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    Mythos Avatar von Gothic Girlie
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    „Argh roschzt ...

    „Argh roschzt ztorg rhok,
    roschzt ztorg grubagh rhok,
    rhok roschzt gnarkh warkù
    argh rhok ztorg rhoku.“

    Jaru brummte das wilde Orklied, das alle orkischen Wörter enthielt, die er kannte. Um Grompels Fragen auszuweichen, hatte er sich bei der Feier am Bergsee begeistert in die Verbrüderung mit den jüngeren seiner Orkfamilie gestürzt, und versucht, Orkisch zu lernen. Und dann hatte er seine wenigen Wörter zu einem Gedicht verbunden, zu einem erstaunlich guten Gedicht, das den Orks sofort gefiel, und das sie ab diesem Moment die ganze Nacht zu einer ihren atonalen, aber merkwürdig einprägsamen Melodien sangen.

    „Meine Freude rotes Feuer,
    Freude rotes Blut in der Schlacht,
    Feuerschein rot auf Orkfellen,
    meine Freude blutroter Morgen.“

    Irgendwann hatte ihn einer seiner neuen Brüder zum Zweikampf herausgefordert, aber da er zu dem Zeitpunkt wesentlich mehr getrunken hatte als Jaru, fiel er eher auf den Hintern, als dass er Schläge austeilte. Die anderen Orks sahen, wie der junge Mensch das Schwert führte, mit Bewegungen, als sei sein Schwert ganz Teil seines Körpers, und schneller, als sie es im Feuerschein wirklich verfolgen konnten, und beschlossen, sich aufs Feiern zu konzentrieren.
    Noch später gab es einen anderen Zweikampf, da war Jaru schon so betrunken, dass er sich nur noch erinnern konnte, dass er sein Schwert gezogen hatte, aber weder daran, dass er getroffen hatte, noch, dass er getroffen worden war. Er schüttelte sich, während es ihm wieder einfiel.
    Das, was ihn jedoch immer noch von Herzen freute, waren die Bilder von Grompels immer finsterer werdendem Gesicht, als er die ganze Nacht immer wieder versuchte, zu ihm vorzudringen, um ihn in weitere Gespräche zu verwickeln, und dabei jedes Mal an feiernden Jungorks abprallte, die ihm Arme um die Schultern legten, Schnaps in die Hand drückten, und „das“ Lied mit ihm singen wollten.

    Die Teleport-Rune hatte ihn auf eine Klippe transportiert. Unterhalb erstreckten sich gischtumschäumte Felsen mit sehr kleinen schmalen Sandbuchten dazwischen. Jaru vermutete, dass sie nur zur Zeit der Ebbe sichtbar waren. Er konnte allerdings nicht die ganze Küste sehen, da der Fels an einer Stelle überhing. Rechts von ihm erhob sich das düstere Gemäuer aus seinem Traum. Wenn Grompel Recht hatte, war das die Festung der Schwarzmagier im Süden, „wo Tote mit Lebenden zusammenleben“, und deshalb hatte Jaru beschlossen, erst das Hinterland zu erkunden. Aber der Wald auf der Rückseite der Klippe verbarg nur ein Rudel einer dunklen Snapperrasse.
    Jaru tötete ein einzelnes Tier, eher aus Neugier. Das Leder des Snappers war stabiler als das Leder der helleren Waldsnapper, die er kannte.

    Langsam und vorsichtig schlich er sich an das Gemäuer an, und dabei hatte er brummelnd gesungen, als er noch weiter entfernt war, um sich Mut zu machen. Jetzt erreichte er die ersten Mauern, und war schon vorher leise geworden. Er wusste inzwischen, warum Grompel ihm die Rune zu diesem Ort hingelegt hatte: „keiner der hiesigen Orks würde freiwillig da hin gehen“. Und nun hoffte Grompel wohl, dass er, Jaru, ihm dabei half, die Schwarzmagier zu vertreiben. Ob Grompel hier irgendwo versteckt stand und ihn beobachtete? Zuzutrauen wäre es ihm.
    Aber Jaru hatte nicht vergessen, wie nahe er nach dem Blitzzauber des Schwarzmagiers dem Tod gekommen war, und alle paar Meter hielt er inne, um sich umzusehen.

    - - -

    Auf der Klippe hatte er eine ganze Weile nur aufs Meer geschaut, in der Hoffnung, die „Alca“ zu sehen, aber nichts auf der See deutete auf sie hin.

    - - -

    Er ging vorsichtig den Zugangsweg entlang. An seiner linken Seite war eine hohe Mauer, der äußerste Befestigungsring. Ungewöhnlicherweise unterbrachen keine Fenster, noch nicht einmal Schießscharten oder im oberen Teil Zinnen die Eintönigkeit der grün bemoosten, glitschigen Natursteinmauer. Hier war die Luft durch die Nähe der Klippen feucht und kühl. Der Weg führte durch einen Tunnel. Jaru sah dort eine Kiste stehen und öffnete sie vorsichtig mit einem Dietrich. Sie enthielt Rohstahl, magisches Erz, ein paar schwarze Kristalle, ein paar Knochen, ein Buch und einen Brief.
    Das Buch war in einem Alphabet geschrieben, das er nicht lesen konnte. Im Brief sah er normale Buchstaben, aber es war in der Alten Sprache. Er verstand, dass es um einen Zugang ging – und eine Prüfung – aber nicht den eigentlichen Text.

    Möglicherweise war das wichtig, bevor er weiterging. Er sollte umkehren, und beide Fundstücke Marlan zeigen, bevor er hier riskierte, Fehler zu machen, die sich fatal auswirken könnten. Andererseits – es war keine Gefahr in Sicht, und er hatte noch immer nicht mal eine Vorstellung davon, was ihn erwartete.
    Behutsam ging er weiter. Da öffnete sich eine Klappe unter seinen Füßen, und er fiel in einen engen, abschüssigen Steintunnel, der mit einem grauen, feinen Staub bedeckt war. Der Staub geriet ins Rutschen und nahm ihn mit, weit unter die Klippe ins Dunkel.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (16.08.2009 um 10:26 Uhr)

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    Marlan im Kloster

    Marlan stand oberhalb ihres Dorfes und sah darauf herunter. Sie war nicht mehr in die Hohe Robe des Rates des Feuers gekleidet, sondern in Männerkleidung aus der Kiste, die Gero mitgebracht hatte: solide Leinenkleidung mit etwas Stickerei, wie sie ein freier Handwerker oder Fischer am Feiertag tragen mochte – oder ein besser gestellter an einem normalen Tag. Dazu trug sie eine feste Lederweste mit Taschen, die sie sich genäht hatte und eine eiserne Kappe mit Kettengliedern an den Ohren und im Nacken, die sie letztes Jahr in der Klause gefunden hatte, als sie das erste Mal das damals noch modrige Gemäuer betrat.
    An ihrer Seite hing das magische Schwert. Amara hatte es ihr zum Abschied gegeben und dank Nelas täglicher Schwertstunde – sie bestand darauf, für alle Frauen – fühlte sie sich schon etwas vertraut damit. In ihrer Tasche waren noch Venutos Blitzrune und die Teleport-Rune, die Gero ihr geschenkt hatte, bevor er ging.
    Zusammen mit einer ordentlichen Menge Mana- und Verwandlungstränken ergab das ein beachtliches Arsenal.

    Sie orientierte sich kurz. Das Haus ihrer Eltern war wie die meisten anderen Häuser ein geschwärztes Steinviereck, in das ein Gewirr aus verbrannten Balken gesackt war, und von hier oben sah sie kein Leben auf der Dorfstraße, und keine Rauchsäule in der Nähe. Ihr Herz wurde schwer. Aber bevor sie dort hinuntergehen konnte, um zu schauen, ob sie noch etwas tun könnte – möglicherweise das Letzte, was die Überlebenden für die Toten tun – musste sie diesen Alptraum loswerden, der sie das letzte Dreivierteljahr nicht losgelassen hatte.
    Ihr Blick fand das Kloster. Ihr Kiefer arbeitete. Sie richtete sich auf, und lief in diese Richtung bergab.

    Sie begegnete keiner Menschenseele. Auf dem Zugangsweg zum Kloster knabberte ein Kojote an etwas Länglichem, aber als er ihr Kommen hörte, knurrte er nur und zerrte seine Beute seitlich in ein Gebüsch. Sie schaute einen Moment, dass er sie nicht von hinten anfiele, und ging dann weiter.
    Das Torhaus war geschwärzt, das Tor zerstört. Dahinter lagen zwei tote Paladine, drei Novizen und ein Magier. Ihre Körper wiesen Verbrennungsmale auf, einer der Paladine war geköpft worden. Sie überwand ihren Ekel und durchsuchte die Toten, aber sie waren schon geplündert. Im Wachhaus, dessen Wand jetzt offen war, stand noch das Essen auf dem Tisch, aber es stank. Sie sah einen Speer, und nahm ihn an sich.

    Sie blickte in alle Gebäude des unteren Kosterhofes, die Küche, die Novizenkammern. Sie betrat das Gebäude, in dem Nela auf den jungen Magier gewartet hatte und durchsuchte schnell Erdgeschoss und Keller. Weitere Tote, zerschlagenes Geschirr, verdorbene Lebensmittel, niemand Lebendes, nichts Brauchbares, die Vorräte fort, selbst die Fische. Das geheime Gemach stand offen, aber es waren keine Bücher oder Kostbarkeiten mehr darin.
    Bevor sie sich in das nächste Geschoss wagte, stand sie eine Weile und lauschte. Der Wind brachte einen Fensterladen leise zum Quietschen, und sie hörte Möven. Sonst nichts. Die Schlafkammern waren leer, die Truhen offen oder zerschlagen, lediglich ein Buch über Alchemie stand noch auf einem Ständer. Sie nahm es mit. Der obere Klosterhof war leer, das Tor zur Kirche war offen. Ein letztes Mal wappnete sie sich, nahm in eine Hand schon die Teleport-Rune. Die Drohung des Vergessensrituals brachte sie fast zum Schluchzen. Dann war sie in der Kirche, umrundete die Statue. Die vier obersten Magier des Klosters lagen tot in ihren Sesseln – oder davor. Es sah nicht so aus, als habe ein langer Kampf stattgefunden, und das war merkwürdig, denn jeder einzelne war ihr an Magie überlegen gewesen, und ihre Roben schützten sie eigentlich zu gut, als dass es viele Menschen gäbe, die ihnen Schaden zufügen könnten.

    Andererseits waren ja kurz vorher die Runen der Feuermagier unwirksam geworden, und schon bevor Nela sie ihnen gestohlen hatte, waren die meisten Bücher des Klosters über das alte magische Wissen weggesperrt oder versteckt gewesen. Das war, genau genommen, schon die erste Ungeheuerlichkeit, und Marlan wurde plötzlich klar, dass sie dieses Detail bisher viel zu wenig beachtet hatte. Als hätte jemand die Feuermagier systematisch entwaffnet – jemand innerhalb der Klostermauern.
    Sie bereute, dass sie Nela nicht genauer darüber ausgefragt hatte, wie der Magier mit dem Schlüssel zum geheimen Gemach ausgesehen hatte. Ob er bei den Toten war? Marlan hielt es für unwahrscheinlich. „Eher mit den Fremden abgezogen“, dachte sie bitter.

    Sie untersuchte die Obersten Feuermagier sehr genau, und fand bei ihnen alle ihre wirkungslosen Runen, aber sonst nichts. Nur der große, kräftige Magier trug noch einen Gürtel, den die Plünderer wohl übersehen hatten, und als Marlan merkte, dass er magisch war, legte sie ihn an. Er machte sie stärker, sie fühlte regelrecht, wie ihre Hand mit dem Speer sich leicht hob. Sie kniete sich vor die Innos-Statue, und betete für die Magier, und es fühlte sich merkwürdig an, denn das hatten sie ihr verwehrt, als sie noch lebten.

    Die Tür zum Observatorium war aufgebrochen, die Fernrohre zerstört. Marlan nahm die Linsen aus den Trümmern an sich und ein weiteres Buch, über Zeit und Navigation. Hier gab es sogar auch noch ein paar Manatränke auf den Regalen, und – Marlan freute sich wie ein Kind – einen Kompass. Das waren Schätze, offenbar war hier der Zerstörer kein Magier gewesen.

    Sie fand keine weiteren Toten, auch nicht im Haupthaus, oder im Garten, in dem noch Kürbisse und andere späte Gemüse wuchsen. Das war merkwürdig, hier wäre doch die letzte Zuflucht der Magier gewesen. Waren sie von den Klippen gesprungen? Vielleicht hatten einige von ihnen Blutfliegen-Verwandlungstränke besessen, und konnten so das Kloster verlassen. Oder sie hatten sich ergeben, und die Fremden hatten sie mitgenommen. Marlan atmete lange aus. Obwohl die vier Magier tot waren, die sie damals geprüft und verbannt hatten, musste sie weiterhin damit rechnen, dass es Feuermagier gab, die ihr das Recht auf Magie absprachen und die versuchen würden, ihr zu schaden, und es ihr wieder zu nehmen. Aber es gab nur noch zwei oder drei Magier, die wussten, wie sie aussah. Nach einem letzten Rundgang wandte sie sich zurück zum Dorf.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (30.08.2012 um 08:54 Uhr)

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    Marlans Elternhaus

    Marlan ging zum Haus ihrer Eltern, und kein Weg war ihr je länger erschienen. Am Dorfrand heulten Kojoten, und diese tötete sie sofort mit Feuerbällen. Der Alptraum fiel von ihr ab. Schließlich zog sie auch wieder die Hohe Robe über. Den Helm behielt sie auf.

    Am Haus ihrer Eltern war nichts anders als bei den anderen Häusern. Es war verbrannt und eingestürzt. Sie durchsuchte die Trümmer, hob mit dem Levitationszauber Balken, stocherte mit dem Speer in der Asche, aber sie sah keine Toten. Sie ging in den Garten, und hier fiel sie zu Boden, den Mund aufgerissen, Tränen in den Augen: zwei frische Gräber fand sie dort, auf dem einen stand der hölzerne Werkzeugkasten ihres Vaters, auf dem anderen lag ein Kranz aus Herbstastern und eine Puppe, die Hernereli gehört hatte, ihrer jüngsten Schwester, die noch ein Wickelkind gewesen war, als sie gehen musste. Sie weinte laut, und schrie noch mal auf, als ihr klar wurde, dass Hernerelis Grab zu groß war, um nur ein zweijähriges Kind zu enthalten.

    Aber wer hatte ihre Eltern begraben? Ihr einziger Verwandter neben Irla war jetzt ihr Bruder Gowan, der abwechselnd in der Hauptstadt und auf verschiedenen Schiffen gelebt hatte, weil er ein Schiffszimmermann werden wollte. War er heimgekommen? Oder hatten die Nachbarn ihre Familie bestattet? Sie sah sich weiter um, aber sie fand keine Lebenden im Dorf.

    Am Dorfstrand angeschwemmt lag ein toter Novize. Er hatte sie gekannt, da er das Gepäck der Magier getragen hatte. Bleiben zwei, dachte sie.
    Gurans Haus stand noch. Ein dicker junger Magier lag tot auf der Schwelle. Sie kannte ihn nicht. In seinen Taschen fand sie große Mengen an Spruchrollen und eine Grammatik der Alten Sprache. Der Runentisch im Erdgeschoss war unbeschädigt, schade, dass er ihr jetzt nichts mehr nützte. Sie ging in den ersten Stock hinauf. Der junge Magier hatte sich Gurans Zimmer eingerichtet, und er war ein unordentlicher Mensch gewesen.
    Ihr Zimmer sah aus, wie am Tag, als sie gegangen war. Am Fenster hing sogar noch ein gestickter Vorhang, den sie aus ihrem Elternhaus mitgebracht hatte. Sie nahm ihn mit.
    Es gab ein Geheimversteck in einer der Kellerwände. Dort fand sie viel Gold, Gurans goldenen Kelch, einen ihrer Manaringe, den sie geglaubt hatte, verloren zu haben, und einen Brief. Er war an sie adressiert, von ihrem Bruder.

    Gierig öffnete sie ihn. „Liebe Marlan, gestern war der glücklichste Tag meines Lebens, und ich schreibe Dir sofort, um die Freude mit Dir zu teilen. Ein Schiffspaladin, den ich sehr schätze, hat sich für mich verwandt, und so kann ich endlich auf einem Schiff anheuern, das viele für das beste dieser Insel halten. Es ist ein sehr kleines, schnelles Schiff, und ich kann Dir nicht mehr darüber schreiben, aber es ist auf eine neue Weise gebaut, und ich bin sehr stolz, dass ich es jetzt kennen lernen darf.
    Leider kann ich mich nicht mehr von Dir verabschieden, ich hoffe, ich sehe Dich zur Sonnwendfeier, da habe ich ein paar Tage frei. Ich umarme dich Gowan.“

    Marlan fragte sich, ob Gowan Winter- oder Sommersonnenwende gemeint hatte. Und welchen Jahres? Konnte der Brief schon neun Monate hier liegen – oder erst drei? Oder meinte er die kommende Sonnenwende?
    So oder so ließ der Brief es unwahrscheinlich erscheinen, dass Gowan seit der Invasion hier gewesen war. Ihr fiel auf, dass der dicke junge Magier den Brief nicht geöffnet hatte, und so wie ihren Ring hatte er ihn nicht ans Kloster geschickt und stattdessen sicher verwahrt. Er war wohl ein anständiger Kerl gewesen. Sie begrub ihn neben Guran.

    - - -

    Später bestattete sie den toten Novizen vom Strand und einen verbrannten Menschen, den sie nicht erkannte. Dann verließ sie das Dorf, das es nicht mehr gab.

    - - -

    Im Gehen überlegte sie, ob sie mit den Frauen nicht einfach ins Kloster am Meer ziehen sollte. Hier war alles fertig. Aber es fühlte sich falsch an, es war zu groß, besiegt, hatte kein Land, nur einen kleinen Garten, und lag zu exponiert, falls die alten Strukturen der Gesellschaft sich wieder festigten.
    Nein, sie war noch nicht am Ende ihrer Suche.

    - - -

    Sie hielt sich an der Küste, folgte ihrer Linie stetig nach Süden.


    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (30.08.2012 um 08:55 Uhr)

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    Tunnelblick

    Jaru rutschte tiefer und tiefer unter die Erde. Schon bald sah er das helle Viereck Himmel nicht mehr, wo er in den Tunnel gestürzt war, und um ihn herum der feine Staub flog in seine Augen und brachte ihn zum husten. Er versuchte, sich zwischen die beiden Seiten des Tunnels zu stemmen und so seinen Fall zu bremsen, aber die Mauern waren uneben und rissen ihm die Hände und Unterarme auf. Mit einem Mal war Leere um ihn, dann fiel er hart auf einen sandigen Boden.

    Einen Moment rang er um Atem – und horchte. Dann entzündete er eine Fackel. Das Ding war sofort über ihm. Es war eine Art Insekt, aber riesig. Mehrmals wehrte er einen schleimigen Stachel ab, so lang wie seine Hand, nur das scharfe Ende. Ein Skorpion! Er hieb ihm zwei Beine ab, aber das Ding wurde umso rasender. Es war schnell, und überaus stark. Jaru wich einmal in die falsche Richtung aus, da stach ihn das Ding in den Arm. Jaru ging zu Boden. Sein Arm brannte und ihm wurde heiß. Gleichzeitig fühlte es sich an, als ob sich ein stählerner Ring um sein Herz spannte, und er bekam nicht genug Luft. Ein letztes Mal griff er an, Schnitt um Schnitt, in rasenden Wirbeln, er drängte das schleimige Ding an die Wand und stieß verzweifelt zu – da war das Ding besiegt. Aber Jaru blieb fast keine Zeit mehr. Er fühlte, wie das Gift in seinen Adern kreiste, und ein hämmernder Puls brachte seinen Kopf zum Dröhnen. Er hatte keinerlei Gegengift, und alle seine Heiltränke hatte er verbraucht. Er schlang Heilwurzeln in sich herein, so schnell er konnte, Scavangerfleisch, Waldbeeren, Kräuter, es war ein Wettlauf mit der Zeit. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, sein Schlund brannte von den schlecht gekauten Wurzeln, und es erschien ihm, als sei das sein letzter Moment, hier in diesem dunklen Verlies, von dem niemand wusste, dass es existierte, und dass er dort gestorben war. Er rang um Atem und aß die letzten Beeren, die er hatte. Plötzlich wurde der Druck weniger, und das Atmen fiel ihm leichter. Er keuchte, lehnte sich an die Wand, und sah nach der Wunde. Es war ein violettroter Wulst an seinem linken Unterarm, und das Blut, das sich dort gesammelt hatte, war schwarz. Der ganze Arm fühlte sich heiß und steif an, und jede Bewegung schmerzte und schien viel länger zu dauern als sonst.
    Verdammt. VERDAMMT. Gero wäre das nicht passiert. Gero PLANTE. Es war verrückt gewesen, sich allein und ohne Vorbereitung in dieses Abenteuer zu stürzen, und dann auch noch den Hinweis in dem gefundenen Brief zu ignorieren, dass es eine Art Prüfung oder so etwas gab, bevor der Zugang möglich war. Hier war er noch nicht einmal in der Feste, und möglicherweise war er in einem Tunnelsystem ohne Ausgang. Und alle seine Lebensmittel, alle Heilmittel waren verbraucht. Er setzte sich einen Moment in den Sand, und versuchte, seine Panik in den Griff zu bekommen. Atmen. Ein – Aus. Ein - Aus.

    Langsam wurde er ruhiger.

    - - -

    Er nahm die beim Kampf verlorene Fackel wieder auf und sah sich um. Er war in einem großen quadratischen Raum, in dessen Decke eine Art Kamin nach oben ging, von dort war er heruntergefallen. Aber die Decke war so hoch, er konnte sie jetzt nicht mehr erreichen. In einer der Seitenwände war ein unebener Durchbruch. Von dort war das Monster gekommen. Vorsichtig erkundete er den gewundenen Gang dahinter.
    Der Boden war Fels, aber auch hier überall der feine Sand. Die Wände waren gemauert, mit etwas bewachsen, das am ehesten Algen sein mochten. Algen. Und vorhin auf der Klippe hatte er vermutet, auf Sand zu schauen, der nur bei Ebbe sichtbar war. Trotz aller Angst ging er schneller.

    - - -

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (30.08.2012 um 08:56 Uhr)

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    Diebin

    Marlan hockte breitbeinig in Männerkleidung auf der Hafenmauer und sah dem Treiben auf der Mole zu. Sie war inzwischen sicher darin geworden, einen Mann zu spielen, und niemand hatte bisher etwas gemerkt. So saß sie sehr entspannt in der Sonne, neben sich ein Bier, in der Hand ein Stück Braten, und plante ihren weiteren Weg. Diese kleine Hafenstadt war die letzte Siedlung vor dem Kap an der Südspitze, und bisher war ihre Suche ergebnislos geblieben: kein gutes Klostergelände. Hier im Süden waren keine Invasionstruppen gelandet – warum auch immer.
    Im Hafen lag ein kleines Kriegsschiff. Marlan betrachtete es neugierig. Es sah anders aus, als Schiffe, die sie kannte. Ob dies das Schiff war, von dem Gowan geschrieben hatte? Andererseits war dieses Schiff wirklich sehr klein. Es sah nicht aus wie etwas, das „viele für das beste Schiff dieser Insel halten“.

    Plötzlich packte sie eine harte Hand im Nacken. „Du verdammter Dieb! Und frech noch dazu! Das war das Letzte, das du dich getraut hast!“ Die Hand zog sie nach oben, drehte sie grob herum, und dann fühlte sie eine Schwertspitze an der Kehle.
    Vor ihr stand ein Paladin, rechts und links von ihm stand ein Paladin, dahinter standen weitere Paladine, und alle sahen sie grimmig an. Der sie herumgedreht hatte, und dessen Schwert jetzt auf ihre Kehle zeigte, war mittelgroß, dunkelhaarig und sah geradezu umwerfend gut aus. Sie wog ihre Chancen ab. Ließe sie sich rückwärts ins Hafenbecken fallen, würden diese gerüsteten Männer ihr nicht folgen, und sie war eine gute Schwimmerin. Andererseits waren die Paladine mit Armbrüsten bewaffnet, und Marlan ging davon aus, dass sie damit umzugehen verstünden. Sie müsste sehr weit schwimmen, bis sie sie los wäre – vielleicht kämen sie in einem Boot hinter ihr her – und es war Ebbe – noch mindestens eine Stunde lang. Das konnte schief gehen.
    Warum regten sie sich auf? „Was ist eigentlich los?“ fragte sie in der tiefen Version ihrer Feuermagierinnen-Stimme.
    „Du läufst in meiner eigenen, gestohlenen Kleidung durchs Land, und fragst, was los ist? Ist dir die Sonne zu lang aufs Haupt geschienen?“ Der Paladin war jetzt wirklich eher erstaunt als gereizt, und grinste. So sah er noch besser aus. Die Schwertspitze bewegte sich keinen Millimeter.

    „Ich habe das Zeug nicht gestohlen.“ Ihre Stimme wirkte. Sie sah es an den Augen einiger Paladine. Sie wurden verlegen.
    Das musste Tasso sein, Jarus ... Onkel oder so. Sie erinnerte sich an die Inschrift in dem Buch aus der Kiste: „Ingmar – meinem Waffenbruder Tasso.“ Verdammt, das war ja der blödeste aller dämlichen Zufälle.
    „Du bist Tasso Talakaidis“. Keine Flucht, kein Angriff – sie traute sich zu, den Paladinen genug einzuheizen, bis sie entkäme – vorausgesetzt dieses verdammte Schwert... - nein, das hier würde sie auf die saubere Art und Weise lösen.
    Er grinste, nickte. Aber seine Augen waren ernst und wachsam, und das Schwert an ihrer Kehle bewegte sich nicht.
    „Und du? Möchtest du uns einen Namen mitteilen, bevor wir dich hängen?“
    Nicht „deinen...“ – „einen Namen“. Marlan wurde rot vor Zorn. Er sah es, lächelte. Dieses Lächeln, das die Augen nicht erreichte.

    „Ich habe Jaru geheilt, als er krank war, nach seiner Flucht aus dem Sklavenlager. Die Kiste wurde mir gebracht, zur Aufbewahrung.“ Wusste er, dass Jaru frei war?
    „Eine interessante Form der Aufbewahrung hast Du gewählt, das muss man Dir lassen.“ Aber Marlan sah, dass Jarus Name Eindruck auf Tasso machte.

    „Wie heißt Du“, fragte Tasso. „Reto.“ Das war der Name ihres Vaters.
    „Was war das für eine Krankheit?“ „Die Ripperseuche.“ Einige Paladine zuckten zusammen.
    „Und Du konntest das heilen? Wie?“ „Mit einem Heiltrank.“
    „Und den hattest Du woher?“ „Ich bin Alchemist.“ Es sprach für Tasso, dass er nicht in der Öffentlichkeit nach der Zusammensetzung des Trankes fragte – aber vielleicht kannte er sie auch nicht.
    „Ich habe heute Nacht von einer Blume geträumt – einer seltenen Blume...“ begann er mit einer Stimme, als sei er ganz weit weg. Sein Schwert blieb. „Du kannst mir nicht zufällig sagen, welche Farbe sie hat?“
    Verdammt, er kannte das Rezept tatsächlich. „Sie ist blau“, antwortete Marlan.

    Er senkte das Schwert ein wenig. Es zeigte jetzt eher vage auf ihre Brust. Zum Abfeuern eines Feuerballs würde diese Distanz reichen. Marlan bewegte sich leicht, atmete ein und aus, achtete auf Lockerheit. Nein, heute würde sie nicht sterben.

    „Würdest Du mich auf mein Schiff begleiten?“ SEIN Schiff. Darunter taten es die Talakaidis wohl nicht. Sie nickte.

    - - -

    Die Paladine nahmen sie in die Mitte und eskortierten sie zu einer Treppe, die auf die Mole führte. Tasso hatte sein Schwert weggesteckt, aber er ging die ganze Zeit einen halben Schritt hinter ihr und ließ sie nicht aus den Augen.
    Dann liefen sie die Mole entlang bis zum Schiff. Zwei Paladine blieben an der Planke dort stehen, die anderen kamen mit. Tasso ging jetzt voraus, er kletterte eine enge Treppe hinunter unter Deck und führte sie in einen Raum mit kleinen Fensterluken und einem Tisch mit acht Stühlen. An den Wänden standen weitere Stühle, sie waren dort mit Holz-Riegeln befestigt.
    Er winkte ihr, sich zu setzen, auf die Seite gegenüber des Fensters. Er setzte sich ans Kopfende, ein zweiter Paladin nahm neben ihm Platz, auf der Fensterseite. Ein dritter blieb an der Tür stehen. Marlan wurde mulmig. Das war immer noch ein Verhör, und hier entkäme sie kaum noch, es sei denn, sie tötete alle drei, und zwar sehr schnell und leise. Ihr wurde schlecht. Wie konnte sie die Paladine überzeugen? Es ging nicht nur um sie. Wenn heute auch nur eine Spur eines Makels an ihr hängen blieb, würde das die Zukunft des Frauenklosters für immer überschatten. Oder sollte sie weiterhin ihre Rolle spielen? Aber dieser Paladin und sein Schiff würden für die Zukunft der Insel eine wichtige Rolle spielen. Sie brauchte Verbündete. Und Gowan war wahrscheinlich an Bord – oder in der Nähe.
    „Kann ich mich hier irgendwo umziehen? Ich würde Dir gerne Deine Kleidung wiedergeben. Und ich habe auch noch den Rest Deiner Kiste. Hier dabei habe ich allerdings nur zwei Bücher.“
    „Welche sind das?“
    Sie legte ihm „Über die ewigen Sterne am Firmament und ihr Wandel in den Jahreszeiten“ und „Über das Feuer das wohnet in den verschiedenen Kristallen so man fyndet in der Erden.“ auf den Tisch. Er griff gierig danach, blätterte darin, schien den Text einiger Passagen in sich aufzusaugen. Sie sah, dass es ihn Anstrengung kostete, den Blick zu lösen. Die Bücher waren vermisst worden, und sie ahnte den Grund. Navigation und das Kämpfen mit Feuer – das war für dieses Kriegsschiff überlebenswichtig. Sie wunderte sich, wie die Kiste wohl damals über Bord gegangen war – denn das Schiff wirkte nicht beschädigt, und diese Bücher hatten sicher nicht an Deck herumgelegen.

    Er erinnerte sich an ihre Frage. „Wir werden Dich eine Weile allein lassen.“
    Er nickte den Paladinen zu, zusammen verließen sie den Raum. Sie hörte einen Befehl vor der Tür. Offenbar blieb die Tür bewacht, nur jetzt von außen. Sie zog sein Zeug aus, und legte ihre Robe an. Die Hohe Robe.


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    Die Kuppel

    Jaru erforschte den Gang weiter, der leicht gewunden und ohne Abzweigungen sanft nach unten abfiel. Keine weiteren Monster, aber ab einem bestimmten Moment hörte er ein Rauschen, das mit jedem Schritt stärker wurde. „Brandung“ dachte er voll Hoffnung. Und plötzlich sah er auch einen zarten grauen Schimmer.

    Er ging wieder langsamer, vor allem, als er die Mündung des Ganges vor sich sah. Dort glänzte Wasser, aber es war zu dunkel, um der Strand zu sein. Mit einem Mal fiel ihm die Teleport-Rune wieder ein! Es war nicht nötig, dass er sich hier unten weiter Gefahren aussetzte. Er würde einen Blick wagen, und dann in den Gang zurückgehen und sich nach oben teleportieren.
    Er ging vorsichtig noch ein Stück, und blickte aus dem Gang in eine Art Höhle. Die riesigen Abmessungen verschlugen ihm den Atem. Die gewölbte Deckel bildete eine natürliche Kuppel, fast so hoch wie die Klippe, und von der Meerseite her schienen dort Lichtstrahlen herein, wie dunstige Finger, von säulenhohen natürlichen Felsen durchbrochen. Der Boden bestand aus staubfeinem, dunkelgrauen Sand. Das Licht glänzte grau auf einer Wasserfläche, die nahezu unbewegt war.

    Weiter zum Meer hin befand sich eine Insel in dieser Lagune, und er sah dort eine Art Pfahl über einem Altar, einen Brunnen, eine Mole und ein kleines Segelboot. Und auf dem Sand gegenüber der Insel waren Orks – Myrtana-Orks, und in verschiedenen Rüstungen, aber kein weiterer Schamane. Er duckte sich und betrachtete sie genauer. Ein Mensch war dabei – ein Schwarzer. Das musste der „Dunkle Krieger“ sein. Sie waren irgendwie aufgeregt, gestikulierten zur Insel hin und gingen in Deckung. An dem Pfahl über dem Altar bewegte sich plötzlich etwas, eine hohe düstere geflügelte Gestalt. Jaru biss die Zähne zusammen. So etwas hatte er noch nie gesehen. Er sollte hier verschwinden, er hatte weder Waffen, noch eine Rüstung für diese Art von Feinden.

    Er warf einen kurzen Blick in die andere Richtung. Rechts von der Mündung seines Ganges waren drei Zellen in den Fels geschlagen, mit rostigen Gittern davor. Und in einer hing Mikal, die Hände in eisernen Ringen, die Arme wie ein Vogel zum Fliegen geöffnet, aber das Haupt war ihm auf die Brust gesunken, und sein ganzer Körper war mit Wunden bedeckt. Jaru konnte nicht anders, er ging auf ihn zu. Mikal bemerkte seine Schritte – oder vielleicht auch nur das veränderte Licht, und hob den Kopf. Seine Augen waren blutunterlaufen. Sie sahen sich eine Weile an. Es dauerte, bis Mikal Jaru erkannte, dann atmete er schneller. „Jaru, Du musst mir helfen!“ Seine Stimme war nur ein heiseres Krächzen.
    „Was weißt Du von der „Alca“?“ murmelte Jaru. „Jaru, Du darfst ihnen nicht glauben. Es war ein Versehen! Ich sollte Tasso die Kiste bringen und sie sprang auf. Da blieb der Deckel am Geländer hängen und alles fiel ins Wasser!“ Jaru sah ihn an und schwieg. Die Kiste war verschlossen gewesen, als Gero sie fand. Mit einem so komplizierten Schloss verschlossen, dass Gero sie nicht hatte öffnen können, und auch Marlan erst nicht, obwohl sie die Tochter eines Tischlers war.
    Er fühlte sich überfordert. Er glaubte Mikal nicht, aber es zerrte an seinen Nerven, ihn so zu sehen. Und er war unendlich müde, und sein Arm schmerzte. Er untersuchte das Schloss. Es ließ sich mit einem Dietrich nicht öffnen. Er probierte den Schlüssel des Orks, den er getötet hatte. Er passte. Als er das Gitter langsam öffnen wollte, schrie Mikal plötzlich: „Mach schneller, sie kommen!“ Die Orks auf dem Strand sahen zu ihnen hin. Sie stutzten, und begannen, in seine Richtung zu laufen. Jaru fluchte. Er rannte in den Gang, nahm den Teleportzauber, und begann ihn anzuwenden.

    „Jaruuu!“ Mikals Stimme, zu einem schrecklichen Heulen verzerrt – dann ein Brausen, blaues Licht – und er war auf der Klippe. Vor ihm stand Grompel.

    - - -

    „Mein mutiger Menschenorkbruder ist wieder da.“ Grompel lächelte. Jaru trat einen Schritt zurück. In diesem Moment traf ihn ein harter Windstoss, und gleichzeitig rissen die Wolken auf und ein Sonnenstrahl blendete ihn. Er schwankte. Grompel hielt ihn am Arm fest, aber es war der verletzte Arm. Jaru zuckte zusammen.
    „Was ist mit Deinem Arm?“ Grompel sah sich die Wunde an. „Hattest Du kein Gegengift dabei?“ „Nein.“ Grompel gab ihm ein kleines blaues Fläschchen. „Es wirkt immer noch, wenn Du die Wunde darin badest.“ Jaru nahm das Fläschchen, nickte.

    „Was hast Du gesehen“, fragte Grompel. Jaru wurde wütend. Er schrie Grompel an. „Als ob Du das nicht wüsstest!“ Grompel blieb ruhig. Sein Gesicht war besorgt. „Orks? Sind sie gefangen?“
    „Nein, sie haben jemand gefangen.“ Jarus Stimme war flach vor Zorn und Erschöpfung. Grompels Gesicht verfiel. Er sah plötzlich alt und gebeugt aus, und grau wie ein Fels, und er ging ein paar Meter zur Seite und sah übers Meer.

    Jaru atmete und sah ebenfalls über die See, und wie er so stand, regte sich ein starkes Gefühl in ihm, aber es war keine hilflose Wut mehr, eher ein Gespür für sich selbst, für seinen Willen.
    Er nahm Grompels Arm, drehte ihn zu sich herum, sah ihm in die Augen. „Der Schwarzmagier, den Du ausgeplündert hast, hatte der noch weitere Teleport-Runen?“
    Grompel zog einen flachen Stein hervor, Jaru sah die Gravur mit dem Fass. „Die gehört zu meiner Mine. Gib sie mir.“ Jarus Stimme war fest, sein Blick ebenso.

    Grompel war nicht einzuschüchtern, trotz seines Zustands. „Du weißt, dass es noch mehr davon gibt.“ Eigentlich war das keine Frage.
    „Hat jeder dieser Schmeissfliegen-umschwirrten Schwarzmagier so eine?“ fragte Jaru.
    „So etwa, ja.“ Grompel grinste wieder, aber es war immer noch dünn. „Deshalb kann ich Dir auch gern eine abgeben.“ Er reichte Jaru die Rune, dann umschien ihn blaues Licht, und er war verschwunden.

    - - -

    Jaru teleportierte sich zur unteren Ripperhöhle, in das Tal, durch das er mit Gero geflohen war. Dann lief er zur Mine zurück, aber ihm war heiß und der Weg kam ihm lang und beschwerlich vor. Als es dämmerte, konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Irgendwann stolperte er und fiel nach vorne auf ein Stück Wiese mit hartem Berggras.
    Ein Jäger der Orkwald-Leute fand ihn wenig später, und brachte ihn zur Heilerin im oberen Lager.
    So schief Jaru eine weitere Nacht in seinem alten Gefängnis, aber dieses Mal war er nicht in Gefahr.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (19.08.2009 um 11:10 Uhr)

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    Frühstück in der alten Zelle

    Jaru erwachte, sah die Decke seiner alten Zelle und erschrak. Aber neben seinem Bett saß Oleg, und er klopfte ihm auf den Arm, erzählte Vielversprechendes von einem Frühstück, ging aus dem Raum und rief jemanden.
    In der Tür erschien eine alte Frau, die sich sehr aufrecht hielt. Sie war ganz in schwarz gekleidet, selbst das Kopftuch war schwarz und die Steine ihrer Ohrringe, die darunter hervor sahen. Sie nickte ihm zu. „Ich bin Kerantari. Schmerzt Dein Arm noch? Ich habe die Wunde in der Medizin gebadet, die Du bei Dir hattest.“
    Er setzte sich auf, bewegte den Arm. „Es ist besser. Danke.“
    „Du spürst immer noch Schmerzen?“ „Ja, aber er ist nicht mehr so heiß, und die Schmerzen sind nur noch unten, an der Wunde.“
    Sie lächelte.
    „Am besten, Du badest ihn gleich noch mal. Diese Medizin ist wirklich sehr gut. Warum hast Du sie nicht gleich getrunken? Dann hättest Du gar nicht viel gespürt.“
    Jaru setzte zu einer Antwort an, ließ es dann aber. Sie kam mit einem kleinen Gefäß, goss etwas aus der blauen Flasche hinein und gab sie ihm dann wieder. „Du kannst auch davon auf einen Verband träufeln.“ Er nickte, und legte den Arm in die kleine Schüssel. Es kühlte angenehm. Draußen zwitscherten Vögel.

    Seine Gedanken wanderten. Wenn Mikal auf der „Alca“ Tassos Bücherkiste sabotiert hatte, war das eine ernste Sache. Aber warum war er dann unter der Feste der Schwarzmagier eingesperrt? Laut Grompel hatte die „Alca“ sich im Gefecht mit den Schwarzmagiern befunden.
    Grompel und die hiesigen Orks befanden sich im Krieg mit den Schwarzmagiern und den Sklavenlagerwachen, er hatte gesehen, wie Grompel einen von ihnen tötete, und nicht zuletzt wegen dem Orkjungen waren diese Orks auf seiner Seite.
    Aber die Orks hatten auch versucht, die „Alca“ zu kapern, und die Myrtana-Orks unter der Feste waren keine Gefangenen gewesen. Er verstand die Zusammenhänge nicht.
    Standen Grompel und der Rest der Myrtana-Orks auf zwei verschiedenen Seiten?

    Warum hatte Mikal die Orks auf ihn aufmerksam gemacht, wenn sie ihn doch eingesperrt hatten? Oder hatte jemand anders Mikal eingesperrt, und die Orks hatten nur den Schlüssel zu seiner Zelle nicht – oder kein Interesse, sich mit ihm zu befassen?

    Er war ratlos. Er hörte, wie sich draußen vor dem Haus zwei Männer unterhielten. „Aber dass er so jung ist... Ich dachte, er sei ein Ritter des Königs...“
    Sie sprachen über ihn. Verflixt, wenn es Zweifel an seiner Position gab, ging er besser heute noch zu Marlan und holte seine Papiere. Auf die alten Buddler konnte er zählen, am besten sah er gleich nach dem Frühstück mal bei ihnen vorbei.

    Oleg erschien mit einem Tablett mit Rühreiern und Schinken, frischem Brot, heißem Tee und einem Apfel. Jaru setzte sich an den Tisch, grinste und meinte: „Schade, dass Du mir früher das Frühstück nicht direkt bringen konntest. Ich wusste gar nicht, dass Berhan und Kolut es so gut hatten.“
    „Erinner mich bloß nicht da dran.“ Oleg holte sich einen zweiten Stuhl, und setzte sich zu ihm.

    Jaru berichtete ihm beim Frühstück das Wichtigste über den Fall der Stadt und das Orkjunge. „Wie es aussieht, war das der Grund, warum die Orks so aufgebracht waren und über Euer Dorf hergefallen sind.“
    „Meinst du, wir können zurückgehen? Andererseits ist dort jetzt alles kaputt.“
    „Ruf die Leute zusammen für heute Abend – eher heute Nacht. Da will ich mit allen reden. Wo sind denn Kolut und Berhan?“
    „Berhan ist mit ein paar Männern Richtung Orkwald gezogen. Sie wollen Meiler für Holzkohle vorbereiten. Wusstest Du, dass die beiden eigentlich Waffenschmiede sind?“
    „Waffenschmiede?“ Jarus Grinsen wurde noch breiter. Er sah jetzt Tasso sehr ähnlich. „Heute ist mein Geburtstag. Und Kolut?“
    „...Ist mit ein paar anderen in Richtung der Berge im Norden gezogen. Sie wollen dort Erz suchen.“
    „Dann will ich mal.“ Jaru stand auf.
    „Bist Du wieder in Ordnung? Der Jäger sagte, Du seist einfach umgekippt.“
    „Schlafmangel, das Gift der Wunde und Hunger. Alles jetzt geheilt.“ Jarus Grinsen hörte gar nicht mehr auf.
    „Wo gehst Du hin?“
    „Ich muss ein Stück Richtung Stadt. Heute Abend bin ich wieder da.“
    „Bring etwas Fleisch mit, wenn Du kannst. Unser Jäger kam gestern mit nichts als so einem unterproviantierten Verletzten zurück.“
    Jaru klopfte ihm auf die Schulter. Er war so glücklich wie schon lange nicht mehr.

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    Ein Treffen - und ein geplantes

    Jaru fragte nach dem Jäger, weil er sich bedanken wollte, aber der war bereits wieder unterwegs. So ging er dann pfeifend den Verbindungsweg zwischen beiden Lagern. Es war ein wunderbarer Morgen. Unten bei der Mine wurde an einer Hebemühle für die Wasserleitung gebaut. Die fertigen hölzernen Rinnen lagen bereits im Bach, damit sie nicht rissen. Die Buddler begrüßten Jaru überschwänglich. Sie stellten ihn stolz den Arbeitern der Orkwald-Leute vor, wie einen erfolgreichen Sohn. Jaru wurde etwas verlegen, aber es tat ihm gut. Er fragte alle anwesenden Neuen nach ihren Namen und kündigte die Versammlung an. Er nahm zwei Fässer der Substanz mit, die in der Mine abgebaut wurde.

    Dann lief er weiter durch den Wald Richtung Marlans Klause. Als er auf ein Snapperrudel traf, suchte er sich vorsichtig eine gute Stelle und schoss sie alle ab, so wie sie nacheinander kamen. Sehr befriedigend war diese Jagdmethode nicht, aber so würden sie bei der Besprechung was Leckeres zum Essen haben. Ein Sklave, der jetzt nicht mehr bei ihnen war, hatte ihm mal von einer Soße erzählt, und er beschloss, Marlan zu fragen, ob sie die Kräuter dafür hatte.

    Er verpasste Gero um wenige Stunden, aber Marlan war noch dort – es war vor ihrer Reise ans Meer. Aber Jaru starrte, als er Nela in der roten Robe erblickte. Die jungen Frauen sah er nicht, nur Amara und Irla. Da er wusste, dass Amara Gero gebracht hatte, und da Irla Marlans Schwester war, wunderte er sich nicht weiter über ihre Anwesenheit, und die roten Streifen an ihren Gewändern nahm er einfach nicht wahr. Frauen hatten immer irgendwelche Streifen oder Bänder irgendwo.

    Marlan, Nela, Amara und Jaru sprachen längere Zeit über die Ereignisse. Marlan fragte Jaru sehr genau über die Festung im Süden aus, und er gab ihr das Buch in der fremden Schrift und den Brief. Als er von dem Riesenskorpion erzählte, wollte er wissen, ob sie ebenfalls dieses Gegengift herstellen konnte. Sie ließ sich das Fläschchen zeigen, roch daran, schüttete ein bisschen von der Flüssigkeit in eine kleine Schale, stippte ihren Finger hinein, kostete, und warf den Rest ins Feuer. Es verbrannte mit grüner Flamme und stank. „Für diesen habe ich nicht alle Zutaten - man braucht eine bestimmte Muschel dafür - aber ich kann Dir einen anderen Trank geben. Den kannst Du auch trinken, wenn Dich andere giftige Tiere gestochen oder gebissen haben.“

    Jaru wollte von Amara alles über die Familie wissen, in deren Haus er das Orkjunge gefunden hatte. Sie beschrieb deren Anwesen im anderen Teil der Insel, und zählte die Familienmitglieder auf, die sie kannte. „Gero hat mich auch schon danach gefragt. Möglicherweise erfahrt Ihr mehr von ihnen, wenn Ihr so tut, als wolltet Ihr mit ihnen handeln. Die Paladine haben bei ihnen Ausrüstung für ihre Schiffe gekauft.“

    Lange sprachen sie über Tassos Bücherkiste, „Über das Feuer das wohnet in den verschiedenen Kristallen so man fyndet in der Erden“ und über Mikal. Jaru erzählte von den Experimenten, die dazu geführt hatten, dass Faid ihn getrennt von den anderen Gefangenen einsperrte. Und tatsächlich fragte ihn Marlan nach der Substanz. Er tauschte die zwei Fässer gegen Heiltränke, Gegengift und Verwandlungstränke. Marlan gab ihm auch sein Gold wieder, das Siegel und die Papiere.
    Sie waren etwas ratlos, was Mikal betraf. Jaru wollte ihn aus der Grotte unter der Festung holen – aber erst irgendwann, wenn er eine Rüstung hatte, die ihn gegen Magie und solch Ungeziefer wie den Riesenskorpion besser schützte. Es ging ihm dabei nicht nur darum, dass Mikal dort litt – er wollte auch wissen, wie er dorthin gelangt war, und was er wem erzählt hatte. Marlan dachte bei sich, dass dies eine Aufgabe für einen Magier war, aber sie sagte es nicht laut. Sie wollte erst mit den anderen Frauen sprechen. „Kannst Du mir mal diesen Schlüssel des Orks zeigen?“ fragte Marlan. Sie sah ihn sich genau an, maß etwas ab, und kopierte den Winkel, in dem die Zähne des Schlüssels abstanden. Sie benutzte dafür Haarklammern. Jaru sah ihr fasziniert zu.

    Nela war es, die zuletzt noch nach Grompel fragte. Jaru beschrieb ihn, und sein Verhältnis zu seiner neuen Orkfamilie. Er zeigte ihnen auch die Tätowierung. Nela zeichnete sie ab. „Ich werde das auf ein Stück Stoff malen, vielleicht möchten wir irgendwann mit den Orks verhandeln.“ Jaru blickte sie begeistert an – dass er nicht selbst darauf gekommen war! Das war der beste Schutz, falls Orkwald-Leute zurückkehren wollten.

    - - -

    Grompel saß auf einer Anhöhe oberhalb einer größeren Orksiedlung und machte sich Vorwürfe. Der Junge war da unten fast draufgegangen. Er hatte es nicht nur an seiner grauen Gesichtsfarbe und seinem Schwanken gesehen – seine Züge hatten sich verändert und er sah um Jahre älter aus. Grompel konnte die Emotionen seiner Gegenüber sehen wie die Farben ihrer Gewänder, und die Sache mit dem Gefangenen war Jaru nahe gegangen – als er Grompel anschrie, war darin Schreck gewesen, Nicht-Verstehen, Schmerz, und nicht nur Zorn. Es lagen Welten zwischen dem sorglos feiernden Jüngling – Grompel schüttelte den Kopf, als ihm dieses Lied einfiel – und dem Mann, der von ihm die Rune zu „seiner“ Mine forderte.
    Und er selbst hatte mit dieser Verwandlung zu tun, nicht nur dieses Monster, das spürte er. Er hatte Jaru verloren, sein Vertrauen, seine Freundschaft, die gerade hätte beginnen können. Es war ein Fehler gewesen, das mit dem Schiff zu erwähnen – aber als der Junge wie einer aus Myrtana sprach, hatte er nicht erwartet, dass es tatsächlich eine Verbindung zwischen ihm und dem Paladin gäbe. Eher, dass der Junge einer von den Invasoren war, und das Amulett erbeutet hatte. Obwohl er dem Paladin auf dem Schiff sogar ähnlich sah, oben auf der Klippe, als er die Rune forderte, war es deutlich zu sehen.

    Grompel überlegte. Er brauchte mehr Informationen. Er brauchte neue Verbündete, nun, da Thorus offenbar andere Wege beschritt. Er brauchte diese Verbündeten nicht nur für sich, sondern auch für „seine“ Orks, Jarus Stamm, den er liebte, als seien sie seine Kinder. Und sie würden alles für ihn tun, er wusste es.
    Thorus war enttäuscht von den Orks dieser Insel. Sie folgten nicht dem Stärksten, sie trafen ihre Entscheidungen auf eine Art und Weise, die sich ihm entzog. Man konnte nicht an ihrer Spitze kämpfen, nur in ihrer Mitte.
    Und so hatte er beschlossen, dass er und die wahren Orks, die Freien Orks von Myrtana und Nordmar, andere Allianzen zur Auswahl hätten als diese felltragenden Waldtiere. Nur ihre Galeeren – ihre seegängigen Schiffe – Grompel wusste, dass er diese über alle Maßen begehrte, wie auch die Schwarzmagier, wie auch der neue König von Myrtana. Denn es gab einen Ort, der war mit normalen Schiffen nicht zu erreichen, mit keinem Schiff, außer mit den Galeeren der Orks – und mit der „Alca“.

    Grompel musste mit Jaru sprechen. Er musste wenigstens wissen, wie Jaru an den kleinen Ork gekommen war. Er musste endlich wirklich mit ihm reden. Aber wie konnte er sein Vertrauen wiedergewinnen? Langsam entstand in ihm ein Plan.

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    Auf der "Alca"

    Als Tasso zurück kam, war ein anderer, älterer Paladin bei ihm. Sie klopften. Marlan rief mit unverstellter Stimme: „Tretet ein.“
    Die beiden Paladine erstarrten bei ihrem Anblick. Marlan ließ ihnen Zeit.
    „Wie sollen wir Dich ansprechen?“ Tasso, erstaunt, höflich, er senkte leicht den Kopf bei dieser Frage.
    „Ehrwürdige Magierin des Hohen Rates.“ Marlan hatte sich bei den Frauen geziert, aber jetzt war nicht der Moment dafür. Tasso und der Paladin wiederholten den Titel. Sie setzten sich nicht in ihrer Gegenwart. Die drei maßen sich mit Blicken.

    Marlan zeigte auf Tassos Kleidung, die jetzt zusammengefaltet auf dem Tisch lag. „Ich habe einen ungewöhnlichen Weg gewählt, weil die Situation nach der Invasion ungewöhnliche Wege erfordert.“ Tasso und der Paladin reagierten mit Anspannung.
    „Ich weiß gar nicht, was die beiden über die Invasion wissen“, dachte Marlan.

    „Ich bin froh zu sehen, dass es Feuermagier gibt, die den Sturm auf das Kloster überlebt haben, obwohl ich Dich nie sah, als ich dort war.“ In Tassos Stimme schwang eine Frage mit.
    „Ich bin nicht vom Kloster über dem Meer. Kannst Du mir sagen, was dort vorgefallen ist?“
    „Wir liefen vor drei Tagen in die Bucht und fanden es völlig zerstört, viele der Magier und vier Magier des Hohen Rates des Feuers getötet. Trotzdem erschien es uns, dass durchaus nicht alle Magier tot waren. Wir suchten daraufhin die Küste ab, weil wir vermuteten, dass einige von den Felsen gesprungen sein könnten, aber wir fanden weder lebende, noch tote Magier. Die Bibliothek des Klosters wurde geplündert.“
    Marlan nickte. „Was wisst Ihr über die Stadt?“ fragte sie.
    Tasso sah zu Boden. „Wir haben Rauch gesehen. Unsere Befehle erlaubten es nicht, weiter nach Norden zu segeln.“ Marlan erschien er plötzlich verletzlich, sie sah den Mann unter der Rüstung. Wie sie ihre Aufgabe jetzt bedauerte...
    „Die Stadt wurde erobert.“ Sie holte Atem, suchte Tassos Blick. „Es ist eine große Flotte aus Myrtana gelandet. Die Kämpfe dauerten nicht lange. Das gesamte Hafenviertel und die Festung sind sehr schnell gefallen. Es gab dort so gut wie keine Überlebenden.“
    Beide Männer wurden bleich. Tasso setzte an, etwas zu fragen, aber Marlan fuhr leise fort: „Jaru und Amara leben, aber Ireg ist tot, und das Haus Deiner Familie wurde zerstört. Deine Eltern und Enita wurden ebenfalls getötet.“
    Er drehte sich weg, sah aus dem Fenster, stützte sich mit einem Unterarm dort an die Schiffswand. Als sein Kopf sich nach unten neigte, ging der andere Paladin leise zur Tür, winkte Marlan und verließ mit ihr den Raum. Draußen sah er sie fest an. Marlan war bewegt von seiner Loyalität, und wollte nicht, dass er verlegen würde. „Ihr habt einen Zimmermann namens Gowan an Bord?“ fragte sie ihn.
    „Ja, ehrwürdige Magierin des Hohen Rates.“ „Bring mich zu ihm.“

    Marlan wunderte sich, dass er in den hinteren unteren Teil des Schiffes mit ihr ging. Als er eine Tür öffnete, schlug ihr der Geruch vieler Menschen entgegen. Der Raum dort unten war voller Verwundeter.
    Ihr Begleiter führte sie zu einer Hängematte im hinteren Teil, nahe den Fenstern. Gowans Brust und ein Arm waren von Verbänden bedeckt. Er fieberte und schlief.
    „Habt Ihr keine Heiltränke mehr?“ wollte Marlan wissen. „Nein. Wir waren vor sechs Tagen in einer Schlacht, und haben alle verbraucht.“
    „Habt ihr an Bord einen Alchemietisch?“ „Ja, ehrwürdige Magierin des Hohen Rates.“ „Führ mich dort hin.“

    - - -

    Die nächste Stunde verbrachte sie mit dem Herstellen von Tränken und bei den Verletzten. Sie sprach mit allen, und heilte die meisten. Sie gab den Männern verschiedene Tränke, verband einige neu mit Amaras Salbe, behandelte zwei mit der Methode ihrer Mutter. Gowan war aufgewacht, und sah ihr zu.
    Sie gab ihm einen Heiltrank gegen das Fieber, aber die Brandwunden, die seinen Körper bedeckten, würden noch einige Zeit brauchen, bis sie verheilt waren. Während sie ihn verband, sprach sie mit ihm über ihr Dorf.
    „Zwei von den Paladinen haben unsere Eltern und Hernereli begraben. Ich konnte nicht mithelfen. Marlan, was ist eigentlich los?“ Er war zornig.
    „Ich weiß es nicht genau, Gowan. Es sieht aus, als ob sie die meisten Magier entführt hätten. Alle anderen haben sie getötet.“
    „Wozu brauchen sie so viele Magier?“
    „Das ist die Frage.“ Im Raum hörte man keinen Laut. Die Männer hatten Angst. Alle sahen sie an. Es war Zeit für die Magierin, nicht nur die Alchemistin und Heilerin. Sie wartete einen Moment, hob dann die Arme, Handflächen nach oben, atmete ein und sprach mit ihrer Magierinnen-Stimme: „Innos´ strahlendes Antlitz wird Licht in das Dunkel bringen, und einen hellen Morgen nach der dunklen Nacht.“
    Die Männer wiederholten den Satz murmelnd. Irgendwie half es immer, selbst ihr, die sie es bewirkte. Es war ein mächtiger Zauber, aber sie hatte nie herausfinden können, wie er wirkte. Es war, als käme er von irgendwo außerhalb ihrer selbst und kehrte auch dorthin zurück, denn hinterher war sie immer nur wieder Marlan, und keine mächtige Person.

    - - -

    Sie ging mit dem Paladin zurück zu dem Raum, in dem sie Tasso allein gelassen hatten. Wenig später kam er auch wieder. Er war sehr ernst, aber gefasst. „Ich danke Dir, dass Du meine Männer geheilt hast. Du hast mich von einer großen Sorge befreit. Wenn es etwas gibt, was wir für Dich tun können, zögere nicht, es zu benennen. Wir werden Dir helfen, wie Du uns geholfen hast.“
    Marlan sah ihn eine Weile an. „Erinnere Dich an diesen Moment, Du wirst wissen, wann der Zeitpunkt dafür gekommen ist.“
    Dann erzählte sie ihm ausführlich von der Befreiung der Mine, Iregs Auftrag an Jaru, Geros Beschreibung der Invasion, Iregs und Enitas Begräbnis, Jarus Fund des Orkjungen und seine Erfahrungen später mit den Orks, vom Schamanen Grompel und der Grotte unter der Festung im Süden.

    „Wir haben tatsächlich gegen die Schwarzmagier gekämpft, wie dieser Grompel es Jaru erzählt hat. Du musst wissen, dass vor ihrer Festung eine Rinne im Meer verläuft mit einer sehr starken Strömung von der anderen Seite der Insel auf diese Seite hin. Auch der Wind kommt oft von dort, wenn auch mehr von der Seeseite her. Mit normalen Schiffen konnte man die Rinne immer nur in diese Richtung durchfahren. Um auf die andere Seite der Insel zu gelangen, mussten Schiffe sonst ganz um die Insel herumsegeln. Nur die Orks mit ihren Galeeren waren in der Lage, auf demselben Weg zurückkehren, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten.
    Lange Zeit konnten wir ihnen nie folgen, wenn sie das taten, und die Sklavenjäger und Schwarzmagier haben das ausgenutzt. Sie kaperten einige der Galeeren der Orks, und fuhren uns jedes Mal durch die Rinne davon, wenn wir sie verfolgten. Aus diesem Grund wurde die „Alca“ gebaut. Sie kann in einem anderen Winkel zum Wind kreuzen, und sie durchfährt die Rinne sogar schneller als die Orks.
    Seitdem haben sie mehrmals versucht, sie uns abzunehmen, aber das stellte sich als schwerer heraus, als sie sich es vorgestellt hatten. Allerdings fiel beim letzten Gefecht mit ihnen unser Kapitän.

    Vor sechs Tagen erhielten wir von einem unserer Informanten die Nachricht, dass drei Galeeren mit Sklavenlagerwachen und Schwarzmagiern von der anderen Seite der Insel her kommen wollten, um sich mit den Invasoren zu verbünden. Wir mussten sie um jeden Preis aufhalten, denn im Gegensatz zu den Schiffen der Fremden haben die Galeeren wenig Tiefgang und fahren auch auf unseren Flüssen. Sie wären damit tiefer ins Landesinnere vorgedrungen.
    Wir konnten zwei ihrer Schiffe zerstören und das dritte ruderte schwer beschädigt zurück. Wir ließen sie fliehen, denn wir hatten selbst schwere Verluste erlitten. Außerdem fehlten uns Informationen aus den Büchern der Kiste, die Dir anvertraut wurde, und wir konnten weder so gut navigieren, noch so wirkungsvoll kämpfen, wie sonst.“

    „Wie kam es, dass die Kiste verloren ging?“
    „Wir wissen es bis heute nicht genau. Sie war verschlossen, und in der Kajüte des Kapitäns eingeschlossen. Ich bin immer dorthin gegangen, wenn ich mit den Büchern gearbeitet habe, und meistens war der Kapitän dabei. Nach seinem Tod haben wir ihn einen Tag in der Kajüte aufgebahrt, und in dieser Zeit war die Tür nicht verschlossen, denn die Männer sollten sich von ihm verabschieden können.
    Nachdem wir seinen Körper der See übergeben hatten, zog ich dort ein, und da bemerkte ich das Fehlen der Kiste. Wir haben alle Männer befragt, aber die meisten waren nicht alleine in der Kajüte. Mit Ausnahme eines Matrosen, und er brachte vorher der Ehrenwache einen Grog mit. Wir haben ihn sehr lange befragt, aber er stritt alles ab, und wir hatten nie eine Unregelmäßigkeit bei ihm bemerkt.
    Allerdings sprang er während der Seeschlacht in Landnähe von Bord, und das belastet ihn mehr als der ursprüngliche Verdacht.“

    Jetzt erzählte Marlan Tasso, dass Jaru Mikal gefunden hatte, und dass er ein Gefangener der Schwarzmagier war. „Ich würde mir die Festung gerne ansehen, und ihn dort herausholen. Jaru wollte ihn befragen, und jetzt, da Du mir mehr erzählt hast, denke ich auch, dass wir von ihm viel Wichtiges erfahren können.“
    „Ich kann Dich ein Stück in die Richtung bringen, aber die „Alca“ kann vor der Feste nicht anlegen, und jetzt, da meine Männer geheilt sind und wir die wichtigsten Bücher wieder haben, will ich das dritte Schiff der Schwarzmagier verfolgen. Wir müssen erfahren, welcher Art ihre Verbindung zu den Invasoren ist.
    Und wofür brauchen sie Feuermagier? Abgesehen, dass es nicht einfach ist, Feuermagier festzuhalten, schon gar nicht so viele auf einmal. Mit einem Telekinese-Zauber können sie jederzeit...“
    „Telekinese-Zauber... möglicherweise ist das eine Antwort. Sie wollen etwas bewegen – etwas Großes – oder sehr viel von etwas Kleinem.“
    „Aber wie haben sie all diese Magier in ihre Gewalt bekommen?“
    Einen Moment war Marlan versucht, von dem geheimen Gemach im Kloster und den versteckten Büchern zu erzählen. Aber sie kannte Tasso noch nicht lange, und dies berührte ein Geheimnis – Nelas Geheimnis – das nicht ihres war.

    - - -

    „Gibt es eine weitere Rinne, so wie die vor der südlichen Feste, die man nur in eine Richtung befahren kann?“
    „Ich weiß es nicht,“ antwortete Tasso. Aber diesmal hatte Marlan das Gefühl, dass ER IHR nicht alles erzählte.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (23.08.2009 um 22:29 Uhr)

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    Ombhau´

    „Du Molerat-Wurst, wenn Du weiterhin Dein Schwert so lahm bewegst, sag ich den Weibern, sie sollen ihre Wäsche dran aufhängen! - Hier – und hier – und... Du passt nicht auf!“
    Geros Schwert flog im hohen Bogen ins Gras und sein Gegner Ombhau´ schlug ihm die flache Seite seiner Klinge gegen den Helm, den Marik ihm ausgeteilt hatte, und warf ihn dann mit einem Fußhebel zu Boden. Gero fiel hart auf den Hintern weil er sich nach dem Schlag an den Helm verkrampft hatte, und rang nach Atem. Dieser Ombhau´ war schnell, stark und kämpfte mit mehr üblen Tricks, als Gero sich vorstellen konnte, und seit drei Tagen verlor er gegen ihn – jeden Tag mehrere Stunden lang. Er fühlte sich, wie mit Dreschflegeln bearbeitet. Sein Kopf dröhnte. Sein Körper war grün und blau verfärbt. Und den anderen ging es nicht besser. Gero sah, während er nach Atem rang, zu, wie Ombhau´ Kerem entwaffnete, und danach Morghal und Petar und John, und wie er dabei pausenlos redete und sie beschimpfte, und sein Atem ging unterdessen nicht schneller, als wenn er Grütze gelöffelt hätte.

    Ombhau` war größer als die meisten, dabei aber sehnig schlank, tiefschwarz und trug das Haar an den Schläfen rasiert und in einem dicken Knoten aus lauter kleinen Zöpfen am oberen Hinterkopf. Unter der Uniform der Küstenwache leuchtete eine Samthose in einem glühendem Dunkelrot. An seinen Unterarmen waren Schienen aus geschnitztem Bein befestigt, er band sich extra die Ärmel des Kettenhemdes hoch, damit man sie sah. Die Schnitzereien zeigten Tiere und einen Vulkan. Er ging barfuss, und bewegte sich leiser als der Wind.
    Seine Waffe war eine große Machete, aber am ersten Tag entwaffnete er Gero genauso nur mit einem Stock. Ombhau´ hatte in all den Jahren, die er in Grauben lebte, noch nicht einen Kampf verloren, auch keinen gegen die Sklavenlagerwachen. „Hast Du jemals gegen Faid gekämpft?“ fragte Gero, als sie nach einem der Übungskämpfe darüber sprachen. Ombhau´ s Augen wurden schmal. „Nein.“ sagte er langsam – in einem Ton, dass keiner der anderen Lust hatte, nachzuhaken. Er stammte von einer anderen Insel, aber als einer der Jungs wissen wollte, warum er in Grauben lebte, grinste er nur und machte eine vage Handbewegung. Später erzählte er Gero mehr.

    In einer der Nächte war er es, der Gero beim Wache stehen ablöste, und er fragte ihn nach der Stadt. Marik hatte über Ombhau´ gesagt, man könne ihm rückhaltslos vertrauen, und so versuchte Gero, möglichst genau seine Eindrücke wiederzugeben, und sprach auch über Jaru und das Orkjunge.
    „Ich hatte seine Kehle vor meinem Pfeil, aber dann sah ich unsere Uniform, wusste, dass etwas nicht stimmte. Mut hat er, das muss man ihm lassen.“
    Gero erinnerte sich, wie Jaru den Ripper angegriffen hatte und von der Klippe in den Teich gesprungen war. „Ja“, sagte er. „Und er ist schnell...“ dachte er, sprach es aber nicht aus.

    Und dann fragte Ombhau´ nach Galaro. Er nannte seinen Namen nicht, aber er beschrieb Galaros Rüstung und sein Gesicht so genau, dass Gero ihn wieder vor sich sah, damals auf der Mauerkrone, und vor ihm das Steinmonster.
    „Du meinst Galaro. Er ist tot.“ Gero fiel es schwer, Ombhau´ weiter anzusehen. Aber dann erzählte er ihm alles über den Kampf mit den Fremden und dem Krieger in der merkwürdigen Rüstung. „Ich habe seinen Bogen später geholt, aber ich konnte ihn nicht begraben. Ich war verletzt, und die Steintrümmer des magischen Kämpfers lagen auf ihm.“

    Ombhau´ schlug ihm leicht auf die Schulter. „Dort wo er jetzt ist, ist das nicht wichtig... Weißt Du, dass wir beide von Khorinis gekommen sind, so wie Du?“ Gero reagierte erstaunt. Ombhau´ sprach nicht, wie einer aus Khorinis, und er sah auch nicht so aus.

    Ombhau´ schwieg eine Weile, aber Gero sah, dass er daran arbeite, die Trauer über den Verlust in Worte zu fassen.

    „Auf der Insel war ein Straflager – ich weiß nicht, wie viel Du damals davon gewusst hast. Galaro und ich waren an einer Meuterei beteiligt, genau genommen war es Galaro, der dem miesen Stockfisch von verbrecherischem Kapitän den dreckigen Wanst aufgeschnitten hat. Zum Glück gab es keine Zeugen dafür, und so wurden wir ganz normal wie die anderen in die Barriere geworfen.
    Es war das Paradies. Wir fanden ein Lager in einem Sumpf, und die rauchten dort ein Kraut und die meiste Zeit taten sie nichts. Galaro und ich schlossen uns an und hatten mehrere Jahre einen echten Lenz.
    Wir lernten kämpfen, schoben ein bisschen Wache, ließen uns von den Novizen das Futter bringen, rauchten Sumpfkraut und guckten, wie uns das blassgrüne Sonnenlicht auf die Schultern schien. Galaro hat immer gesagt: „Sieht aus wie Moos, mein Arm hier“.

    Aber irgendwann wurde es übel. Es kam einer ins Lager, der war echt verrückt. Rauchte sein Kraut nicht, sondern verhökerte es und kaufte sich ständig bessere Waffen. Legte sich freiwillig mit den Sumpfhaien an, braucht kein Mensch, so was. Und einer der Gurus dort, ein Alchemist, ein magerer Haken von einem verkniffenen Menschenfeind, fing an, merkwürdige Typen um sich zu scharren, die konnten Dich gar nicht grad angucken vor lauter komischem Zeug, was sie im Kopf hatten. Unheimlich, da waren wir uns einig. Galaro und ich planten, abzuhauen.

    Die Situation spitzte sich dann auch zu, viele der Templer sind über Nacht verschwunden und unser oberster Chef war mit einem Mal tot, mitten in einer Versammlung plötzlich tot umgefallen, ich bin froh, dass ich nicht dabei war. Da sind Galaro und ich in den Wald geschlichen und haben einen Weg zu einem der anderen Lager gesucht, wir wussten, es gab noch andere.

    Hast Du die Barriere mal gesehen? Echt nicht? Das war schon ein krasses Schauspiel. Wie blaue Blitze – und über den ganzen Himmel. Jedenfalls wachen wir plötzlich im Wald auf, weil es ein Erdbeben gab, und die Barriere zerläuft vor unseren Augen wie Butter und ist weg.

    Das war das Signal zum losrennen – ich sag Dir, der ganze Wald war plötzlich voller rennender Leute, und einer ist direkt vor uns in einen schlafenden Schattenläufer gelaufen. Er schrie noch rum, „Mein Kopf, mein Kopf!“, und dass er nichts mehr sieht.“

    Ombhau` rollte eine schmale Handvoll Kräuter in ein langes Blatt, steckte es sich in den Mund und hielt ein Stück Glut daran, das er in einer Blechdose mit sich herumtrug. Gero sah fasziniert zu. Er kannte nur Pfeife rauchende Menschen. Das Kraut roch harzig und süss.

    „Wir haben ihm geholfen. Erst den Schattenläufer erlegt, war ein hartes Stück Arbeit. Und dabei hat der andere immer wild mit seinem Schwert rumgefuchtelt, er hat wirklich nichts mehr gesehen. Um ein Haar hätte er mich geschnitten. Ich hab ihm ein paar auf den Kopf gegeben, und Galaro und ich haben ihn den ganzen Weg bis zum Alten Lager wie einen Besoffenen an unseren Schultern hängen gehabt. Aber er war vorher in Ordnung, einer unserer Schwertmeister, er hatte noch am meisten Grips im Kopf von dem ganzen Laden da. Und er hat uns immer korrekt behandelt. Jedenfalls haben wir ihn bis zu einer Höhle gebracht, da haben wir ihn ins Gras gelegt, und hinter nem Felsen gewartet bis er aufwacht und selbst wieder rumläuft. Er war auch ein Strenger, wir haben Schiss gehabt, dass er uns wieder zurückschickt, wenn er uns sieht, deshalb sind wir allein zum Pass weiter.
    Die Bauern waren aufgebracht. Sie standen vor dem Pass und auf den Wegen und wollten alle umbringen, die aussahen, als kämen sie aus der Barriere. Bei Galaro und mir hatten sie da nicht so viel Erfolg, aber wir besorgten uns trotzdem Bauenklamotten, bevor wir uns in die Stadt schlichen. Wir gerieten dann auf ein Piratenschiff, aber das werd ich Dir wann anders erzählen, es wird bald hell. Aber eins ist sicher: so einen Freund wie Galaro, den findet man nur einmal im Leben. Er hat mich nie im Stich gelassen. Und er war immer zu Streichen aufgelegt. Man konnte was mit ihm erleben, und man ist auch wieder rausgekommen, weil er stark war, klug und mutig.“

    Gero sah Ombhau´ an, der über den Fluss blickte und an seinem Kräuterwickel zog. Er wirkte wie aus glänzendem schwarzen Stein, nur der Rauch kräuselte sich vor seinem Gesicht.
    Gero dachte an Galaros Tod. „Er hat nicht verdient, so zu sterben, in einem Kampf, von dem niemand wusste, um was es eigentlich ging. Aber das stimmt auch für Ireg, und all die anderen. Galaro hat tapfer gegen viele gekämpft. Er war der letzte, der an der Mauerkrone stand. Und ich denke, dass Ireg ihn am liebsten aus der Stadt weggeschickt hätte, ich bin sicher, er wollte ihn für etwas schützen, für Pläne, die er mit ihm hatte.“ sagte Gero.

    „Das mag sein.“ erwiderte Ombhau´. Aber dann wurde sein Blick plötzlich verschlossen, und er wandte sich noch weiter dem Fluss zu. Gero klopfte zweimal auf das Holz seiner Schwertscheide und ging langsam und leise ins Dorf zurück.

    Gothic Girlie
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    Die neue Küstenwache

    „Wofür habt Ihr Galaro in die Stadt geschickt?“ fragte Gero Marik bei der nächsten Gelegenheit, bei der er ihn allein erwischte.
    „Ireg wollte, dass er mit Tassos Kapitän spricht. Es gibt eine Insel, weiter im Süden, nicht die Insel, von der Ombhau´ kommt, eine andere, eine Felsinsel. Die Piraten, mit denen die zwei unterwegs waren, sind dort gelandet, weil sie nach Gold gesucht haben. Sie haben Gold gefunden, aber auch anderes, Beunruhigendes, eine Bedrohung für diese Insel und vielleicht für alles andere Land.
    Aber es war gefährlich für ihn in der Stadt, die Gefahr hätte bestanden, dass die Paladine Galaro hängen. Deshalb hat Ireg ihn erst bei der Stadtwache eingesetzt, wollte, dass er sich einen guten Namen macht, bevor bekannt wird, dass er bei den Piraten war.“

    „Und dabei ist er gestorben“, dachte Gero. „Er, der sonst immer überall rauskam.“
    „Ireg hat oft nicht wie ein Paladin gehandelt.“ sagte er laut.
    „Nein, er hat gedacht wie ein König. Er hat immer die ganze Insel gesehen, und weit darüber hinaus. Leider hat unser richtiger König sich eher mit der Jagd beschäftigt, Friede seinen Knochen, wo immer sie modern.“
    „Meinst Du, der König ist tot?“
    „Meinst Du, er hockt am Strand unter einem Stein? Seit der Invasion sind bald zwei Wochen vergangen, und niemand hat ihn gesehen. Manche sagen, dass er bei der Flotte war, aber die ist genauso verschwunden.“

    „Wie geht es jetzt weiter?“ wollte Gero wissen.
    „In ein, zwei Tagen geht Ombhau´ mit Euch Jungs die Küste entlang. Die Jungen, die wir ausgewählt haben, sind alle in anderen Orten bekannt, so wird es nicht die Probleme geben, die Du hattest. Ihr werdet Informationen sammeln, und Ihr werdet dafür sorgen, dass die Überlebenden wieder voneinander wissen und einander helfen. Als letztes werdet Ihr in die Stadt gehen, und nachsehen, was dort los ist.“
    „Ich auch?“
    „Du gehst mit. Danach und wenn Du Dich bewährt hast, schicke ich Dich auf die andere Seite der Insel. Dort ist es gefährlicher, und Du wirst allein gehen. Ombhau´ bringt Dich bis zum Pass. Sieh schon mal zu, dass Du möglichst viel über die andere Seite erfährst, sprich auch mit den Fischern, viele fischen nicht nur vor ihren Dörfern.“

    „Was machst Du?“
    „Ich muss sehen, dass die Sklavenlagerwachen hier unter Kontrolle bleiben. Ihr werdet uns fehlen, also haltet Euch nicht bei den Mädels auf.“
    Marik zwinkerte, warf ihm ein Paar mit Eisen verstärkte Handschuhe zu, und wies auf eine Tasche mit Pfeilen, die er Gero mitgebracht hatte.

    - - -

    Die nächsten zwei Tage verlegte Ombhau´ den Schwerpunkt des Trainings auf den Bogen. Er zeigte ihnen unterschiedliche Bögen, sprach über verschiedene Methoden, zu zielen, und unterwies sie in anderen Atemtechniken. Das erste Mal erntete Gero so etwas wie Anerkennung. Er schoss am weitesten und am sichersten unter Ombhau´s „Jungs“. Dann bauten sie zusammen Pfeile, und das war die Gelegenheit, bei der Gero richtig viel Neues lernte. Zuletzt zeigte Ombhau´ Gero und Kerem einiges über Signal-, Brand- und Explosions-Pfeile.

    - - -

    Und dann waren sie unterwegs. Ombhau´ führte sie einen verschlungenen Pfad nach Norden, der die Fallen auf dem alten Weg umging. Sie jagten Blutfliegen, und Ombhau´ erklärte ihnen, wie man das Gift des Stachels als Medizin einsetzen konnte. Sie mussten sich einige Furten von den grünen schuppigen Monstern freikämpfen, die Gero schon auf seinem ersten Weg nach Grauben kennen gelernt hatte, und einmal wurden sie aus dem Hinterhalt mit Bolzen beschossen, aber die Angreifer flohen, als Gero einen von ihnen mit einem einzigen Schuss niederstreckte. Es war eine Sklavenlagerwache.
    „Ich denke, das war nicht vorgesehen, dass wir entkommen, und dass wir ihre Uniform sehen.“ murmelte Ombhau´ grimmig. Sie durchsuchten die Umgebung und fanden einen Verhau aus Dornbüschen, hinter dem die Sklavenlagerwachen sich ein Lager eingerichtet hatten. Es gab einen kurzen Kampf, dann waren die zurückgeblieben drei Bewacher tot. Sie erbeuteten einiges an Gold, Getreide und Waffen, und Gero fand bei einem der Gefallenen zwei Teleportrunen, eine mit dem Fass, so wie die, die er Marlan gegeben hatte, und eine mit einer Gravur wie ein Edelstein. Er fragte sich kurz, wohin ihn diese wohl brächte, dann hörte er wieder Ombhau´ zu, der einen Plan entwickelte, in dem Verhau auf die Rückkehr der anderen Wachen zu warten.

    Drei der Jungs zogen sich die Uniformen der Wachen an und positionierten sich, so wie die Wachen gesessen hatten. Der Rest wartete in den Hütten versteckt.
    Gegen Mitternacht verstummten die Frösche. Ombhau´ stieß Gero an, Gero nickte. Er spannte die Sehne auf seinen Bogen und sah durch einen Spalt in der Hütte, den er etwas vergrößert hatte, sodass er hindurch schießen konnte.
    Die Wachen latschten einfach ins Lager, ohne einen Anruf, oder ohne eine Parole auszutauschen. Sie starben schnell, die meisten kamen kaum dazu, ihr Schwert zu ziehen. Sie durchsuchten sie, und Ombhau´ fand einen Brief. „Du kannst lesen, oder?“ fragte er Gero und gab ihn ihm. Gero nahm den Brief mit ans Feuer. „Er ist an einen Victorio gerichtet, und ich glaube, er ist auf der anderen Seite der Insel zu finden. Ein gewisser Silvio fordert seinen Lohn für irgendeinen speziellen Dienst, wenn er ihn nicht bis zum Vollmond bekommt... hossa, der Kerl spricht wirklich eine deutliche Sprache. Er will ihm was wohin stopfen, aber so farbig hat das noch keiner geschildert, den ich kenne!“ Die Jungs umringten Gero begeistert, und er musste den Satz dreimal laut vorlesen.

    - - -

    Am Morgen erreichten sie die erste Siedlung. Petar trat alleine vor die Palisade, und schrie länger mit den Dörflern hin und her. Nach einer Weile bewegte sich das verrammelte Tor, und sie wurden eingelassen.
    Im Ort herrschte Hunger, weil die Menschen sich wegen dem Lager der Sklavenlagerwachen nicht mehr getraut hatten, zu fischen oder zu jagen, und weil sie sich auch nicht mehr an ihre versteckte Getreidezisterne gewagt hatten. Die Graubener gaben ihnen einen Sack Getreide für sofort, und als die Dörfler von ihrem Sieg über die Wachen hörten, schenkten sie ihnen Gold und Schnaps.
    Über die Invasion wussten sie wenig. Sie hatten Flüchtlinge von der Küste aufgenommen, aber von diesen waren die meisten so schnell weg gerannt, dass sie nicht viel berichten konnten. Ein kleiner Junge war nach Magiern gefragt worden, bevor die Invasoren ihn einfach von einer Brücke ins Wasser warfen, ohne sich darum zu kümmern, ob er schwimmen konnte, oder ob dort Viecher lauerten. Er hatte sich nur mit seinem Messer gegen einen Lurker verteidigt, und war dann weggerannt. Eine blutige Schramme zog sich quer über sein ganzes Gesicht. Ombhau´ schenkte ihm einen magischen Ring, aber der Junge musste ihn an einem Lederband tragen, weil er noch nicht passte.

    Sie machten eine Reihe von Signalen und Notzeichen aus, dann zogen sie weiter.

    - - -

    Ihre Erfahrungen auf der weiteren Erkundungsreise waren ähnlich. Vor Punta Iricali, einem Fischerdorf an einer Felsspitze, hatte es einen kleinen Innosschrein mit einem Magier gegeben, der mit dem Dorf gehandelt hatte, aber die Fremden hatten den Magier ermordet, den Schrein zerstört, und waren weiter gezogen, als ihre flammenden Geschosse das Dorf nicht treffen konnten, weil es vom Weg aus gesehen hinter der Klippe lag und nachdem ein Teil des Weges unter den steinernen Kriegern ins Meer gebrochen war. Die Graubener ließen Morghal in diesem Ort, und stattdessen gaben ihnen die Fischer Tonio mit, einen jungen Axtkämpfer, der fast so breit wie hoch war, und der den ganzen Tag Sonnenblumenkerne knusperte. Gero kaufte sich dort Fischköpfe, und das war ein Höhepunkt der Reise für ihn.

    - - -

    Überall Hunger, Misstrauen, Zerstörung, die Frage nach den Magiern. Aber keine Invasoren mehr, ihre Armee war genauso spukgleich wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war.

    Ein Dorf war von den Schiffen aus in Brand geschossen worden, die Fremden hatten sich noch nicht einmal mit Plündern aufgehalten. In einem anderen waren sie nur mit einem Schiff gelandet, hatten nach einer bestimmten Person gefragt, und ein Gast einer Hafenkneipe war mit ihnen gezogen, ohne dass sonst etwas passiert wäre. Da die meisten Männer mit ihren Booten auf See waren, blieb das Schiff der Fremden leider unbehelligt.

    Überall sorgte der Graubener Trupp, so klein wie er war, für Erleichterung und Freude. Die Menschen waren froh, von den anderen Dörfern zu hören, und waren begierig darauf, wieder ein Teil einer größeren Sache zu werden. Es gab ihnen Sicherheit, und sie konnten ihr normales Leben wieder aufbauen. Dass Ombhau´ und Gero das erbeutete Getreide klug verteilten, trug ein übriges dazu bei. Ein voller Magen war etwas, das alle verstanden. Gero sprach mit vielen und lernte. Er erfuhr, dass es mehrere befestigte Gehöfte und Lager auf der anderen Seite der Insel gab, aber nur eine Dorfgemeinschaft, ganz im Osten, auf einer Felsklippe. Dort sollte es einen Wassermagier geben.

    Und er hörte von den Orksklavenlagern. Es gab drei oder vier davon, und die Lebensbedingungen mussten grausam sein. Die Leute der Insel hielten Orks für nicht wirkliche Personen und hatten nicht viel für sie übrig, aber über die Orksklavenlager sprachen sie mit gesenktem Blick und leiser Stimme. Ein früherer König hatte sie eingerichtet, nachdem in einer blutigen Schlacht viele Orks lebend in seine Hand gefallen waren, aber die heutigen Sklaven dort waren von den Sklavenjägern dorthin verschleppt worden, und die Lager zahlten ihre Abgaben nicht mehr. Die Fischer betrachteten die Sklavenlagerwachen als Halunken und Tagediebe.

    „Warum haben die Sklavenlagerwachen Euch bei dem Kampf um das Fort in der Flussmündung geholfen?“ fragte Gero Ombhau´ eines Abends. „Es hätte doch eigentlich mehr Sinn gemacht, wenn sie die Gelegenheit genutzt hätten, ein paar neue Sklaven zu erbeuten?“
    „Sie haben erst gar nicht gekämpft – so, als ob sie auf etwas warteten. Wir hatten schon Angst, die könnten uns plötzlich in den Rücken fallen. Aber dann fiel eins der Geschosse von den Schiffen auf einen der Schwarzmagier und er ist brennend und brüllend durch das Fort gerannt. Ab dem Zeitpunkt gabs für sie kein Halten mehr.“
    „Vielleicht war das ein Versehen,“ überlegte Gero. Ombhau´ lachte. „Glück ist das halbe Kriegsgeschick, Du wirst das noch merken, man kann nie alles vorherplanen.“
    „Morgen erreichen wir die Stadt, oder?“
    „So Deine Götter wollen, Gero, wird das so sein.“
    „Glaubst Du nicht an Innos?“
    „Ich weiß nicht, Kleiner. Wir haben in diesem Sumpflager auf Khorinis an einen sehr merkwürdigen Gott geglaubt, und ein bitteres Ende kam daraus für die, die am meisten geglaubt haben. Ich glaube an meine Machete, den Seewind, ein gutes Essen. Wirst sehen, das hält Dich länger am Leben als irgendwelche Götter.“
    „Hast Du auch etwas über Magie gelernt in diesem Lager?“
    „Nicht viel, ich war eher mit dem Sumpfkraut beschäftigt, wenn Du verstehst was ich meine. Aber es gab eine Sache, wie man Feinde freundlich stimmen kann, das fand ich gut. Hat mir nen Haufen Scherereien erspart, wenn mal wirklich ein dummer Streich nach hinten losging.“
    „Kannst Du mir das zeigen?“
    „Mal sehen, Kleiner. Vielleicht später, oben am Pass. Schätze, Du kannst es brauchen, wenn Du auf der anderen Seite der Insel bist, auf Dich allein gestellt. Aber ich hab es selbst schon lange nicht mehr versucht, und Du müsstest dazu eine Rune besitzen, vielleicht hat Galaro seine bei sich, ich möchte ihn finden und begraben, hilfst Du mir?“
    „Ich werde Dir helfen, Galaro zu begraben.“ sagte Gero, obwohl im das Herz schwer wurde beim Gedanken an die vielen Toten im Hafenviertel.

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    Morglas

    Sie näherten sich der Stadt von der Landseite her, und die Stadttore waren so verschlossen und die Mauer war so intakt, wie Gero sie in Erinnerung hatte. Sie sahen eine Weile von einer Anhöhe auf sie herab. Hinter der Mauer waren Rauchfahnen zu sehen, dünne Rauchfahnen, die wirkten, wie Herdfeuer, und die Hammerschläge, die hell in den Morgen klangen, hatten etwas Friedliches.
    Es gab keine Wachen auf den Mauern oder an den Toren, so führte Gero den kleinen Trupp durch die Gärten an der Südseite der Mauer Richtung Hafen. Die Äpfel waren geerntet, und er sah auch kein Gemüse mehr. Als er an dem Punkt ankam, an dem er damals die vielen Feuer der Eindringlinge gesehen hatte und die Schemen ihrer Schiffe, hielt er inne, aber der Strand war menschenleer so weit man blicken konnte.

    Vorsichtig und leise gingen sie an der Mauer weiter. Als die Zerstörung anfing, fiel Gero schon auf, dass keine Toten mehr zwischen den Trümmern lagen. Er war erleichtert, obwohl natürlich auch die Invasoren die Toten verbrannt haben konnten – falls sie länger vorgehabt hätten, zu bleiben. Gero führte sie weiter, in die Straße, die er in dieser verhängnisvollen Nacht auch gegangen war. Sie war menschenleer, aber auch hier lagen keine Toten. Wo Galaro gefallen war, lagen noch die Trümmer des Steinkriegers, und man sah Blut an ihnen, das mit der Zeit braun geworden war, aber von Galaros Körper fehlte jede Spur. Gero hielt an, und zeigte Ombhau´ den Ort. Dieser kniete nieder, und Gero versammelte die anderen zu einem Schutzring um ihn, aber mit dem Blick nach außen. Er traute dem Frieden nicht.

    Später gingen sie die Straße weiter nach oben. So weit vom Hafenviertel entfernt waren einige Häuser bewohnt. Aber Türen und Fenster waren geschlossen, nur ein Schmied arbeitete an seinem Amboss. Sie standen eine Weile vor ihm, ohne dass er sie beachtet hätte. Das war ungewöhnlich. Früher hätte er sie begrüßt, sie nach ihrem Begehr gefragt, ihnen einen Scherz zugerufen. Er sah mager aus, und übermüdet. Vor ihm auf einer Bank lagen die Holzteile für eine große Armbrust, so eine, wie man auf Türme und Mauern montierte und die von mehreren Männern bedient werden musste. Er fertigte die Eisenteile dafür, aber er schien nicht zufrieden mit seiner Arbeit.
    Schließlich hielt er inne.
    Gero grüßte ihn. Es entstand eine unangenehme Pause, als Gero nach den Toten fragen wollte, aber nicht wusste, wie. Ombhau´ kam ihm zuvor. „Mein Freund Galaro ist hier gefallen und wir sind gekommen, ihn zu begraben. Aber wir haben ihn nicht gesehen, da, wo er fiel.“
    Jetzt legte der Schmied sein Werkzeug weg. Er richtete sich auf, stand einen Moment vor Ombhau´ und sah ihm ins Gesicht.
    „Ein guter Mann, Dein Freund Galaro. Seine Ruhe hat mich überzeugt, auch zu kämpfen. Er blieb stehen, als viele gerannt sind. Dann sah ich, wie die Fremden in mein Haus einbrachen, und lief dorthin, wo meine Familie war.“ Er sah zu Boden. „Nicht dass es viel genutzt hätte. Meine Frau verlor ihr Kind, und heute morgen ist sie auch gestorben.“
    Die Jungs standen um den Schmied herum und murmelten verlegene Worte. Gero dachte an Enita.
    Der Schmied fing sich. „Wir haben unsere Leute begraben, alle zusammen, denn es waren einfach zu viele. Die Fremden haben wir verbrannt, aber es waren leider nicht viele. Dein Freund Galaro ist im Grab unserer Leute, denn ich habe ihn gekannt und für ihn gesprochen. Wenn Du willst, zeige ich Dir, wo es ist.“ Ombhau´ nickte.
    Der Schmied hing seine Lederschürze über eine Werkbank und ging ihnen voraus seewärts.

    Sie kamen durch eine andere Straße. Hier waren mehr Menschen, aber niemand bummelte oder stand mit einem anderen, um ein Schwätzchen zu halten. Frauen trugen Körbe, Männer liefen mit Werkzeug, aber alles geschah rasch und still – fast heimlich. Gero sah den Laden des Pastetenbäckers. Eine alte Frau bediente dort, und hinter ihr schuftete die Bäckersfrau allein mit den schweren Blechen. Ein einarmiger Kerzengießer drehte Dochte mit der Hilfe seines Sohnes. Der Junge stand dazu auf einem Stuhl, sonst hätte er das Gestell nicht erreicht. Niemand sprach sie an oder drehte sich nach ihnen um.

    Der Schmied führte sie durch ein abgeschlossenes kleines Seitentor hinunter zu den Bleichwiesen am Fluss. Er ging ein Stück flussaufwärts und bog auf einen Sandweg zum Wald ein. Am Rand der alten Bäume sahen sie einen großen runden Erdhügel. Die Menschen hatten flache rundgeschliffene helle Steine am Strand gesammelt und eine Spirale auf den Hügelseiten ausgelegt. Unten davor, wo die Spirale endete, stand ein viereckiger Stein mit einer metallenen Schale. Dort brannte ein Feuer. Der Schmied wies stumm darauf, dann ging er einige Schritte weiter. Gero sah ein frisches Einzelgrab.
    Sie standen eine Weile vor dem Grabhügel. Gero kam es vor, als sei eine Glocke über den Ort gestülpt, die alle Geräusche von außen abhielt. Er hörte nicht einen Vogel, auch nicht die Geräusche der Stadt oder der See.
    Ombhau´ trat vor bis an die Schale und suchte etwas in seinen Sachen. Dann streute er ein paar der harzigen Blätter in die Flamme. Der süße Geruch verstärkte den Welt-entrückten Eindruck des Ortes. Dann murmelte er etwas in einer fremden Sprache – drei Mal. Zuletzt nahm er ein kleines Messer, ritzte sich in die Handfläche, und ließ etwas von dem Blut ins Feuer fallen.
    Gero war sich sicher, dass Nela dies nicht gerne gesehen hätte. Er konnte es sich nicht erklären, lange bevor sie zur Magierin wurde, hatte sie bereits eine klare Vorstellung von manchen Dingen. Aber sie war nicht hier, und Gero fühlte die Kraft und Ernsthaftigkeit, die von Ombhau´ ausging. Er wünschte sich, auch etwas zum Gedenken der hier Begrabenen beizutragen, und ihm fiel das Lied ein, das Amara zu Iregs und Enitas Begräbnis gesungen hatte. Er wiederholte es im Geiste ein paarmal, dann stimmte er es leise an. Das Lied schien bekannt zu sein, denn auch die anderen aus Grauben fielen ein.

    Ombhau´ drehte sich zu ihnen um. Seine Miene verriet nichts. Aber dann nickte er Gero ernst zu. Der Schmied war zu ihnen getreten. „Hier hat noch niemand gesungen“, sagte er ruhig, „aber das ist ein gutes Lied.“

    Sie begleiteten ihn zurück. Irgendwie hatte das Lied das Eis gebrochen, und Gero hörte, wie Petar, der schon verheiratet war, den Schmied nach seiner Frau fragte, und wie dieser antwortete. Der Schmied hieß Morglas, und er lud sie ein, bei ihm zu übernachten, falls sie über Nacht blieben. Gero fragte ihn, ob er etwas vom König wisse, oder von überlebenden Paladinen. Morglas meinte, es gäbe zwei Verwundete, die des Schreibens kundig seien, die im alten Paladinquartier Listen schrieben mit Namen der toten und der vermissten Bürger und die einmal die Woche Recht sprächen. „Dort kannst Du auch nach Galaros Sachen fragen, die nicht mit ihm begraben sind.“ wandte sich Morglas an Ombhau´.
    Sie ließen die Jungs bei Morglas und Gero und Ombhau´ machten sich zu den Paladinen auf. „Ich kenne den Weg“, meinte Gero.
    „Seht nur zu, dass ihr nicht in die Nähe das alten Palastes geratet. Dort hat sich etwas Ungutes eingenistet, und die Leute haben eine Mauer dagegen errichtet und es steht immer eine Wache davor.“

    - - -

    Gero fand das Haus der Talakaidis. Es sah so aus wie in der Nacht, als sie gegangen waren, nur, dass es nicht mehr rauchte. „Hast Du Ireg gekannt?“ fragte er seinen dunklen Begleiter. „Nein.“
    Sie betraten den Hof der Paladine. Es war niemand dort. Sie riefen und gingen eine Treppe hoch. In einem der Räume im oberen Stock war ein Tisch, und daran saß ein sehr junger, sehr blasser und sehr dünner Paladin in einem blutigen Gewand unter der Rüstung und schrieb in ein Buch. Er hatte noch nicht einmal Bartwuchs. Gero kannte ihn nicht. In einem Bett hinter dem Tisch lag ein anderer Paladin und schlief. Sein Kopf und Körper waren verbunden.

    Als der Junge sie kommen hörte, sah er auf. Seine Augen waren rot gerändert, und Gero sah, dass er fast umfiel vor Müdigkeit. „Innos zum Gruß“, sagte Gero. „Wir kommen von Marik aus Grauben.“
    „Innos hat uns verlassen“, sagte der Junge. Seine Stimme krächzte. „Habt Ihr Heiltränke?“ Gero und Ombhau´ gaben ihm jeder einen.

    Der Paladin nahm sie, und wandte sich zu der schlafenden Gestalt hinter ihm. Er rief einen Namen, und als der andere erwachte, gab er ihm die Tränke zu trinken. Der andere setzte sich auf und musterte sie. Gero begrüßte auch ihn. Es war Tobar.

    Sie tauschten die Parole aus, und Gero und Ombhau´ berichteten abwechselnd von der Lage an der Küste. Dann sprach Tobar. Die Fremden waren am Morgen nach der Schlacht wieder abgezogen, mehr als die Hälfte der Stadtbevölkerung getötet zurücklassend. Den Palast hatten sie geplündert und zerstört, aber im Rest der Stadt gab es ganze Straßen, in denen sie nur einmal durchgezogen waren, um alles niederzumachen, was sich wehrte. Dann aber ließen sie die meisten Häuser unbehelligt, und so hatten doch einige Einwohner überlebt. Von den Vorräten, die im Hafenviertel gelagert hatten, war nichts mehr übrig.
    „Gibt es Neuigkeiten vom König?“
    „Er war auf einem der Schlachtschiffe, die ausgelaufen sind, die Eindringlinge von der Küste fernzuhalten. Nein, wir wissen nichts über ihn, auch nicht über die Schiffe.“
    „Und sonst jemand von der königlichen Familie?“
    Bei dieser Frage glitt der Blick des Jungen zu Tobar.
    „Nein. Wir wissen nichts. Wir versuchen die Ordnung aufrecht zu erhalten, und haben das Begräbnis und das Aufräumen organisiert. Das ist alles, was wir zur Zeit tun können. Die Stadt ist im Moment nicht zu verteidigen. Zum Glück sieht es so aus, als müssten wir das auch nicht mehr. In den nächsten Wochen wird der Hunger unser schlimmster Feind sein.“

    „Der Schmied Morglas berichtete uns von unheimlichen Dingen im zerstörten Palast...“
    „Ja, dort hat sich etwas eingenistet, das allem Leben zutiefst Feind ist. Wir haben eine Mauer errichtet, weil es nachts durch die Straßen zog und Menschen mordete. Jetzt, wo ihr zu unserer Hilfe gekommen seid, können wir es vielleicht vertreiben oder töten. Es wäre eine große Erleichterung für alle Einwohner, wenn sie diesen Alpdruck nicht mehr jede Nacht fürchten müssten.“
    „Wir werden uns darum kümmern. Können wir sonst noch etwas für Euch tun?“
    „Fragt Morglas, er braucht etwas von einem anderem Schmied, der weiter im Norden wohnt.“
    „Morglas sagte uns auch, Ihr hättet die Sachen von einem Gefallenen namens Galaro?“
    Tobar nickte dem Jungen zu. Dieser blätterte in seinem Buch. Gero sah, dass er die Gefallenen nach den Straßen aufgelistet hatte, in denen sie gewohnt hatten – oder gefunden worden waren. Bei Galaros Name stand Morglas, und eine Zahl.
    Der Junge ging an eine von mehreren Kisten im hinteren Teil des Raumes, und kam mit einem kleinen Beutel zurück, den er Gero geben wollte, aber Gero wies auf Ombhau´.

    Nach einigen Abschiedsworten kehrten sie zu Morglas zurück.

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    Gunga

    Die Jungs hatten sich nützlich gemacht. Als Ombhau´ und Gero zurück kamen, trat Petar den Blasebalg, Tonio zerrieb ein schwarzes, sehr hartes Gebrösel in einem großen Mörser, und John und Kerem schnitzten Teile der Bolzen für das Geschütz.

    Ombhau´ und Gero berichteten. Sie fragten Morglas nach dem Auftrag an den Schmied im Norden. „Ich brauche Erzrohlinge, die Paladine haben sie immer dort gekauft. Außerdem bekommt man da die besten Armbrust- und Bogensehnen.“
    „Wieviele Rohlinge brauchst Du?“
    „Zehn müssten es schon sein, mehr, wenn Du mehr bekommen kannst. Ich gebe Dir das Gold für die ersten zehn mit, und den Rest bekommst Du, wenn Du zurückkommst.“
    „Ist das eilig?“
    „Ja, wenn ich sie nicht bis heute Abend habe, kann ich nicht mehr weiterarbeiten. Das heißt, dass diese Turm-Armbrust nicht fertig wird, und wir haben nur eine weitere.“
    Gero fragte nach dem Weg, dann besprachen sie ihr weiteres Vorgehen. Schließlich beschlossen sie, dass Gero zu dem Schmied gehen sollte, und sie später in der Nacht, wenn er zurück war, alle gemeinsam das Ding im Palast austreiben würden.
    Kerem bat Gero, ihm eine neue Sehne für seinen Bogen mitzubringen und maß seinen Bogen aus.

    Ombhau´ nahm Gero beiseite. „Dieser Schmied, ich habe Dinge über ihn gehört. Beurteile ihn nicht nach dem ersten Eindruck. Wenn Du ihm begegnest, denk an Deinen Freund Jaru.“
    „Was meinst Du damit, Ombhau´?“
    Aber der Schwarze sah ihn nur an, und gab ihm dann mit einem Hochwerfen seines Kinns das Signal zum Aufbruch.

    - - -

    Gero lief am Meer entlang Richtung Norden. Er genoss es, mal wieder alleine unterwegs zu sein, und lief in seinem eigenen schnellen Tempo. An einigen Stellen wich er Strandlurkern aus, er hatte jetzt keine Zeit, zu jagen.
    Nach einigen Stunden erreichte er eine Reihe dunkler Klippen. Sie war der Vorbote einer düster aufragenden Gebirgskette, die dahinter den Horizont begrenzte. Dieses Gebirge zog sich wie ein Riegel quer über die ganze Insel, und er würde es auch überqueren müssen, wenn er auf die andere Seite der Insel wollte. Allerdings nicht hier. Irgendwo hinter der Mine gab es einen Pass.

    Seine Augen suchten die Klippen ab, bis er den beschriebenen Abbruch entdeckte, der aussah, wie eine Blume. Er ging darauf zu und folgte einem schmalen Pfad und später einer Treppe, die auf die Kuppe der Klippe führte. Er ging langsamer, als er ein merkwürdiges rundes Gebäude sah, das aus Rinde erbaut schien. Er nahm einen Amboss wahr, aber er achtete mehr auf das Dach, das von einem zentralen Stamm hing und auf die Pfosten geflochten war, mehr wie eine Brücke, als wie Dächer, die er kannte. Dann kam die Person des Schmieds in sein Gesichtsfeld, und ihm stockte der Atem.

    Es war ein Ork, aber keiner, wie er ihn kannte. Er war kleiner, als normal war für einen Ork, und hielt sich aufrechter, fast wie ein Mensch. Er trug ein knöchellanges, ärmelloses hellbraunes Ledergewand ohne Verzierungen, eine lederne Schmiedeschürze und eine spitze geflochtene Kappe auf dem Hinterkopf. Ihre Zähne waren kleiner als die der männlichen Orks, und in ihre oberen waren glitzernde Steine eingelassen. Sie war die erste Orkfrau, die Gero jemals sah, und sie war offenbar die Schmiedin, zu der Morglas ihn geschickt hatte.
    Sie war stehen geblieben und blickte ihm entgegen. Im Näherkommen sah er weitere Einzelheiten: Armmuskeln, stärker als seine eigenen, unter glatter haarloser brauner Haut, die kräftigen Finger- und Fußnägel ihrer Art mit feinen dunkelbraunen Zacken verziert, an einem dünnen Lederband um ihren Hals hing eine helle Beinschnitzerei, ein großer Vogel. Ihre Nase schmückten weitere Ringe und Edelsteine, und ihre Augen waren grün. Sie musste als schön gelten unter den Orks, und er fragte sich, warum sie hier alleine lebte und mit den Paladinen handelte.

    „Ich grüße Dich. Ich komme von Morglas, dem Schmied in der Stadt. Er möchte Erzrohlinge kaufen.“ Sie schwieg und nickte. Er kaufte eine Bogensehne für Kerem, eine für sich, 18 Erzrohlinge für die Stadt – so viel Gold hatte er – und tauschte Kräuter und Waldbeeren gegen ein Rezept für ein Schwertpflegemittel. Er sprach mit ihr, und sie schien alles zu verstehen, und zum Schluss malte sie die Zahl der Goldstücke, die er ihr schuldete, mit einem Zeh in den Sand zu ihren Füßen. Er fragte sich, ob sie wohl stumm war.
    Verlegen verabschiedete er sich und trat den Heimweg an.

    - - -

    Am Strand fiel ihm ein, dass die Leute in der Stadt keine Vorräte mehr hatten. Er schoss einen Lurker, aber das Fleisch erschien ihm ungenießbar: zäh, tranig und bitter. Er spie es aus und verschonte die anderen Tiere. Aber etwa eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang fing er eine Schildkröte, und er wusste, dass dies ein willkommenes Festessen sein würde. Mit dem letzten Rot des glühenden Himmels kehrte er zurück.


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    Im Palast

    Ombhau´ stand regungslos im Schatten der Mauer, direkt hinter dem zerstörten Hafentor. Als er Gero sah, stieß er sich ab, und lief neben ihm her.
    „Hast Du auf mich gewartet?“ fragte Gero.
    Ombhau´ nickte. „Es geht um den Schmied... warst Du dort?“
    „Ja, aber...“
    „Sprich von ihm nur als dem Schmied auf der Klippe.“
    „Warum?“
    „Es ist die Bedingung dafür, dass er mit uns handelt.“
    Gero wollte weiterfragen, aber Ombhau´ schüttelte den Kopf und wies mit dem Kinn nach vorne auf den Weg.

    - - -

    Gero lieferte die Schildkröte in Morglas´ Küche ab und verkaufte ihm das Erz und Kerem seine Bogensehne. Es gab Fischsuppe für alle. Die Stimmung war kabbelig, die Jungs erwarteten die Nacht mit Vorfreude und Anspannung. Nach dem Essen sahen alle nach ihren Waffen, richteten ihre Rüstungen. Letzteres war leider bei den meisten keine große Sache. Nur Tonio und Gero trugen einen Helm und Kerem eine eisenverstärkte Kappe. Ombhau´ gab jedem zwei Heiltränke.
    Dann liefen sie los. Die Stadt erschien menschenleer. Ombhau´ führte sie schnell durch Straßen, die Gero nicht kannte. Er war wohl den Nachmittag in der Stadt unterwegs gewesen.
    Es war dunkel. Kein Licht schien in den Häusern, die sie passierten, kein Laut klang über die Straße außer ihrem eigenen Marschgeräusch. Eine Mauer kam in Sicht, noch dunkler als der Rest der Straße, zwei Manneslängen hoch. Als sie näherkamen, sah Gero, dass es sich eher um einen Wall handelte, der aus Trümmern bestand. In der Mitte war eine ummauerte Bresche. Dort standen drei Mann Wache bei einem Feuer: Tobar und zwei Stadtwachen mit Armbrüsten und Schlachtäxten.
    Sie hielten und Tobar gab jedem eine Fackel. Die Jungs spannten ihre Bögen. „Was erwartet uns.“ fragte Ombhau´ leise.

    „Dort drin sind verschiedene Wesen. Manche sind Tote, die nicht zur Ruhe kommen. Aber das, was nachts durch die Straßen zieht ist größer, und es jagt allein. Und einer, der vor unseren Augen starb, sprach von Magie.“
    Ombau´ nickte. Er setzte an zum Losgehen, da fragte Kerem: „Haben wir einen Plan?“ Gero grinste. Aber er war froh, dass Kerem gefragt hatte.
    „Wir gehen durch die Bresche, bis wir auf was treffen, was uns angreift. Sind das viele, bleiben wir zusammen, mit den Rücken zueinander. Ist es ein Gegner, verteilen wir uns, bleiben aber auf einer Seite. Probiert Pfeile und Brandpfeile aus, aber es gibt Untote, gegen die wären Äxte das beste. Achtet aufeinander – wir können zurückgehen. Wir können jeden verdammten Tag hier auftauchen und ihnen auf den Sack hauen. Spielt nicht die Helden – bleibt am Leben.“
    Das war nicht die Ansprache, die Gero erwartet hatte. Tonio murmelte eine üble Bemerkung über den vermuteten Zustand des Sackes bei Untoten. Dann passierten sie die Bresche.

    Vor ihnen lag kalt im Sternenlicht glänzend ein großer viereckiger gepflasterter Innenhof. Gero sah ein graues Bündel liegen und blickte genauer darauf: helle Armknochen hielten ein schartiges großes Schwert. Der Schädel war zersplittert.
    Über die Distanz des Hofes gähnten ihnen auf der gegenüberliegenden Seite drei runde Tore entgegen. Darüber erhob sich ein mehrstöckiges Gemäuer.
    Dies war nicht das Gebäude, in dem er Stimmen und Gelächter gehört hatte in jener Nacht, als er Ireg fand. Aber er vermutete, dass irgendwo dahinter der Hafen begann. Das mittlere Tor hing zerstört in den Angeln. Die anderen Tore waren geschlossen. Es kam ein feuchter Wind auf. Er roch bitter.
    Sie gingen wortlos auf das mittlere Tor zu. Der Hof schien leer zu sein. Wenn man diese Bündel nicht beachtete. Gero blickte nur lange genug auf sie, bis er sicher war, dass keine Gefahr von ihnen ausging. Aber das Auge ist schnell, und er sah mehr, als er sehen wollte.

    Nur noch wenige Schritte bis zum Tor. Gero nahm wahr, dass der Palast zerstörter war, als es den Anschein gehabt hatte. Die Frontwand war zerklüftet und stellenweise geschwärzt, Säulen zerbrochen, der Boden wurde trügerisch durch Scherben und Trümmerstücke.
    Ohne Vorwarnung brach der Ansturm über sie herein. Aus der Tür glitten mehrere Skelette mit glitzernden Schwertern und hieben und hackten drauflos. „Zurück“, schrie Ombhau´. Gero, der seinen Bogen in der Hand hielt, brauchte einen Moment, bis er sein Schwert gezogen hatte. Tonio trat einen Schritt vor, und schwang seine Axt. Das verschaffte Gero die nötige Zeit. Sie gingen rückwärts und bildeten einen Kreis mit den Gesichtern und Waffen nach außen. Und dann kam eine Zeit des Gehiebe und Gesteches, überall um ihn herum klirrten Waffen aufeinander, er zerschlug helle Knochen und parierte Schwerthiebe, er wich aus und stach und schrie dabei, bis er heiser war, und plötzlich stolperte John, der bisher auf seiner linken Seite alle Schläge von ihm ferngehalten hatte und Gero sprang vor, stand über ihm, schützte ihn, aber der Kreis war zerstört und jeder kämpfte für sich.

    Mit einem Mal war es vorbei. Das letzte Skelett zersprühte in einem Regen aus weißen Knochensplittern, ein Schwert fiel klirrend in die Brocken zu ihren Füßen, und man hörte nur noch ihren keuchenden Atem.
    Ombhau´ atmete immer noch ruhig. John stand auf. Ein paar tranken ihre Heiltränke. Gero durchsuchte die Reste der Skelette, sammelte ihre Schwerter auf und fand einen Schlüssel.

    „Bereitet Brandpfeile vor - ihr zwei, Fackeln.“ Obhau´ zeigte auf Tonio und Petar, winkte ihnen mitzukommen. John zündete eine dritte Fackel an, Gero und Kerem legten mehrere Pfeile griffbereit vor sich auf den Boden. Die anderen drei verschwanden einen Moment später im klaffenden Maul der dunklen Türöffnung und die Zurückgebliebenen sahen gigantische Schatten, die sich absurd zu bewegen schienen. Gero hörte Rufe, aber er verstand die Worte nicht, weil es so hallte.
    Da spie der Mund die drei wieder aus, sie spritzten nach links und rechts auseinander, um nicht im Schussfeld zu sein. Tonio warf seine Fackel im Eingang auf den Boden.
    Gero zündete seinen ersten Pfeil und als sich an der Tür etwas bewegte, spannte er den Bogen und zielte. Aber er hätte fast den Pfeil fallen gelassen, denn was er dort sah, war so grauenhaft, dass es ihm die Gedärme zusammenzog, und seine Hand verharrte wie gelähmt, während sein Herz raste.
    Das Ding war verdammt tot. Aber anders als bei den Skeletten erinnerte noch alles an das verronnene Leben. Grünliche Haut hing in Fetzen von den Gliedern, entblößte an aufgerissenen Stellen darunter liegende Muskeln, Adern oder Dinge, von denen Gero nie gewusst hatte, dass ein Mensch daraus bestand. In seinem Kopf entstand in einer roten Blase der Angst die Gewissheit, dass er jetzt schießen musste, um nicht selbst dem Verfall anheimzufallen, jetzt war der Moment, aber die Verbindung zu seinen Armen erschien wie durch Eis unterbrochen. Ein zweites Ding erschien hinter dem ersten, ein drittes, und immer noch schoss keiner von beiden.
    „Schaut diesem Gewürm auf den Sack, Männer, da ist nichts mehr zum draufhaun“, schrie plötzlich Tonio, packte seine Axt, und griff eines an, das sich auf die rechte Seite gewandt hatte. Gero sah gerade noch, wie sich ein dunklerer Schatten hinter den Untoten vor das Schwarz des Gebäudeinneren schob und wie eine Art graues Wischen Tonio traf. Das brach seine Erstarrung. Er schoss einen Brandpfeil darauf. Kerem traf im selben Moment den zweiten Untoten.
    Diesmal ging es schneller, das Feuer war die richtige Waffe gegen diese Feinde. Das gellende Schreien, wenn sie das Leben aushauchten, das sie lange nicht mehr besaßen, ging Gero durch Mark und Bein. Er konzentrierte sich auf seinen Bogen. In seinem Kopf entstand ein Druck, der erst nachließ, als alle Zombies wie Lumpenbündel am Boden lagen.

    Sie wiederholten das selbe noch zwei Mal, dann kamen keine Untoten mehr. Sie sammelten ihre Pfeilspitzen ein, und sahen im Schein ihrer Fackeln durch die Tür nach innen. Kaputtes Mobiliar, auf dem Boden Scherben, Schmutz und dunkelbraune glänzende Flecke, aber der erste Raum schien jetzt leer zu sein. Gero fiel an der Tür ein zerfetztes, stellenweise verbranntes Stück Stoff mit Knochen auf, und er fand darin Runen, einen Trank und ein Amulett. Er zeigte es Ombhau´. „Häng es Dir um, es hilft gegen Angriffe mit Magie.“ sagte er.
    Sie durchsuchten die anderen beiden Räume des Erdgeschosses, das großzügige Treppenhaus und die drei Räume im ersten Stock und fanden in Truhen Waffen, Rüstungsteile, Gold, Heiltränke, Armbrustbolzen und goldenes Geschirr. Ansonsten war der Palast leer.
    An der hinteren Seite des Gebäudes stand ein alter Turm, und dort wanden sich zwei schmale Wendeltreppen nach oben und nach unten.

    Ombhau´ stellte sie vor der Treppe auf, so dass immer drei Wache standen, dann teilte er die gefundenen Stücke gerecht auf und half ihnen, die neuen Rüstungsteile anzulegen. Alle trugen jetzt eine anständige Rüstung und Helme. Gero nahm ein sehr gutes Schwert mit drei roten Steinen im Griff.
    „Damit kannst Du auch magische Angriffe abwehren.“ sagte Ombhau´.
    „Nimmst Du Dir nichts?“ fragte Gero.
    „Nein, wir nehmen nichts von dieser Art von Toten.“
    „Das sind normale Sachen aus dem Palast.“ Gero wunderte sich.
    Ombhau´ sah ihn nur an mit einem seiner Blicke.

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    Im Turm

    Als sie fertig waren, entstand ein angespannter Moment, währenddessen alle auf das Spinnweben-verhangene Halbrund der dunklen Turm-Tür starrten. Die grauen Gespinste waberten leicht im Zug, und Gero erschien es, als sei es der Atem einer bösen Kreatur, der die Bewegung verursachte. Die Luft an der Turm-Tür war kälter und feucht. Man sah ein Stück des Wendelgangs, der nach oben führte, ein schwacher, blauer Schimmer lag darauf, eine Reflexion wie auf Eis.
    „Gehen wir erst nach oben oder nach unten?“ flüsterte Gero. Das Zischeln des Flüsterns trug weit und wurde in dem engen Durchgang vielfach zurückgeworfen. Es verstärkte die unheimliche Aura des alten Turms. Gero bereute sofort, dass er nicht mit normaler Stimme gefragt hatte. Was immer dort möglicherweise lauerte wusste vermutlich längst von ihrer Gegenwart.
    Ombhau´ trat bis an den Turm heran, horchte und schnupperte. „Wir können nicht alle zusammen hinaufgehen.“ murmelte er. Das Murmeln schien in den Spinnweben hängenzubleiben und sie verstanden es gerade so. Er schien unschlüssig, untersuchte die Seitenwände des Turminneren. Sie waren geschwärzt. Dann sah er auf die Rüstungen der Jungs.
    „Kerem und Tonio, ihr bleibt hier. Stellt Euch rechts und links von der Tür auf. Falls wir uns zurückziehen müssen und uns etwas verfolgt, fallt ihr ihm in den Rücken. Wir gehen durch diese Tür, heilen uns und kommen zurück, euch zu helfen... Falls etwas von unten kommt, ruft ihr und lockt es aus dem Turm.
    Gero, du und ich gehen vor – nach oben.“

    Sie gingen mit schweren Schritten in den Turm, Ombhau´ und Gero mit gezogenen Waffen Schulter an Schulter. Gero spürte hinter sich John und Petar. Woher auch immer der kalte blaue Schimmer des Turmes gekommen war – von oben sicher nicht, denn nach der ersten Wendung des Gangs durchquerten sie ein Stück in absoluter Finsternis. Gero nahm sein Schwert in die innere Hand und fuhr mit der äußeren an der rauhen Turmwand entlang. Er roch plötzlich etwas Scharfes, dann schrie Ombhau´ und er fühlte seinen Angriff mehr, als dass er ihn sah. Er stürzte mit ihm vor, wo plötzlich im engen Gang eine pritzelnde Feuerkugel erschien und größer wurde, und hieb darauf ein, ohne zu verstehen, was er bekämpfte. Die Feuerkugel zischte über seine Schulter und traf Petar, der laut aufschrie und danach weiter heulte. Im Turm war es wieder finster. Gero fluchte. Er hielt das Schwert bereit mit beiden Händen über seinem Kopf, aber wusste nicht mehr, wo Ombhau´ oder die anderen sich befanden – oder der Gegner. Das Schwert kratzte über die Gangdecke, Petar gab ein Geräusch von sich wie Schluchzen. „Petar, brauchst Du Hilfe?“ fragte Gero leise. Dann explodierte der Gang in Feuer.
    Gero hielt das Schwert instinktiv vor sich, und etwas Flammendes schlug hart dagegen, prallte davon ab und zog eine Funkenspur hinter sich her, während es wie gefangen weiter im Gang hin und her fauchte. Gero sah eine Gestalt in einer zerfetzten Robe, einen Totenschädel mit glühenden Augen und Ombhau´, der wild darauf einhieb und das Ding gegen die Wand trieb.
    Aber dann flog bereits eine zweite Feuerkugel auf ihn zu, und diesmal war Gero nicht schnell genug. Das Feuer traf zu schräg auf die Klinge und glitt daran entlang bis an den Handschutz. Gero schrie, denn das Schwert wurde schnell glühend heiß. Er versuchte, die Flammen abzuwehren, aber sie liefen an seiner Rüstung hinunter, verbrannten ihm Schulter und rechte Seite. Und eine weitere flammende Kugel entstand vor seinen Augen. Ein zweiter Feind! Er erblickte ihn kurz hinter der Wendung des Ganges. Dann zog der Gegner sich dahin zurück, aber Gero sah, wie das Licht des nächsten Zaubers heller und heller wurde. Mit einem Schrei stürzte er sich um die Ecke, an Ombhau´ vorbei, das Schwert zum Schutz vor sich, halb wahnsinnig vor Schmerz. Die Untoten waren zu dritt. Gero wehrte einen Zauber ab, aber sein Schwert wurde gegen die Wand geschleudert und es kostete ihn alle Kraft, es nicht zu verlieren. Dadurch verlor er das Gleichgewicht und fiel hart auf ein Knie. Und der dritte Gegner nutzte die Lücke, die dadurch entstand, und traf Ombhau´ mit einem anderen, blauen Zauber voll in den Rücken.
    In diesem Moment war plötzlich Petar neben Gero, und John attackierte die Gestalt, mit der Ombhau´ gekämpft hatte. Gero rappelte sich auf, und schoss auf den zweiten Feind zu, dessen knochige Hände bereits wieder anfingen zu glühen. „Drängt sie gegen die Wand, so können sie nicht zaubern!“ Ombhau´s Stimme war heiser und kaum kenntlich vor Schmerzen.

    Gero schnitt und wirbelte und schlug und hackte, und es gelang ihm, seinen Feind nicht zum Zaubern kommen zu lassen, und ihn zu Tode zu bringen – oder zu welchem Nichts auch immer, das auf Untote wartet, nachdem sie besiegt sind. Er holte einen Moment Atem und drehte sich um, das Schwert vor sich. Das rettete ihm das Leben, denn der Untote, mit dem Petar gekämpft hatte, stand hinter ihm und entließ einen voll aufgeladenen blauen Zauber. Gero sah Petar als regloses Bündel zu seinen Füßen und brüllte vor Zorn. Aber dieser blaue Zauber war stärker als das Feuer und Gero überlief es heiß und kalt, als er getroffen wurde. Er versuchte, sein Schwert hoch zu halten, aber seine Arme wurden kraftlos und zitterten. Und er wusste, dass er keinem weiteren dieser Treffer würde standhalten können.

    Er schnellte hoch und rannte ein paar Windungen den Gang hinauf. Mit fliegenden Händen riss er einen Heiltrank aus der Tasche und schluckte und trank, so schnell er konnte. Er verschluckte sich, der letzte Schluck geriet ihm in die Nase und brannte wie Feuer, aber Gero hielt bereits sein Schwert wieder vor sich und stürzte zurück. Keine Sekunde zu früh. Der Untote hatte nicht ihn verfolgt, sondern Ombhau´ ins Visier genommen, der zusammen mit John noch immer gegen den ersten Untoten kämpfe. Ombhau´ trug nur die Rüstung der Küstenwache, und diese bot fast keinen Schutz gegen Magie. Gero sah, dass er fast am Ende war. Er traf die Gestalt im zerfetzen Umhang im letzten Moment. Der blaue Zauber sirrte den Gang hinunter ohne zu treffen. Gero schlug und hieb um sich wie ein Berserker. Er sah nur noch einen roten Nebel, aus dem ihm ein Totenschädel mit glühenden Augen entgegen grinste, und er verausgabte sich völlig beim darauf-Schlagen, bis die glühenden Augen stumpf wurden und der tote Schädel mit einem trockenen Knacken brach. Gero fiel nach vorne in die schmutzige Robe. Der Gang war dunkel. Er hörte nichts außer lautem Keuchen.

    Er lehnte an der Wand des Wendelgangs, keuchte und atmete, und eine Weile tat er nichts als das, bis der rote Nebel verschwand. Jemand anders tat dasselbe, nicht weit von ihm. Als er wieder klarer wurde, zündete er eine Fackel an und blickte sich um. Ombhau´ hockte auf den Fersen und versuchte zu Atem zu kommen, um einen Heiltrank zu trinken, den er schon in der Hand hielt. John saß gegen die Wand gelehnt, und stopfte wild Bratenstücke, Brot und Beeren in sich hinein. Petar lag reglos auf dem Gesicht, in der Hand sein Schwert. Gero wurde das Herz schwer. Er ging auf ihn zu, kniete bei ihm nieder, drehte ihn vorsichtig um. „Er lebt!“ Gero schrie es heraus. Er lachte, klopfte leicht auf Petars Wangen, rief ihn, kniff ihn. Petars Lider flatterten. Er öffnete die Augen, aber er wurde nicht richtig klar. Er versuchte, sich aufzusetzten, fiel dann aber wieder zurück. Er murmelte etwas, zuckte.
    Ombhau´ erschien neben Gero, zog Petars Lider hoch, untersuchte seine Augen. „Wir ziehen uns zurück!“ befahl er. Gero und John zogen Petar zwischen sich hoch, luden seine Arme über ihre Schultern und versuchten, ihn so zu transportieren. Sie mussten quer gehen, der Gang war so schmal. Ombhau´ hatte die Fackel und Petars Schwert aufgehoben und deckte ihren Rückzug. Es erschien Gero kaum wahr, dass sie nur so wenige Schritte in den Gang gegangen waren. Als sie durch die runde Tür in den Palast zurück traten, lag der Innenhof im ersten rosigen Licht des neuen Morgens.

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    Die Heilerin

    Kerem und Tonio erwarteten sie. Als Gero in ihre blassen Gesichter sah, wusste er, wie sehr sie mit sich gerungen hatten, nicht in den Turm hoch zu rennen. Sie schlossen sich ihnen an, mit zurückgewandtem Blick und gezogenen Waffen, aber das dunkle Türrund blieb ruhig.
    Sie überquerten den Hof. Gero vermied es, auf den Boden und die Bündel zu sehen, schaute stattdessen hoch in den Morgenhimmel. Er fühlte sich, als habe Innos ihm eben ein zweites Leben geschenkt. Petar an seiner Schulter jedoch schauderte und brabbelte etwas. Ombhau´ hob sein Kinn an und versuchte, ihm in die Augen zu sehen, aber Petars Lider zuckten nur und öffneten sich nicht.

    Jetzt bei Tageslicht bemerkte Gero, wie fertig alle waren. Ombhau´s sonst immer so ruhiges Gesicht war von Schweiß überströmt und er atmete zu schnell. John war blass und biss auf seinen Lippen herum. Beide wirkten, als ob sie Schmerzen hätten. Und Gero ging es nicht anders. Auf seiner ganzen rechten Seite fühlte es sich an, als riebe die Rüstung auf roher Haut.

    Die Stadtwachen sahen ihnen entgegen. Es hatte wohl eine Wachablösung gegeben, denn jetzt stand der junge Paladin an der Bresche, und mit ihm zwei neue, die Gero nicht kannte. Sie passierten sie gedrückt, wie geschlagen - was eigentlich nicht stimmte, dachte Gero – und gerade als sie auf der Höhe des jungen Paladins waren, bäumte Petar sich auf und Gero verlor einen Moment die Balance. Als er sich wieder gefangen hatte, richtete er unbewusst sofort auch sein Schwert. Der Blick des Paladins fiel auf den Griff, und einen Moment sah es so aus, als wolle er auffahren. Sein Blick bohrte sich in Geros, dann wandte er sich brüsk ab und blickte über den Innenhof. Gero sah ihm nach und überlegte, was der Grund dafür sein mochte.

    Morglas kramte einen großen Topf Brandsalbe aus einem Schrank, als er von ihren Abenteuern hörte, richtete Petar ein Lager vor dem Kamin und zog los, eine Heilerin zu suchen. Ombhau´ hatte Petar noch einmal untersucht, aber dann sah er Gero mit hochgezogenen Augenbrauen an und zuckte die Schultern. Petar lag, als ob er träumte. Zumindest schien sich sein Zustand nicht zu verschlechtern.
    Die anderen hockten sich ans Feuer, aßen etwas oder sahen nach ihren Waffen. Keiner war sehr gesprächig. Gero ging in den ersten Stock und zog Rüstung und Lederwams aus. Wie erwartet war die Haut darunter gerötet und blasig. Er verteilte großzügig Brandsalbe auf den wunden Stellen – wie gut, dass sie gerade bei einem Schmied untergekommen waren! - und legte sich mit nacktem Oberkörper auf eines der einfachen Betten. Seine Gedanken wanderten.

    Er erlebte noch einmal die Szene mit dem jungen Paladin, sah vor sich sein Gesicht und seine Art, sich zu bewegen. Merkwürdigerweise fiel ihm dabei keine Ähnlichkeit mit Iregs Bewegungen auf, dabei hatten sich alle seine Männer ein bisschen wie er bewegt, mit kurzen energischen Schritten, locker in den Knien und einem etwas gesenkten Kopf bei sehr geradem Hals. Aber wenn er sich an den Jungen erinnerte, dachte er eher an Marlan als an Ireg, an ihre Linie von der Stirn über Wangenknochen zum Kinn. Ob der Junge auch aus ihrem Dorf... NEIN. Gero hielt den Atem an. Nein, die Erklärung war eine andere. Er war sich natürlich nicht ganz sicher, aber, nun ... der Paladin hatte das Schwert aus dem Palast erkannt und war aufgefahren, als ob er es ihm streitig machen wollte... und der König hatte keinen Sohn gehabt, soweit er wusste.
    Er versuchte, sich den jungen Paladin in Frauenkleidern vorzustellen, aber dann fielen ihm die vor Müdigkeit entzündeten Augen ein, das blutige Gewand unter der Rüstung, sein fester Wille, der aus seiner Haltung sprach... Und plötzlich sah er Marlan vor sich, wie sie alleine und verbannt in die Berge zog, das Dach auf der Klause deckte und den Brunnen säuberte.
    Mit dem Gedanken an Marlan schlief er ein.

    Er träumte farbig und heftig von untoten Hohepriestern und ihren magischen Angriffen. Diesmal traf ihn ein Eiszauber, und er wachte frierend auf. Die Sonne schien schräg in den Raum. Gero erschrak darüber, dass es bereits so spät war. Er zog sein Gewand, Gambeson und Rüstung wieder an. Die Haut fühlte sich besser an, die vielen kleinen Wunden waren verkrustet und brannten nicht mehr.

    Unten bot sich ihm ein merkwürdiges Schauspiel. Die Heilerin war in Zwischenzeit gekommen und der ganze untere Raum und alle Jungs waren verwickelt in die Ausübung ihrer Kunst. Auf dem Kamin und den Fenstersimsen standen Schälchen mit Räucherzeugs. Die Luft war geschwängert mit Gerüchen, die Gero fremd waren und seine Sinne vernebelten. Tonio sammelte Kohlen aus dem Kamin in ein Metallbecken, John hielt ein Becken mit Edelsteinen, und Kerem wedelte ihr und Petar Luft zu mit einem Ding an einem Stock, das aussah wie eine ausgestopfte Katze mit Snapperschrumpfkopf und Seegeierschwingen. Sie saß an Petars Lager, trommelte leise und rief ihn. Dabei modulierte sie ihre Stimme ganz unterschiedlich, betonte seinen Namen mal so, mal anders, flüsterte, raunte, lockte und nörgelte.
    Gero stellte sich leise neben Ombhau´, der mit verschränkten Armen reglos an der Tür stand und den Raum mit seiner Präsenz füllte, als geschähe dies ihm zu Ehren.

    Gero beobachtete das Geschehen. Wie anders arbeitete diese als Marlan! Marlan stellte klare Fragen, tat logische Dinge, sprach mit ihren Patienten in ihrem ruhigen, freundlichen Ton, erklärte, was notwendig war, verabreichte Tränke oder wirkte Zauber, aber sie war immer klar und Marlan bei allem, was sie tat. Diese verwob die Wirklichkeit mit den anderen Welten, die an den Grenzen lauern, den Träumen, dem Wahnsinn, den Ängsten, und ging selbst wie im Traum darin auf verschlungenen Pfaden, scheinbar ziellos, nur der Herzschlag ihrer Trommel leitete wie ein geheimes Signal.
    Und doch war Gero sich bald sicher, dass sie genau wusste, was sie tat. Es kam ein Moment, als John das Edelsteinbecken abrutschte, sich alle Steine auf den Boden ergossen, und Tonio John anpflaumte, dass sie kurz inne hielt, die beiden mit den Augen nach draußen winkte, und dort kurz mit ihnen sprach. Als sie wieder hereinkamen, Tonio und John nicht mehr schuldbewusst wie ertappte Sünder, sondern wie Männer, die wissen, was ihre Aufgabe ist, warf Ombhau´ ihr ein kurzes Wort in der alten Sprache hin und sie antwortete mit einem anderen.
    Ab diesem Moment vertraute Gero ihr blind.
    Als er in Marlans Klause erwacht war nach der geheilten Besessenheit hatte er sie gefragt, was genau geschehen war. Sie hatte ihm erklärt, in welchen Bereichen der menschliche Geist getroffen sein kann und in welche Kategorien die Heiler dies einteilten, und ihn die Worte der alten Sprache dafür gelehrt. Ombhau` hatte nun nach einer dieser Kategorien gefragt, und sie hatte mit dem Namen einer anderen geantwortet.
    Und Gero wunderte sich mal wieder über Ombhau´.

    Es war, als habe die kurze Pause die Dinge in Bewegung gebracht. Danach brauchte sie nur kurze Zeit und wenig Getrommel, um zu Petars verwirrtem Geist vorzudringen. Er öffnete die Augen und beantwortete ihr mit leiser Stimme und erstauntem Ton eine Reihe belangloser Fragen, bis sie ihm einen Heiltrank gab und ihn schlafen schickte. Er schlief ein, und sie packte in verblüffend kurzer Zeit ihr ganzes Gerümpel zusammen und streckte die Hand nach ihrer Entlohnung aus. Sie gaben ihr alle Gold, auch Gero, und waren überzeugt von ihrer guten Arbeit. Gero und Ombhau´ kauften auch noch Heiltränke bei ihr.

    Sie hielten später eine Besprechung ab, draußen an der Schmiede. Petar wollten sie diesen Abend nicht mitnehmen, dafür plante Morglas mitzukommen und die neue Turmarmbrust auszuprobieren. „Man kann mit ihr nicht in Bewegung schießen, sie muss fest aufgebaut sein, aber vielleicht finden wir solch eine Anwendung heute Abend. Jedenfalls ist sie fertig, und ich möchte sie testen.“

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    Geändert von Gothic Girlie (23.10.2009 um 11:24 Uhr)

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    Der junge Paladin

    Als sie aufbrachen war es etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang. Zuvor hatten sie die Schildkröte verspeist, in einer leckeren Suppe, die eine von Morglas´ Nachbarinnen gekocht hatte. Dazu gab es frisches Brot. Ombhau´ verteilte wieder Heiltränke.
    Tonio half Morglas, die Armbrust zu tragen.

    Die Wachen standen nicht mehr am Wall. Der Innenhof war aufgeräumt: keine Toten und keine Scherben mehr. Warm leuchtete das Abendlicht auf das gekehrte Pflaster. Gero sah, dass es gemustert war, mit geflochtenen Bändern am Rand und vor dem Eingang zum Palast. Ein Hund saß dort vor einem Stock als wolle er spielen.
    Der junge Paladin und seine Leute hatten ihren Posten in den Palast verlegt und eine Barrikade an der letzten Innentür vor dem Eingang zum Turm errichtet. Es blieb nur ein schmaler Durchgang, den sie einzeln passieren mussten. Hier lud Morglas ab, und bereitete sich darauf vor, die Armbrust aufzubauen, auf die Turmtür gerichtet, aber etwa fünf Meter weiter von ihr entfernt als die Barrikade. Gero wollte sich den Paladin nochmal genauer ansehen, aber der stand merkwürdigerweise meistens mit dem Rücken zu ihm.

    „Meinst du, ihr habt alle von diesen Magierzombies erledigt?“ fragte Tonio Ombhau´.
    „Wir wissen es nicht.“
    Niemand war wohl bei dem Gedanken, es nochmal mit solchen Feinden aufzunehmen, zu knapp waren sie beim letzten Mal davongekommen.
    „Lass mich nachsehen – allein,“ bat Gero. Ihm war auf dem Weg eingefallen, wie er Venuto besiegt hatte, und er besaß noch einen Ripper-Verwandlungstrank. Allerdings konnte er nicht riskieren, sich zu verwandeln, solange die anderen dabei waren.
    „Du hast einen Plan, ja?“ Ombhau´ sah ihn prüfend an.
    Gero nickte.
    „In Ordnung. So lange, wie du brauchst, einen Pfeil zu bauen, wenn alles vor Dir liegt.“
    Gero nickte wieder.

    Er ging durch die Tür und zügig das erste Stück des Wendelganges hinauf. Dort zog er den Trank aus der Tasche und öffnete den Verschluss. Dann schlich er weiter in den Turm hoch so leise er konnte. Er kam an der Stelle vorbei, wo sie die drei Hohepriester besiegt hatten, er merkte es, als sein Fuß in einer ihrer zerfetzten Roben hängen blieb. Vorsichtig schob er sich weiter vor. Um ihn herum war es stockdunkel. Irgendwo tröpfelte leise etwas.
    Und plötzlich, ohne dass er etwas gehört hätte, roch er wieder diesen merkwürdigen scharfen Geruch, wie am Tag vorher, bevor alles begann. Er kippte den Trank. Dann ging es los.
    Er sah einen winzigen Funken, stürzte darauf zu, und spürte wie im Bergtal, wie er mit dieser ganz fremden Kraft verschmolz und das magere Knochending gegen die Turmwand schmettern konnte, wieder und wieder, ohne dass es den Feuerball zum Wachsen bringen konnte. Schneller als erwartet war es vorbei. Er wusste, dass seine Zeit als Ripper begrenzt war und so galoppierte er jetzt den Rest des Ganges hoch, oder wie immer die schnelle Fortbewegungsart dieses Tieres hieß. Im obersten Turmgemach war der fünfte Hohepriester. Gero sah ihn im letzten roten Licht der Sonne und erwischte ihn von hinten, ohne dass er eine Chance gehabt hätte. Allerdings behinderten ihn hier ein Buchständer und verschiedene andere Möbel, und einmal gelang es dem Untoten, sich einen Moment zu befreien und zu heilen. Gero knurrte, und griff mit verdoppeltem Zorn an. Er hasste diese Dinger. Seine Kiefer zermahlten dürre Knochen, seine Krallen zertraten die zähen Sehnen an den getrockneten Füßen und rieben die kleinen Knöchelchen in den Staub. Und bei all dem fühlte er eine wilde Freude, eine rohe Lust an der Zerstörung, die ihm abrupt abhanden kam, als das tote Ding leblos zu Boden sank und seine Zähne nur noch den fadenscheinigen Stoff griffen. Ihm gerieten Fusseln in den Hals. Er sah sich noch mal kurz um, dann verwandelte er sich zurück.
    Er brauchte einen Moment, um die Fassung wieder zu finden, atmete ein paar Mal tief ein und sah aus dem Fenster in den glühenden Himmel, danach durchsuchte er systematisch das Turmzimmer. Auf dem Ständer sah er ein Buch in der alten Sprache, und er nahm es mit für Marlan. In drei Kisten fand er riesige Summen an Gold, mehr, als er jemals besessen hatte, und viele Spruchrollen, mehr und verschiedenere, als er sich je vorgestellt hätte, dass es gäbe. Und ein starkes Schutzamulett, nicht nur gegen Magie, sondern auch gegen andere Angriffe. Er legte es an.
    Zuletzt sah er noch etwas Schwefel auf einem Alchemietisch und ein paar schwarze Kristalle, die er nicht kannte. Das war auch etwas für seine Magier-Freundin!
    „Alles in Ordnung, ich komme zurück!“ rief er in den Turm hinunter und zündete eine Fackel an.
    Er beugte sich gerade über die Robe des Priesters, den er im Gang zerquetscht hatte, als plötzlich Tonio, Ombhau´ und Kerem mit gezogenen Waffen aus dem Wendelgang gestürzt kamen und ihn fast umgerannt hätten.
    Gero sah sie erstaunt an: „Was...“
    „Du hast uns gerufen, Mann, bist Du nicht in Gefahr?“ stieß Kerem hervor.
    „Alles vorbei.“ Gero gab Ombhau´ die Hälfte des Goldes. „Für die Heiltränke.“ Er ließ keine Ablehnung zu.
    „Marik hat mir Gold dafür mitgegeben.“
    „Kannst es ihm ja zurückzahlen.“ Sie gingen zurück, untersuchten dabei auch die anderen Roben, aber sie fanden nichts, außer einem alten Goldstück und einer Pfeilspitze auf dem Boden.

    - - -

    Und noch einmal hielten sie vor einem unheimlichen Eingang inne und sammelten sich, diesmal vor dem Abwärts-Wendelgang des alten Turms. Gero stand wieder neben Ombhau´, hinter ihnen Tonio und Kerem, diesmal sollte John zurückbleiben und die Wache bei der Barrikade verstärken. Gero hielt noch seine Fackel. Langsam stiegen sie ab.
    Dieser Teil der Festung war richtig nass, die Wände glänzten vor Feuchtigkeit, der Boden war glitschig und teilweise von Schlamm bedeckt. Von der Decke tropfte es unregelmäßig auf ihre Köpfe und wurde die Fackel getroffen, zischte sie und qualmte. Manchmal unterbrachen Stufen die Schräge und insgesamt wurde der Gang nach einem Geschoss uneben und bestand zum Teil aus gewachsenem Fels. Nach – wie es Gero schien – einer Ewigkeit des Abwärtsrutschens erreichten sie einen kleinen quadratischen Raum und das Ende des Wendels. Vor ihnen war eine geschlossene, Eisen-verstärkte Tür, daneben ein Waffenregal mit Speeren, Schilden und einem rostigen Schwert.
    „Kann jemand von Euch mit einem Schild umgehen?“ fragte Ombhau´. Tonio meldete sich. Ombhau´ wies ihn mit dem Kinn an, sich einen Schild zu nehmen und griff nach dem anderen. Er probierte die Tür. Sie war abgeschlossen.

    „Ich habe im Hof bei einem der Skelette diesen Schüssel gefunden.“ Gero hielt ihn hoch.
    Wieder dieses Nicken. Gero trat vor, zog sein Schwert, steckte den Schlüssel ins Schloss und versuchte zunächst, leise zu drehen. Der Schlüssel passte, aber er bewegte sich nicht. Da nahm Gero sein Messer, steckte die Klinge durch die Öse des Schüssels, und hebelte vorsichtig. Mit einem wimmernden Quietschen drehte sich der Schlüssel. Als das Geräusch zu Ende war, hörte Gero hinter der Tür plätschernde Schritte und ein metallisches Klirren. Er sah kurz nach den anderen. Sie waren bereit. Er riss die Tür auf und sein Schwert hoch.
    Es waren wieder Skelette. Diese trugen Rüstungen. Obwohl Ombhau´ und Gero sie sofort bedrängten und nicht in den Raum lassen wollten, war plötzlich doch eines zwischen ihnen und Gero kassierte einen schmerzhaften Stich in die Seite. Tonio schmetterte dem Ding seine Axt auf den kahlen Schädel und Gero konnte sich wieder auf die Skelette konzentrieren, die vor ihm auftauchten. Es waren viele, und so gerieten die Jungs trotz ihrer besseren Rüstungen in Bedrängnis. Irgendwann war Gero von so vielen Schlägen getroffen, dass er schwankte. Da zog Tonio ihn hinter sich und nahm seine Stelle ein. Tonios Axt wirkte wahre Wunder. Wo Gero mit seinem Schwert vier- bis sechs mal zuschlagen musste, um sich Raum zu verschaffen, reichten bei Tonio ein bis zwei Schläge. Gero trank einen Heiltrank. Dann trat er vor Ombhau´ als er sah, wie dieser am Kopf getroffen wurde.
    Kerem war von zwei Skeletten in eine Ecke gedrängt worden, aber noch schien er sich gut zu halten.

    Gero sah irgendwann keine tanzenden Knochen mehr vor dem Dunkel der Gruft, aus der sie gestiegen waren und wollte gerade den anderen etwas Aufmunterndes zurufen, als ein riesiges Ding mit mehr als einem Kopf die ganze Tür füllte und auf ihn zustürzte. Ein Prankenhieb schmetterte ihn so an die Wand, dass er keine Luft mehr bekam und sich sein Blick eintrübte. Die Fackel, die während des ganzen Kampfes auf dem Boden gelegen und das einzige Licht ausgesandt hatte, war plötzlich aus und Gero wusste nicht mehr, in welcher Richtung Gruft und Turm waren. Jemand schrie furchtbar, dann leuchtete der Schimmer eines Zaubers von oben herunter und so fand Gero den Gang. Das Monster musste hoch gerannt sein, denn er sah nasse Spuren auf den Steinen. Er rannte ihm nach.

    Die Barrikade zersplittert in Fetzen. John dahinter auf dem Bauch, in einer Blutlache. Die Armbrust musste abgeschossen worden sein und hatte getroffen, denn etwa zwei Meter vor ihr fing eine breite Blut- und Schleimspur an, die sich bis in den Innenhof zog. Gero folgte ihr.
    Jemand hatte eine Paladin-Lichtzauber-Spruchrolle gezündet. In ihrem Licht tobte im Hof ein riesiges Viech. Es sah fast aus wie ein Hund, nur dass sein Fell schwarz war und ganz glatt und nass, wie das eines Seehunds. Er hatte drei Köpfe. Er war so riesig, dass Gero nicht begriff, wie er den Gang hoch gelaufen war, noch dazu so schnell. Und er stank. Um ihn herum standen Tobar, Morglas, Ombhau´, zwei Stadtwachen, Tonio und Kerem und versuchten, das Ding zu treffen, aber die Reichweite ihrer Schwerter und Äxte richtete hier nichts aus. Gero spannte mit fliegenden Fingern seinen Bogen, zog die Sehne zurück und schoss. Allerdings war der Schaden nicht besonders groß. Trotzdem schoss er weiter, versuchte, die rotglühenden Augen zu treffen. Als Kerem das sah, tat er es Gero nach. Sie bewirkten, dass das Viech nicht mehr in ihre Richtung sah, vielmehr versuchte es, sie mit seinem dicken Hinterteil an die Wand zu drücken, Gero wich durch die Tür zurück und zielte und schoss weiter. Und dann raste Tonio plötzlich nach vorne und hackte an einer der Krallen-bewehrten Pfoten die Sehnen durch. Das Ding knickte ein. Tonio bezahlte teuer dafür, er wurde von einem der Mäuler ergriffen, hochgehoben und über die Mauer aus dem Innenhof geschleudert. Aber die anderen hatten einen Weg gesehen, wie man dem riesigen Hund seine Bewegungsfreiheit nehmen konnte. Sie griffen jetzt immer gleichzeitig an, aber jeder an einer anderen der drei verbliebenen Pfoten. Eine der Stadtwachen lähmte das zweite Hinterbein. Der Hund fuhr herum, biss ihn zwischen Arm und Hals. In diesem Moment traf Gero ein Auge dieses Kopfes. Der Höllenhund ließ die Wache fallen und suchte Gero mit dem intakten Auge. Die andere Wache stürzte vor, den Kameraden aus der Reichweite des Hundes zu ziehen. Und plötzlich beschloss der Hund, zu fliehen. Er raste auf die Bresche im Wall zu, schneller als ein Mensch laufen konnte, obwohl er seine hinteren Pfoten hinter sich her schleifte.

    Gero, Ombhau´, Morglas, Tobar und Kerem rannten hinter ihm her. An der Bresche gab es eine kurze Verzögerung, weil der Hund an einem Balken hängen blieb, der aus den aufgetürmten Trümmern ragte. Ombhau´ sprang mit einem gewaltigen Satz oben auf den Wall und hieb dem Hund eines seiner Häupter ab. Aber auch er zahlte: der Hund wischte ihn mit einer Vorderpfote von seinem erhöhten Standort und schleuderte ihn durch ein Fenster im ersten Stock eines in der Nähe stehenden Hauses. Tobar versuchte währenddessen, eines der Vorderbeine zu zerschneiden, aber er wurde niedergewalzt.

    Der Höllenhund preschte nun durch die Straßen. Die Menschen sahen nicht aus ihren Häusern, man hätte denken können, in einer Geisterstadt zu leben.
    Gero erkannte die Straße von Morglas´ Schmiede – vorbei – und dann das niedergebrannte Haus der Talakaidis. Und vor dem Hof der Paladine stand der junge Paladin, rief das Untier an und stellte sich ihm in den Weg. Gero fluchte. Er verfluchte dreimal seine langsamen Beine, dreimal seine Augen, die ihn zwangen zu sehen, was er nicht sehen wollte. Er rannte, wie er noch nie im Leben gerannt war und ließ die anderen Verfolger weit hinter sich.
    Ob der Hund erschöpft war, ob der Blutverlust durch die riesige Armbrustwunde endlich Wirkung zeigte, oder ob der junge Paladin einfach so gut war – oder so schnell – bis Gero ankam fehlte der Bestie ein weiterer ihrer hässlichen Köpfe. Aber sie hatte den Paladin niedergerissen und hockte nun knurrend über ihm. Gero brüllte und rannte ihr sein Schwert tief in die linke Seite. Fauchend fuhr die Höllenkreatur herum, eine stahlharte Kralle zerriss ihm die Rüstungsbänder an der Schulter und ein Teil seines Plattenschutzes krachte auf die Straße. Kurz sah er den Kopf über sich, sein Schwert war noch tief im Fleisch des Getiers. Da griff der Paladin wieder von vorne an, verschaffte ihm Zeit. Er zog sein Schwert heraus, lief an der Seite nach vorne. Der Paladin kämpfte anders, als alle, die er bisher gesehen hatte. Er wich nicht aus. Er ging kein Haarbreit zurück. Er stand tief, fast wie eine Spinne und teilte Streich um Streich aus. Sein Schwert war sehr scharf, aber er hatte nicht die Kraft, das Ungetüm zurückzudrängen und nicht die Reichweite, den letzten Kopf zu erreichen. Schnitt auf Schnitt setzte er auf die Brust und die bereits zerfetzten Vorderpfoten des Hundes, jeder begleitet von einem scharfen Schrei, schnell und entschlossen. Gero orientierte sich kurz. Dann lief er zurück, sprang bei den lahmen Hinterbeinen auf den Rücken der ekelhaften Kreatur, lief schräg nach oben und durchschlug das dritte Genick mit aller Kraft. Der Hund bäumte sich auf, ein Schwall heißen schwarzen Blutes traf Gero, er rutschte ab und fiel zwischen die Glieder des Monsters, als es endlich zusammenbrach.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (23.10.2009 um 11:24 Uhr) Grund: Sig aus ;)

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    Gulasch

    Das erste, was Gero fühlte, war ein brennender Schmerz in der Seite. Etwas zerrte und riss an ihm, und es tat verdammt weh. Er hatte die Vorstellung von einem kleinen Tier mit scharfen Zähnen, was ihn biss, und versuchte, es abzuwehren.
    „Gero, halt still.“ Ombhau´s Stimme.
    Gero öffnete die Augen, sah aber nicht Ombhau´, sondern Tonio. Dessen rechte Gesichtshälfte war übel zugerichtet, pflaumenfarben und blau, ihm fehlten Zähne und das Auge war verbunden. Er hielt Geros rechten Arm fest, drückte ihn mit beiden Händen neben Geros Kopf auf das Bett. Er war in Morglas´ Haus, auf dem Lager, das sie für Petar hergerichtet hatten. Die Heilerin war wieder da, und sie war es, die den Schmerz verursacht hatte, sie werkelte an Geros unteren Rippen herum. Ihm fiel der Stich durch das Skelett wieder ein, und er versuchte, den Schmerz zu ertragen ohne sich aufzubäumen. Auf seiner anderen Seite stand Ombhau´, einen verbundenen Arm in der Schlinge. Er hatte ein Knie zu Hilfe genommen, um Gero auf dem Bett festzuhalten.

    Noch zweimal durchfuhr ihn ein heftiger Schmerz, dann fühlte er, wie warmes Blut an ihm hinunterlief und die Heilerin brummte zufrieden, wandte sich zu ihm um und zeigte ihm ein rostiges Stück Eisen. Sie klatschte irgendetwas Kühles auf die Wunde und verband ihn geschickt. Ombhau´ bot ihr Gold an, aber diesmal weigerte sie sich, etwas anzunehmen. Gero sah auch keine ihrer unheimlichen Requisiten, sie packte nur einige kleine metallene Werkzeuge in eine steife braune Tasche und verstaute ein paar Fläschchen und Tiegel in den tiefen Falten ihres weiten Rockes. Sie blickte Gero noch einmal prüfend ins Gesicht, drückte ihm einen Heiltrank in die Hand, dann stand sie rasch auf und glitt durch die Tür.
    Gero setzte sich auf und schaute um sich. Tonio warf ihm seine Kleider zu. Sie stanken furchtbar.
    „Wo ist meine Rüstung?“ „Draußen in der Schmiede. Morglas wird sie Dir reparieren, wenn er von der Wache zurückkommt.“
    Also zog er das alte Kettenhemd der Küstenwache über, wobei es ihm nicht leicht fiel, sich ganz aufzurichten. Das kam aber nicht nur von der Wunde. Er fühlte sich insgesamt malträtiert und steif.
    „Welche Wache?“ fragte er. „Wo die Turmarmbrust aufgebaut war. Es ist ein alter Geheimgang zum Hafen, aus dem dieser Dreckshund kam. Morglas, Kerem und Petar sind dort. Wir haben beschlossen, vor morgen nichts weiter zu unternehmen.“

    „Wo sind die anderen?“ An der Art, wie die beiden schwiegen, merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Tonio blickte aus dem Fenster, Ombhau´ sah Gero kurz an, dann in den Kamin, dann zwang er sich wieder, Gero anzusehen. Es fiel ihm sichtlich schwer, und er wirkte dünn im Gesicht. „John ist tot.“ Seine Stimme war ein tiefes Grollen.
    Gero schwieg betroffen, erinnerte sich, wie er John an der zerstörten Barrikade hatte liegen sehen. „Ist er dort gestorben, im Palast?“
    „Ja. Er war sofort tot. Die Bestie hat ihn aufgerissen, zwischen zwei ihrer Mäuler, nur deshalb hatte Morglas Zeit genug, die Armbrust abzuschießen. Für John kam das zu spät.“
    Gero fühlte sich schwindlig. Er sah aus dem Fenster auf die dunkle Straße und erinnerte sich an Johns Gesicht, an die gemeinsamen Kämpfe mit ihm.
    Es war in diesem Moment, dass er anfing, den fremden König zu hassen, seinen Überfall auf diese Insel, diese ganze unerklärliche Zerstörung. Bisher hatte er es wie einen Schicksalsschlag ertragen, wie ein Unwetter oder eine Missernte, und immer nur darauf reagiert, versucht, das beste aus der üblen Situation zu machen und die übrig gebliebenen Leute zu schützen.
    Plötzlich sah er den Fremden als agierende Person, wollte verstehen, was ihn trieb und vor allem – das beenden. Er sah ihn als seinen persönlichen Feind an und erklärte ihm den Krieg, den dieser wahrscheinlich längst woanders hin trug. Er stand eine Weile reglos und die Zeit verrann, ohne dass einer der anderen etwas sagte.

    „Was ist mit Euch?“ Er sah Tonio an. „Was ist mit Deinem Auge?“
    „Kann sein, dass es hin ist. Hab mit dem Gesicht gebremst, ich war nicht ganz bei mir, als mich das Monster über die Mauer schickte. Das entscheidet sich die nächsten Tage... es ist noch da, falls Du das meinst.“
    Gero blickte zu Ombhau´. „Und Du?“
    „Der Arm ist gebrochen. Ich bin geradewegs in einen Webrahmen geflogen – das meiste davon ist jetzt Brennholz. Es gibt eine Frau, die mich richtig hasst seit heute Nacht, dabei hab ich sie nicht angefasst, ich schwör´s Dir.“ Er versuchte zu grinsen, aber es misslang. Er wirkte fahrig und Gero wusste, dass Ombhau´s Gedanken bei John waren.

    „Und Tobar? Das Ungetüm hat ihn am Wall niedergerannt.“
    „Seine linke Seite sieht so aus wie mein Gesicht, aber er lebt. Aber eine der Stadtwachen ist gestorben. Der die zweite Pfote gelähmt hat, er ist verblutet. Die Stadtbewohner wollen ihn und John morgen Abend begraben.“
    Sie schwiegen. Dann sprach Ombhau´: „Du und der junge Paladin, ihr seid die Helden der Stadt. Er hat Dich unter dem gefallenen Höllentier herausgeschnitten, und dabei wohl festgestellt, dass man das Fleisch des Viechs essen kann. Daraufhin hat er alle Frauen der Stadt zusammengetrommelt, und sie werden wahrscheinlich die nächsten drei Tage lang Fleisch einkochen. Bis an ihr Lebensende werden sie ihren Enkeln vom hundertzwölften-Rezept-gesottenen-Hund-zuzubereiten erzählen, aber es wird wahrscheinlich niemand verhungern bis zur nächsten Ernte.“

    Und das waren wohl die besten Neuigkeiten. Gero ließ Tonio und Ombhau´ zurück und ging in den Palast, nach den anderen sehen. Sie beglückwünschten ihn. Es war alles ruhig. Danach suchte er den jungen Paladin im Hof der Paladine, aber er fand nur Tobar – schlafend – und schlich sich wieder fort.
    Bei Morglas wusch er das Hundeblut aus seinem Gewand, dann hängte er es vor den Kamin und ging schlafen.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (29.10.2009 um 23:26 Uhr)

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    Seher

    Nachdem Jaru gegangen war, tauchte plötzlich Ajannas Kopf im Gebälk der Klause auf, wo sie unter einem leeren Sack ruhig wie ein Heubündel gelegen hatte, um bei dem Treffen dabei zu sein. Sie rutschte an einem Balken hinunter, die Füße rechts und links der Seiten eingestemmt, glitt zu einem Fenster und sah ihm nach.
    Amara spottete über ihr Interesse an Jaru. Ajanna blieb ruhig. „Er ist ein Dogan“, murmelte sie leise.
    „Was ist das?“ wollte Nela wissen. Marlan zog die Brauen hoch und sah Ajanna erwartungsvoll an. „Einer, der Dinge weiß, die noch nicht geschehen sind. Einer der träumt, was sein kann, oder was früher war. Mein Onkel ist ein Dogan. Er will mich ausbilden, wenn sein Sohn geheiratet hat.“ Sie sah die Frauen ruhig an.
    „Träumst du auch manchmal so etwas?“ fragte Nela.
    „Ich habe Dich gesehen, bevor ich Dich traf. Du standest am Meer und suchtest in Deinem Geist einen Mann. Er war unser Feind, aber Dein Schicksalsbruder. Du wolltest spüren, wo er ist, um ihn zu treffen.“

    Nela verlor alle Farbe. Sie stand reglos, schien selbst das Atmen vergessen zu haben. Die anderen Frauen um sie herum erstarrten wie Säulen. Amara berührte ein Amulett an ihrem Hals. Marlan blickte Nela an, als könne sie durch ihre Haut hindurchsehen.
    Nela schloss die Augen. Etwas Farbe kehrte in ihr sonnengebräuntes Gesicht unter der geflochtenen Krone ihrer Haare zurück. Sie atmete tief ein, dann schlug sie die Augen wieder auf, zupfte mit ihrer rechten Hand an ihrem Ohrläppchen, wie ein Mädchen.
    „Es muss wahr sein. Ich träume dasselbe. Jede Nacht, bevor ich richtig einschlafe, seit dem Tag, als ich wusste, dass ich mit Gero schwanger war.“

    „Wer ist der Mann?“ fragte Marlan.
    „Geros Vater. Als ich ihn wirklich traf, war er ein normaler Mann, ein Krieger. Er war es, der mir Bauernmaid Lesen und Schreiben beibrachte.“ Sie lachte etwas über sich, verlegen. „Aber er war rastlos, er hatte kein inneres Ziel, hetzte von einer Aufgabe zur anderen. Er war ganz heimatlos, hier, im Herzen, aber als ich das begriff, war es zu spät für mich, und Gero war unterwegs. Aber immer, wenn ich seither an ihn zurückdachte, erschien es mir, als habe ich damals nicht alles gesehen.“
    „Und Du träumst dasselbe wie Ajanna, dass Du am Meer stehst, und ihn wiedertreffen willst?“
    Nela blickte in Marlans Augen, und Marlan fühlte sich, als zöge sie ein Sog in diese graue Weite – grau, wie die Gischt. Dann plötzlich war sie aus dem Fokus entlassen, und Nela sah weit über sie hinaus, auf irgendeinen Punkt hinter ihr, der ihr verborgen war.
    „Ich träume, dass ich mich entscheiden muss – zwischen ihm und Gero. Und dass ich schon andere Kinder geboren habe, aber alle sind vor mir gestorben, weil ich mich nicht entschließen konnte. Und dass die Wahl auch mein Leben betrifft – oder besser: meinen Tod.“

    Keine fand darauf eine Antwort. Es dauerte Minuten, bis der Bann gebrochen war, und sie über Marlans Abreise sprachen. Nela war wieder wie immer, aber sie war nie gewesen wie eine andere Frau, die Marlan kannte.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (18.12.2009 um 18:04 Uhr)

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    Das Buch

    Marlan stand vor ihrem Bruder, um sich zu verabschieden. Am nächsten Morgen wollte Tasso wieder mit der „Alca“ in See stechen. Ihre Abreise hatte sich verzögert, weil ein Trupp Paladine mit einem großen Baumstamm und neuen Heilpflanzen aus dem Wald zurückgekommen war, und Tasso sie bat, ihnen einen neuen Vorrat an Heiltränken zu brauen. Der Baumstamm sollte als Reservemast dienen.
    Schon vorher hatte sie im Dorf einen Schneider gesucht, um Gowan neue Kleidung zu besorgen, da seine alte von dem Feuer, das ihn getroffen hatte, verdorben war. Sie bestellte zwei Hosen und Tuniken und behielt jeweils eine für sich.

    In der Zeit, die sie warten musste, bis die Kleidung genäht war, vertiefte sie sich in den Brief und das Buch, die Jaru vor der alten Festung im Süden gefunden hatte. Sie war nicht mehr geübt in der Grammatik der alten Sprache, mehr vertraut mit den Begriffen, die benutzt wurden, um magische Phänomene oder das Denken zu beschreiben und sie kam nur mühsam vorwärts. Es gab wohl einen Wächter, der eine wichtige Funktion zu haben schien beim Einlass, und die Rede war davon, dass jemand „von derselben Substanz“ sein musste, wie dieser, um eingelassen zu werden.
    Marlan, die sich erinnerte, wie Jaru von einer großen geflügelten Gestalt erzählte, wurde das Herz schwer. Sie hatte noch nie einen Flügel an sich entdecken können und wunderte sich, was ihr diese Information nützen würde. Und ob sich die Prüfung durch den Wächter nur auf die Ähnlichkeit dieser „Substanz“ bezog, oder ob es noch eine weitere gab, war ihr ebenfalls nicht klar. Aber sie vermutete, dass der Brunnen auf der Insel in der Grotte mit dem grauen Sand der Zugang sein könnte. Sie musste sich also auch dagegen wappnen, gegen die Orks zu kämpfen – falls sie noch dort waren.
    In dem Buch in dem fremden Alphabet war eine Zeichnung von zwei Drachen, die miteinander kämpften, und ein Plan eines Labyrinth-Baus auf einer Insel. Aber sie erkannte den Umriss nicht. Ein Teil des umgebenden Meeres war aufgewühlt gezeichnet, mit einer Strömung von der Insel weg, und der Rest starrte vor Felsspitzen, die aus dem Wasser ragten. Sie hatte das Buch Tasso gezeigt, auf einer Seite ohne Zeichnung, und ihn gefragt, ob er die Schrift lesen könne, aber er verneinte und kannte auch niemanden, der das vermochte.
    Sie überlegte, ob es sinnvoll sein könnte, Mikal vorher zu befreien und zu befragen, aber dann hatte sie ihn am Hals, während sie in die Festung ging, und das erschien ihr riskant. Apropos Mikal – sie suchte den Schmied der Alca auf und bat ihn um einen kleinen Gefallen. Er war einer von denen, die sie geheilt hatte und half ihr gerne. Wenig später schloss sich ihre Hand um einen noch warmen Schlüssel, hergestellt nach ihren Anweisungen unter zu Hilfenahme ihrer verbogenen Haarnadeln.

    Und nun stand sie vor Gowan und umarmte ihn. Kurze Zeit vorher hatte sie ihm leise von Irletias Rettung erzählt, und dass sie ein Frauenkloster gründen wollte. Er gab ihr einen Stein, der aussah wie ein Fisch, und der so leicht war, dass er schwamm. Er hatte ihn eines Tages am Strand gefunden. Sie schenkte ihm seine neuen Kleider und den Gürtel, den sie im Kloster mitgenommen hatte.

    Dann suchte sie Tasso in seiner Kajüte auf. Er stand am Fenster, rief hinaus zu seinen Leuten. Auf dem Tisch lagen Karten. Und auf einer war eine Insel eingezeichnet, mit demselben Grundriss, wie in dem Buch. Auf Tassos Karte lag sie ein Stück südöstlich der Insel, auf der sie sich befanden, und im Meer dazwischen waren dieselben Felsspitzen eingezeichnet und ein großer Strudel, der alles Wasser vor der Insel in seine Richtung zog. Marlan starrte auf die Karte, und versuchte, sich das Gezeichnete ins Gedächtnis einzubrennen, dass sie es nie vergäße. Tasso trat leise neben sie, sie hörte nur ein leises Klirren eines metallischen Rüstungsverschlusses. Ihre Haare stellten sich auf – er wäre ein gefährlicher Feind, falls es je zum Kampf käme.
    Aber er lächelte sie an und wies auf die Karte: „Ich wollte Dir davon erzählen, bevor Du gehst. Diese Insel ist unerreichbar für normale Schiffe. Die Orks kennen sie, sie befahren die Fahrrinne mit der starken Strömung mit doppelter Besatzung an den Rudern. Die „Alca“ könnte sie erreichen, unter bestimmten Windverhältnissen. Als mir klar wurde, dass die meisten Magier dieser Insel wahrscheinlich verschleppt wurden, dachte ich, jemand könnte das Ziel haben, die Insel auf magischem Weg zu erreichen, über Telekinese.“
    „Warum sollte jemand das wollen? Was ist auf der Insel?“
    „Es gibt eine alte Prophezeiung. Ein bestimmter Fluch kann dort aufgehoben werden.“
    „Was ist das für ein Fluch?“
    „Ich weiß es nicht. Ireg hatte etwas erfahren, von einem ehemaligen Piraten. Er wollte ihn uns schicken, damit er uns davon erzählt. Aber er kam nie an, und ich vermute, dass er bei der Invasion der Stadt getötet wurde.“
    Da zeigte sie ihm das Buch, diesmal mit den Zeichnungen. Er nahm ein Pergament und eine Feder, und zeichnete den Plan des Labyrinths schnell und sauber ab. Als er die beiden Drachen sah, schüttelte er nur den Kopf. Marlan sah ihn fragend an, und er zuckte mit den Schultern.
    „Seit den Ereignissen auf Khorinis wissen wir, dass dort Drachen waren, aber ich kann es selbst jetzt kaum glauben. Als die Menschen den Innos-Glauben verbreiteten, wurden sie immun gegen die Anfechtungen durch dergleichen Gewürm, dachte ich.“

    Marlan, die Ähnliches glaubte, fühlte sich plötzlich wohl in seiner Gegenwart. Einen kurzen Moment ließ sie zu, dass das Gefühl zu ihm abstrahlte, dann verabschiedete sie sich. Er begleitete sie bis an die Planke zur Kaimauer.

    Gothic Girlie
    Geändert von Gothic Girlie (30.08.2012 um 09:14 Uhr)

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