Band aus eingravierten Küstenvögeln erkannte, dem Wappentier der Talakaidis. Er nahm sie mit, für Jaru.
    Gero sah den Paladin vor einem Helm stehen, der anders aussah, als die Helme, die er kannte. Darauf war eine Mondsichel aus einem weißen Horn befestigt, aber quer zur Richtung des Betrachters, was den Helm sehr groß erscheinen ließ. Am Nasenschutz war ein rotgefärbter Bart angebracht, der borstig abstand.
    „Der Helm meines Schwert-Lehrers“, sagte der Junge. „Er fiel neben Ireg.“ Er hob den Helm auf.

    Schweigend gingen sie zurück, diesmal durch die Straßen, die Gero schon kannte. Die Stadt war befreit.

    - - -

    Gero erinnerte sich später kaum an die Beerdigung. Der junge Paladin leitete die Zeremonie, was ihn zunächst etwas wunderte, und er ehrte Ombhau´, Gero und Tonio als die Sieger über den Hund. Er bot ihnen an, als Paladine zu dienen, wann immer sie die Entscheidung dafür treffen wollten, und gab ihnen Ringe mit einer Gravur in Form einer Sonne. Und er schenkte ihnen und den anderen Jungs ihre Rüstungen und Waffen, die sie im Palast gefunden hatten.
    Gero sah eine Reihe Frauen in der ersten Reihe stehen, dunkel gekleidet und stolz wie Amara, die keinen Blick von dem jungen Paladin abwandten, und die wie eine Person einen Schritt vor traten, als Gero den Paladin nach der Feier ansprach.
    „Natürlich“, dachte Gero, „die Frauen müssen sie vor allem kennen, wie sie früher war.“

    Er hatte das Schwert mit dem Rubin gezogen. „Nun soll es mir gehören – dabei wollte ich es Dir anbieten – Du hast als einziger nichts bekommen von dem, was wir im Palast mitgenommen haben.“ „... und der Deiner Familie gehörte, wenn stimmt, was ich vermute.“ ergänzte er in Gedanken.
    Der junge Paladin streckte die Hände aus, aber er nahm das Schwert nicht, sondern legte einen kurzen Moment seine Handflächen um Geros Hände, die den Schwertgriff hielten.
    „Es gehörte Inngolf, der als erster Paladin auf diese Insel kam und den Innos-Glauben hier her brachte, lange bevor meine ... es einen König gab. Damals existieren auf der Insel nur drei Fischerdörfer, und die Menschen sprachen drei verschiedene Sprachen, die sie untereinander nicht verstanden. Es ist richtig, dass Du es trägst, Gero.“

    Ein Lächeln traf Gero unerwartet, dann ging der Paladin zur der Metallschale an dem künstlichen Hügel, legte Holzkohle, Eisenspäne und aromatische Kräuter hinein und die dunkel gekleideten Frauen verloren das Interesse.

    Auf dem Weg zurück in die Stadt liefen sie einen Moment nebeneinander. „Willst Du mir Iregs Grab zeigen?“ „Ja.“ antwortete Gero.

    - - -

    Und nun waren sie in der Höhle unter Iregs Haus.
    Der Paladin hatte nach dem Frauengrab gefragt. „Enita, die Köchin.“ sagte Gero. Aus irgend einem Grund fühlte er plötzlich eine Spannung im Raum, er sah den Kranz mit den verwelkten Blumen mit dem immer noch roten Apfel in der Mitte und verstand. „Sie liebte Tasso.“ erklärte er, und ging leise in das andere Gemach mit dem alten Bett.

    Er wartete lange. Als sie ihm folgte, waren ihre Augen rot gerändert und sie sah erst an ihm vorbei. „Ich bin nicht der, als der ich erscheine“, sagte sie.
    „Ich denke, ich weiß, wer Du bist.“ sagte Gero leise. Sie sah zu Boden und wurde rot.
    „Ist es so offensichtlich?“
    „Nein. Aber ich wusste, dass Rethorn keine Söhne hatte, und Du hast Dich verraten, als wir Euren Palast geplündert haben.“
    Sie stutzte. „Ja ... nein – Ihr habt nicht geplündert. Ohne euch würden wir immer noch jede Nacht erzittern, vor dem, was sie dort zurückgelassen haben.“

    Er sah sie an, die Prinzessin, die als Paladin ihrer Stadt diente. Schon jetzt hatte sie mehr für ihre Leute getan als ihr Vater in seinem ganzen Leben.

    - - -

    Am nächsten Morgen brach er mit Ombhau´ zum Pass über das Gebirge auf.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (20.12.2009 um 13:43 Uhr)

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    Drecksäcke

    „Drecksack! Ich krieg Dich!“

    Gero warf sich wütend ins feuchte Laub hinter einen großen Stamm. Der ganze Berghang war ins Rutschen gekommen, und wenige Meter unter ihm war ein Abbruch. Er hörte Steine und Dreck fallen, dann ein Kreischen, als einer der Banditen mit über die Kante gezogen wurde. Ein Klatschen dicht neben seinem Ohr erinnerte ihn an dessen Kumpels. Die Arschlöcher standen oberhalb von ihm und beschossen ihn mit Pfeilen. Er zog sich weiter hinter den Stamm zurück, aber die lockere Erde brachte ihn in Gefahr, ebenfalls abzustürzen.
    Er schoss einen seiner Brandpfeile in den Stamm, aber ohne die brennbaren Fasern, stattdessen mit einem Seil durch das grobe Gitter unterhalb des Kopfes, dann band er sich das Seil um den Körper. Er legte einen normalen Pfeil an die Sehne und blickte vorsichtig um den Baum, ob seine Feinde sich eine Blöße gäben.

    Die beiden nächsten waren nur etwa dreißig Schritte entfernt, und sie waren vorsichtig. Aber weiter oben sah Gero eine Sklavenlagerwache, und der Kerl verließ sich wohl auf seine bessere Rüstung und auf die große Distanz. Er hatte seine Armbrust schussfertig vor sich. Gero traf ihn mit dem ersten Pfeil, und die Wache rannte schreiend einen Pfad bergab von ihm fort.
    Das war kein gutes Zeichen. Möglicherweise gab es dort mehr von ihnen.

    Gero verfluchte seine Unvorsichtigkeit. Generell schien sich sein Glück gewendet zu haben, seit er den Pass überquert hatte. Der Wald war finsterer auf dieser Seite der Insel, voller Unterholz, es gab weniger Wild und dafür zwei verschiedene Sorten ekelhafter Wichte, die jeweils sofort auf ihn los gingen, sobald sie ihn sahen. Einer allein war kein Gegner für Gero, aber ein ganzer Trupp von ihnen brachte ihn oft dem Tod näher, als ihm lieb war. Und so waren auch seine Heiltränke zur Neige gegangen.
    Die eine Sorte der Angreifer war schattengrau, reichte ihm bis zur Brust und hatte spitze Ohren und Zähne. Die anderen waren noch kleiner und dick, trugen Kapuzen und Taschen und raubten selbst die Knochen aus der Asche des Lagerfeuers. Er hatte Iregs Rüstung und Schwert an sie verloren, und auf der Suche nach ihrem Unterschlupf war er so froh gewesen, Menschen zu sehen, dass er sie ohne Vorsichtsmaßnahme angesprochen hatte.
    Ein Fehler, den bislang nur einer der Banditen bezahlt hatte, aber der Tag war noch nicht um, und alles sah nicht besonders gut aus für Gero.

    - - -

    Vor seiner Abreise aus der Stadt waren sie zu dritt im Hof der Paladine gewesen: er, Ombhau´ und Tonio. Alle drei hatten sich entschlossen, Paladine werden, aber alle drei wollten vorher etwas anderes erledigen.
    Tonio wollte bei Morglas bleiben und das Handwerk eines Schmiedes lernen. Gero fühlte sich an Mariks Auftrag gebunden, den anderen Teil der Insel zu erkunden. Und Ombhau´ wollte zu Marik zurück, von dem er wusste, dass er in einer prekären Situation mit den Sklavenlagerwachen steckte. Aber der junge Paladin sah nicht ein, wieso sie das nicht auch in der besseren Rüstung der Paladine erledigen konnten, und so schworen sie auf Innos und erhielten als ersten Auftrag ihre Aufgabe, die sie sich selbst gestellt hatten.
    Kerem und Petar kehrten direkt zu Marik zurück.

    Einen Moment war Gero mit der Prinzessin allein und er fragte sie, ob sie ihm Informationen oder Aufträge, den anderen Teil der Insel betreffend, geben wollte.
    „Es gab im Norden eine Burg der Paladine, ich habe mich seit Iregs Bericht über Faid gefragt, ob er nicht von dort kam. Der Kontakt zu ihnen ist schon vor Jahren abgerissen. Sei vorsichtig beim Erkunden, wenn sie alle abgefallen sind, sind sie sehr gefährlich.“
    Gero nickte. Dann war er entlassen.

    - - -

    Später am Pass entfachte Ombhau´ ein Feuer, gab ihm einen grünlichen Runenstein, zündete eine Rolle von den harzig riechenden Blättern an und rauchte sie abwechselnd mit Gero. Dann erklärte er ihm einige Dinge und brachte ihm eine Beschwörung bei, die ihm Menschen freundlich gesonnen werden lassen sollte. Gero war schwindelig, und Ombhau´s Worte verbanden sich mit dem Wind, der plötzlich sichtbar war, und dem Fels, der an manchen Stellen flüssig wurde und auf den Passweg floss. „Aber das wichtigste ist das Gefühl. Du musst Dich mit ihnen verbunden fühlen, Du musst von Dir aus Dein Herz öffnen und sie darin aufnehmen.“
    Gero erinnerte sich an die Worte, während die Banditen versuchten, auf ihn zu schießen, aber sein Herz war ein kalter harter Stein und er wandte die Rune nicht an.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (19.12.2009 um 15:54 Uhr)

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    Im Garten

    Nela und Ajanna hackten und jäteten Seite an Seite. Für die gestiegene Anzahl von Frauen in der Klause war es notwendig, den Garten zu vergrößern, und so arbeiteten sie bereits seit zwei Tagen oberhalb der Klause in den stacheligen Büschen.
    Nela arbeitete mit sparsamen Bewegungen, ohne dass ihr Atem schneller ging. Sie sah zu Ajanna hinüber. Diese schwang ihr kleines scharfes Beil, das in der Morgensonne blitzte, und jeder ihrer Schläge wurde wie entzündet von einer kleinen Ladung Zorn. Sie glänzte vor Schweiß.
    Bis zum Mittag wären sie fertig. Nela überlegte, ob wohl eher Rüben oder Wurzeln in dieser Erde gerieten, und beschloss, auch noch zwei Bäume zu fällen, die dem Feld das Licht nahmen.
    Sie liebte die Arbeit, und ihre Gedanken wanderten.

    - - -

    Schon immer hatten sie Bilder begleitet, Bilder von Städten, die sie nie gesehen hatte, Bilder von Menschen, Kindern. Nie war ihr etwas daran merkwürdig erschienen, bis neulich, als Ajanna von ihrem Gesicht berichtete. Nela dachte, alle Menschen seien auf diese Art mit anderen Menschen verbunden. So wie erzählte Geschichten Bilder im Kopf jedes Menschen formten, dachte sie, gäbe es Bilder, die man so in sich trüge, wie das Blut der Ahnen und das getrunkene Wasser, das seinen eigenen Weg zu den Menschen kommt, über die Wolken, über das Meer.
    Jetzt wusste sie, dass diese Bilder nur ihr eigenes Erbe waren, und sie versuchte, sie genauer zu betrachten und ihre Bedeutung zu verstehen.
    Und sie sah eine Reihe von Mädchen, schwanger vor der Zeit, die alle im Kindbett starben, ohne dass es ein Leben für sie oder ihre Kinder gab, und wusste plötzlich, dass dies ihre Töchter waren, und es zerriss ihr das Herz. „Schaumgeborene,“ dachte sie, als sie in ihre grauen Augen blickte, die verloschen, bevor ihre Körper zu Frauen heran wuchsen.

    Aber wie konnte das sein? Sie war in Myrtana geboren, vor langer, langer Zeit, an der Grenze zu Nordmar. Dort hatte ihre Familie einen Hof besessen, dort hatte sie diesen Krieger getroffen, Geros Vater. Als sie wusste, dass es keine Heirat geben würde, hatte sie eines Nachts mit ihrer Mutter gesprochen, die ihr etwas Gold gab, und war mit dem Schiff nach Khorinis gefahren, wo niemand sie kannte, wo sie genauso gut eine Witwe sein konnte oder die Frau eines Seemanns.
    Sie vergaß Myrtana, sie lebte als Bäuerin, sie sprach wie die Leute um sie herum und zog ihr Kind groß. Kein anderer Mann kam ihr dort nahe, kein anderes Kind war je in ihr gewachsen. Als sie Mariks Geliebte wurde, blieb ihr Bauch flach und ihr Blut floss wie vorher, regelmäßig, wie der Mond.

    Und doch konnte sie sich auf einer Klippe in Nordmar sehen, weit über dem Meer, an einem Ort, den sie nie betreten hatte, und ein Opfer darbringen, das ihre Augen und ihr Leben für immer veränderte. Damals war es eine Göttin gewesen, die über das Meer gebot, aber plötzlich erschien ein Gott während des Rituals und irgendetwas geschah, das sie nicht vorhergesehen hatte.
    Die Meergöttin und der Gott stritten um den Ausschlag einer Waage, aber eine ewige Zeit blieben die Schalen auf einer Höhe, und die damalige Nela dachte, sie sähe nie wieder etwas anderes, als diese golden glänzenden Schalen, die im Sonnenlicht zitterten.
    Dann war es plötzlich dunkel, und ihr gegenüber stand ein Mann, aber sie konnte sein Gesicht nicht sehen, weil die Sonne hinter ihm untergegangen war. Er ging fort, und sie stand allein auf der Klippe.

    - - -

    Nelas Sichel rutschte ab, und sie verhinderte nur knapp, dass sie ihr in den Fuß fuhr. Steif richtete sie sich auf. Das Feld war fertig. Ajanna nickte ihr stolz zu, mit diesem Kinn-nach-oben-werfen, das typisch für sie war. Sie gingen zusammen zur Klause, wo Nergali Eintopf gekocht hatte. Ajanna, deren Haut nur noch matt schimmerte, wirkte so frisch wie am Morgen.
    Bevor sie sich zum Essen setzte, stellte Nela einen Becher klares, frisches Quellwasser vor Innos Statue im Klausenhof. „Zeig mir, was ich tun muss,“ bat sie dabei. „Ich bin bereit.“


    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (30.08.2012 um 09:15 Uhr)

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    Wölfe

    Ein paar Stunden bevor Ombhau´ und Gero auf dem Pass kampierten, passierte Jaru den schmalen Weg zwischen den grauen steilen Felsen. Er hatte es nicht so bequem wie die beiden: erst stellte sich ihm ein Steinkrieger in den Weg, wenige Steinwurf weiter ein merkwürdiges Wolfsrudel.
    Vor dem Steinkrieger lief er fort und erkletterte eine Böschung. Die schreckliche Erfahrung, wie ihn ein ähnlicher mit Feuerbällen beschossen hatte, war noch lebendig in Jaru. Doch dieser rannte nur immer wieder tumb gegen die Felsen an, und Jaru schoss solange mit der Armbrust auf ihn, bis er in einen Haufen kleiner und großer Brocken zerfiel.
    Vor den Wölfen hatte er zunächst nicht viel Angst. Er versuchte, sie einzeln anzulocken und erlegte sie mit dem Schwert, und die ersten drei waren kein Problem für ihn. Aber dann sah ihn eine große Gestalt, die sich in der Mitte des Rudels bewegte, und ab diesem Moment fielen sie alle über ihn her. Er versuchte, sie durch einen Hagel an Schwertstreichen auf Abstand zu halten – aber einer verbiss sich in sein Bein, und Jaru geriet in ernste Gefahr. Im allerletzten Moment riss er sich los, und rannte den Weg zurück. Erschöpft erklomm er wieder die Höhe, von wo aus er den Steinkrieger besiegt hatte, und trank zwei Heiltränke so schnell er konnte. Dann hatten sie sich auch schon vor ihm auf dem Pfad versammelt, heulten und fletschen ihn wütend an. Irgendwo weiter oben antwortete ein weiteres Pack.
    Er sah den großen Rudelführer jetzt deutlicher, und eine Gänsehaut lief ihm den Rücken hinunter: Er ging aufrecht auf zwei Beinen, eine dichtere Mähne als bei den anderen Tieren hing ihm weit über den Rücken hinunter. Sein Zähne erschienen Jaru auch länger, und anders als die tierischen Mitglieder des Rudels sah er nur immer Jaru an, ohne ihr typisches Hin- und Her-Gerenne. Seine Augen glühten rot. Jaru nahm die Armbrust und legte auf ihn an. Er zielte sorgfältig auf die Kehle, schoss, und riss im selben Moment sein Schwert hoch. Da hatte der zweibeinige Leitwolf auch schon die Distanz übersprungen. Jaru traf ihn noch mal am Kopf, dann war der Behaarte über ihm und Jaru stach und schnitt wild und unkontrolliert in Richtung der Brust seines Angreifers. Er musste wohl getroffen haben, denn das Monster sank über ihm zusammen, bevor Jarus Kräfte erlahmten, und zu seinem Glück floh danach der Rest der Wölfe.

    Er zappelte sich unter der schweren Gestalt heraus und untersuchte sie sorgfältig. Dies war kein verkleideter Mensch, er war länger und schlanker. Jaru sah die typische nach vorne gewölbte Brust und den mageren Bauch der Wölfe an ihm, und auch seine Beine sahen aus wie die eines Wolfes, nur länger. Aber seine Arme waren anders, auch nicht menschlich, aber er hatte einen Daumen mit einem krallenartigen Nagel und daneben vier sehr kurze, dicke, ebenfalls Krallen-bewehrte Finger. Das Fell war gewachsen, aber zusätzlich trug der Wolfsmann eine Art Umhang aus Wolfsfell und eine offene Beuteltasche quer über einer seiner schmalen, unmenschlichen, Schultern. In ihr fand Jaru einen merkwürdigen rund geschliffenen Stein, eine Keule rohes Fleisch – wahrscheinlich von einem Schaf, einen großen Schlüssel und eine hölzerne Schale.

    Jaru zog eines der Lider des Wolfsmannes nach oben. Die Augen waren blutunterlaufen und er konnte keine Iris erkennen, aber sie leuchteten nicht mehr. Er hörte knackende Zweige, näher kommend, und in mehreren Richtungen. Dies war kein Moment für Zweifel. Er schnitt dem Gefallenen noch einmal tief ins Herz, dann zog er sein Schwert heraus, griff sich die Tasche und lief auf den Pfad zurück. Es wurde jetzt schnell dunkel, und er hörte die Wölfe wieder. Schnell sammelte er so viel Holz, wie er in einer Hand tragen konnte. Er bewegte sich zügig auf die Passhöhe zu, überschritt sie, und wandte sich bald auf einem schmalen Felssims vom Pfad ab. Er folgte dem Sims mehrere Biegungen der Felswand weit, bis er sich zu einer Fläche verbreiterte, auf der gerade ein Mensch liegen konnte. Dort bereitete er ein Feuer vor, auf dem letzten Teil des schmalen Zugangs, und wartete. Das Pack heulte erst in der Nähe, später weiter entfernt.
    Er konnte von da den Passweg nicht mehr einsehen, und so verpasste er Gero, als dieser nach dem Abschied von Ombhau´ leise talwärts lief. Gegen Ende der Nacht, als Jaru sehr müde wurde, zündete er das Feuer an. Er schlief eine kurze Zeit, während es brannte und die Passage über den Sims blockierte. Die aufgehende Sonne weckte ihn. Vor ihm lagen im strahlenden Dunst die weiten dunkelgrünen Wellen eines dichten Waldes, abfallend bis zum Meer im Norden und Osten. Aber soweit konnte er nicht blicken, und als die Sonne höher stieg, verschwand sie in tiefen Wolken und ein diesiger Tag begann, dunkler als der Morgen und ziemlich feucht.

    - - -

    Grompel hatte Jaru kämpfen sehen. Er folgte ihm seit dem ehemaligen Sklavenlager, wartete auf eine Gelegenheit, ihm zu helfen, damit er mit ihm spräche. Aber als Jaru mit dem Wolfsmann am Boden rang, befürchtete er, Jaru mit seinem Zauber zu treffen, und dann war die Gelegenheit vorbei, und er lockte stattdessen die Wölfe in eine andere Richtung. So sah auch er Gero nicht.

    Gothic Girlie

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    Der Eingang zur Südfeste

    Marlan näherte sich der Festung im Süden von der See-Seite. Sie lief über die schmalen kurzen Sandstrände vieler kleiner Buchten und umschwamm die Feldklippen, die sie trennten. Die Küste im Süden war wie eine Landkrone mit Gischt-umsprühten Zacken im Meer. Marlan liebte das Meer, und sie war eine gute Schwimmerin. Da sie anders als Jaru keine Teleport-Rune für die obere Klippe besaß, wollte sie einen Zugang finden, der auch als Fluchtweg geeignet war.
    Einer der Strände war etwas größer und dunkler. Im hinteren Teil befand sich eine Öffnung, und sie dachte, sie habe den Ort vor der Grotte gefunden. Langsam ging Marlan auf den Eingang zu. Direkt davor lag ein toter Ork im Sand. Aber dieser war ein Ork von der Insel, wahrscheinlich ein Seemann, denn er trug einen Enterhaken und ein Seil im Gürtel. Sie nahm beides an sich. Überall lagen kleine Stücke von verbranntem Holz und Segeltuch. Halb vergraben im Sand entdeckte sie ein Fass mit Schnaps.

    Die Höhle war klein und stand teilweise unter Wasser. Als sie eine Reihe zackig geformter Muscheln sah, freute sie sich, denn dies war die Muschel, die das beste Gegengift gegen die Stiche des Riesenskorpions ergab. Sie vergewisserte sich, dass sie keinen geheimen Eingang übersehen hatte, dann schwamm sie weiter zur nächsten Bucht.
    Fast wäre sie dabei gestorben. Marlan schrie laut auf, als scharfe Zähne plötzlich am Fleisch ihres Beines rissen, dann schwamm sie so schnell sie konnte zurück, rannte den Strand hoch, löste den Zauber aus Venutos Rune aus und tötete so den dunklen Snapper, der ihr gierig gefolgt war. Sie heilte sich, dann versuchte sie es ein zweites Mal. Sie ging an Land, sobald sie nur den geringsten Halt für ihre Füße finden konnte, und es war nicht zu früh: gerade rechtzeitig konnte sie zwei weitere Snapper abwehren. Weitere Überraschungen gab es nicht, und sie setzte ihren Weg vorsichtig fort.

    Die Sonne stand bereits im Zenit, als sie beim Schwimmen um ein letztes Kap die Grotte vor sich sah. Wie der Mund eines grinsenden Totenschädels drohten dunkel die Räume zwischen den Säulen-artigen Felsstützen. Von weitem sah die Grotte sehr regelmäßig aus, erst im Näherkommen wirkten die Felsen uneben und unregelmäßig mit Algen und Moos bewachsen. In der Grotte verhinderte ein feiner Dunst, dass Marlan vom Meer aus in sie hinein blicken konnte.
    Es gab wenig Brandung direkt vor der Grotte, da weiter zur tiefen See zu eine Reihe Untiefen diesen Bereich abschirmten. Marlan setzte die Füße vorsichtig auf die ersten Meter des merkwürdigen feinen grauen Sandes ganz im Westen unter der ersten offenen Wölbung. Das Sonnenlicht blendete sie. Sie nahm Venutos Rune in die Hand und glitt in den Schatten. Linker Hand lagen die Zellen, von denen Jaru ihr berichtet hatte. Der Rest des Sandes erschien ihr leer. Im östlichen Bereich sah sie undeutlich, wie das Wasser bis unter das Grottendach reichte. Dort war eine Insel mit einer Mole, einem Brunnen und einer Art rohem Altar, in dessen Mitte ein Pfahl nach oben ragte. Und etwas schmutzig Dunkelgraues war an diesem Pfahl, das sich ein wenig bewegte. Sie versuchte es mit der Rune anzufokussieren, aber sie war zu weit entfernt, und so sah sie zuerst in die Zellen. Die ersten zwei waren leer und abgeschlossen. Sie öffnete sie, ihr neuer Schlüssel passte.
    In der dritten hing eine Gestalt mit den Handgelenken in Ketten geschlossen, und der Anblick war das Schrecklichste, was sie bisher gesehen hatte. Auf der Haut des Menschen verbanden sich Blut, Wunden und Schmutz zu einer stumpfen braun-grauen Kruste, und sie konnte weder Atmung, noch sonst ein Lebenszeichen erkennen. Der Kopf war auf die Brust gesunken, die Haare wie ein Strang Algen so glitschig, die Füße lagen wie rosa tote Fische im fleckigen Sand. Sie musste sich zwingen, näher zu kommen. Der Geruch war noch schlimmer. Sie sah sich noch mal um, schloss leise die Zelle auf, trat neben den Geschundenen. Sie bemerkte jetzt, dass noch ein Hauch von Leben in ihm war, aber in seinem Zustand konnte sie ihm keinen Heiltrank einflößen. Sie befreite ihn von den Armfesseln, fing ihn auf, als er zusammensackte. Dann zog sie ihn vorsichtig bis ans Meer, wusch ihn erst mit Meerwasser, dann mit dem Schnaps aus dem Fässchen. Er stöhnte leise, aber erlangte nicht das Bewusstsein. Sie schaffte ihn schwebend in die erste der Zellen, und bettete ihn dort auf ein Wolfsfell in den sauberen Sand. Danach legte sie beide Hände an seine Schläfen und rief ihn, wie sie Jaru gerufen hatte, als der Heiltrank gegen die Ripperseuche fertig war. Aber Mikal reagierte nicht, und sie hielt einen Moment ratlos inne.
    Sie bedauerte, nicht wirklich eine Heilerin zu sein, ihre Möglichkeiten waren erschöpft. Obwohl – da war noch etwas – schnell sah sie die vielen Spruchrollen durch, die sie bei dem jungen toten Magier in ihrem Dorf gefunden hatte. Es gab darunter mehrere, mit denen man magisch sich selbst oder andere heilen konnte. Sie konzentrierte sich, aktivierte all ihr Wissen und ihre Kraft und wandte eine davon an.
    Mikal atmete jetzt deutlich sichtbar, und sein Gesicht war nicht mehr grau, aber seine Augen blieben geschlossen, als schliefe er. Sie stellte ihm Wasser, Brot und Beeren in die Zelle, dann schloss sie ihn wieder ein – mehr zu seinem Schutz, aber auch, weil sie ihn nicht einschätzen konnte.
    Als nächstes untersuchte sie neugierig den Gang, durch den Jaru gekommen war. Er war leer. Das Skorpion-Monster war nicht mehr dort. Schließlich ging sie vorsichtig durch die Grotte nach Osten. Sie sah keine Spuren der Orks – der graue Staub bewahrte keine Form. Die Felswand enthielt keine weiteren Zellen, Nischen oder Gänge.

    Zuletzt kam sie bei der Lagune an und sah zu dem Altar auf der Insel hinüber. Auch sie wurde wahrgenommen. Am Pfahl auf dem grob gemauerten Naturstein-Absatz stand eine riesige geflügelte knochige Gestalt. Sie war wohl doppelt so groß wie Marlan, ein Skelett eigentlich nur, mit langen grauen Schwingen wie ein staubiger Rücken-Schleier. Die dunklen Augenhöhlen waren Marlan zugewandt, folgten ihren Bewegungen. Marlan wappnete sich, dann rief sie: „Wer bist Du?“ Es gab merkwürdigerweise keinen Hall, ihre Stimme verklang flach, als triebe sie ihr ein Seewind in die Kehle zurück.
    Ein grünlicher Schimmer wurde in den tiefen Augenlöchern des Skeletts sichtbar. „Wenn Du mich rufst, ohne zu wissen, warum, bist Du tot. Wenn Du fragst, ohne dass Du die Antwort kennst, bist Du Staub. Wenn Du mich störst ohne Grund ist Dein Atem schon kalt.“ Eine Stimme wie eine gerissene Glocke, stark, aber ohne Klang.
    „Ich bin weder tot, noch Staub, noch ist mein Atem kalt. Ich bin Marlan, Feuermagierin des hohen Rates. Und wenn Du willst, dass Deine toten Knochen weiterhin in dieser Grotte rasseln, dann antwortest Du mir JETZT.“
    Der Mund des Totenschädels öffnete sich etwas, Marlans Gegenüber schien tatsächlich zu lächeln. „Marlan, Menschentochter, lange habe ich gewartet auf eine meiner Art. Ich bin die Wächterin im Süden, niemand kommt durch den Brunnen, ohne dass ich darüber richte.“
    „Nach welchem Gesetz richtest Du? Deine Zeit ist vorbei. Dein Fleisch ist verrottet, Dein Atem ist nicht von der Welt.“
    „Ich brauche nichts davon, um Sterbliche zu töten. Komm näher, Marlan, höre meine Fragen.“
    Marlan erwog, einen von Venutos Blitz-Zaubern auf das untote Ding anzuwenden, aber dann erinnerte sie sich daran, dass die Wächterin sie als eine ihrer Art bezeichnet hatte. Was immer das bedeutete - möglicherweise half es ihr gegen die Schwarzmagier, die in der Feste hausen sollten. So watete sie durch das knietiefe Wasser, bis sie die Insel erreichte und wenige Schritte vor dem Altar anhielt. Die Wächterin war am Pfahl fest gekettet. „Wie kannst Du richten, wenn Du eine Gefangene bist?“ höhnte Marlan. Ihr schlug das Herz bis in den Hals, aber sie war entschieden der Meinung, Untote hätten ihr keine Weisungen zu erteilen. Das grüne Licht in den Augen der Wächterin erlosch. Marlan nahm keinerlei Bewegung mehr an ihr wahr. Sollte dies der ganze Trick sein? Der Wächterin eine Frage zu stellen, die sie nicht beantworten konnte? Marlan ging auf sie zu, bis nur noch eine Armlänge die beiden ungleichen Frauen trennte. Sie stieg auf den Sockel, bewegte ihre Hand vor den leeren Augenhöhlen hin und her, achtete dabei aber darauf, keinen der Knochen zu berühren. Keine Reaktion. Sie sprang wieder in den Staub, wandte sich zum Brunnen. Der Kopf bewegte sich nicht, um ihr mit dem Blick zu folgen. Sie blickte in den Brunnen. Auf einer Seite gab es zwei Reihen von viereckigen Aussparungen in dem gemauerten Rand, wie eine Leiter, und so weit sie ins Dunkel sehen konnte. Sie entzündete eine Fackel und warf sie hinunter. Sie fiel eine Weile, und während der ganzen Fallstrecke gab es diese Aussparungen, und dann lag sie auf einem Steinboden, noch deutlich sichtbar, und nichts geschah. Marlan horchte, aber bis auf den fernen Atem der See blieb alles ruhig.

    Da zuckte sie mit den Achseln und machte sich an den Abstieg.

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    Labyrinth

    Marlans Abstieg war beschwerlich, denn in den Aussparungen erschwerte schleimiger Bewuchs, dass ihre Hände und Füße festen Halt fanden. Aber wenigstens blieb sie unentdeckt. Auf den letzten paar Schritten behinderte sie zusätzlich die Hitze der Fackel , aber als sie unten ankam, war sie froh über ihr Licht.
    Sie blickte um sich. Ein schmaler Gang begann hier, nicht unähnlich dem Brunnenschacht, nur waagerecht. Feuchtigkeit tropfte von der Decke, und es roch nach verrotteten Algen. Sie nahm die Fackel auf und folgte dem Gang. Bald zweigten weitere Öffnungen ab, manche breiter, manche glatter, manche rauher oder höher. Marlan überlegte sich ein System, wie sie dem Lauf der Gänge folgen könnte, ohne die Orientierung zu verlieren. Das einfachste wäre, erst immer nur rechts zu gehen, dann wieder zurück, dann jeweils den nächsten linken Gang... aber sie wollte schneller vorankommen. Sie hängte sich ein Lederband an den Gürtel. Bei jeder Abzweigung nahm sie den Weg, der ihr richtig erschien, und knüpfte einen Knoten für jede rechte Abzweigung und fädelte eine Beere auf für jede linke. Ging sie geradeaus, nahm sie ein Blatt einer Heilpflanze. Bald schon verwickelte sie das in die ersten Kämpfe. Es gab Nischen, in denen Skelette standen, plötzliche Löcher im Boden, und einmal fiel ein Skorpion über sie her, wie der, gegen den Jaru gekämpft hatte. Allerdings schützte die Hohe Robe sie besser als ihn sein Kettenhemd, und der Blitzzauber aus der Rune mit dem schwarzen Turmalin erwies sich als sehr wirkungsvoll. Zweimal wurde sie von einer Attacke überrascht und wehrte sich mit dem magischen Schwert von Amara – nicht sehr kraftvoll und effektiv, aber sie überlebte knapp und die Skelette fielen in sich zusammen. Dann wieder musste sie ein Stück zurückgehen, weil Gänge vor einer Felswand oder einem Einsturz endeten... sorgfältig zog sie Knoten, Beeren und Blätter aus der Lederschnur heraus.
    Als ihr klar wurde, dass sie möglicherweise Schwarzmagiern gegenüberstehen würde mit einem teilweise unerforschten Labyrinth im Rücken, untersuchte sie die Gänge doch systematisch und markierte den idealen Weg mit ihrer Schnur-Methode. Einer der Gänge endete in einem Zimmer. Sie sah ein Bett, einen Bücherständer mit einer Schrift über Alchemie, die sie schon kannte und eine Truhe. In ihr fand sie einen Heiltrank, die Teleport-Rune mit dem Kristall für die Klippe oberhalb der Grotte – das war sehr willkommen – und einen merkwürdigen Brief an einen Runo, in dem jemand sich über schreckliches Essen beschwerte und darüber, dass ihm die anderen Novizen ein „Bonk“ gestohlen hatten – was auch immer ein „Bonk“ sein mochte.
    Als das Labyrinth erforscht war, stand sie vor einer Wendeltreppe nach oben. Jegliches Zeitgefühl war ihr abhanden gekommen. Ob sie erst Stunden hier war? – Ob draußen schon die Sonne untergegangen war? – sie hätte es nicht sagen können. Sie ging den idealen Weg zweimal zum Brunnen und wieder zurück, bis sie ihn sich eingeprägt hatte, dann wappnete sie sich für weitere Abenteuer und betrat die Treppe.

    Nach den ersten Stufen hielt sie an. Was war eigentlich ihr Ziel? Möglichst alle Schwarzmagier töten, um die Festung zu übernehmen? Selbst wenn ihr das gelänge, käme sie vermutlich an keinerlei Informationen über die Allianz zwischen den Invasoren und den Schwarzmagiern, und solches Wissen war mit Sicherheit entscheidender als ein paar tote Gegner. Außerdem widerstrebte es ihr, wahllos alles Leben auszulöschen, nur weil die Männer die falsche Robe trugen. Ob es auch Schwarzmagierinnen gab? Marlan fiel auf, dass sie so gut wie nichts über die Schwarzmagier wusste.
    Schließlich zog sie die Hohe Robe aus und legte ihr neues Männergewand an. Die Hose war braun und man konnte die Hosenbeine unter den Knien zusammenbinden oder lang und weit tragen, und die Tunika war aus einem blassen Grünblau mit schmaler brauner Stickerei an den Handgelenken und am Halsauschnitt. Dazu trug sie wieder ihren Helm mit dem Nackenschutz aus Kettengliedern und die Lederweste. Den Rest der Treppe übte sie ihren Männerschritt.

    Oben angekommen, veränderte sich der Charakter des Ganges sehr. Die Treppe mündete auf einen breiten trockenen glatt gemauerten Gang mit einem roten Ziegelboden und weiß gekalkten Wänden, und weiter vorne sah sie sogar einen Teppich. In regelmäßigen Abständen gingen Eingänge zu Zimmern davon ab, manche mit aufwändig gearbeiteten Türen und Schlössern. Im Raum direkt gegenüber der Treppe unterhielten sich ein Mann und eine Frau. Er war groß, schwarz, und sah sehr stark und gefährlich aus. Eine Narbe lief über sein Gesicht. Gekleidet war er als Krieger, mit einem blauen Waffenrock. Sie war fast so groß wie er, trug ein waldgrünes Cape über Männerkleidung und einen großen Bogen. Ihr langes schwarzes Haar war oben auf ihrem Hinterkopf zusammengebunden und fiel glatt über ihren Rücken. Sie stritten sich. Eben sagte die Frau: „Thorus, er hat Dich schon so oft reingelegt, und jetzt willst Du für ihn kämpfen, weil er mehr Männer hat?“
    Er sagte: „Nach der Beschwörung kamst Du, mich zu warnen, aber Deine Regeln sind nicht meine Regeln. Soll ich mich den Rest meines Lebens mit diesen Waldorks verstecken? Ich bin Krieger...“ Er hielt inne, als er Marlan sah. „Was hast Du hier zu suchen?“ bellte er sie an und kam ihr drohend aus dem Zimmer entgegen.
    „Ich suche Arbeit,“ sagte Marlan mit ihrer tiefen Stimme. „Mein alter Herr ist bei der Invasion gefallen, und ehrlich gesagt, recht war er mir nie. Kann ich für Euch arbeiten? Ich verstehe etwas von Alchemie und bin nicht ganz hilflos, wenn es ans Kämpfen geht.“
    „Alchemie...„ murmelte der Krieger. Dann veränderte sich plötzlich sein Gesicht und er kam noch weiter auf Marlan zu: „Wie bist Du überhaupt hier reingekommen?“ „Ich hatte mich in eine Blutfliege verwandelt“, log Marlan, ohne dass sie wusste, ob es möglich gewesen wäre, so an der Wächterin vorbeizukommen. Sie hätte ihm gerne dieselbe Frage gestellt – von wegen aus einer Substanz und so.
    „Hast Du noch von diesen Tränken?“ Jetzt war er sehr interessiert.
    „Ich kann sie brauen, aber ich habe nicht alle Zutaten.“
    „Am Ende des Ganges findest Du den Alchemisten der Schwarzmagier. Vielleicht kann er Dir etwas verkaufen. Wenn Du mir einen... zwei Blutfliegen-Verwandlungstränke bringst, können wir über Deine Arbeit reden.“ Die Frau hatte die ganze Zeit Marlan betrachtet, und Marlan befürchtete, sie könne ihre Verkleidung eher durchschauen als dieser Thorus, aber sie schwieg und Marlan verbeugte sich etwas und ging weiter.
    Im nächsten Raum waren eine Gruppe von Orks am Trinken. Marlan starrte, weil – solche Orks hatte sie noch nie gesehen. Sie waren schwer gerüstet und bewaffnet, und sie wirkten einschüchternd. Marlan wollte einen ansprechen, aber er ließ sich nicht ablenken und murmelte: „In der Ruhe liegt die Kraft.“ Dann nahm er noch einen Schluck Schnaps. Ein anderer war unfreundlicher: „Mach Dich nützlich, Morra!“ blaffte er sie an, und Marlan verzog sich ohne weitere Fragen.
    Die nächsten beiden Türen waren geschlossen, und sie hielt es für nicht so ratsam, an ihnen herumzuprobieren. Sie kam an einem leeren Raum, einer unordentlichen Küche und einem Lager vorbei, dann erreichte sie eine Stelle, wo eine Treppe nach oben führte und ein Gang rechwinklig abzweigte, wahrscheinlich in die Klippe hinein, weil er wieder feuchter und schmutziger aussah. Zunächst ging sie geradeaus, wo sie den Alchemisten finden sollte.
    Sie passierte noch einen großen feierlichen Gebetsraum mit einer ihr fremden Statue und den ersten Schwarzmagiern. Zwei beteten vor der Statue, und einer saß an einem Tisch an der Wand und hatte eine Waage und Beutel mit Münzen vor sich stehen. Ein vierter stand mitten im Raum, schwer bewaffnet, wachsam. Sie ging weiter, bevor er auf sie aufmerksam würde. Allein die bisher gesehenen Personen wären schwer zu besiegen, wenn es hart auf hart käme. Es musste einen Weg geben, sie abzulenken – oder zu warten, bis dieser Thorus sich diesem wem-auch-immer angeschlossen hatte. Ob er vom König von Myrtana gesprochen hatte? War der noch auf der Insel?
    Zwei menschenleere Schlafräume schlossen sich an, jeder mit drei Betten und Kisten. Hier sah sie, dass der Raum auf der linken Seite des Ganges Fenster nach draußen hatte, aber es war schon dunkel. Und dann ein letztes Gemach an der Stirnseite, ein Raum mit mehreren Alchemietischen, Lagerregalen, einem Kessel über einer Feuerstelle und einem kleinen hutzeligen Männchen. Der Alchemist war nicht wie ein Schwarzmagier gekleidet, und das erschien ihr als gutes Omen. Freundlich sprach sie ihn an. Er trug eine Art Lederrock mit blauer und roter Stickerei, war sehr mager und ging vorn übergebeugt. Auf ihre Frage nach einem Handel mit Zutaten antwortete er unfreundlich, dies sei vielleicht irgendwem wichtig, aber nicht ihm. Das große Werk vertrüge keine Ablenkung, und keiner, der nicht wissend sei, verdiene Aufmerksamkeit angesichts dieser großen Energiewende in der Geschichte der Menschen. Sie versuchte es noch einmal, aber er schickte sie mit einem unfreundlich Schlenker seiner Handfläche fort.

    Gothic Girlie
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    Jarus Vision

    Jaru schob vorsichtig die letzten glühenden Reste seines Feuers zusammen, damit er über den Felssims zum Passweg zurückgehen konnte. Einen Moment blickte er in die Glut – orange Muster vor zerklüfteter blass grauer Struktur –
    ... und mit einem Mal sah er sich woanders, kämpfend auf einer Landzunge in Iregs Rüstung, über Tasso stehend, der gefallen war und rundherum bedrängten ihn Orks. Gerade hob ein besonders großer Ork vor ihm seine Axt und schlug ihm den Schild fort, und mit ihm einen Teil seines Schulterschutzes. Jaru schrie auf, als die Waffe in seinen linken Oberarm fuhr. Das Lederwams hing dort zerrissen herab, und einen Moment war er wie betäubt vor Schreck und Schmerz. Aber der Ork nutzte seinen Vorteil nicht. Er schlug zwar Jarus Schwert zur Seite, aber dann starrte er auf Jarus Arm, zog die Fetzen des Lederwamses etwas von der Haut fort. Die Tätowierung! Jaru sammelte sich, trat einen Schritt zurück, brachte sein Schwert beidhändig in Position und sah den Ork an, bereit, sein Leben teuer zu verkaufen. Aber der brüllte den Orks etwas zu, das Jaru nicht verstand, und die Orks hörten auf zu kämpfen und zogen sich zurück. Jaru ließ erschöpft das Schwert sinken, da drehte sich der Ork um, der ihm schon den Rücken zugewandt hatte, schlug ihm gegen den Kopf und hob ihn hoch wie eine Puppe, als er das Gleichgewicht verlor...
    Jaru fiel vor Schreck fast in die Reste seines Feuers. Wenige Schritte von ihm entfernt auf dem Sims stand Grompel, der Orkschamane. „Ich möchte mit Dir reden, Jaru.“ Jaru, verwirrt vom Schlafmangel und benommen von der Vision, fragte er sich, ob diese etwas mit Grompels Präsenz in seiner Nähe zu tun gehabt hatte.
    „Warum habt Ihr die See-Paladine angegriffen, wenn diese doch gegen die Sklavenjäger gekämpft haben, die auch Eure Feinde sind?“
    Grompel kam noch etwas näher, sah Jaru an, ließ sich Zeit mit der Antwort.

    „Ich bin von Myrtana gekommen, und dort kämpfen Orks nicht mit Paladinen auf einer Seite. Wie wir hier stehen und reden, wäre dort nur möglich, wenn Du oder ich ein Sklave wäre. Oder Du ein Söldner, der sich bewährt hat im Kampf gegen seine eigenen Leute. Würdest Du gegen Deine eigenen Leute kämpfen, Jaru?“
    „Gegen Menschen meinst Du, oder? Ich habe einen Sklavenjäger getötet, und andere, die mit dem fremden König gekommen sind. Aber ich habe auch einen Ork getötet, der mich angegriffen hat, als ich ihn nach dem schwarzen Krieger gefragt habe, und der schwarze Krieger war in der Grotte unter der südlichen Feste, wo Du Dich nicht hingetraut hast.“
    Grompel schwieg. Er war nicht auf Jarus Worte angesprungen, selbst nicht auf die, mit denen Jaru seinen Mut anzweifelte, und das war ungewöhnlich für einen Ork.
    „Warum habt Ihr die See-Paladine angegriffen?“ beharrte Jaru.
    „Sie sind nicht unsere Feinde.“ antwortete Grompel.
    „Warum?“
    Grompel schwieg.
    „Worüber willst Du mit mir sprechen? Du hast selbst vermutet, dass einer der See-Paladine mein Verwandter ist. Wenn Deine Frage bedeutet, ob ich jemals gegen einen von ihnen kämpfen würde, sage ich, nein. Niemals.“
    „Es gibt andere Paladine. So wie der, den Du angegriffen hast, als wir uns trafen.“
    „Faid. Erzähl mir von ihnen. Er ist sicher nicht mein Freund, und das weißt Du.“
    „Sie haben eine Burg im Norden mit einem Hafen. König Rhobar III von Myrtana ist dort, mit seiner Flotte. Und die Sklavenjäger wollen zu ihm stoßen, mit so vielen Ork-Galeeren, wie sie bemannen können. Weißt Du, was das heißt? Sie werden die Ork-Sklavenlager leeren und unser Volk verschleppen, in einen fremden Krieg. Dafür wollten wir das kleine Kriegsschiff, um gegen die Schwarzmagier und Sklavenlagerwachen zu kämpfen.“
    „Dieses kleine Schiff ist das einzige, das schon vorher gegen sie gekämpft hat. Als Du noch in Myrtana warst, und Deine Nahrung von Menschensklaven angebaut wurde.“ Letzteres hatte Jaru erraten, aber er sah an ein einem Zucken in Grompels Gesicht, dass es stimmte.
    Diesmal sah Grompel zu Boden. Jaru musterte ihn. Seine herausfordernde Art, mit dem Ork zu reden, wunderte ihn selbst, denn dieser Ork hatte etwas, das Jaru völlig beeindruckte. Seine Ruhe, seine Selbstbeherrschung – und ... Trauer, die ihn wie eine Wolke umgab.
    „Du hast uns den kleinen Ork zurückgebracht.“ Grompel suchte Jarus Blick. „Warum? Er ist sehr wertvoll. Man kann ihn in Minen mit einer sehr kleinen Öffnung bringen, und wenn er stark wird, kann er dort viel arbeiten.“
    „Ich weiß. Mich haben sie auch so eingesetzt, als ich jünger war. Obwohl ich nicht so stark wie ein Ork bin.“
    „Warum?“
    „Er war verletzt. Er war in einem verlassenen Haus, zusammen mit den Möbeln im Keller versteckt. Wie eine Sache, wie ...“ Jaru fehlten die Worte. „Sentimentales Gefasel“, dachte er. „Grompel, ich weiß, dass Deine Orks wegen ihm ein Menschendorf zerstört haben. Ich habe mit den Orkwald-Leuten gesprochen. Aber diese Leute hatten nichts mit denen zu tun, in deren Keller der Ork war. Ihr habt die Falschen überfallen.“
    „Hast Du ihn uns deshalb gebracht, damit wir aufhören, die Falschen zu überfallen?“
    Jaru zögerte, „Ja, auch.“ Er ärgerte sich, als er merkte, wie er rot wurde.
    Aber Grompel lächelte. „Das ist gut, ich dachte erst, Du wärst etwas dumm.“
    Jaru wurde noch röter und er platzte fast vor Zorn. Diese Verhandlungen zwischen Orks und Menschen waren eher etwas für Leute wie Nela oder Ireg. Er würde nie ihre Selbstbeherrschung oder Besonnenheit erringen können. Am liebsten hätte er Grompel einfach stehen lassen und wäre weggegangen, aber das war unmöglich, denn Grompel stand vor ihm auf dem Sims. Er überlegte. Die Information über die Burg und den Hafen im Norden musste schnellstmöglich zu Tasso - falls er noch lebte - und Marik, und er wusste von beiden nicht, wo sie waren. Und diesmal würde er sie erst informieren, und dann erst losziehen. Und er hatte immer noch keine gute Rüstung.
    „Wer ist der schwarze Krieger.“ fragte er.
    „Ein Orksöldner. Der beste, den wir je hatten. Er bündelte die Kräfte der Orks in Myrtana und kämpfte gegen Gorn, einen der Führer der Menschen und ein Freund Rhobars III. Er unterlag und floh – mit mir, und einigen anderen Orks.“
    „Aber Ihr steht nicht mehr auf derselben Seite.“
    „Nein.“ Jaru sah, wie schwer Grompel dieses Eingeständnis fiel.
    „Ist er Dein Feind geworden?“
    „Nein, es ist keine Feindschaft.“
    „Aber er hilft Dir nicht, die Orks dieser Insel zu befreien.“
    „Nein.“
    „Und deshalb möchtest Du, dass ich Dir helfe.“
    Grompel zögerte etwas, dann nickte er.
    „Würdest Du mir beibringen, was Du über Magie weißt? Das Alte Wissen, die Zauber? Und würdest Du mir erklären, wie ich diese... Träume besser verstehen kann?“
    „Ja“, sagte Grompel. „Und ich denke, dass ich selten einen so guten Schüler hatte.“
    Jaru erinnerte sich an die Vision. „Und Du hältst Deine Leute davon ab, die See-Paladine anzugreifen, und die Leute von meiner Mine, und die Orkwald-Leute?“
    „Ja. Dann kämpfen wir auf einer Seite.“
    „Ich bin einverstanden.“ sagte Jaru und streckte Grompel die Hand hin. Grompel ergriff sie und umarmte ihn, was nicht so ganz leicht war, auf dem schmalen Sims.

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    Die Schwarzmagier

    Marlan betrat den feuchten Gang, der vor dem Gebetsraum abzweigte. Noch ein Lagerraum, leere Zellen, abgeschlossene Räume, am Ende eine Wendeltreppe nach oben. Außer Sicht der Schwarzmagier zog sie wieder die Hohe Robe an, sie bot weit besseren Schutz. Auf der Treppe und in einem kleinen Seitenraum warteten tatsächlich ein paar kämpfende Skelette, abgestellt wie altes Gerümpel. Sie ärgerte sich inzwischen, nicht öfter an Nelas Schwertstunde teilgenommen zu haben, im gewendelten Gang war zuwenig Distanz, den Blitzzauber aufzuladen. Als sie einen ersten Blick auf eine Art Turm-Plattform erhaschen konnte, und dort mindestens drei Paar knochige Füße sah, blätterte sie noch einmal durch die gefundenen Spruchrollen, und beschwor selbst ein Skelett als Helfer. Das war sehr erfolgreich, und so konnte sie die Plattform wenig später betreten.
    Der Mond stand am Himmel, kurz vor dem Vollmond, seine mächtigste Phase. Tief unter ihr erstreckte sich die See, von hier oben wirkte sie glatt und ruhig. Und sie sah die „Alca“, wie sie nach Osten kreuzte, anscheinend unbemerkt oder unangefochten von den Schwarzmagiern unter ihr. Sie sandte ein Stoßgebet zu Innos.
    Näher am Turm befand sich ein Plateau auf der Klippe, umgeben von drei Gebäuden. Das war das eigentliche Kloster der Schwarzmagier, zu dem sie bisher noch nicht vorgedrungen war. Es war durch Fackeln erleuchtet, deren Licht aber kaum bis zu ihr drang. Sie nahm eine Bewegung wahr: irgend jemand überquerte den Hof ohne anzuhalten. Zur Landseite hin gab es Befestigungsanlagen, aber ohne Fenster, Schießscharten oder weitere Türme.
    Sie zog wieder die Männerkleidung an und machte sich an den Abstieg. Die Orks lagen in ihrem Raum auf dem Boden und schnarchten, die Schwarzmagier, der Alchemist und ein schmuddeliger Novize in einer Küchenschürze schliefen in den Betten der anderen Räume. Der Schwarze namens Thorus war nicht zu sehen, die Frau stand wachsam im Flur.
    Marlan wandte sich zur Treppe, die auf das Plateau führen musste. Sie war breiter als die Turmtreppe und viereckig und endete in einem kleinen überdachten Gemach, das Teil der Brüstung zum Meer hin war. Sie trat auf den offenen Platz hinaus und versuchte, die „Alca“ noch einmal zu sehen, aber sie fuhr nicht mehr über die Meeresfläche, die das Mondlicht spiegelte, und blieb unsichtbar. Sie sah sich um. Links von ihr erstreckte sich ein flaches Gebäude mit vier Räumen nebeneinander und einem überdachten Gang davor. In den Räumen schliefen Novizen. Sie zählte vierzehn, zwei Betten waren leer. Auf der Felsseite war ein ähnliches Bauwerk mit höheren Decken und größeren Räumen, dort waren nur jeweils zwei Betten in jedem Raum und sieben davon waren mit Magiern belegt. Das dritte Gebäude war eine Art dicker Turm. Das Erdgeschoss war prunkvoll mit Teppichen ausgelegt und mit Wasserspendern, Wasserpfeifen, Karaffen und goldenen Schalen geschmückt. Sie sah eine Treppe und stieg sie nach oben. Das obere Stockwerk enthielt ein mit Büchern, einem Alchemietisch, einem Runentisch und vielen Regalen vollgestelltes Schlafgemach, und am einzigen großen Fenster sah ein fetter Schwarzmagier in einer ihrer Hohen Roben durch ein Fernglas auf die See hinaus. Neben ihm stand Thorus.
    Marlan dachte blitzschnell nach. Es gab nur einen Grund für eine Störung zu so nächtlicher Stunde. Sie hatte noch Blutfliegen-Verwandlungstränke, wollte sie vorher nur nicht ohne weiteres Thorus geben. Jetzt sprach sie ihn unterwürfig an: „Herr, was Du wünschtest...“ Aber er unterbrach sie mit einer herrischen Geste und schickte sie fort.

    So blieb ihr nichts anderes übrig, als wieder die Treppe hinunter zu steigen. Leider konnte sie unten kein Wort des Gesprächs zwischen Thorus und dem Chef der Schwarzmagier mit anhören. Sie erwog zu warten, entschied sich dann aber dagegen. Vielleicht wäre es eine bessere Idee, ein paar der geschlossenen Türen auszuprobieren. So stand sie kurze Zeit später wieder in dem untersten Gang. Die Frau war nicht mehr zu sehen. Marlan machte sich mit ihren Dietrichen an der vorderen der beiden Türen zu schaffen. Das Schloss ging leicht auf. Dahinter war eine kleine Bibliothek. Sie überflog die Bücher, nichts besonderes: Werke über Götter, Pflanzen, Erz, Alchemie, Schwertpflege, Gifte, Sterndeutung. Das meiste kannte sie schon, oder es interessierte sie nicht. Ein Buch über die Könige dieser Insel, nicht uninteressant, aber das konnte warten. Dann aber glänzte ihre Augen: im hintersten Regal lagen ganz unten, was sie für die eigentlichen Schätze dieses Klosters hielt: ein umfangreicher Kartenband, eine Handschrift über das merkwürdige Alphabet, in dem das Buch geschrieben war, das Jaru gefunden hatte, und eine Schrift über Fernheilung. Und wie Nela konnte sie nicht widerstehen und steckte alle drei ein. Sie glitt zur Tür hinaus, verschloss sie wieder mit dem Dietrich.
    Die zweite Tür war schwerer und das Schloss ging nicht auf. Wieder blätterte sie in ihren Spruchrollen, und tatsächlich gab es welche, mit denen man Schlösser öffnen konnte. Sie erwog ihren Einsatz – das Öffnen dieser Tür wäre nicht rückgängig zu machen. Schließlich probierte sie erst ihre Dietriche an den Räumen im feuchten Gang aus. Im ersten war ein Novize eingesperrt. Er wirkte erschöpft und bat sie um etwas zu essen und trinken. Sie gab ihm etwas Wasser, Brot und ein Stück Käse. Während er das Zeug in sich reinstopfte, versuchte sie ihn auszufragen, warum er hier eingesperrt war, aber er antwortete nur vage. Offenbar hatte er wegen irgendetwas ein schlechtes Gewissen. Sie nahm die Wasserflasche wieder an sich und schloss ihn wieder ein. Der nächste Raum war leer. Im letzten war der Weinkeller und eine besonders gesicherte Metallkiste, wahrscheinlich der Klosterschatz. Sie rührte nichts an und schloss die Tür wieder ab. Sollte das alles gewesen sein? Keine Geheimnisse? Nichts über die mächtigen Blitzrunen, kein Hinweis auf einen Grund für die Teleportations-Runen in das Tal bei der Mine oder die Hintergründe für ihre Allianz mit dem fremden König? Marlan stand zum zweiten Mal vor der Tür, für die sie die Schriftrolle einsetzen musste. Da hörte sie Schritte hinter sich: Thorus kam die Treppe hinunter. Sie spürte seine Präsenz wie eine dunkle Welle, die über ihr zusammenschlug. Er hielt vor ihr an und fragte: „Und?“
    „Die Tränke, die Du haben wolltest.“ Noch nie hatte sie so sehr wie ihr Vater Reto geklungen. Sie hielt ihm die beiden Flaschen hin.
    „Ah, ja.“ Er nahm sie, wollte einfach weiter gehen.
    „Herr, meine Bezahlung?“ „Du wolltest für mich arbeiten, oder? Besorge mir einen Kompass, ein Fernglas und eine Karte des Meeres südöstlich von dieser Insel. Hier hast Du Gold für die Tränke.“ Es war weniger, als sie sonst nahm. Erst wollte sie dazu schweigen, aber dann erschien es ihr falsch. „Herr, das ist zu wenig.“ Sie erwartete einen ärgerlichen Ausruf, wenn nicht sogar einen Wutausbruch. Aber Thorus gab ihr genau die hundert Goldstücke, die am normalen Preis fehlten. „Er hat mich auf die Probe gestellt.“ dachte Marlan. Thorus ging weiter in seinen Raum, und Marlan merkte plötzlich, wie müde sie war.

    Aber noch war der Zeitpunkt, wo sie rasten konnte, nicht gekommen. Sie stieg ein zweites Mal hoch auf das Plateau und blickte in den Turm, wo der oberste Magier wohnte. Er schlief jetzt, sie sah es von der halben Höhe der Treppe aus. Das Fernglas lag auf einem kleinen Tisch beim Fenster. Sie zog es mit dem Schwebe-Zauber von Irla zu sich herunter und steckte es ein. Einen Kompass hatte sie schon im Kloster der Feuermagier gefunden. Aber sollte sie Thorus wirklich beides geben? In Wirklichkeit wollte sie niemandem helfen, der mit dem fremden König gemeinsame Sache machte. Aber – tat er das wirklich? Sie schlug in dem Kartenwerk nach, das sie in der Bibliothek gefunden hatte. Es enthielt dieselbe Karte, die sie bei Tasso gesehen hatte. Sie musste dringend nachdenken. Leise lief sie durch das schlafende Kloster nach unten. Im Osten zeigte sich ein hellblauer Schimmer. Zwei Novizen waren jetzt wach, einer fegte den Plateauhof und der schmuddelige stand unten in der Küche und knetete Brotteig. Sie stieg auf den schmalen Turm.
    In dem Kartenwerk aus der Bibliothek gab es leere Seiten. Sie untersuchte sie auf unsichtbare Tinte, aber die Blätter waren wirklich unbeschrieben. Sie schnitt ein Blatt heraus und rieb mit Gowans merkwürdigem Stein vorsichtig die Schnittkante ab, bis sie genauso alt wirkte wie die anderen Ränder. Dann rieb sie etwas Staub hinein. Schließlich verdünnte sie etwas von ihrer Tinte, die sie immer bei sich trug mit Wein und zeichnete die Karte der Insel ab, wobei sie eine Bucht weg ließ und die Klippen und die Meeresströmung vor der Insel geringfügig veränderte. Später kopierte sie die Zeichnung des Labyrinths, ebenfalls mit einigen Fehlern. Etwas, das wohl eine Quelle darstellen sollte, zeichnete sie auf der falschen Seite der Insel ein. Und zuletzt, mutig geworden, erfand sie eine Zeile in einem Alphabet, das ganz ähnlich aussah wie die fremde Schrift in Jarus Buch. Natürlich konnte sie dieses Kunstwerk Thorus nicht schon morgen präsentieren. Dergleichen musste gebührend lange gesucht werden, in unheimlichen Höhlen, wo schleimige Viecher hausten – oder schlimmeres. Sie drückte es umgedreht in den Schmutz auf dem Turmboden, zerquetschte eine Fleischwanze darauf, die unvorsichtig genug war, ihr über das Blatt zu laufen, dann wischte sie es mit ihrem Hosensaum trocken und verstaute es zufrieden in einer ihrer Westentaschen.
    Als nächstes das Fernglas. Sie testete das gestohlene. Es war wirklich ausgezeichnet, man konnte es etwas verstellen, und es bildete die Gegenstände scharf ab, ohne viele farbige Ränder. Da der Schwarzmagier es nachts benutzt hatte, ging sie davon aus, dass es auch das Licht gut sammelte. Sie verspürte wenig Lust, es herzugeben. Aber sie hatte ja noch die Linsen, ebenfalls aus den Überresten des Feuermagier-Klosters. Sollte sie sie tatsächlich verschwenden? Sie waren wertvoll, auch wenn sie sie stümperhaft zusammenbaute. Und ein Magier könnte ihren Fehler korrigieren – wenn auch mit etwas Aufwand. Nein... das war keine gute Idee. Sie beugte sich über die Brüstung, in die strahlende Morgensonne. An der Küste im Osten sah sie ein schmales Tal. Felder waren dort zu sehen, Häuser, ein kleiner Hafen für Fischerboote. Dieser Ort wäre perfekt für ihr Frauenkloster. Sie wollte ihn. Zum Beliar mit diesen Schwarzmagiern. Aber wie sie alle besiegen? Zwölf Magier, sechzehn Novizen, sechs Orks, einen Menschenkrieger und die Frau mit dem großen Bogen... ach ja, und dieser verwirrte Alchemist – aber sie traute auch ihm einiges an überraschender Kampfkraft zu. Und keiner wirkte, als ob er leicht zu vertreiben wäre.
    Sie atmete langsam ein, streckte sich, setzte sich wieder im Schneidersitz auf den unebenen Steinboden. Entschlossen öffnete sie Jarus Buch und die Schrift über das andere Alphabet und begann, den Text zu entziffern.

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    Über die Meergöttin

    Zwei Stunden später unterbrach Marlan ihre Studien. Die Schrift war in einem nördlichen Dialekt der alten Sprache geschrieben und befasste sich – so weit war Marlan sicher - aufs Ausführlichste mit einer Meergöttin und verschiedenen Ritualen zu ihren Ehren. Nach den ersten zehn Seiten war Marlan so weit, dass sie einzelne Wörter sofort als ganzes erkannte und nicht mehr nachschlagen musste – und war nun gut über die erstaunliche Anzahl an Titeln, Attributen und Begrüßungen, die der Göttin zustanden, informiert. Desweiteren schien es, als ob die Göttin gelegentlich Zwillinge geboren hatte – oder jeweils einen Mann und eine Frau zu Trägern ihrer Energie auserwählt hatte – oder als ob ihre damaligen Verehrer das glaubten – oder alle Zwillinge als ihre Kinder verehrten – die Passage in dem Buch war wunderschön, unglaublich poetisch, und Marlan ertappte sich dabei, wie sie Melodien dazu ausprobierte, aber leider war der Text, was Tatsachen anbelangte, sehr dürftig. Und – frustriert klappte sie das Buch zu – würde sie wahrscheinlich dem Besitz dieses Klosters nicht näher bringen, noch seinen Geheimnissen, wie dieser merkwürdigen Wächterin.
    Aber etwas anderes nagte beständig an ihrem Unterbewusstsein, das sehr wohl mit diesem Kloster zu tun hatte, und als sie sich dessen bewusst wurde, gab sie dem Gedanken Raum: Der Abt würde das Verschwinden seines Fernrohres nicht hinnehmen. Sie konnte es nicht behalten, es sei denn sie verschwände ebenfalls von hier, ohne Wiederkehr. Sie erwog verschiedene Pläne, wie sie es einsetzen könnte, und stieg dann die Turmtreppe hinunter. Sie erblickte im Gebetsraum wieder die gleiche Konstellation von Betenden, dem Mann mit den Goldbeuteln und dem Wächter – und der Wächter sah sie, diesmal war sie sich sicher. Die Orks und Thorus waren fort. Sie versuchte sich daran zu erinnern, in welchem Bett der wachsame Schwarzmagier geschlafen hatte, ging auf den Raum zu und platzierte mit Telekinese das Fernrohr darunter, ohne ihn zu betreten. Danach erstieg sie die Treppe zum Plateau. Die Novizen der Schwarzmagier standen in einer Ecke im Kreis und klatschten und sangen ein Lied ohne richtigen Text, mehr einen Abzählvers. In ihrer Mitte duellierten sie sich. Marlan sah von der Überdachung der Treppe aus zu. Die meisten kämpften mit zwei kurzen, geschwungenen Schwertern, aber genauso mit den Beinen oder mit Körperstößen. Zum Üben fügten sie sich nur leichte Schnitte zu, und sobald einer blutete, kam der nächste an die Reihe. Die Paare wechselten nicht schnell hintereinander, und manche der Novizen waren Schweiß-überströmt und keuchten bis sie ausgewechselt wurden.
    Mit einem Mal ertönte von unten ein heiserer Gong. Die Novizen unterbrachen ihre Kämpfe, liefen in ihre Unterkünfte, und kamen mit Schalen in den Händen auf Marlan zu. Sie trat auf das Plateau heraus, und ließ die Novizen vorbei, die die Treppe hinunterliefen. Plötzlich ging alles sehr schnell. Aus dem Turm, wo der Abt residierte, kamen sechs Magier in drei Paaren. Sie verteilten sich rasch über die Magier-Unterkünfte, kurze Zeit später waren sie in denen der Novizen und danach strebten sie der Treppe zu. Marlan hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht. Vier der Magier liefen schon nach unten, aber das letzte Paar baute sich vor ihr auf. „Und Du, halbe Portion, hat jemand seinen Sklaven nicht angekettet?“ höhnte einer von beiden. Marlan konzentrierte sich auf den anderen, der sie einfach nur ansah, er schien ihr der gefährlichere von beiden. „Ich bin Alchemist. Ich arbeite für Thorus.“ „Alchemist also“, der Schwarzmagier lachte und machte eine unmissverständliche Geste vor seinem Gesicht, wie ein auf- und zugehender Entenschnabel. Marlan setzte zu einer Erwiderung an, aber in diesem Moment ertönte von unten Kampfgeschrei und das Klirren von Waffen. Die beiden ließen sie stehen und rannten den anderen Magiern hinterher.
    Marlan überlegte, ob es weise wäre, sich irgendwo unsichtbar zu machen. Andererseits, normalerweise würde sie dem Lärm auf den Grund gehen, und so stieg sie ebenfalls ab. Auf der halben Treppe kamen ihr die Schwarzmagier entgegen, einer trug das Fernglas. Hinter ihnen drängte eine Anzahl Novizen nach oben. Marlan ließ sie vorbei, der mit der Entenschnabel-Bewegung zwinkerte ihr zu und wiederholte die Geste. „Falls ich mich das nächste Mal, wenn er das macht, nicht mit ihm anlege, werden sie mich für einen Feigling halten,“ dachte Marlan.
    Unten im Flur lag der aufmerksame Wächter in seinem Blut. Die anderen Schwarzmagier beteten wieder, drei Novizen standen noch vor der Küche um etwas zu Essen an. Er schien ihnen nicht viel bedeutet zu haben. Marlan fragte den Koch, ob sie auch etwas haben könnte, und er verkaufte ihr ein Essen für 30 Goldstücke, was entschieden zu viel war. Umso mehr, als die Getreidegrütze angebrannt schmeckte und kleine schwarze Flocken enthielt, und der Fleisch-und-Gemüseeintopf, den es dazu gab, war knorpelig und fettig und schlecht gewürzt. Sie lehnte sich ganz entspannt gegenüber der Küche an die Flurwand, löffelte den Fraß und überlegte, ob sie die Novizen ansprechen sollte, die sich ebenfalls dort noch aufhielten, als plötzlich eine Hand mit scharfen Nägeln sie im Genick packte und herumdrehte. „Du Mistkerl, ich habe Dich beobachtet...“ Die Frau mit dem Bogen.
    „Was willst Du, entspann Dich!“, raunzte Marlan sie an, und zog ihr das Stück Stoff aus den Fingern, das sie noch hielt.
    „Du bist nicht irgend so eine Wurst von einem Alchemisten. Du hast hier keinen Trank gebraut. Cor Kalom redet nämlich mit niemandem, Du kannst mir nicht erzählen, dass er für Dich eine Ausnahme gemacht hat.“
    „Warst Du dabei?“ Marlan brummte in bester Reto-Manier. „Ich habe Dich nicht gesehen. Lass mich in Ruhe, ich esse. Wenn auch kein Mensch weiß, warum ihr solches Essen ertragt, kein Wunder, dass Du schlechte Laune hast, Alte.“ Die Novizen lachten.
    Aber die Frau ließ sich nicht abwimmeln. „Du bist ein Magier. Ich kann Deine Aura spüren. Und warum zeigst Du es nicht offen? Warum schleichst Du hier herum?“
    „Ich habe es Thorus gesagt. Ich suche Arbeit. Er hat mich angenommen,“ Marlan leierte es in genervtem Ton herunter, aber in Wirklichkeit war sie äußerst alarmiert, und umfasste den Griff ihres magischen Schwertes. Sie fühlte, wie er kalt wurde. Eine wirksame Waffe gegen so eine einfache Rüstung, wie diese Waldläuferin trug. Aber mit einem Mal sah Marlan, dass diese eine Rune in der Hand hielt, und sie fing bereits an, sie aufzuladen. Marlan griff blitzschnell an. Der Zauber wurde unterbrochen, aber ihr Gegenüber gab nicht sofort auf. Sie trat zurück, in den Gebetsraum, und aktivierte die Rune ein zweites Mal. Wieder traf Marlan die Waldläuferin mit dem Schwert, bevor die Rune wirksam wurde. Jetzt sahen die drei Schwarzmagier aufmerksam zu, aber keiner half der Frau. Marlan schlug sie ein drittes Mal, ein vierter Streich würde vermutlich tödlich sein. Marlan konnte nicht glauben, dass keiner der Magier oder Novizen ihre Partei ergriff. „Ist sie denn die einzige hier mit Grips in der Birne?“ dachte Marlan. Sie hatte nicht die geringste Lust, diese Frau zu töten. Außerdem würde sie dann mit Sicherheit nichts mehr von Thorus erfahren. Aber wieder aktivierte sie ihre Rune, und Marlan konnte mit ihrer einfachen Männerkleidung keinen Treffer riskieren. Da nahm sie die Teleportrune für die Klippe, die sie im Labyrinth gefunden hatte, und bevor der Zauber der verkleideten Magierin traf, stand Marlan in blauem Licht weit oberhalb des Klosters. Sie bewegte sich sofort von dem Ort fort, da sie erwartete, dass ihr jemand folgte. So schnell sie konnte, legte sie die Hohe Robe an, und nahm die Blitzrune zur Hand. Und tatsächlich – kaum, dass sie damit fertig war, zeigte sich die blau umstrahlte Form erst eines, und dann eines zweiten Magiers. Der erste starb sehr schnell – er erreichte sie noch nicht einmal. Aber danach war ihre magische Kraft erschöpft, und da auch das magische Schwert davon zehrte, blieb ihr nur noch der Speer als Waffe. Damit sprang sie auf den zweiten Magier zu. Er zog seine beiden Schwerter. Marlan verteidigte sich verzweifelt. Die Reichweite des Speers war höher als die seiner Schwerter, aber einmal traf er sie, indem er nach einem Treffer am Schaft entlang glitt. Und sein Schwert war vergiftet. Marlan wurde zur Furie. Sie stach immer schneller auf ihn ein, auf sein Gesicht, seine Brust, seinen Hals, dann stellte sie ihm ein Bein und rammte ihm den Speer tief in den Brustkorb. Keinen Moment zu früh. Sie riss eine der Gegengiftflaschen aus der Tasche und zog die Flüssigkeit gierig in sich hinein, dass ihr ein Teil übers Kinn hinunter lief. Währenddessen fühlte sie, wie kalte Finger ihr Herz umklammerten, und buchstäblich im letzten Moment konnte sie wieder durchatmen. Aber sie entspannte sich nicht. Sie regenerierte ihre magische und Lebenskraft, dann untersuchte sie schnell die Leichen der beiden Magier. Sie hatten fast dasselbe bei sich: eine Blitzrune mit einem schwarzen Turmalin, je einen Teleportzauber zur Klippe und in die Nähe von Jarus Mine, eine weitere Teleport-Rune mit einem ihr unbekannten Symbol, eine dieser furchtbaren Mahlzeiten – offenbar waren sie vom Essen weggestürzt – einen Manatrank und etwas Gold. Einer trug zusätzlich einen Ring, der die magische Kraft steigerte, der andere hatte anscheinend vor kurzem Pflanzen gesammelt, die meisten ließen sich gut zu Heiltränken verarbeiten, aber es war auch ein ihr unbekanntes Kraut dabei. Zuletzt nahm sie ohne viel Freude die vergifteten Waffen an sich. Sie überlegte fieberhaft. Diese Verfolger hatten sie in die Lage versetzt, etwas zu tun, was sie sonst nicht geschafft hätte.
    Sie suchte den Gang, durch den Jaru abgestürzt war. Die Falle hatte sich wieder geschlossen. Als sie schon fast nicht mehr damit rechnete, riss es sie plötzlich nach unten.
    Unsanft fiel sie in das glitschige Gang-Gemach, hielt sich aber nicht dort auf. Erst bei der Mündung in die Grotte hielt sie kurz inne und sah sich um. Niemand zu sehen. Sie zog sich wieder Männerkleider an und huschte zu Mikals Zelle. Die Lebensmittel waren verbraucht. Sie griff durch die Gitterstäbe und rüttelte an seinem Arm. Er öffnete langsam die Augen. „Oh, nein“, dachte sie. „Wenn je einer Heilung gegen Besessenheit gebraucht hat, dann dieser.“ Sie war sich nicht sicher, wie viel er wahrnahm. „Hör zu, ich habe die Ketten geöffnet und das Essen hier gelassen. Jetzt bin ich hier, Dich zu befreien.“ „Das kannst Du nicht. Niemand kommt an ihr vorbei“, zitternd zeigte er auf die Wächterin. „Nimm das. Es ist eine Teleport-Rune. Weißt Du, wie man damit umgeht?“ Sie gab ihm die von der Mine. Im selben Moment, in dem sie an ihm den ersten blauen Funken sah, löste sie auch ihre aus.

    Gothic Girlie
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    Banditenkumpel

    Gero bezweifelte, dass er die Nacht überleben würde. Die beiden Banditen versteckten sich immer noch zu nah bei ihm hinter dicken Stämmen. Bald käme die Dunkelheit, und die Art der Konfrontation – der rutschige Hang, seine Position wie mit dem Rücken zur Wand und die ungebrochene Energie der beiden Banditen, die jetzt schon seit Stunden ausharrten und ihn belauerten – ließ ihn Schlimmes befürchten für eine lange Nacht, in der er sich keine Sekunde erlauben dürfte, wegzunicken. Sein ursprünglicher Zorn über ihren plötzlichen Angriff war längst verraucht, und er überlegte kühl, wie er das Blatt doch noch wenden könnte. Ombhau´s Zauber fiel ihm ein, und er war nun wesentlich geneigter, sich mit den beiden Banditen eins zu fühlen. Ganz abgesehen davon, dass er wohl kaum etwas über die Invasoren erführe, wenn er alle umbrächte, die er auf dieser Seite der Insel traf.

    Ombau´ hatte ihm einen kleinen Vorrat der harzigen Blätter überlassen, und Gero holte sie leise hervor und drehte aus einem Teil eine Finger-große Rolle. Er holte das Stück Holzkohle aus seiner Glut-Büchse, und fing an, zu rauchen. Bei den Banditen blieb das nicht unbemerkt. „Hey, Kumpel, das ist gutes Zeug, wirf mal was rüber, eh wir´s uns holen müssen!“ „Jetzt bin ich schon ihr Kumpel“, dachte Gero, „Dabei hab ich noch nicht mal angefangen, zu zaubern.“ Er band ein paar der Pflanzenstengel an einen Stein, und warf diesen bis kurz vor die Deckung des Banditen, der darum gebeten hatte. Dann nahm er die Rune in die Hand, dachte an Korl und Benn, und versuchte, den Kerl irgendwie nett zu finden. Als dieser nach dem Stein tastete und kurz sichtbar wurde, wandte er die Rune an. Er hätte ihn in diesem Moment auch erschießen können, und es tat Gero fast leid, die Rune gewählt zu haben. Aber der Bandit freute sich wie ein Kind. Der andere wurde neidisch, und forderte seinen Anteil, aber der mit den Pflanzen beglückte rückte nichts raus.
    Gero hörte sie streiten, und dann ein lautes Rascheln, eine unklare Bewegung... und plötzlich schienen die zwei hinter dem dicken Stamm zu kämpfen. Er sah fast garnichts mehr. Einen Moment war er unschlüssig, dann fiel ihm auf, dass die Banditen ihn jetzt auch kaum noch sehen würden. Er umrundete mit Hilfe seines Seils seinen Baum, band es dann los, und schlich erst hoch auf sie zu, dann seitlich von ihnen weg hinter einen anderen Stamm etwas oberhalb von ihrem. Von dort blickte er in ihre Richtung. Der nach dem Kraut gegriffen hatte, war unter seinem Räuberwams in eine Tunika mit grünen Ärmeln gekleidet gewesen, und dieser lag jetzt unten. Der andere saß auf seiner Brust und schug auf ihn ein. Gero spannte seinen Bogen – auf diese kurze Entfernung tötete sein erster Pfeil. Er ging zu seinem neuen Banditenfreund, und wollte ihm unter dem Toten heraus helfen, aber offenbar waren nicht nur Fäuste im Spiel gewesen: als er den Toten weg rollte, sah er einen dunklen roten Fleck zwischen Achsel und Hals des unten Liegenden, in dem bis zum Heft ein Messer steckte, und er war blau im Gesicht, sein Atem ging stoßweise. Er versuchte zu sprechen, aber er vermochte es nicht mehr. Gero hielt seine Hand, bis sein Atem, der immer schneller und flacher geworden war, nach einem letzten Keuchen versiegte.
    Die Kräuter umklammerte der Tote noch mit seiner Hand – und sie waren blutig. Gero ließ sie ihm, und durchsuchte die beiden Banditen kurz. Arme Schlucker: einfache Bögen, ein paar Pfeile, grobes Brot, ein paar Heilpflanzen, und einer von ihnen besaß noch vier Goldmünzen, der andere eine Flasche Schnaps – das waren ihre ganzen Habseligkeiten. Obwohl mit dem Leben davongekommen, was ihm ein paar Momente vorher noch ungewiss erschienen war, war Gero von dieser Wendung der Situation überrumpelt und er fühlte sich übel. Steif kraxelte er den steilen Hang empor und schlich den Weg talwärts, wohin die Sklavenlagerwache verschwunden war.

    Zuerst fand er den dritten Banditen unterhalb der steilen überhängenden Wand. Aber jemand hatte ihm wohl schon alles abgenommen, denn seine Taschen waren leer. Dann sah er noch weiter unten ein oranges Licht durch die Bäume scheinen. So leise er konnte, erkundete Gero das Gelände darum. Das Feuer brannte vor einer sehr einfachen Hütte, und zwei Sklavenlagerwachen – einer mit Blut auf der Rüstung und einem Verband, der durch einen Riß darin durchschimmerte – und ein Bandit saßen darum. Ein weiterer Bandit in einer besseren Rüstung saß vor der Hütte auf einer Bank. Gero verstand nicht, was sie sprachen, aber nach einer Weile gingen der mit dem Verband und der besser gerüstete Bandit in die Hütte. Die zweite Sklavenlagerwache richtete sich ein Schlaflager auf der Bank. Gero wandte den „Freundlich-stimmen-Zauber“ auf den Banditen an, als dieser vom Feuer aufstand, um neues Holz zu sammeln. Etwa einen Steinwurf von den anderen entfernt, sprach er ihn leise an.
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    Mikal

    Marlan war das alles sehr peinlich, aber sie kam nicht mit dem Kopf aus den Büschen. Nach der Teleportation war zuerst alles glatt gelaufen: Mikal war schon am Wegrennen, als sie noch in blaues Licht gehüllt stand, aber zwei Bogenschützen der Orkwald-Leute hielten Wache an dem Ankunftsort, und als sie ihnen zurief, Mikal festzuhalten, reagierten sie sofort. Die Wachen stellten sich als „Karrit“ und „Bultan“ vor, Marlan sich als „Reto, ein Freund von Jaru“. Mikal warf ihr einen schnellen Blick zu. Karrit war ein mittelgroßer, sehniger Mann, der fast klein wirkte, weil er sich schlecht hielt. Seine flinken hellen Äuglein waren überall, und Marlan beschloss, ihn nicht zu nah an sich herankommen zu lassen. Bultan war ebenfalls mittelgroß, muskulös und trug einen dicken schwarzen Bart und eine speckige Lederhose.
    Marlan forderte als erstes die Teleportrune von Mikal zurück, Mikal reagierte nicht, doch nachdem Karrit demonstrativ ein kleines scharfes Messer zog, öffnete Mikal seine Faust und warf ihr den Stein vor die Füße. Marlan bückte sich danach, und beide Orkwald-Männer sahen Mikal grimmig an.
    Marlan erklärte ihnen kurz, dass Mikal ein Gefangener der Schwarzmagier gewesen war, allerdings einer, der als Deserteur und Saboteur von den Leuten auf seinem Schiff gesucht wurde. Als Mikal Tassos Namen hörte, schien er zu schrumpfen und sein Gesicht wurde grau. Karrit erklärte sich bereit, Marlan und Mikal zur Mine zu begleiten, und Marlan nahm das Angebot an, weil sich da bereits ihr Magen bei ihr meldete. Sie waren kaum außer Sichtweite von Bultan, als sie sich im hohen Bogen in die Büsche erbrach. Seitdem hatte sie alles von sich gegeben, das in ihrem Magen gewesen war, und noch zweimal danach musste sie sich krampfhaft übergeben, ohne dass etwas kam – nur ihr Hals brannte. Sie war froh um Karrits Anwesenheit, aber gleichzeitig schämte sie sich schrecklich.

    Mikal lachte sie offen aus: ob sie etwa das Essen der Schwarzmagier einfach so in sich reingefuttert habe, jedes Kind wisse doch, dass diese kontrollierte Dosen von Gift in ihr Essen mischten, um den Körper daran zu gewöhnen, um so bessere Chancen zu haben, falls wirklich mal jemand Gift in ihr Essen mischte. Marlan, die das nicht gewusst hatte, kam sich jetzt zusätzlich auch noch blöd vor, aber trotzdem war sie Mikal für das Wissen dankbar: so konnte sie mit einem großen Schluck aus einer ihrer Gegengift-Flaschen die Magenkrämpfe stoppen. Ohne ein Wort ging sie zum Bach hinunter und wusch sich, und als sie zurück kam, war ihr Gang wieder aufrecht und ihr Gesicht freundlich. Sie trug immer noch Männerkleidung und keiner der Anwesenden hatte zu erkennen gegeben, dass sie daran etwas merkwürdig fanden. Aber je näher sie der Mine kamen, desto dringender erschien es Marlan, eine Entscheidung zu treffen: wollte sie dort als Mann oder als Hohe Magierin des Rates des Feuers auftreten? Beides zu vermischen erschien ihr wenig ratsam. Bei ihren Besuchen bei Kerantari war sie in Robe gekleidet – aber es war dunkel gewesen, und wenige hatten sie gesehen. Die Buddler kannten sie teilweise von ihrem Besuch, als sie Berlot geheilt hatte. Berlot, der jetzt tot war, mit einem verbrannten Zugarm... Sie traf ihre Entscheidung.
    „Karrit, der Gefangene muss zu Kerantari gebracht werden. Ich bitte sie, sich um seine Wunden zu kümmern, aber er darf nicht entkommen. Würdest Du das tun? Ich muss dringend den Magiern Bescheid geben.“ Karrit zögerte einen kurzen Moment, dann sagte er: „In Ordnung.“

    Marlan wandte sich scheinbar zum Gehen, aber nach einer kurzen Strecke zog sie ihre Hohe Robe an und verwandelte sich in einen Wolf. Vorsichtig folgte sie den beiden mit gebührendem Abstand, Karrit dabei innerlich um Verzeihung bittend, weil sie ihm nicht vertraute. Aber er führte Mikal den Pfad zum oberen Minenlager, bis zu Kerantaris Haus, dem alten Gefängnis. Einige Zeit später lief er wieder alleine zum Bach hinunter. Marlan folgte ihm ein paar Steinwürfe in das Tal, dann verwandelte sie sich zurück.
    Als sie dem Haus nahe kam, hörte sie dort einen Tumult. Sie rannte ganz unwürdevoll darauf zu und machte sich dabei Vorwürfe: sie hatte gesehen, dass Mikal besessen war, ihn aber trotzdem aus den Augen gelassen. Sie stieß die Tür auf und prallte fast mit Mikal zusammen. Der Vorraum war sonst menschenleer, aber im Gang dahinter sah sie Kerantari am Boden hocken und sich den Kopf halten. Um sie herum lagen Geschirrscherben, Brot und Beeren. Marlan fuhr auf Mikal zu:“Du... nicht nur, dass Du Deinen Kapitän bestiehlst und Deine Leute im Kampf verlässt, jetzt greifst Du auch noch eine Heilerin an, die Dir helfen wollte...“
    „Und Du, was weißt Du schon von mir, oder Tasso... für den bin ich doch immer nur ein Knecht, egal, wie ich mich anstrenge... Die Schwarzmagier haben mir versprochen, dass ich Magie bei ihnen lernen darf, wie jeder von ihnen, verstehst Du, wie einer von ihnen!“
    „Als ich Dich fand, warst Du kaum lebendig, geschweige denn ein Schwarzmagier.“ blaffte Marlan ihn an, aber ihr Herz begann bereits mit ihm zu fühlen, sie konnte es nicht ändern.

    Er stand vor ihr im Tageslicht, das durch die Tür in ihrem Rücken fiel und Marlan sah deutlich seine blutunterlaufenen Augen mit einer wild zuckenden Pupille, seine geschundene Haut, die sich über seinen Gesichtsknochen spannte, Gänsehaut auf seiner Brust, die noch völlig haarlos war, die Striemen überall, Finger, die schwarz gequetscht waren und das schmutzige Haar. Er atmete zu schnell und zitterte. „Mikal.“ Sie sagte seinen Namen mit ihrer ruhigen, tiefsten Stimme. Es war der gleiche magische Ruf darin, wie sie ihn gerufen hatte, als er bewusstlos war. Er atmete eher noch schneller, aber seine Schultern sanken nach unten. Er schloss für einen Moment seine Augen, schien zu schwanken. „Mikal.“ Sie wiederholte den Ruf. Er atmete zitternd aus. Als er seine Augen wieder öffnete, sah er bleich aus, absolut fertig. „Wir werden Dir helfen Mikal. Ich weiß, dass Du nicht schlafen kannst. Du bist hier an einem Ort, wo wir Dich heilen können.“
    „Aber Tasso...“ Er weinte den Namen fast. „Erst wirst Du gesund. Ich verspreche es Dir. Es ist wichtig, dass Du uns über die Schwarzmagier alles erzählst. Aber nicht heute, wenn Du nicht willst. Ruh Dich hier aus. Ich muss fort, aber wenn ich zurückkomme, bringe ich Dir einen Trank mit, dann kannst Du schlafen.“ Bei ihrem letzten Wort schrie er plötzlich auf und ging mit geballten Fäusten auf sie los. Sie wich zurück. Obwohl sie mit einer solchen Reaktion gerechnet hatte, war sie überrascht von seinem Tempo und seiner plötzlichen Energie. Aber Kerantari war nicht untätig gewesen, sie hatte sich unbemerkt von Mikal leise erhoben und stand nun hinter ihm. Mit aller ihrer Kraft hieb sie ihm ein großes hölzernes Stopfei auf den Kopf. Er fiel um wie vom Blitz getroffen.
    Sie untersuchten ihn, und er lebte. Zusammen trugen sie ihn in Jarus alte Zelle und legten ihn dort auf das Bett. Marlan stellte einen Heiltrank auf den Tisch, alles andere räumten sie fort. Dann schlossen sie ihn ein.

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    Geändert von Gothic Girlie (20.02.2010 um 12:09 Uhr)

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    Waffen für die Klause

    Nela inspizierte missmutig das überschaubare Arsenal der Klause. Abgesehen von ihrem Bogen und Schwert und Ajannas Machete, die als einzige richtige Waffen waren, gab es da nur noch Ajannas kleines scharfes Beil, ein weiteres Beil, das Marlan mitgebracht hatte, Nergalis Sense, ein paar Küchen- und Gartenmesser und – nun – Amaras Pfanne.
    Irletia hatte am vorherigen Tag Männer im Wald belauscht, die Gefolgsleute des myrtanischen Königs waren, und auch wenn sie weiter Richtung Berge gezogen waren, um Erz zu suchen, konnten eines Tages andere kommen.
    Natürlich waren sie Magierinnen, keine Krieger, aber noch waren nicht alle in der Lage, sich allein mit Magie zu verteidigen, und der Wald war auch kein guter Ort dafür, da man dafür besser ein weites freies Areal vor sich hatte. Und welcher einfachen Bauersfrau hatte je ihre Hilflosigkeit genutzt?
    Möglicherweise würden ihnen die Orkwald-Leute Waffen gegen Tränke tauschen, aber soweit Nela wusste, waren ihre Schmiede unterwegs, um Erz und Holzkohle zu beschaffen. So bestand die derzeitige Strategie der Magierinnen und Novizinnen darin, immer genug Verwandlungstränke bei sich zu haben, um mit der natürlichen Umgebung des Waldes zu verschmelzen, aber Nela, die sich seit Marlans Abreise – und teilweise auch schon davor – für die Sicherheit der Frauen verantwortlich fühlte, reichte das nicht. Sie waren zu wenige, um ständig Wache zu halten.

    Irletia hatte sich sehr verändert. Sie war ein Wald-Kind geworden, mager, braungebrannt, zäh und flink. Sie legte völlig lautlos große Strecken im Wald zurück, jagte mit ihren gar nicht mehr so kleinen Feuerbällen, und erschien oft erst nach Einbruch der Dunkelheit mit reicher Beute, verdreckt, verkratzt und stolz wie eine Königin. Sie trug Fellgamaschen unter ihrem Rock, der ihr inzwischen zu kurz wurde, und eine Kette aus Tierzähnen und -krallen.
    Nergali war die meiste Zeit in dem Raum der Klause, wo ein Herd und ein Alchemietisch standen, kochte großartige Gerichte aus den einfachen Zutaten, die ihr gebracht wurden und lernte wie besessen alles über Heilkunde und Alchemie, das ihr Nela, Amara oder Ajanna beibringen konnten.
    Gelegentlich waren schon Besucher gekommen, fast immer Gäste für Amara. Es war erstaunlich, wie schnell sich der Aufenthaltsort einer guten Hebamme herumsprach. Und Amara war viel unterwegs, oft mit Irletia oder Ajanna.
    So war es Nela, die den größten Teil der bäuerlichen Selbstversorgung übernahm, aber während sie säte und schnitt, hackte und goss, waren ihre Gedanken bei ihrer Sicherheit, oder den Schriften, die sie Abends las, oder den anderen Frauen.

    Was das Studium der Schriften betraf, hatte es sich als sehr günstig erwiesen, dass Nela, Amara und Ajanna inzwischen den Licht-Zauber beherrschten – doch Nela fragte sich gelegentlich, wie weit man das Licht wohl sah. Eines Nachts ging sie weit in den Wald und weiter in die Berge, während die anderen das Licht am strahlen hielten, aber die Wände der Klause und die Bäume hielten das Licht tatsächlich zurück. Und der Schein war zu bläulich, um im Dunst über dem Wald verdächtig zu erscheinen.

    Eines Tages wurde Amara in die Stadt gerufen, um einer Frau bei der Niederkunft beizustehen. Sie war erstaunt und erfreut über die Veränderungen – und wunderte sich über die frischen Blumen, die sie auf Iregs Grab sah. Alle sprachen von den Heldentaten der Jungs, und Geros Name fiel dabei häufig. Er selbst war aber schon wieder fort. Einer ihrer Besuche galt auch einem Haus am Hafen, in dem wieder viele Frauen wohnten – Gero wäre wahrscheinlich sehr erstaunt gewesen, hätte er Amara dort hineingehen sehen. Und einige Tage nach Amaras Besuch brach von dort eine Frau auf, die nicht nur stark geschminkt und sehr hübsch gekleidet war, sondern auch doppelt so lang wie Amara bis zum Stadttor brauchte, weil sie sehr viele, vor allem Männer, kannte.
    Merkwürdig war nur, dass sie, nachdem sie den Waldrand erreicht hatte, sich resolut die Lippen abwischte, das schwarze Haar zusammen band, den gelben samtenen Rock in ihren Korb warf - sie trug einen einfachen schwarzen darunter - und aus ihrem Korb einen Enterhaken holte, mit einer drei Fuß langen Kette am hinteren Ende des Griffes, an der eine eiserne Kugel befestigt war. An einem Ort, wo man vom Weg ein Stück Richtung Berge sehen konnte, blieb sie einen Moment stehen und sah konzentriert auf die verschiedenen Gipfel. Dann verließ sie den Weg in einer bestimmten Richtung und behielt sie bei, trotz Unterholz, Unebenheiten und einigen Bächen, die sie kreuzte. Sie erreichte die Klause am nächsten Morgen. Irletia hatte sie angekündigt.
    Sie hieß Ganjouk. „Ah, ich will das nicht mehr“, war alles, was sie über das Haus am Hafen sagte, lächelnd. Dann brachte sie Irletia bei, die Taschen anderer Leute auszuräumen, während sie sie in ein Gespräch über gesottenen Hund verwickelte.

    - - -

    Ganjouk blieb nicht die einzige Neue. Zwei Tage später war Nela wie immer im Morgengrauen aufgestanden, um alleine mit dem Schwert zu üben, bevor später die anderen Frauen dazu kamen – sie übten immer noch mit Stöcken, leider.
    Plötzlich erschien es Nela, als ob sich das Lied der kleinen Vögel änderte, und dass es nur noch von der Rückseite der Klause her zu hören war. Sie ließ das Schwert sinken, atmete langsam ein und schloss für kurze Zeit die Augen, bis sie sicher wusste, wo das Zentrum der Veränderung war. Sie öffnete die Augen und blickte dorthin: in den Büschen, in denen Irletia ihre erste Blutfliege erlegt hatte, stand unbeweglich ein Ork.
    Nela pfiff gellend. Sie hörte, wie vom Baumhaus die anderen näher kamen. Auch der Ork reagierte. Er hob seine leeren Hände.
    Sie erwarteten ihn vor der Klause: Nela, Ajanna, Amara, Nergali, Irletia und Ganjouk mit ihrem ganzen originellen Arsenal. Als er näher kam, sahen sie, dass er schwer bepackt war. Er trug eine Kötze, die aber sehr tief hing, mehrere Umhängetaschen und einen zweiten Korb an einem Stirnriemen. Diesen nahm er ab, als er näher kam, und stellte ihn auf den Boden. Stattdessen setzte er sich einen spitzen Hut auf. Es war eine Orkin mit grünen Augen in der Lederschürze eines Schmiedes. Sie zeigte eine Reihe imposanter Zähne. Dann sprach sie, und ihre Stimme war weich und tief und klang wie das Schnurren einer sehr großen Katze: „Ihr habt schlechte Waffen. Ich mache Schwerter aus Erz, stark und scharf.“ „Krush Varrog“, murmelte Nela, stolz, dass sie den Namen einer Ork-Waffe kannte. „Zu schwach für Krush Varrog, selbst Du“, grinste die Orkin sie an. „Ich mache Waffen, passend für alle.“
    „Warum bist du hier?“ fragte Nela. Die Orkin wurde ernst. „Schwarzmagier kommen, wollen Schwerter, drei Tage Zeit. Gunga arbeitet nicht für Sklaventreiber.“

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    Geändert von Gothic Girlie (23.02.2010 um 09:07 Uhr)

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    Jobis

    „He, wer bist Du, Du hast mich erschreckt!“ Gero sah auf den jungen Banditen, der wenige Schritte vor ihm stand, einen Arm mit Feuerholz vor die Brust geklemmt. Er war etwas jünger als er selbst, dunkelhaarig, mit einem breiten Grinsen im fröhlichen runden Gesicht, selbst jetzt.
    „Pst, ich will die anderen nicht treffen, hab schon gemerkt, dass niemandem hier meine Rüstung gefällt.“
    „Wo hast Du die überhaupt her, nur diese verdammten Paladine aus der Stadt tragen so was. Letztes Jahr haben sie eins unserer Lager überfallen, unten am Meer, mit einem ihrer Schiffe.“
    „Hast Du nicht gehört, in der Hauptstadt waren die Krieger aus Myrtana. Haben den Paladinen auf den Sack gehauen. Die Rüstung hab ich gefunden, der Kerl, dem sie gehörte, hatte die Fresse voll Sand.“ Gero war nicht wohl bei der Lüge. Sie war zu nah an der traurigen Wahrheit, und er hoffte, sie werde die Banditen nicht zum Marsch auf die Hauptstadt bewegen.
    „Mensch, hier kannst Du aber nicht damit rumrennen. Bist Du einer von Silvios Leuten? Dann geh zu ihm, er gibt Dir bestimmt ´nen Haufen Gold dafür.“
    Gero dachte an Venuto, und dachte: „Sicher nicht.“ Laut sagte er: „Weißt Du, woher ich was Anständiges zum Anziehen kriegen kann? Meine alten Sachen waren blutig und zerrissen.“
    „Hast Du etwa mitgekämpft?“ Der Junge sah ihn strahlend an.
    „Nein. Ich war bei Faid.“ Offenbar machte ihn dieser Satz endgültig zum Helden seines Gegenübers.
    „Hör zu, ich bin Jobis. Ich kann Dir helfen. Aber Du musst mir versprechen, dass Du bei Faid ein gutes Wort für mich einlegst. Ich will weg hier, irgendwohin, wo mehr los ist. Wirst Du das tun?“
    „Klar, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.“ Wenn er ihn das nächste Mal sähe, würde einer die Begegnung nicht überleben, also, warum sollte er es nicht versprechen? Gero war plötzlich merkwürdig leicht im Kopf, so, als wirke der Rauch der harzigen Blätter erst jetzt.
    „Also pass auf. Wenn Du dem Weg weiter folgst, kommst du an eine Abzweigung, die wieder Richtung Berge führt. Weiter oben gibt es Erz, da sind Leute von uns, da kriegen sie´n dicken Hals, wenn sie Dich so sehen. Aber auf halber Höhe ist ein Einschnitt in ein kleines Tal. Eh, Du kannst da aber nur hin, wenn du wirklich gut bist mit Deinem Bogen! Das ganze Tal ist voll mit diesen ekelhaften Diebswichten, sie haben im hinten Teil eine Höhle. Dort hatten wir mal ein Lager, und unsere ganze Ausrüstung müsste noch dort sein.“
    „Was ist passiert?“
    „Bonnard und Daffy waren dafür verantwortlich. Aber sie haben gewürfelt und sich gekloppt. Und während sie am Kämpfen waren, sind alle von ihren Posten weg und haben sie angefeuert. Und plötzlich waren die Dreckswichte da, und wir sind alle gerannt.“
    „Verstehe.“ murmelte Gero. „Was war noch in dem Lager?“
    „Das Erz, das wir dort gefunden hatten, Vorräte, und Daffys neue Klamotten. Die hatte er beim Würfeln verloren, deshalb ist er so wild geworden. Du hättst ihn sehen sollen, in der Hose ist er gerannt, hinter ihm ein Wicht, halb so groß wie Daffy!“

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    Zurück in der Klause

    Der Wald oberhalb der Klause glühte im Abendlicht. In breiten orangen Streifen fiel es an den dichten Kronen vorbei bis tief hinunter auf den Waldboden, und verwandelte das trockene Laub und die Rindenstücke dort in Gold-bronzene Schätze. Marlan konnte ihre Freude nicht länger beherrschen und blieb einen Atemzug lang stehen um zu schauen, obwohl sie so in Eile war. Sie wollte den Innos-Schrein der Klause erreichen, bevor es dunkel wurde, um den Trank zu segnen, der Mikal heilen sollte.
    Plötzlich – eine verwischte Bewegung, sie fühlte starke Arme um ihren Hals und ein Gewicht zog sie auf die rechte Seite. Allerdings war da auch dieses Lachen, und das verhinderte im letzten Moment, dass sie sich wehrte. „Irla“, murmelte Marlan und vergrub ihr Gesicht in den zerzausten Haaren ihrer Schwester.
    „Du sollst mich doch Irletia nennen.“
    „Ich weiß. Ich bin nur so froh, da hab ichs vergessen. Geht’s Dir gut?“ Sie zog Irletia von ihrem Hals fort und sah sie an.
    Irletia strahlte sie an und nickte. Marlan sah ihr verkratztes Gesicht, den zu kurzen, schmutzigen Rock, die Fellgamaschen und die blutigen Hasen, die Irletia auf dem Waldboden abgelegt hatte, und lächelte. Aber innerlich versetzte es ihr einen Stich. Es wurde Zeit, dass sie ein richtiges Zuhause für ihr Kloster fanden und dass Irletia mehr lernte, als zu überleben. Obwohl sie dafür dankbar war, dass es ihr bisher gelungen war.
    „Ich muss schnell zur Klause, bevor das Licht auf Innos´ Statue zu Schatten wird.“
    „Das ist schon zu spät.“ sagte Irletia mit einem prüfenden Blick durch die Bäume. „Die Klause liegt tiefer, in einer Art Kuhle.“
    Marlan erinnerte sich, und seufzte. „Komm mit mir und erzähl mir alles. Wie es aussieht, ist hier viel passiert, als ich weg war.“
    „Wir haben jemand Neues, Du errätst nie im Leben, wer das ist.“

    - - -

    Und nun saßen sie alle dicht gedrängt in der viel zu kleinen Küche. Die Hasen schmorten im Ofen und verbreiteten einen köstlichen Geruch nach Fleisch, Zwiebeln, Wein und Kräutern. Auf dem Herd stand ein Topf mit Wurzelgemüse und duftete süß. Marlan zwang sich dazu, nicht ständig Gunga anzustarren, denn sie hatte noch nie vorher eine Orkin gesehen.
    Sie berichtete von ihrem zerstörten Heimatdorf und dem menschenleeren Kloster. Obwohl Nela Irletia inzwischen vorsichtig von der Invasion und den Kriegern erzählt hatte, denen sie damals nur so knapp entkommen konnten, war die Gewissheit, dass ihre Eltern, ihre kleine Schwester und fast alle Menschen, die sie damals gekannt hatte, tot waren, niederschmetternd für sie und sie weinte. Marlan selbst wurde die Stimme rauh, als sie das alles erzählte, und ihr war, als hörte sie wieder das Heulen der Kojoten und roch den Geruch nach Rauch und Verwesung. Sie nahm Iretia in den Arm, und als sie weitererzählte, fühlte sie plötzlich, wie ihre Schwester einschlief. Sie trug sie hinüber in den Raum, in dem schon Jaru und Gero gelegen hatten, und wickelte sie dort sanft in eine Decke. Nela half ihr dabei.
    „Sie braucht ein richtiges Heim.“ sagte Marlan. „Der Wald – das ist nichts für sie.“
    „Du bist jetzt ihre Mutter, und Du entscheidest, aber der Wald schadet ihr nicht, Marlan. Sie ist hier stark geworden. Sie muss anders aufwachsen als Du damals, die Welt ist anders geworden.“
    „Wir können das Schicksal wenden, Nela, es gibt noch ein Schiff der Seepaladine, und oben in der Mine ist Mikal, von dem Jaru erzählt hat. Er ist besessen, viel schlimmer noch als Gero damals, aber wenn er geheilt ist, kann er uns bestimmt von den Plänen der Schwarzmagiern berichten.“ „Du hast es also geschafft.“ Nela lächelte Marlan an.
    „Ich weiß nicht, ob geschafft das richtige Wort dafür ist, Nela. Über einiges, was ich noch gesehen habe, würde ich lieber erst mit Dir sprechen, bevor es alle erfahren. Ich muss nachdenken, und wir müssen gut planen, damit wir nicht alles gefährden, was hier mit Innos´ Hilfe entstanden ist.“
    „Lass uns essen gehen,“ meinte Nela. „Dabei erzählen wir Dir, was es hier Neues gibt. Morgen früh kannst Du den Trank segnen, und ich gehe mit Dir zur Mine. Auf dem Weg ist genug Zeit für alle Beratung, derer wir bedürfen.“
    Marlan blickte Nela prüfend ins Gesicht. Sie war so sehr Feuermagierin geworden, sie erinnerte kaum an die Bäuerin, die vor weniger als einem Jahr vor ihrer Klause gestanden hatte, die Kötze voller Marmelade und gegrillter Fischköpfe.

    - - -

    Anfangs war die Stimmung beim Essen gedrückt. Keine konnte von solcher Zerstörung hören und hinterher ein Abendessen genießen, als sei das normal. Und doch trugen das köstliche Mahl, der heiße Wein, den sie dazu tranken und die Geschichten von Gunga und Ganjouk dazu bei, dass Anspannung und Trauer in den Hintergrund traten, und neugierige Fragen gestellt wurden.
    Ganjouk war einige Zeit ihres Lebens mit Seeräubern gefahren. Sie kannte die Küste der Insel, auch den Norden, Khorinis, Ardea, Trelis vor der Eroberung durch die Orks, Gotha, Lago, und andere Inseln, die dazwischen im Meer lagen. Sie konnte navigieren und kämpfen, und sprach lächelnd von den Schwächen der harten Kerle und den sorglosen Momenten auf See. Aber es gab auch Schattenseiten: ihre regellosen Besäufnisse, das Aufwachen neben Toten, mit denen sie am Tag vorher noch gefeiert hatte, Seegefechte, Hunger und zum Schluss die Verfolgung durch die Flotte von Myrtana, denen sie offenbar einiges gestohlen hatten, Ganjouk überging da großzügig die Details. Nela dachte an das Schiff, das aus dem Hafen von Khorinis entführt worden war und an dem Jarus Vater Anteile besessen hatte. Wie war der Name noch gleich: die „Adamanta“? Nein... – aber die Bedeutung entsprach einem Edelstein, da war sie sich sicher.
    „Bist Du in Myrtana geboren?“ fragte sie. Ganjouk war ein Name, den sie weder dort noch woanders je gehört hatte. „Nein, ich bin von Kamorala, einer Insel, die Richtung Myrtana liegt, etwas kleiner als die hier, mit weniger hohen Bergen und ohne Erz oder Orks.“

    Das wirkte wie ein Stichwort. Alle sahen Gunga an. Sie tat erst, als bemerke sie es nicht. Dann lächelte sie, hob ihre breiten Schultern zog einen kleinen Hammer aus einer Schlaufe an ihrer Leder-Schürze. „Seht Ihr? Bloß kleiner Hammer. Sogar klein für Euch. Gungas erstes Werkzeug. Von Orkschmied gemacht für kleinen Sohn. Dann Krieg mit Menschen, und Schmied kommt nicht zurück, und kleiner Sohn läuft in Wald. Gunga auch klein, aus dem selben Dorf, immer mit anderen Kleinen um Schmiede gestanden und zugeschaut. Geht in Wald und sucht Sohn, aber findet nur Hammer.
    Und Gunga kann nicht vergessen, sieht, wie Schmied arbeitet, Farbe von Eisen, Geräusche von Hammer. Geht zurück in Dorf und beginnt mit Arbeit. Keine Orks dort, ganz alleine. Lange Zeit.“ Gunga holte tief Atem. Amara dachte daran, wie sie Jaru erklärt hatte, dass sich Orks an alles erinnern, was sie sehen, von Anfang an.
    „Dann kommen Orks wieder, und Gunga zeigt, wie schmieden. Aber Orks sagen nein. Gunga nicht schmieden, Gunga kein Orkschmied. Gunga geht weg, kein Ork mehr. Nur Schmied, kein Volk.“
    Für lange Zeit hörte man nichts außer dem Knacken des Feuers im Herd.

    Gothic Girlie

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    Drei Inseln

    Marlan erhob sich leise als erste, doch als sie vom Baumhaus zur Klause lief, sah sie schon Irletia, die Vögel beobachtete. Die Vögel flohen, als Marlan näher kam. Irletia drehte sich zu ihr um.
    „Sie kennen mich nicht mehr. Spatzenhirne eben.“ grinste Marlan.
    „Bleibst Du jetzt hier?“ Irletia blieb ernst.
    „Leider nicht. Oben in der Mine ist Mikal, und er hat dieselbe Krankheit, wie Gero damals, nur schlimmer. Er kann nicht schlafen, bis wir ihn heilen. Ich gehe los, sobald der Trank fertig ist.“
    „Kann ich mitkommen?“
    Marlan zögerte. „Ich wollte Dich hier um Hilfe bitten. Die Fahne ist noch nicht fertig, die mit dem Bild von dem Tier auf Jarus Arm. Nela hat das Bild auf Stoff gemalt, aber ich finde, es sieht besser aus, wenn es gestickt ist.“
    „Ich stick nicht mehr so gerne, Marlan. Das ist langweilig.“
    „Wir brauchen die Fahne aber. Wenn es regnet, verläuft die Farbe, aber Stickerei verläuft nicht.“
    „Kann ich auch ein Stück dunklen Stoff reinnähen, wo das Tier ist, und nur die Augen und die Tatzen sticken?“
    „Ich seh schon, Du weißt am besten, wie sie gut wird.“ Marlan drückte Irletia kurz an sich und strahlte sie an. Irletia zögerte einen Moment. Dann lächelte sie zurück – ein bisschen. Nicht dass dieses Sticken hier plötzlich zur Gewohnheit würde.

    Noch war kein Licht auf der Statue. Marlan schöpfte frisches Wasser aus dem Brunnen und füllte mehrere Flaschen damit. Es wäre nicht schlecht, einen kleinen Vorrat zu haben. Dann entfachte sie das Feuer neu und setzte Grütze auf. Nergali hatte einiges verändert in der Küche. Auf einem Bord sah Marlan mehrere Gläser mit Würzsoßen und Marinaden. Außerdem hatte Nergali einen riesigen Topf mit Rübensirup gekocht und Bucheckern geröstet. In einer gemauerten Nische standen Reihen von Heil- und Manatränken bereit. Marlan nahm sich ein paar, stellte ihre leeren Flaschen als Ersatz auf den Tisch.
    Dann war es Zeit und sie wandte sich zum Schrein, um zu beten und die Tränke zu segnen.

    Bis sie fertig war, waren die anderen Frauen auf. Nela übte Schwert. Gunga kam mit neuem Feuerholz aus dem Wald. Als sie Irletia mit dem Bild der Ork-Tätowierung bemerkte, stutzte sie und berührte vorsichtig den Stoff. „Das ist Ork-Bild.“
    „Was bedeutet das?“
    „Kreis von Kriegern. Große Freundschaft, bis Tod. Wieso hier?“ Irletia erzählte ihr von dem Orkjungen, und dass Jaru ihn zu seinen Leuten zurückgebracht hatte.
    „Jaru.“ fragte Gunga nach.
    Irletia nickte in Amaras Richtung. „Aus ihrer Familie. Er ist von der Mine, weiter oben im Wald.“
    Nela hatte den letzten Teil der Unterhaltung gehört, kam dazu. „Können wir das Bild so nutzen, wenn hier Orks vorbeikommen, um ihnen zu zeigen, dass wir keine Feinde sind?“
    „Normal nur Krieger,“ meinte Gunga. „Besser, Amara spricht, wenn Orks hier. Familie.“
    „Hast Du nicht auch so ein Zeichen?“
    Gunga zeigte wieder mal ihre gesunden Zähne. „Orks besser nicht wissen Gunga hier.“
    „Suchen sie Dich?“ Irletia riss die Augen auf.
    „Nein, nicht suchen. Aber wenn finden – wer weiß... Ich mache Waffen, Orks vielleicht nicht wollen.“
    Nela fiel auf, dass Gunga nur „ich“ sagte, wenn sie von ihrer Tätigkeit als Schmiedin sprach.

    Nach dem Frühstück brachen Marlan und Nela auf. Ajanna kam mit ihnen. Es war Nelas Idee gewesen, sie meinte, es könnte vielleicht wichtig sein, eine Botin dabei zu haben.
    „Sie ist längst bereit, die Robe zu tragen, Marlan.“ murmelte Nela, während Ajanna ihre Machete holte. „Sie hat unglaublich schnell gelernt. Ihr Feuerball ist fast stärker als meiner. Amara meint, jedes Mal, wenn sie mit ihr unterwegs ist, glüht ihre Handfläche genau einen Moment, BEVOR irgend ein Viech auf dem Weg auftaucht.“
    Marlan lächelte. „Lass uns schauen. Eine Art formelle Aufgabe müssen wir ihr stellen, die Regel verlangt es so. Besonders demütig ist sie allerdings nicht...“
    „Ich frag mich, wie genau DU diesen speziellen Teil der Feuerprüfung bestanden haben magst, damals.“ lachte Nela.
    „Dann würde ich sagen, dass ich genau diesen Teil damals nicht bestanden habe.“ Marlan seufzte, es war einer ihrer wenigen selbstzweiflerischen Momente.

    Ajanna kehrte zurück und die drei Frauen zogen los. Das erst Stück des Weges gingen sie schweigend. Nach einer Weile begann Marlan zu erzählen. Ihre Beobachtung, dass im oberen Teil des Klosters weniger tote Magier gelegen hatten, als zu erwarten gewesen wäre, das Treffen mit Tasso und seinen Paladinen, das Buch mit dem Labyrinth, Tassos Seekarte, seine Geschichte über das Verschwinden der Kiste, die Festung der Schwarzmagier, die Wächterin, der Mann namens Thorus, die geheimnisvolle Schwarzmagierin, Mikals Rettung, sein Wunsch, bei den Schwarzmagiern aufgenommen zu werden. Marlan sprach mit Pausen, und ihr Bericht beinhaltete nicht nur ihre Erlebnisse, sondern auch ihre Fragen und Schlüsse. Die beiden anderen hörten ihr schweigend zu.
    „Die Festung wäre ideal für unser Kloster. Aber wenn wir darum kämpfen, sind wir mitten in diesem Krieg. Dann stehen wir im Fokus der Aufmerksamkeit - und wahrscheinlich nicht nur dem der Schwarzmagier.“
    „Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass dieser Krieg uns nicht betrifft,“ widersprach ihr Nela. „Der Hof, der Geros und mein Zuhause war, wurde niedergebrannt, das gleiche gilt für Dein Elternhaus und das Haus Deines Lehrers. Und frag erst Amara, fast ihre ganze Familie wurde getötet. Wenn wir die Festung in unsere Hand bekommen, haben wir wenigstens eine Zuflucht. Die Klause ist nicht zu verteidigen, falls Krieger dort auftauchen.“
    „Aber wie können wir uns die Festung einfach nehmen? Ganz abgesehen, dass die Magier mehr sind als wir, haben wir das Recht?“
    „Die Schwarzmagier haben nicht immer in dieser Festung gewohnt.“ Ajanna sprach leise, aber ihre Stimme war fest. „Sie war verrufen, weil dort Skelette und Geister wohnten. Die Schwarzmagier kamen erst vor wenigen Monaten. Mein Onkel lebt in dem Dorf, das Du vom Turm gesehen hast. Die Fischer dort mieden die Richtung, in der die Grotte lag, aber ansonsten waren sie unabhängig. Die Schwarzmagier kamen mit Perlen, und erzählten, dass man vor der Grotte solche Perlen findet. Sie versprachen, das Meer sicher zu machen, und als Gegenleistung bekamen sie Vorräte und Boote. Aber die Fischer, die sie zur Grotte brachten, kamen nicht zurück, und von Perlen hat keiner mehr etwas gehört, seitdem.“
    „Dein Onkel, ist das der, von dem Du sagtest, dass er ein Seher ist?“
    „Ja. Bei uns leben die Magier nicht abseits von den Menschen. In jedem Dorf ist einer, manchmal zwei oder drei. Das ist der alte Beliar-Glaube: die Verbindung von allen Geistern. Die in Menschenkörpern wandern, die in anderen Körpern wandern, die ohne Körper wandern, die an festen Orten sind. Aber ein Teil unserer Magier hat angefangen, wie die Innos-Magier zu leben, abseits der Menschen. Es hat in der Festung im Norden angefangen, mit den Paladinen, die aufgehört haben, dem König zu folgen. Und immer seitdem wollen sie Gold, oder andere Schätze.“
    Marlan verschlug es die Sprache. Sie lebte seit ihrer Geburt auf dieser Insel, war stolz darauf, die alte Sprache zu sprechen und die Geschichte zu kennen: von der Ankunft von Inngolf, dem ersten Paladin, der den Innos-Glauben auf die Insel gebracht hatte, bis hin zu den Legenden vom Bau des Klosters, und wie ein Ort nach dem anderen sich dem Licht zugewandt hatte, und später dem König.
    Und Ajanna sprach ein paar Worte, und mit einem Mal brach alles zusammen, und eine komplett andere Insel erschien vor ihrem Auge. Das schlimmste war, dass Marlan im selben Moment, als sie Ajannas Worte hörte, wusste, dass all dies wahr war, dass es tatsächlich in Wirklichkeit zwei innere Inseln gab, auf demselben Eiland. Drei, wenn man die Orks mitzählte.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (06.03.2010 um 16:16 Uhr)

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    Der Weg zu Mikal

    „Warum hast Du das nicht früher erzählt?“ fragte Marlan nach einer Pause, in der sie weiter bergan gestiegen waren, jede Frau in ihren Gedanken.
    „Über das, was Du in der Festung gesehen hast, wusste ich nichts. Und, wie die Schwarzmagier ins Dorf kamen, wurde erst wichtig, als Du gefragt hast, ob wir ein Recht haben, uns die Feste zu nehmen.“
    „Genau genommen ist die Frage nach dem Recht noch nicht beantwortet.“
    „Frag die Familien der Fischer, die verschwunden sind.“
    „Vielleicht sind die Fischer ja Novizen geworden.“
    „War einer der Novizen schwarz?“
    „So wie Du? Nein. Eher braun.“
    „In dem Dorf sind alle schwarz.“ Ajanna schob das Kinn nach vorne und ließ ihre Machete einmal um das Handgelenk kreisen. Dann peilte sie mit einem zugekniffenen Auge über den Grat die Spitze an, und steckte sie wieder weg. Mit ausdrucksloser Miene sah sie Marlan an, bis diese ihrem Blick auswich.

    „Rache ist kein Recht.“
    „Sollen sie die Festung behalten dürfen?“
    Wieder liefen sie eine Weile schweigend.

    - - -

    „Glaubst Du auf diese alte Weise an Beliar?“ wollte Marlan schließlich wissen, leise, es schien, als sei ihr die Frage peinlich.
    „Nein. Ich glaube, dass es nur ein Göttliches gibt. Ich denke, dass auch das Licht von Innos nur ein Bild ist, ein gutes allerdings, wirklich. Aber ich glaube nicht, dass Innos nur Licht ist. Oder alles Licht in Wirklichkeit Innos.
    Bei uns werden nur Männer Magier. Selbst, wenn mein Onkel mich ausbildet, und ich besser werde, als er ist, erwartet er, dass ich alles, was ich träume, zuerst ihm erzähle, und er spricht dann mit dem Dorf. Das gleiche gilt, wenn ich jemanden heilen könnte. Er würde mit mir in das Haus gehen, er würde mit der Familie sprechen, ich würde heilen, die Familie würde ihm danken. Deshalb bin ich bei Euch. Ich denke, das wolltest Du eigentlich wissen.“

    „Ja.“ Als Marlan später antwortete, erinnerten sich die beiden anderen kaum noch, auf welchen Satz sich die Antwort bezog.

    „Bis vor wenigen Monaten war das bei den Feuermagiern auch nicht anders. Schlimmer sogar, sie haben keine Frauen ausgebildet. Ich bin ein Unfall, ein Versehen, so etwas wie ein Küken mit zwei Köpfen.“ Beide anderen Frauen lächelten.
    „Aber jetzt sind wir da.“ Nela hatte sich entschieden. „Und deshalb ist es wichtig, dass wir eine richtige Burg haben für unseren Orden, etwas, was die Zeit überdauert. Für alle Frauen dieser Insel. Und wir können keinen besseren Platz dafür finden, als einen, an dem wir vorher Gerechtigkeit schaffen.“
    „Was, wenn uns das nie gelingt? Wenn die Fischer für immer verschwunden bleiben? Vielleicht sind sie ein Opfer der Snapper geworden... oder der Wächterin?“

    - - -

    „Könnte es dort wirklich Perlen geben?“
    „Wenn, dann wahrscheinlich schwarze.“ Alle drei brachen in wildes Gekicher aus.

    - - -

    Marlan hielt inne, als die ersten neuen Palisaden der Mine in Sicht kamen. „Es ist, dass welche von uns sterben könnten, und ich wäre schuld daran.“ sagte Marlan.
    „Das liegt nicht in Deiner Hand. Und im Wald kann das auch passieren, Irletia hat schon fremde Krieger in der Nähe der Klause gesehen.“

    Gothic Girlie

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    Die Flotte

    Gero blieb den Rest der Nacht in der Nähe des Feuers. Es war kalt, denn die Wärme drang nicht bis zu ihm, aber es hielt trotzdem die Wölfe fern, die man hören konnte, wie sie weiter oben heulten. Er schlief sogar eine Weile. Als morgens Tautropfen anfingen, von den Bäumen zu fallen, wachte er davon auf und machte sich leise auf den Weg. Jobis war am Feuer eingenickt. Die anderen Banditen und Sklavenlagerwachen schliefen ebenfalls, es gab keinen Wachwechsel. Er fand den Taleinschnitt, von dem Jobis erzählt hatte, und glitt vorsichtig vom Weg ins Gebüsch, die Bogensehne aufgespannt und einen Pfeil angelegt.
    Er konnte keine Bewegung erkennen. Alles schien ruhig zu sein. Er entspannte sich.
    Genau in diesem Moment fühlte er plötzlich ein leichtes Zupfen an seinem Köcher, und als er sich herumdrehte, sah er gerade noch einen kleinen dicken Kapuzenwicht mit einer Handvoll seiner Pfeile zwischen den Blättern der feuchten Bodenvegetation verschwinden. Mit einem Knurren zog er den Bogen herum und schickte ihm einen Pfeil hinterher, ohne viel Hoffnung, dass er träfe.
    Aber ein quäkender Schrei ertönte, und plötzlich waren Dutzende über ihm. Das Gebüsch erwies sich als schlechte Wahl für einen Kampfplatz. Blätter nahmen ihm die Sicht, Äste bremsten sein Schwert, einmal stieß er sich schmerzhaft an einem Aststumpf. Fluchend wich er auf den Weg zurück. Dort schwang er das Schwert machtvoll, der Rubin von Inngolf strahlte in der Morgensonne. Allerdings sah er dort erst richtig, wie viele Wichte tatsächlich um ihn waren. Er war kurz davor, mit seinem Leben abzuschließen.

    - - -

    Jaru hatte am Morgen des Tages davor mit sich gerungen, was er tun sollte. Bevor Grompel ging, konnte Jaru ihn überreden, ihm ein paar magische Heilmethoden zu zeigen, und wie er seine Verwandlungstränke länger nutzen konnte. So fühlte er sich nicht mehr ganz so schutzlos. Aber was schließlich den Ausschlag gab, war der Gedanke, dass er fast nichts zu berichten hätte, wenn er jetzt umkehrte, sondern er einfach den ganzen Weg noch mal gehen müsste, um genaueres zu erfahren.

    So trank er zweimal hintereinander einen Blutfliegen-Verwandlungstrank, und flog in die Richtung, wo er die Festung im Norden vermutete. Es ging stetig bergab. Unter den feuchten Blättern des Waldes war ein diesiges hellgrünes Licht. Alles sah ihm gleich aus. Irgendwann traf er tatsächlich auf das Meer. Er verwandelte sich zurück, versuchte zu erkennen, wo die Sonne stand, untersuchte ein paar Pflanzen, kniff die Augen zusammen, und starrte erst in die eine Richtung, dann in die andere. Zuletzt legte er ein Ohr auf den Boden. Das war die beste Idee: in einiger Entfernung konnte er ein merkwürdiges Kratzen ausmachen. Schließlich entschied er sich dafür, der Küste nach links zu folgen.
    Am Strand suchten Lurker zwischen großen, rund geschliffenen hellgrauen Steinen nach etwas Essbarem. Das war das Geräusch gewesen, das er gehört hatte. Jaru wollte sich die Kämpfe mit ihnen sparen, und verwandelte sich in einen Wolf. Irgendwann wurden die Steine hellbrauner, weniger rund und kleiner. Die Lurker blieben gleich. Keine Festung in Sicht. Er kam an eine Art Kap, dort sah es so aus, als sei das ein Ende der Insel. Aber dahinter erstreckte sich ein flacher Sandstrand. Jaru prüfte den Himmel. Er war weit im Westen. Hier konnte er keine Nordfeste mehr erwarten, die diesen Namen verdiente. Er trabte wieder zurück.

    Er passierte den Ort, an dem er den Wald verlassen hatte, und prägte ihn sich noch mal ein. Dann lief er weiter nach Osten. Der Morgendunst löste sich auf. Es wurde windiger und wärmer, und er bekam Durst. Er hörte die Flotte, bevor er sie sah. Alle Seevögel der Nordküste schienen dort versammelt zu sein, um sich um Essensreste oder Undefinierbares zu zanken. Er sah ihre wirren Schwärme über den Klippen, bevor überhaupt die ersten Masten in Sicht kamen. Vorsichtig zog er sich weiter an den Wald zurück, der auch hier bis nah ans Meer reichte. Gebückt überkrabbelte er einige Felsen. Dunkelgrau waren sie jetzt, und spröde. Er verirrte sich etwas, musste wieder an die See zurück, verlor durch das Klettern-müssen mehrmals die Richtung, in die er eigentlich wollte. Er blickte plötzlich auf kleines gischt-gefülltes Becken, in das sich ein unregelmäßiger Wasserfall direkt vor ihm durch einen Steinspalt versprühte, und bemerkte, dass er sich jetzt in einem felsigen Tal befand, dass sich hoch in die Berge zog, wie eine Stein-schuppige Schlange. Ihm gegenüber war schon ein anderes Ufer, nicht mehr die offene See.
    Und dann sah er die Flotte von Myrtana.

    Er zählte zwanzig Schiffe, und dabei konnte er die Einbuchtung nicht vollständig einsehen. Einige waren erstaunlich klein, kaum mehr als Fischerboote, aber es gab viele Galeeren, und ein paar richtig prächtige, Hochsee-taugliche Segelschiffe. Das größte hieß: „Adamanta“, und auf seine Segel waren Adler gemalt.
    Auf den zweiten Blick waren einige Schiffe beschädigt, am stärksten ein paar der Galeeren. Schwarze Flächen von Bränden, eine teilweise beschädigte Bordwand und durchlöcherte Hilfssegel zeigten, dass diese Schiffe nicht unangefochten hierher gelangt waren - oder nicht durch ihre ursprünglichen Besatzungen.
    Die Mannschaften waren an Bord. Jaru sah sie Wäsche waschen, das Deck schrubben, angeln, und auf einigen Schiffen lagen die Masten an Deck und wurden ausgebessert, die Segel oder das Tauwerk. Er entdeckte keine Orks, obwohl die Galeeren ihre Bauart waren. Das Ufer war zu felsig, um dort zu landen, aber weiter landeinwärts gab es mit Erde und Steinen bedeckte Flöße, auf denen Feuer brannten. Es roch nach Essen und Pech.
    Jarus Augen folgten der Talwand auf der anderen Seite, der Schattenseite, auf der immer noch Dunst zwischen den Felsen hing. Plötzlich fing eine regelmäßige Struktur die Aufmerksamkeit seiner Augen: die Burg. Ihre äußersten Zinnen lagen nur wenig höher als das Meer in der Bucht, aber darüber erhob sich eine weitere Ebene mit Kränen und Trebuchets, und das eigentliche Gebäude war wohl in den Fels gehauen, denn er konnte nur Reihen von Fenstern und Balkonen sehen, keine weiteren Bauwerke. Er musste auf die andere Talseite! Er wollte wissen, ob die Burg auf der Landseite überhaupt einen Eingang hatte, oder ob man sie nur vom Meer aus erreichen konnte.

    Er schlich zurück in den Wald, und bewegte sich parallel zum Ufer bergauf. Es gab keinerlei Wild, möglicherweise hatten die Besatzungen der Schiffe hier bereits gejagt. So kam er schnell vorwärts. Hin und wieder konnte er durch Lücken im Bewuchs kurze Blicke auf die Bucht erhaschen, und so lange er dort Masten sah, lief er weiter. Bald wurde das Gelände im Wald felsiger, und er kam nur noch schwierig vorwärts. Er hielt sich nach links, dem Fluss zu. Dort waren allerdings die Uferwände zu Klippen geworden, und es war ihm nicht mehr möglich, nah ans Wasser zu gelangen. Fluchend kehrte er um und versuchte es noch einmal, diesmal weniger weit vom Wasser entfernt. So entdeckte er einen Weg, der aus dem Wald ans Ufer führte, zu einer Anlegestelle direkt gegenüber der Burg. Sie war bewacht.
    Er folgte dem Weg in die andere Richtung, und er wand sich in den Wald hoch, weg von den Felsen am Ufer, ein ganzes Stück höher als Jaru bei seinem ersten Versuch gekommen war, und wandte sich erst dann wieder dem Tal zu. Hier oben war es immer noch schmal und steinig, aber es erweiterte sich ein Stück, und dort stand auf grünen Wiesen ein Blockhaus. Genauer gesagt, war es ein Komplex aus Blockhäusern, mit einer Palisade außen herum und einem hölzernen Wachturm. Jaru sah Feuer vor der Palisade, und dort waren einige Jäger dabei, Wild auszunehmen und Fleisch zu braten. „Das wäre was für Gero,“ dachte Jaru.

    Er umging es weitläufig, was nicht so leicht war: außer Sichtweise des Anwesens begannen die Klippen. Er erinnerte sich sich an das Gespräch mit Amara über die Familie, in deren Haus er den Ork gefunden hatte. Vermutlich war das der befestigte Hof, von dem sie erzählt hatte. Er sollte sich eine Legende aufbauen, und mit den Leuten dort reden, aber ein merkwürdiges Gefühl der Dringlichkeit hielt ihn davon ab. Die Menschen auf der anderen Seite der Insel mussten erfahren, dass die Flotte noch hier war, und es war notwendig, herauszufinden, ob eine Streitmacht von der Landseite etwas ausrichten konnte – von Brandpfeilen in der Nacht mal abgesehen.
    Also bewegte er sich leise auf den Fluss zu, und als er das Wasser erreichte, begann er auf die andere Seite zu schwimmen, obwohl er dort nur Felsen sah.
    Das war gefährlicher, als er erwartet hatte. Zu einen war das Wasser kalt, und dann zog es ihn auch noch stark Richtung Meer... er schalt sich einen Narren, nicht bedacht zu haben, dass ein Fluss so nahe an der See ebenfalls den Gezeiten unterworfen war. Als er sich am Ende seiner Kraft fühlte, und seine Fingerspitzen bereits taub wurden, war er noch weit vom anderen Ufer entfernt, und verdammt nah an der Festung. Er verdoppelte seine Anstrengungen, obwohl ihm jeder Zug schon weh tat. Am liebsten hätte er geschrien. Er schaltete alle Gedanken und Gefühle aus, und konzentrierte sich nur aufs Schwimmen und seine Atmung. Er kam voran, das Ufer kam näher, aber da waren nur Klippen, unerreichbar für einen Schwimmer. Er stieß mit der Hand an die ersten Felsen, aber er vermochte nicht, sich dort festzuhalten. Er sah zum anderen Ufer zurück – das Blockhaus war so weit oben, er würde es sicher nicht wieder erreichen – nicht gegen diese Strömung. Er schrie auf, wollte noch nicht aufgeben, obwohl Hände und Füße inzwischen völlig taub waren. Er schwamm nun mehr mit Körperstößen am Ostufer Fluss aufwärts. Da sah er endlich einen Riss in den Felsen, einen winzigen Kiesstrand, nicht viel größer als seine Füße. Mit allerletzter Kraft schnellte er darauf zu und kroch auf seinen Knien hoch genug, dass er nicht wieder ins Wasser zurück fiel. Es kam ihm vor, dass Stunden vergingen, bis er wieder normal atmen konnte und er aufhören konnte, unkontrolliert zu zittern. Er aß ein paar Stücke Braten, trank etwas Wasser, später Wein. Die Sonne hatte jetzt Kraft gewonnen, das Land zu wärmen, und obwohl sie noch nicht sein Ufer beschien, war die Luft nicht mehr kalt.
    Er untersuchte den Felsriss. Ein Stück konnte er hochklettern, das war sicher, wenn seine Hände etwas beweglicher würden. Er bewegte und massierte seine Finger, dann legte er los. Weiter oben verbreiterte sich der Riss, und es gab sogar einzelne knorrige Bäume, an denen er sich hochziehen konnte. Trotzdem war es fast Mittag, bis er oben auf den Klippen stand. Er sah sich um, noch hockend in Deckung eines Steines. Hier wuchs kein richtiger Wald, sondern Büsche mit gelben Beeren wechselten sich ab mit dürrem, hartem Gras. Er entdeckte ein Snapperrudel, mit den gleichen dunklen Snappern, die auch in der Nähe der Südfeste lebten. Nichts war zu sehen, was auf die Wasserburg hinwies. Er verwandelte sich in einen Snapper und lief das Ufer entlang bis zum Meer: keine Menschenseele. Selbst die Flotte war kaum auszumachen, da man den Rand der Klippen fast nicht erreichte, das Gelände dort war zu rauh. Er lief zurück, schoss ein paar Snapper, überlegte, was er noch tun könnte. Ratlos wanderte er Land einwärts.

    Vielleicht war es diese scheinbare Einsamkeit der Landschaft, vielleicht hatte ihn der Morgen mehr erschöpft, als ihm bewusst war, aber irgendwann lief er nur noch vor sich hin, ohne besonders auf Deckung zu achten. Da hörte er plötzlich ein Sirren, das schnell zu einem Pfeifen wurde, und bevor er begriff, was dieses Geräusch erzeugte, erkannte sein Körper, dass nichts und niemand anderes als er selbst Ziel dieser Geräuschquelle sein konnte, und er raste auf eine Baumgruppe zu, die Armbrust von der Schulter reißend und spannend. Ein Schatten verdunkelte das Sonnenlicht, und er warf sich unter den ersten Baum zwischen Wurzeln und Büsche und richtete die Armbrust nach oben. Ein riesiger Adler im Sturzflug verfehlte sei Gesicht um Haaresbreite und krachte an den Baumstamm. Jaru schoss, und sah, wie der Bolzen eine der gigantischen Schwingen durchschlug, dann kämpfte er darum, wieder auf die Beine zu kommen und zog sein Schwert. Doch der Adler sprang mit zwei Sätzen zur Klippe, ohne seine Flügel zu bemühen, und ließ sich dort ins Leere fallen, außer Jarus Sicht und Reichweite.
    Jarus Herz raste. Er spannte die Armbrust, aber er hielt es für unwahrscheinlich, dass der Adler noch einmal angreifen würde, jetzt, da Jaru gewarnt und kampfbereit war.

    Was für ein gigantischer Vogel! Er bückte sich, und hob ein paar der blutigen Federn auf, die der Adler dort verloren hatte. Sie sahen wie normale Adlerfedern aus, nur mindestens doppelt so groß. War das tatsächlich ein Tier gewesen? Er bezweifelte es. Ab diesem Moment achtete er auf seine Deckung und erreichte bald eine steinerne Barriere, die beide Talhälften miteinander verband. Oberhalb hatte sich ein See angestaut, und über die Barriere sickerte ein dünner Wasserfall, der unmöglich die einzige Wasserzufuhr des Flusses unten sein konnte. Oder war das nur eine Bucht? Er durchquerte den See tauchend. Noch zweimal erblickte er den Adler, aber er war über der Flotte und der Burg, und Jaru hielt es nicht für weise, sich weiter dort herum zu treiben. Er hielt auf die Berge zu, und als es dunkel wurde, war er wieder in der Nähe des Passes. Er fand eine Höhle, in der nur wenige Wölfe waren, tötete sie und zündete ein Feuer vor dem Eingang an. Dann schlief er die ganze Nacht wie ein Bewusstloser.


    Gothic Girlie
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    Ein unerwartetes Treffen

    Das gleiche Gefühl der Dringlichkeit, das verhindert hatte, dass Jaru mit den Jägern Kontakt aufgenommen hätte, weckte ihn lange vor dem Morgengrauen. Er entfachte die Glut seines herunter gebrannten Feuers, briet das am Vortag erlegte Fleisch, und gönnte sich den seltenen Luxus eines heißen Tees zum Frühstück. Dabei versuchte er, das Gesehene zu verstehen, aber es gelang ihm nicht.
    Warum lag die Flotte in dieser Bucht am nördlichen Arsch der Insel, wenn sie die Stadt schon erobert hatten, mit all ihren bequemen Häusern, Werkstätten und dem Hafen? Es sei denn, jemand hätte plötzlich beschlossen, die Bevölkerung zu schonen, aber damit hätte man auch vor dem Massaker dort anfangen können. Es ergab keinen Sinn. Nur ein Verrückter würde so handeln. Oder gab es in der Nordfeste irgendetwas spezielles, weshalb sie die ganzen Schiffe dorthin gebracht hatten? Die Bucht war auf jeden Fall kein wirklich guter Ankerplatz für so viele Schiffe, denn im Falle eines Sturms würden sie alle gegen die Felsen geschleudert, bis auf ein oder zwei, die man in der Nähe des Blockhauses anlanden könnte. So war es bestimmt ursprünglich geplant, als die Anlage gebaut wurde. Ob es vom Blockhaus einen geheimen Gang in die Burg gab? Oder von einem anderen Ort?
    Und dieser verdammte Adler... von so einem riesigen Vogel hatte er noch nie gehört. Jaru zweifelte nicht daran, dass das Vieh ihn hätte umbringen können, wenn er sich nicht im letzten Moment in Deckung unter die Bäume geworfen hätte.
    Er packte seine Vorräte ein, richtete Lederwams, Kettenhemd und Waffen, löschte das Feuer und trat in das erste graue Morgenlicht. Es war feucht, Tau tropfte von den Bäumen. Er überlegte sein weiteres Vorgehen. Am schnellsten ginge der Rückweg, wenn er sich in die Nähe der Mine teleportierte, und von dort aus Richtung Grauben lief, Marik zu suchen. Vielleicht wären die Orkwald-Leute bereit, Boten in die Stadt schicken... Aber wie könnte er Tasso finden? Falls er noch lebte.
    Sein Streit mit Ireg fiel ihm ein, damals, als Gero von der Bücherkiste erzählt hatte, und nichts war ihm wichtiger erschienen, als Tasso zu suchen. Aber dann – er machte sich Vorwürfe, und doch waren es wichtige Gründe gewesen, weshalb er die Suche aufgeschoben hatte. Aufgeschoben, wie die Befreiung von Mikal... Und er hatte immer noch keine gute Rüstung. Er hatte keine Lust, allein irgendwo im Kampf gegen so ein Skelettdingens drauf zu gehen, ohne Chance, und ohne, dass jemals irgendwer wüsste, wo er abgeblieben war. Und jetzt hatte er auch noch die Verantwortung für das Bündnis mit den Orks...
    Jaru blieb stehen und stutzte. Er hörte Waffenklirren und Rufe. Er orientierte sich, dann rannte er los, erst ein Stück den Wald bergauf, dann eine Böschung hinunter. Unten auf einem schmalen Pfad kämpfte ein Paladin gegen eine ganze Horde kleiner dicker Kapuzenwichte.

    - - -

    Jaru erkannte Gero erst, als sie schon fast gewonnen hatten. Als nur noch zwei oder drei der wehrhaften Kerle übrig waren, traf einer von Ihnen Gero seitlich am Helm. Gero stach den Wicht in den Bauch und riss sich den Helm vom Kopf, da er jetzt drückte. Jaru lachte.

    Doch als alle ihre merkwürdigen kleinen Feinde besiegt waren, kippte Gero auf die Böschung, übergab sich und blieb dort liegen, blass und aus vielen Wunden blutend. Jaru ging es besser, er hatte die meisten der Knirpse von der Böschung aus mit der Armbrust erschossen. Er beschloss, eine der neuen Heilmethoden auszuprobieren, die er von Grompel gelernt hatte. Er legte Gero seine Hände auf die Schläfen, fokussierte seine Energie und murmelte den Zauber.
    Gero blinzelte: „He, was war das?“ Er richtete sich auf, allerdings immer noch etwas außer Atem.
    Jaru schlug ihn an den Oberarm und zog eine Grimasse: „Ork-Magie. Klingt wie ein Fluch, wirkt schnell und stark wie Schnaps.“
    „Ork-Magie.“ wiederholte Gero. Sie sahen einander an, maßen sich mit den Augen. „Ich glaube, du hast was zu erzählen.“
    „Ich glaube, Du auch, Paladin.“
    „Vielleicht können wir erst den Rest von diesem Diebspack ausräuchern. Ich hatte Dir Iregs Rüstung und Schwert mitgebracht, aber diese Kerle haben sie mir geklaut. Ich denke jedenfalls, dass es dieser Trupp war. Sie sollen da hinten im Tal eine Höhle haben.“

    Und damit waren sie die nächste Stunde beschäftigt.
    Iregs Rüstung und Schwert fanden sich tatsächlich in der Höhle, als sie sie erobert hatten. Zusammen mit einer Banditen-Rüstung aus grobem dunklen Leder mit einer eingearbeiten Metallplatte am Hals, einem spitzen Helm mit Kettenschutz im Nacken, einer großen Menge Erz und einer beachtlichen Anzahl an Heiltränken, Tassen, Pfeilen – einige davon Geros - , Bolzen, Löffeln, Kellen, Goldstücken, Fellen, Ringen, Kelchen, Flaschen, Fläschchen, Angelhaken, einem Käscher, Schwimmern, Schnaps, Wein, Getreidesäcken, Äpfeln, Knochen, Steinen, Eiern, Fibeln, Schürhaken, gebratenem Fleisch, Holzscheiten, einem Giftfläschchen, Messern, Spitzhacken, Sägen, Hämmern, Scherben, Pfannen, Schuhen, zwei Büchern, einem Kompass, Muscheln, Perlen, einem übelst riechenden Fisch, einem Runenstein, einem Teleportstein mit einem Schiff darauf, drei Schinken, einem Seil, einem Eimer und acht Barren Rohstahl.
    „Die klauen wohl alles, was nicht festgenagelt ist.“ brummte Gero.
    „Wahrscheinlich klauen sie zuerst die Nägel.“ Jaru lachte. Er war dabei, Iregs Rüstung anzulegen, die ihm genau zu passen schien. Er fuhr mit dem Finger über das Band aus Küstenvögeln. „Ich vermisse ihn.“ sagte er, plötzlich wieder ernst.
    „Ja. Ich auch.“ Gero sah Jaru an. „Es ist oft so, wenn ich überlege, was ich tun soll, denke ich an ihn, und überlege, was hätte er gemacht.“

    Dann berichteten sie sich ausführlich ihre Erlebnisse. Das einzige, was Gero verschwieg, war die Identität des jungen Paladins, obwohl er keinen Grund dafür hätte angeben können. „Dann sind wir jetzt mit den Orks verbündet... die wollen sicher ihre Galeeren wieder haben?“
    „Vor allem ihre Leute. Es muss an der Nordküste Ork-Sklavenlager geben, und sie befürchten, dass der König von Myrtana diese Orks zwingen will, mitzukommen – wohin auch immer er als nächstes fährt, um Leute zu überfallen.“ Dann erzählte er von der Wasser-Burg, aber auch von seinen Zweifeln, warum die Flotte wohl dort lag.
    „Vielleicht haben sie Angst, die Ork-Sklaven könnten abhauen oder befreit werden, wenn sie sie bis in die Hauptstadt bringen...“
    „Oder es gibt dort Rohstoffe, eine Mine in den Gängen unter der Burg?“
    „Ich werde mir das ansehen. Deine Idee mit den Jägern ist ausgezeichnet. Jetzt, wo ich eine Banditenrüstung habe... die Paladin-Rüstung verstecke ich besser, nur vielleicht nicht hier, die Banditen könnten hier herumschnüffeln kommen, wenn sie mitkriegen, dass die Diebswichte tot sind. Sie bauen weiter oben Erz ab, und hier war eins ihrer Lager.“
    „Vielleicht sehen wir uns das Lager da oben mal an, solange wir noch zu zweit sind. Kolut und Berhan können das Erz und den Stahl, den wir gefunden haben, jedenfalls gut brauchen. Für Deine Paladin-Rüstung zeige ich Dir eine andere Höhle, nicht weit von hier.“
    Dann verteilten sie die Schätze. Gero nahm den Teleportstein mit dem Schiff, die Pfeile, die Heiltränke und das Gift, Jaru das Werkzeug, die Bolzen, die Vorräte, die Bücher, den Runenstein, den Kompass. Den Rest teilten sie, ein paar Sachen ließen sie liegen.
    „Die Perlen sehen richtig wertvoll aus. Meinst Du, die könnten von dieser Insel sein?“
    „Hab ich noch nie gehört, dass es hier Perlen geben soll.“

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (10.03.2010 um 08:17 Uhr)

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    Totenperlen

    Die drei Feuermagierinnen saßen mit Kerantari und Wenda zusammen und tranken Tee. Was Mikal betraf, konnten sie im Moment nicht mehr tun: nachdem er den gesegneten Trank getrunken hatte, war er ohne ein Wort aufs Bett zurück gesunken und schlief nun bereits seit drei Stunden.
    Marlan hatte Kerantari und Wenda das meiste ihrer Abenteuer an der Küste erzählt. „Weißt Du irgend etwas über diese Festung?“ fragte sie die schwarz gekleidete Heilerin jetzt.
    „Es gibt eine alte Geschichte, darüber, dass sie verflucht ist. Früher verehrten die Menschen dort eine Meergöttin, lange bevor es einen König gab. Aber eines Nachts bebte die Erde, und eine riesige Welle verwüstete die Südküste. Die Menschen sagten, die Meergöttin sei schuld, und warfen ihre Altäre die Klippen hinunter.
    Die obersten Priester der Meergöttin aber waren eine Frau und ein Mann, die jährlich wechselten. Sie sagten, das Beben käme von einem Feuerberg, draußen vor der Küste, und die Meergöttin habe verhindert, dass Feuer vom Himmel gefallen sei.
    Nun hatte die Welle viele Muscheln aus großer Tiefe in die Grotte gehoben, und in den meisten fanden sich Perlen von strahlender Schönheit. Die Menschen verlangten diese Perlen als Preis für ihre Toten. Aber die Priesterin und der Priester sagten, die Perlen gehörten der Göttin, nicht den Menschen. Da begannen sie zu kämpfen auf dem grauen Staub, aber alle, die dort starben, kämpften als Tote weiter für die Göttin. Da bekamen die Menschen Angst, und rannten fort, und beschlossen, nie mehr die Grotte zu betreten.
    Aber am schlimmsten traf es die Priesterin. Der Priester war gefallen, und da ihr Amt sie dazu bestimmte, alles mit ihm zu teilen, musste sie für immer dort bleiben, obwohl sie lange noch nicht tot war, und in vielen Nächten hörten die Menschen ihr Klagen.“
    Die Frauen schwiegen. Kerantari goss ihnen neuen Tee ein.
    „Die Perlen, die die Schwarzmagier herum gezeigt haben, könnten das die Perlen von damals sein, die noch in der Grotte lagen?“ überlegte Nela.
    „Ich weiß nicht. Die Geschichte ist schön, in all ihrer Grausamkeit, und das Buch wies auch auf eine Meergöttin hin. Aber die Wächterin ist angekettet, und das erklärt die Geschichte nicht.“
    Marlan hatte die Brauen gerunzelt, und sah wirklich zornig aus, so zornig, wie Nela sie noch nie gesehen hatte.
    Kerantari entschuldigte sich, sie wollte noch nach einigen Kindern sehen, die husteten. Wenda ging mit ihr. Marlan führte Nela und Ajanna hinaus, an eine Stelle, wo der Boden nicht steinig war. Dort ritzte sie das Labyrinth unter dem Brunnen der Südfeste in die Erde, und bat die beiden Frauen, es sich einzuprägen. Sie selbst setzte sich etwas abseits, mit dem Buch in der alten Sprache und der Grammatik auf dem Schoss.

    - - -

    Gero und Jaru waren dem Pfad weiter nach oben gefolgt. Als sie von Weitem eine Palisade erblickten, versuchten sie, im Wald rechts des Pfades an ihr vorbei zu kommen. So waren sie schließlich fast auf der gegenüber liegenden Seite der Palisade auf einem Gesteinssims angekommen und sahen von dort auf das Lager hinunter. Ein paar Schritt hinter der Palisade standen zwei Blockhäuser rechts und links des Weges. Vor dem einen stand ein Kessel über einem Feuer, in ein Bandit rührte. Um den Kessel herum saßen und standen weitere Männer. Hinter den Häusern verbreiterte sich das Gelände, und stieg schließlich in drei unterschiedlich breiten Terrassen zum Berg an, der diese Terrassen wie eine natürliche Mauer umschloss. Auf den Stufen standen einige Wasserfässer, an denen zwei Sklavenlagerwachen aufpassten, und an der Felswand arbeiteten ein paar Sklaven mit Spitzhacken. Gero zählte fünf. Einer war schwarz wie Ombhau´.
    „Was ist, schicken wir ihnen ein paar Pfeile und Bolzen in ihre faulen Wänste?“ Jaru nickte in Richtung der Wachen.
    „Ich würde lieber erst mit ihnen reden. Wir müssen endlich mehr über ihre Pläne erfahren.“
    „Und die Sklaven?“
    „Sie sehen besser aus, als Ihr bei Faid. Warum schnappst Du Dir nicht Deine Orkwald-Schmiede, und verpasst den Wachen einen Satz heiße Ohren, wenn Du Marik, Tasso und die Paladine in der Stadt gewarnt hast? Dann könnt Ihr das Lager gleich halten. Und – sprengt den Sims hier.“
    „Und was hast Du vor?“
    „Ich gehe da jetzt runter, und gebe ihnen den strebsamen Jungbanditen.“
    „Eine Deiner verblüffendsten Rollen.“
    Gero knuffte Jaru mit dem Ellenbogen. „Ich hinterlasse Euch eine Nachricht in der Höhle, wo meine Rüstung ist.“ Er hatte sie in der ehemaligen Wolfshöhle, in der Jaru geschlafen hatte, mit dem Käscher in einer dunklen Ecke an eine Wurzel gehängt und den Griff seines Schwertes mit dem Rubin von Inngolf mit einem Streifen Leinen umwickelt.

    - - -

    Nela und Ajanna hatten ein Spiel gespielt. Eine drehte sich mit dem Rücken zum Labyrinth, die andere fragte nach dem Weg. Wer einen Fehler machte, musste Dinge tun, die die andere bestimmte. So hatte Nela Ajannas Schuhe geputzt, Ajanna Nela die Haare neu geflochten, Ajanna so lange auf einem Bein gestanden, bis sie umkippte – was ziemlich lange dauerte – und Nela einen Knopf an Ajannas Rock angenäht. Aber beide Frauen waren nicht schlecht darin, sich Dinge zu merken, und als sie das Labyrinth kannten, holte Ajanna eine Hacke und grub die Erde um.
    Später gingen sie ins untere Lager und verkauften den Buddlern Tränke. Dann sammelten sie Pflanzen und Beeren in dem Tal, durch das Gero und Jaru geflohen waren. Schließlich erreichten sie den Teleportationsplatz. Karrit und Bultan grüßten ehrerbietig, und kauften ebenfalls ein paar Tränke. Ajanna untersuchte die ehemalige Ripperhöhle. Nach einer Weile rief sie Nela, die sich draußen sonnte.
    Ajanna zeigte Nela bestimmte Stellen in der Höhlenwand. Und tatsächlich – Nela sah es auch – dort standen kleine, nadelförmige Kristalle auf Nestern aus einem hellgrünen Gestein.
    „Hier haben sie ihre Turmaline gefunden.“ wunderte sich Nela. „Deshalb ist ihnen diese Höhle so wichtig.“ Sie hatten keine Spitzhacke, aber sie brachen ein paar der schwarzen Kristalle mit Ajannas Beil aus dem Gestein.

    Gerade, als sie gehen wollten, erglühte plötzlich der Sand vor der Höhle in blauem Licht, und Jaru erschien. Sie gingen mit ihm zur Mine, und er berichtete, was es an Neuigkeiten gab. Nela erzählte ihm, dass Marlan Tasso getroffen hatte, und war bewegt von der Freude, die sich plötzlich in seinem Gesicht widerspiegelte.
    Sie war auch glücklich, von Gero zu hören, aber immer war er in Gefahr, immer begab er sich mitten unter seine Feinde. Sie seufzte, unbemerkt von den beiden anderen.

    Gothic Girlie

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    Drei Perlen

    Viele Worte. Worte über Recht, über Gerechtigkeit, über Strafe, über Buße. Mikal schlief noch, durchlebte womöglich seine Gefangenschaft, seinen Verrat, vielleicht seine Kindheit noch einmal, oder das Zusammensein mit einer Frau, erlebt oder erträumt... da war er Objekt einer Auseinandersetzung, in der es um alles Mögliche ging, nur nicht um seine Person. Und doch hing sein Schicksal von ihrem Ausgang ab, entschied vielleicht sogar darüber, ob seinem Herz erlaubt würde, weiter zu schlagen, oder nicht.

    Jaru beurteilte ihn streng, nannte ihn Deserteur und Verräter, obwohl vor seinem inneren Auge Mikal und er als Schiffsjungen zusammen im Krähennest hockten, und kichernd darüber berieten, was mit dem faulen Ei zu geschehen habe, das Mikal gefunden hatte, und die innere Spannung zwischen den beiden Situationen machte Jaru reizbar und hart.
    Als die Orkwald-Leute mitbekamen, dass eine Entscheidung über Leben und Tod anstand, forderten sie, auf ihre Art über Mikal Gericht zu halten, was einen großen Kreis von Teilnehmenden involvieren würde.
    Marlan bestand darauf, sie habe ihn aus der Feste gerettet, und das nicht, damit er umgebracht würde, bevor seine Wunden verheilt seien.
    Jaru sagte, dass nur Tasso, als seinem Kapitän, ein endgültiges Urteil zustünde, und wollte Mikal nur befragen.
    „Tasso hat ihn nicht gesehen, wie er dort in Ketten hing.“ erwiderte Marlan. „Was ist, wenn Mikal sich während der Befragung um Kopf und Leben redet, weil er denkt, dass er unter Freunden ist, und nicht weiß, dass Du ihn irgendwann richten wirst?“
    Jaru sah plötzlich krank aus.

    Sie befanden sich in einer der neu gebauten Blockhütten im Wald, mit Oleg, Grimes, einem alten Ork-Wäldler namens Korhal, einer Matrone mit weißen Haaren, die Linna hieß und einer Reihe von Buddlern und Jägern in einem Raum. Im Gang davor standen weitere Menschen. Jarus Präsenz in seiner Rüstung machte Eindruck, aber es gelang ihm nicht, die Menge zu kontrollieren, wie es Iregs Art gewesen wäre – zu welchem Ende auch immer. Ajanna hatte irgendwann Wenda in der Menge gesehen, und die beiden hatten die Augen verdreht und waren im oberen Lager verschwunden. Nela stand hinter Marlan wie ein großer, schweigender Schatten, und starrte nacheinander alle nieder, die das Wort ergriffen, was allerdings weder für, noch gegen Mikals Sache etwas Gutes bewirkte.

    Kerantari betrat den Raum, und alle Gespräche verstummten. Jaru, der gerade zu einem Vortrag über Seerecht ausgeholt hatte, fühlte sich wie ein Vogel, der in zu dünner Luft fliegt, und beendete seinen Satz ohne die geplante Pointe.
    Kerantari trug eine Schale vor sich her, die aussah, als sei sie aus purem Gold. Sie ging in die Mitte des Raumes, drehte sich erst in die eine, dann in die andere Richtung, sah alle nacheinander an. Jede einzelne Person im Raum fühlte sich persönlich angeschaut.
    Dann hob sie eine Perle aus schwarzem Stein, wie die, aus denen ihre Ketten und Ohrringe gemacht waren.
    „Wenn Du diese Perle ziehst, Jaru, wird er nach dem Seerecht gerichtet werden.“
    Ihre Stimme hatte einen Klang, der bis weit vor die Hütte trug. Sie hob eine zweite Perle, rot, wahrscheinlich Koralle. „Wenn Du diese Perle ziehst, werden wir ihn nach unserem Recht richten.“
    Eine dritte Perle – Marlan hielt den Atem an – das musste eine der Totenperlen der Meergöttin sein!
    „Und wenn Du diese Perle ziehst, wirst Du ihn befragen, aber seine Retterin wird entscheiden, was mit seinem Leben geschieht. Akzeptierst Du dieses Orakel?“

    Jaru fiel ein Stein vom Herzen. Das Schicksal würde entscheiden, ohne Streit, ohne Machtprobe, ohne Schuld. Einmal als Entscheidungsweg gewählt, war das Orakel etwas Heiliges. Tasso würde ihm keinen Vorwurf machen, falls das Seerecht nicht zur Anwendung käme. Die Orkwald-Leute kämen sich nicht übergangen vor, wenn das Orakel entschiede, dass Mikals Schicksal ihnen nicht unterstellt würde. Wenn er gewänne, könnte er tun, was er für richtig hielt und dennoch Marlan weiterhin frei ins Gesicht sehen, der er sein Leben verdankte, ihrer Freundlichkeit, die sie dazu gebracht hatte, ihn zu heilen, ohne auf seine Lumpen zu sehen, oder darauf, dass er ein Flüchtling gewesen war, der ihre Hilfe nicht würde bezahlen können.
    „Ich akzeptiere es.“
    Kerantari fragte als nächstes Korhal und Linna, als Repräsentanten der Orkwald-Leute.
    Sie akzeptierten ebenfalls.
    Dann sah sie Marlan an. Marlan nickte.
    „So sei es.“ Sie legte die drei Perlen in die Schale, zeigte sie allen, ließ sie kreisen, und bedeckte die Schale dann mit einem Leintuch. Ein weiteres Mal sah sie sich um, blickte alle an, dann hielt sie Jaru die Schale hin.

    Jaru hatte noch seine ledernen Handschuhe an, er würde den Unterschied zwischen den Perlen nicht fühlen, falls es einen gäbe. Er streckte seine Hand unter das Tuch, blickte dabei nicht auf die Schale, sondern in Kerantaris Gesicht. Er fühlte eine der Perlen unter seinen Fingen, und griff zu.
    Kerantari deckte die Schale auf. Darin lagen die schwarze und die rote Perle. Jaru hielt die strahlende helle Perle hoch. Durch den Raum ging ein Murmeln. Jaru neigte den Kopf kurz in Marlans Richtung. Sie nickte zurück, ernst, nicht wie eine Siegerin.
    Die Leute verließen den Raum. Es war, als fiele ihnen allen plötzlich noch eine dringende Besorgung ein. „Oleg, auf ein Wort.“ Jaru legte die Perle in die Schale zurück und wandte sich an seinen Verwalter, um ihm von dem gefundenen Erz und der Erzabbaustelle der Banditen zu berichten. Nur die beiden Magierinnen und Kerantari blieben im Haus.

    „Ist das eine von diesen Perlen?“ fragte Marlan.
    „Ich weiß es nicht. Die drei Perlen gehören zusammen, ich habe sie von meiner Lehrerin bekommen, als sie mich freisprach.“
    „Was auch immer sie gelernt hat,“ dachte Nela, „reines Kräuterwissen ist das nicht.“

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    Geändert von Gothic Girlie (10.03.2010 um 07:42 Uhr)

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