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    Halbgott Avatar von Oblomow
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    Post [Story] Müll

    Vorgeschichte

    Hörbuchversion: http://upload.worldofplayers.de/file...t (13).wma.MP3

    Mehrere hundert Jahre waren vergangen, seit der Held die Insel Khorinis zum letzten Mal verlassen hatte. Viel war passiert, viel hatte sich geändert. So war auch die Erzförderung schon seit langer Zeit wegen Unproduktivität eingestellt worden. Durch die Besiedlung durch die Orks hatte sich zudem eine weltoffene Gesellschaft gebildet, in der die Götter, welche als Symbole der Spaltung der Völker angesehen wurden, wie auch die Feuermagier, keinen Platz mehr hatten. Die Geschichten von einst gerieten in Vergessenheit und mit ihnen auch das Wissen um die Magie, die so lange Zeit die Macht über die Welt bedeutet hatte. Technik hatte ihren Platz gleichwertig eingenommen. Zwei Fabriken, die Kleider und Möbel produzierten, versorgten die einfache Bevölkerung, welche in der Metropole Khorinis, mit ihren Hochhäusern und ihren am Rand stehenden Villen lebte, mit Arbeit. Die Landwirtschaft hingegen war fast vollkommen ausgerottet, wenn man von Bengars Hof absah, welcher jedoch nur noch zur Landschaftsgärtnerei vorhanden war. Khorinis wurde fast ausschließlich durch Importe aus aller Herren Länder versorgt, welche für teures Geld in den Supermärkten angeboten wurden. Doch abgesehen von den Firmen hatte sich Khorinis als El Dorado der Tourismusbranche herausgestellt. Täglich strömten die Besuchermassen an eigens angelegte Strände, in die Hotels, aus den Hotels und auf die Schiffe für Rundfahrten, welche an dem kilometerlangen Kai am Hochseehafen anlegten. Goldene Zeiten waren dies, noch goldiger als zu den damaligen Zeiten der Erzhandelshochkonjunktur und so war es auch nicht verwunderlich, dass man die einst fast schon mythischen Plätze wie die Schatzinsel der Diebesgilde mit ihrer Höhle zum Hotel Räuberhöhle mit Freilandgehegen, in denen Warane und Hasen lebten umgewandelt hatte. Alles für die zahlende Kundschaft.

    Doch es gab auch Schattenseiten auf dem, laut Reiseführern, „Paradies auf Erden“. So hatte die Natur doch äußerst stark leiden müssen. Die Kanalisation war noch immer so primitiv wie eh und je, nur , dass der Austritt nun einige Meilen vor der Küste lag. Das Minental war fast vollständig abgeholzt worden für Häuser und sonstiges und nicht zuletzt war die einst ehrwürdige, schwarze Insel Irdorath, die einst den Reisenden Nackenschauer bei ihrem Anblick verschaffte zu einer dreckigen Mülldeponie umgewandelt worden, nachdem man hatte feststellen müssen, dass aufgrund aller Fallen, dieser Ort nicht als Touristenziel zu gebrauchen war. Was einst der große Graben mit der Zugbrücke gewesen war, war inzwischen eine mit Pappbechern, Konserven und PET-Flaschen vollgestopfte ebene Fläche. Giftmüll war dort auch zu vermuten, doch beweisen konnte dies niemand. Auch außerhalb war inzwischen Müll abgeladen worden. So war die Insel längst schon auf das dreifache ihrer ursprünglichen Größe angeschwollen und täglich wuchs sie weiter bis zum Jahresende an, an welchem ein großer Teil von ihr von den leicht pyromanisch veranlagten Müllmänern verbrannt wurde und der giftige Qualm den Himmel für einige Tage verdunkelte. In dieser Zeit war die Insel dann für Tourismus gesperrt, denn obgleich jeder wusste, wie man auf Khorinis das Müllproblem behandelte, wollte man dies niemandem zumuten. Erst wenn wieder eine Insel ohne Probleme und schwarzen Himmel und überhaupt in einem ganz und gar perfekten Zustand da war. Doch niemand auf Khorinis ahnte, dass Beliar - totgesagt, doch immer noch lebendig - auf Rache sann für die Schändung seines Tempels und Khorinis bald die Rechnung für seine Taten würde zahlen müssen.
    Geändert von MiMo (30.03.2017 um 21:34 Uhr)

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    Kapitel 1

    Hörbuchversion: http://upload.worldofplayers.de/file...t (14).wma.MP3

    Kargal lief an der Küste der Diebesinsel entlang. Der Wind wehte ein bisschen und trieb den salzigen Geruch in seine Nase, während die untergehende Sonne ihr Licht auf die drei Limonadengläser, welche er auf einem silbernen Tablett zu den Gästen am Strand trug, schien und die letzten Sommergefühle des Jahres aufkommen ließ. Kargal wusste dabei nicht, ob er sich darüber freuen sollte, da bald die ganze Insel wieder gesperrt und er seinen wohl verdienten Urlaub antreten konnte, oder ob er das Ende des Sommers bedauern musste, da bald wieder der Himmel dunkel und die ganze Stadt nach Müll stinken würde. Leicht verträumt trat er von der Promenade auf den von der Sonne aufgeheizten Sandstrand, wobei die Limonade gleichmäßig in ihren Gläsern hin- und herschwappte. Als er kurz vor einem der Liegestühle angekommen war fasste er sich schließlich wieder und setzte seinen höflich fachmännischen Blick wieder auf, um dem fetten Touristen, dessen Bauch vom Sonnenöl glänzte, seine Limonade zu reichen. Er schaute etwas an dessen Körper herunter und konnte sich ein Aufsteigen von Ekel nicht verkneifen. Er verabscheute all diese Großstadtbonzen, die sich wie Piranhas auf eine Kuh auf Khorinis stürzten, um hier ein paar Tage den großen Massa heraushängen zu lassen und sich in der Sonne zu aalen. Kargal musste sich dabei immer unwillkürlich an die Geschichten seines Großvaters erinnern, welcher ihm einst von den alten Tagen von Khorinis erzählt hatte. Damals hatte er noch glänzende Augen davon bekommen, heute vergoss er, wenn er daran dachte, in welchem Khorinis er tatsächlich aufgewachsen war, Tränen der Wut. Doch was sollte er machen, immerhin lebte er von den vollgefressenen Gästen von Khorinis und dies war ihm letzten Endes wichtiger als die Reinheit einer leblosen Insel. Er gab dem Gast die Limo in die Hand, welcher daraufhin mit einem typischen Urlaubergrinsen das Geld für die Limo plus ein paar Zerquetschte als Trinkgeld aus seinen Shorttaschen hervorholte. Kargal bedankte sich höflich und ging weiter zur nächsten Gestalt, die auf die Bedienung durch ihn wartete. Dabei ahnte er nicht, dass die folgenden Minuten sein Leben ein für allemal komplett verändern sollten.

    Im gewohnten Schritt ging er auf den Herren zu, der sich in seinen Strandkorb zurückgezogen hatte. „Immerhin keiner von diesen Bratwürsten!“, dachte sich Kargal insgeheim, während er vor den Korb trat. Er schaute auf das Gesicht des Gastes, um zu sehen, mit wem er es diesmal zu tun hatte und musste kurz innehalten. Ein Mann, der beim schönsten Wetter, das diese Insel zu bieten hatte, mit einer Robe aus schwarzem und violetten Stoff bekleidet war, starrte ihm in sein Gesicht. Kargals Augen weiteten sich bei diesem Anblick, doch er versuchte normal seine Arbeit zu verrichten. Er reichte dem Fremden die bestellte Orangenlimonade und machte sich schnell daran, von dieser unheimlichen Person fortzukommen. Doch diese packte ihn eilig an der Schulter, dass Kargal überrascht einen piepsigen Schrei von sich gab. Der Fremde drehte ihn währenddessen schon wieder mit einer fast übermenschlichen Kraft zu sich herum. Und während Kargal noch nicht wusste, wie ihm geschah hatte der Gast seinen linken Zeigefinger auf Kargals Stirn gesetzt. Ein Moment völliger Ruhe entstand. Nur das Rauschen des Meeres war noch zu hören. Dann setzte der Gast seinen Finger wieder ab, während Kargal regungslos vor ihm stand. Für einen kurzen Moment hatte er den Eindruck gehabt, als ob jemand seine Gedanken durchwühlt hatte, doch so etwas gab es bestenfalls in den alten Sagen. Er wollte wieder fortgehen, doch der Unbekannte erhob seine tiefe Stimme, welche ihn unweigerlich an diesen fesselte. „Du bist der, den ich gesucht habe!“, tönte es aus der Schwärze der Kapuze heraus. „Du weißt noch von den Göttern und du weißt, dass sie und diese Insel geschändet wurden, nur um des schnöden Mammons Willen, dem sie wie dumme Schafe hinterherlaufen.“ Kargal blickte geschockt auf den Fremden. Noch nie hatte jemand seine Gedanken so gut zum Ausdruck gebracht, nicht einmal er selbst. Er wollte zum Reden ansetzen, doch er wurde von dem Fremden unterbrochen. „Hör mich an, Bursche! Du allein wirst die Welt wieder in ihre angestammten Angeln heben und die Menschen für ihre naive Ader strafen. Morgen wird ein Platz auf Irdorath frei werden, nimm ihn an und begib dich dort hin, in die heiligen Hallen, dort wirst du mich wieder sehen." Kargal musste kurz die Augen zukneifen. Zu unglaubwürdig schien ihm die Realität. Zu wirr und doch zu klar war das Gesprochene für ihn gewesen. Als er seine Lieder wieder nach oben zog, war die Gestalt verschwunden und das Geld für die Limo lag herrenlos auf dem Liegestuhl. Kargal hob es wortlos auf und schaute es musternd an...und er wusste nichts.
    Geändert von Oblomow (21.08.2013 um 23:31 Uhr)

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    Kapitel 2

    Hörbuchversion: http://upload.worldofplayers.de/file...t (15).wma.MP3

    Mervel saß ruhig in seiner hölzernen Baracke und biss von seinem Käsebrot ab. Hinter ihm tropfte etwas Wasser durch das undichte Dach in seinen Raum, wo es von umherliegenden Pornozeitschriften begierig aufgesogen wurde. Neben ihnen stand eine kleine Pritsche mit Stahlgestell und einer leicht verschimmelten Matratze darauf und wäre Mervel nicht in dem Raum gesessen, so hätte man leicht daran denken können, dass hier schon lange niemand mehr lebte. Doch Mervel selbst fand es heimelig genug in seiner Behausung. Er hatte alles was er brauchte und mehr wollte er auch nicht. Abgesehen von der alljährlichen Müllverbrennung, die jetzt schon immerwährend durch seine Gedanken zog. Er erinnerte sich noch zurück an das letzte Jahr, in dem die Flammen, seinen rechten Fuß verbrannt hatten, als er zu nah an das Feuer kam. Er spürte nun wieder die Feuersbrunst in sich lodern und er wusste, dass er sich auch dieses Mal wieder nicht zurückhalten würde können, während er langsam seine Zeitung von Vorgestern umblätterte. Auf Seite 3 wurde in fetten Lettern dazu aufgerufen, die letzten Tage vor Schließung in vollen Zügen zu genießen. Das einzige Mal im Jahr, in dem der Schmutzfleck Irdorath überhaupt erwähnt wurde, wenn auch nur indirekt. Auf der Seite nebenan waren einige Bilder von dem khorinschen Erlebnisbad und dem U-Boot mit dem man in „ungeahnte Tiefen“ vordringen konnte. „Was für Quatschköpfe.“, murmelte Mervel und aß den letzten Biss von seinem Brot um daraufhin seine schwieligen Hände an seiner Arbeitshose „ sauber“ zu reiben und mit einem lauten Quietschen des schäbigen Stuhls, seinen verschwitzten Körper zu erheben. Er warf sich sein Ölzeug über und verließ seine Baracke. Ein Geruch von Verwesung trat ihm in seine Nasenflügel und begierig sog er die Luft seiner Heimat ein. Achtlos warf er die Zeitung in den nächsten Müllberg und stapfte danach zu der Anlegestelle der Insel um das tägliche Müllschiff an den richtigen Ort zu weisen. Vereinzelt trat er dabei durch Rattenkot, welcher jedoch bereits an der nächsten Chipstüte wieder von seinen Stiefeln abgestreift wurde. Dosen knirschten unter ihm, während er sich den Müllhang hinaufquälte, der seine Behausung von der Anlegestelle trennte. Der Regen prasselte dabei auf seine gelbe Kleidung und versickerte unter ihm im Müll, um irgendwo am Boden zu einer schwarzen, giftigen Brühe zu werden und in das weite Meer zu rinnen. Mervel war inzwischen oben angekommen und schaute hinunter auf die kleine Müllbucht, in der bereits der kleine Frachter lag. Er rutschte eilig den Hang hinab, bis er direkt am Wasser war. Der Kapitän des Schiffes hatte dies wie immer mit weit geöffneten Augen beobachtet. Für ihn war Mervel schon immer ein Phänomen gewesen, wie er immer ohne Verletzung durch die scharfen Konservenkanten kommen konnte. Zu tun haben mit ihm wollte er mit diesem unreinen Menschen jedoch trotzdem nichts.

    Mervel ging ohne auf ihn zu achten auf seine Kollegen Kyle und Zaylan zu, die bereits ungeduldig und mit jeweils einer Kippe in ihren Mündern auf ihn vor dem eisernen Bug warteten. „Scheiße, du kommst auch immer später Mervel“, begrüßte Zaylan ihn, was Mervel schnell mit einem netten „Halts Maul“ quittierte. „So, wo haben wir denn noch Platz?“, fragte er mehr an sich, als an die Runde gestellt und beantwortete diese Frage dann auch sogleich für alle, indem er den gegenüberliegenden Hügel dafür auserkor. „Kyle, sag dem Kapitän Bescheid, Zaylan, hol den Bagger her!“, gab er laut die Anweisungen an die beiden. „Ich werde mich als Lotse hinstellen.“
    Alles setzte sich wie immer schnell in Bewegung, denn alle hatten diesen Vorgang schon an die hundert Mal ausgeführt. Mervel lief schnellen Schrittes an die richtige Stelle und der Kapitän fuhr langsam mit seinem Frachter in der Bucht zurück. Alles schien ohne Komplikationen abzulaufen, bis plötzlich ein lauter Schrei die Szene erfüllte. Mervel drehte schnell seinen Kopf in Richtung des Geräuschs. „Was macht dieser Zaylan nur wieder?“, grummelte Mervel wütend und rannte schnell auf die Erhöhung vor dem Gerätelager, nur um die Szenerie des Grauens, die ihn dort erwartete zu erblicken. „Oh v...“, setzte er zum Reden an, als er endlich freie Sicht auf das Gelände dahinter hatte, doch das Wort blieb ihm wie ein Kloß im Halse stecken. Vor dem Bagger lag Zaylan tot niedergestreckt, während ein riesiges Rudel Ratten ihm Stück für Stück das Fleisch von den Knochen riss. Mervel stand immer noch stumm auf der kleinen Kuppe, denn was er sah, konnte er weder glauben, noch fassen. Nie in all seinen Jahren war auch nur etwas ähnliches geschehen, nicht einmal Rattenbisse hatte es gegeben. Inzwischen war auch Kyle auf dem Hügel angekommen und starrte ebenso auf das, was dort lag und während er noch so dastand, kam Mervel wieder zum Reden. „Kyle, sag dem Käpt’n, dass wir einen neuen Mann brauchen.“, gab er die letzte Anweisung des Tages. Vor dem Bagger hatten die Ratten inzwischen ihr Mahl beendet und zogen quiekend in ihre Löcher zurück und nur noch ein paar gespaltene Knochen zeugten von dem Müllmann der an diesem Tage sein Leben gelassen hatte.
    Geändert von Oblomow (21.08.2013 um 23:31 Uhr)

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    Kapitel 3

    Hörbuchversion: http://upload.worldofplayers.de/file...t (16).wma.MP3

    Es war tiefste Nacht in der Innenstadt von Khorinis geworden. Der Mond schien in einem leichten Dämmerlicht von oben auf die Hochhäuser, in denen die hart arbeitende Bevölkerung sich von ihren Strapazen zu erholen suchte, während von unten die blinkenden Lichter der Kasinos und Bars auf die Fenster dunkler Zimmer strahlten und die Vorhänge verspotteten, indem sie die Dunkelheit aus den letzten Winkeln jeder Wohnung prügelten. Ein paar Tauben gurrten auf den Balkonen, während sich unten auf den Straßen jemand erbrach, doch in einem kleinen Raum im 4. Stockwerk einer der Wolkenkratzer, wurden die Großstadtgeräusche übertönt. Das Knautschen einer durchgeschwitzten Decke klang durch den Raum, nur um sich eine Sekunde später zu wiederholen. Kargal wälzte sich aufgeregt umher, während in seinem Kopf die Worte des Fremden hallten, die ihn herrisch dazu aufforderten nach Irdorath zu gehen. „Das kann nicht sein.“, rief er plötzlich in das Nichts und wälzte sich wieder zur anderen Seite seines Bettes und darüber hinaus. Mit einem dumpfen Schlag, fiel Kargal aus seinem Bett, auf den dünnen, beigen, milbenverseuchten Teppichboden und schloss seine Augen auf. Er rieb sich langsam über seinen Kopf, an dem sich bereits die Vorhut der kommenden Beule bildete und musste nach wie vor an den Kerl in seiner Kutte denken. Langsam bewegte er seinen müden Körper in die Höhe und begann den Gang zu seinem Arzneischränkchen in seinem Bad. Dort angekommen, sprühte er sich etwas kühlendes Spray auf seinen Kopf. Seine glasigen Augen schauten in den Spiegel hinein und erkannten ihn selbst, in seinem mit Palmen geschmückten Schlafanzug. In der Mitte prangte der Schriftzug „Khorinis, heaven and more“. Unwillkürlich erinnerte er sich daran, wie er ihn vor sieben Jahren in einem der vielen Souvenirshops gekauft hatte, nur kurz nachdem er seinen Job angetreten hatte. Er wusste noch genau, wie er sich gefühlt hatte. Ein neues Lebensgefühl hatte ihn einst beseelt, das den Tourismus als Grundstein des perfekten Khorinis gesehen hatte. Einen Grundstein, mit dem es sich als Teil von diesem voll und ganz zu identifizieren galt. Er ärgerte sich über sich selbst. All seine Ansichten waren weggespült worden und vor seinen Augen stand nur noch das reißerische, hässliche Skelett dieser Industrie, welches die Insel verschlang und auskotzte, immer und immer wieder. Wut stieg in ihm hoch, hatte er doch selbst miterleben müssen, wie sie die altehrwürdige Burg des ehemaligen Minentals in ein billiges Freudenhaus für Sextouristen umgewandelt hatten. Seine rechte Hand drückte dabei in die Spraydose hinein, als ob sie sie zerquetschen wollte. Kargal musste wieder an den Fremden denken. Was war, wenn wirklich etwas geändert werden konnte, durch ihn geändert werden konnte. Ein romantischer Traum stieg in Kargal hoch, in der er der Retter von Anstand, Sitte und der ganzen Insel war. Ein leichter Ansatz eines Lächelns zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Er musterte sich noch einmal in dem Spiegel, in dem er sich selbst mit offenen, wachen Augen sah und er wusste, was zu tun war. Achtlos warf er seine Dose weg, die klimpernd in der Badewanne landete. Den Schmerz seiner Beule ignorierend ging er zurück in sein Zimmer und warf sich eilig ein paar Sachen über, die noch vom Vortag auf dem Boden lagen und stürmte aus seinem Zimmer in den Treppenschacht und wenig später aus seinem Wohngebäude, dass er ein für allemal verlassen sollte. Klackernd trafen seine Schuhe den harten Asphalt des Gehweges, an dessen Rand die letzten Schnapsleichen des Tages herumlagen. Tief atmend erreichte er schließlich den Hochseehafen. Er schaute in die dunkle Nacht, welche nur durch die schwachen Lichter der Laternen durchbrochen wurde. Er drehte seinen Kopf nach links und nach rechts. Nichts war da und nichts geschah, was bei Nacht auch nicht verwunderlich war. Kargal sog die salzige Luft des Meeres tief in seine Lungen ein. Er wusste nicht mehr, warum er ausgerechnet bei Nacht zum Hafen gegangen war. Zurück gehen wollte er allerdings auch nicht mehr, also ließ er sich an einem der vielen Container nieder und während Kargal auf den Horizont starrte, um den ersten Sonnenstrahl des Tages zu begrüßen, huschte ein dunkler Schatten durch die Containerstadt des Hafens, bis er in einer kleinen Ecke plötzlich verschwand, als hätte es ihn nie gegeben.
    Geändert von Oblomow (21.08.2013 um 23:31 Uhr)

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    Kapitel 4

    Hörbuchversion: http://upload.worldofplayers.de/file...t (17).wma.MP3

    Einsam hallten die Motorengeräusche der MS Gomorrha durch die dunkle Nacht. Abgerundet wurden sie dabei von dem leichten Brausen des von der Schiffsschraube aufgescheuchten Meerwassers. Rostflecken zierten das alte Schiff, welches nun schon seit 20 Jahren zwischen Irdorath und Khorinis verkehrte und man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass der Name wie die Faust aufs Auge passte. Ein schummriges Licht drang aus dem Steuerraum in die Dunkelheit. In ihm hielt ein einzelner Mann mit schlaffer linker Hand das Schiff auf Kurs in Richtung Khorinis. In seiner Rechten hielt er eine qualmende Pfeife, in welcher die letzten Reste Tabak in Qualm aufgingen. Der Mann sog nochmal den weißen Rauch aus ihr in seine Lungen und legte sie danach auf den Armaturen vor sich ab. Seine Augen warfen einen leeren Blick auf die tiefschwarzen Wellen, die vor ihm hin-und her wogten. Seit dem Beginn seiner Arbeit, nachdem ihm seine von Herzen geliebte Frau aus den Fingern in die weite Welt weg von ihm geglitten war, hatte Milket mit den 3 Müllmännern zu tun gehabt. Mehr war zwar nie gewesen, denn er selbst hatte nicht ein einziges Mal überhaupt sein Schiff verlassen, aber trotzdem hatten sie für ihn etwas dargestellt, das fast noch beständiger als das Meer schien, wie es auch damals noch seine Ehe gewesen war. Doch dieses Meer war nun wie Badewasser durch den Abfluss entschwunden. Er musste sich unwillkürlich wieder an die Monate nach seinem Verlust erinnern, in denen sein Lebensglück durch die abgerissenen Finger geronnen war. Wehmut kam in ihm auf. Wehmut, die einem verlorenen Halt nachtrauerte, der ihn stets selbst aufrecht erhalten hatte. Alles würde sich wieder ändern, das wusste er, doch er hatte nicht die geringste Ahnung, wie. Er sog die Luft um ihn herum tief in seine Lungen ein und schaute auf die immer näher kommenden Lichter von Khorinis die blitzartig von gelb zu rot und wieder zurück wechselten. Bald würde er wieder zu Hause sein und seinen verdienten Schlaf bekommen, in welchem er nun wohl erneut von den alten Zeiten träumen würde, bis ihn seine eigenen Tränen aufweckten. Und während in ihm die alten Wunden wieder aufplatzten, schloss er selbst die Augen um in sich zu kehren, doch als er sie wieder öffnete bemerkte er es nicht einmal. Völlige Schwärze umgab ihn vom einen auf den anderen Moment. Die Armaturen waren ein Wust aus Schwarz und die Stadt, welche er eben noch klar vor seinen Augen hatte schien wie vom Erdboden getilgt zu sein. Er fühlte die Blicke eines einzelnen Augenpaares in seinem Nacken, die ihn fast zu gefrieren drohten, doch er machte keinerlei Anstalten sein Gesicht dem Gast zuzuwenden. „Was willst du von mir?“, fragte er den unbekannten Gast stattdessen wie einen alten geliebten und gehassten Bekannten. „Dir sagen, dass dein Schmerz schon bald sein endgültiges Ende gefunden haben wird, Menschling.“, kam es als Antwort aus dem Mund des Fremden, in einem Klang, den weder Mensch noch Tier zu beherrschen vermochten. „Das hast du schon vor 20 Jahren versprochen, elender Stiefellecker deines niederträchtigen Gottes.“, warf Milket zornig zurück, nachdem er sich zuvor zu der Gestalt umgewandt hatte. „Und nun schau mich an! Mein Schmerz ist nicht erloschen, meine Gefühle wieder stärker denn je und meine Trauer neu erweckt durch die Kreaturen deines Herrn.“ Mit rotem Gesicht endete er, doch die schwarze Kapuze, in welche er hineinschaute, ließ keine Reaktion auf seine hindurch. Eine kleine Pause entstand, in der kein Geräusch die Trommelfelle schwingen ließ, bis der Fremde wieder seine Stimme an diesen bersten ließ. „Narr, hast du dich nie gefragt, weshalb du armer Wicht auf dieses Schiff gesetzt wurdest?“ , begann die dunkle Gestalt in herrischem Ton zu reden. Milket wollte eine zaghafte Antwort geben, doch wurde dabei sogleich unterbrochen. „Am Hafen wirst du eine Person treffen, die sich um Arbeit auf der Insel bewerben wird. Fahre sie bis zum Morgengrauen zu ihrem Ziel und dein Grauen wird ein Ende finden.“ Milket wollte wieder etwas sagen, doch auch diesmal kam er nicht dazu. Der Fremde verschwand wie er gekommen war und die Dunkelheit zerbrach wie ein Spiegel vor Milkets Augen. Vor ihm lag wieder das wogende Meer und etwas weiter am Horizont Khorinis. Mit großen Augen starrte er auf seine Steuergeräte, welche gülden im Mondlicht glänzten. Mit hartem Griff schaltete er den Motor auf maximale Leistung.
    Geändert von Oblomow (26.07.2009 um 16:37 Uhr)

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    Kapitel 5

    Hörbuchversion: http://upload.worldofplayers.de/files4/Film_0002.wmv

    Milchige Streifen durchzogen den schwarzen Nachthimmel, von welchem der Mond blässlich auf Khorinis niederstrahlte und Kargal, der immer noch an einem der hundert Container angelehnt war, wie eine frische Leiche aussehen ließ. Stumm und still hatte er die letzten Stunden verharrt und stumm und still saß er auch jetzt noch da und ging dadurch eine nahezu perfekte Symbiose mit dem Hafen ein, an welchem nur das gleichmäßige Klatschen der Wellen gegen den Kai zu vernehmen war. In der Ferne krächzten zwar ein paar Möwen um den nahenden Morgen zu begrüßen und hin und wieder hörte man auch ein leises Tippeln von Ratten, doch die Geräusche klangen so, als ob sie aus einer anderen Welt gekommen wären und Kargal selbst hörte ohnehin nicht einmal das Meer, denn er war vollkommen fixiert auf eine einzelne Stelle über dem Wasser, von welcher er erwartete, dass sie der Erscheinungsort des einen Schiffes wäre, welches ihn möglicherweise von Khorinis wegbringen und ihn zu seiner scheinbar angedachten Bestimmung leiten würde. Doch noch war dort nichts zu sehen, außer der unscharfen Schnittstelle zwischen Himmel und Erde, die einsam den Blick auf eine andere Dimension freigab. Und trotzdem schaute er wie hypnotisiert weiter in die Ferne, ohne seine Lider dabei auch nur ein einziges Mal zu bewegen, obwohl er wusste, dass bis zum Morgengrauen dort nichts zu erwarten war oder zumindest nichts zu erwarten sein sollte. Doch er war zu erregt, etwas anderes tun zu können außer Atmen. Eine kühle Brise strich an seinen Wangen vorbei und kündigte den nahenden Herbst an. Kargals Augenlieder zuckten zusammen und in diesem einen Moment der Blindheit geschah es. An dem Ort, an dem Nichts sein sollte, war Etwas erschienen, so schnell und abrupt, als ob es von der Dunkelheit ausgespuckt worden wäre. Und als Kargal die Augen wieder öffnete sah auch er es. Es war ein kleines Licht in der Ferne, welches in jeder Sekunde größer zu werden schien und ihm direkt in seine Augen strahlte, als hätte es nur ihn fixiert. Kargal schob sich an dem rauen, roten Container hoch, wobei seine vom Sitzen betäubten Kniescheiben ein Knacken von sich gaben. In der Ferne sah Kargal nun ein Schiff, welches bräunlich im eigenen Licht schimmerte und sich Khorinis schnell näherte, sehr schnell. So schnell, dass es möglicherweise schneller war, als es die Regeln denn erlaubten. Da Kargal sich allerdings mit diesen nicht auskannte und speziell in dieser Nacht jedwedes Schiff nicht hätte schnell genug sein können, war ihm dies egal, wenn nicht sogar willkommen. Einige Minuten vergingen und der Motorenlärm schickte sich mehr und mehr an, die Herrschaft über die Geräuschkulisse an sich zu reißen. Der rostige Bug hatte inzwischen seine ganze Hässlichkeit zu erkennen gegeben und doch war Kargals Erregung nicht gewichen. Vielmehr mischten sich in ihm Glück und Spannung zu einer Mixtur, die seinen Körper regelrecht erbeben ließ. In einem kleinen Teil seines Gehirns liefen immer und immer wieder die Worte durch, mit welchen er sich für den Beruf als Müllmann zu bewerben gedachte und sie liefen noch immer, als das Schiff verlangsamte und mit einer Duftschwade, wie aus der Hölle, in den Hafen glitt. Still stand das Schiff nun vor Kargal, ohne dass sich auf ihm etwas regte. Keine Person betrat das verschmutzte Deck des kleinen Frachters und der Motor, welcher noch wenige Augenblicke zuvor lebendig gedröhnt hatte, war ausgeschaltet. Etwas Unbehagen bahnte sich seinen Weg zu Kargals Kopf, denn so sehr er auch von seinen eigenen Gedanken betört war, so seltsam kam ihm diese Situation nun vor, denn konnte es etwa normal sein, dass ein rostiges Schiff mitten in der Nacht anlegte und niemand da war, außer einer abgerissenen Person, die aus einer Laune heraus einfach an den Hafen gerannt und dort mehrere Stunden bewegungslos herum gesessen war? Kargal dachte gerade darüber nach, als eine Leiter über die Rehling geworfen wurde. Er zögerte kurz, doch schon einen Moment später hatte er seine Hände um die Sprossen geschlossen und kletterte an Bord. Kaum war dies geschehen heulte auch schon der Motor wieder auf. Kargal schaute sich um, doch noch immer war niemand zu sehen. Doch er wusste, dass es kein Zurück mehr geben würde. Brummend verließ die MS Gomorrha den khorinschen Hafen, so schnell, wie sie gekommen war. In der Ferne kreischten ein paar Möwen und Kargal hörte sie.
    Geändert von Oblomow (04.02.2010 um 19:48 Uhr)

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    Hörbuchversion: http://upload.worldofplayers.de/files4/hq2zcRfFilm.wmv

    Einsam stand Kargal auf dem Deck der MS Gomorrha. Der Wind pfiff ihm durch seine kurzen Haare, während aus dem Schiffsbauch bei jeder Welle der stählerne Klang von totem Metall herauf drang. Vor seinen Augen lag das blecherne Deck, welches vom trüben Licht des Mondes beschienen wurde. Nichts hatte sich gerührt, seit Kargal das Schiff betreten hatte. Einzig und allein die Lichter von Khorinis waren kleiner und kleiner geworden, bis sie schließlich ganz der dunklen Nacht hatten weichen müssen. Kargal hatte davon jedoch nichts mitbekommen. Zu beschäftigt war er mit sich selbst und seiner Angst vor dem stinkenden, verlassenen Schiff, welches er nur wenige Momente einer Ewigkeit zuvor betreten hatte. Es fiel ihm kein logischer Grund mehr ein, weshalb er an Bord gestiegen war. Im Hintergrund seiner Welt schwammen zwar noch Begriffe wie „Reinheit“, „Ehre“ oder „Ruhm“ umher, doch zogen sie ihre Bahnen einsam und außerhalb seiner Reichweite. Das Fiepen einer Ratte drang von irgendwo her an Kargals Ohren, welcher sich in einem Ruck umdrehte, als wenn ihm der Tod selbst auf seine zitternde Schulter getippt hätte. Und während er noch in das Nichts schaute, in Erwartung ein Monster zu finden, welches aus seiner Fantasie geboren und ihn jeden Moment anfallen würde, fing hinter ihm auf der Brücke eine einzelne Glühbirne an, ihr güldenes Licht in einen einzelnen Raum zu werfen. Aus den Augenwinkeln nahm Kargal dies war und es war so, als ob der helle Schein direkt durch Kargals Haut in seine Vorhöfe und Herzkammern drang. Er wusste nicht mehr, was er sich gedacht hatte, als der Boden unter ihm zu vibrieren und der Motor mit einem monotonen Brummen seinen Dienst begonnen hatte. Vielleicht, dass Dämonen das Schiff beseelt hatten oder gar einer der drei großen Götter selbst ihn zu seinem Ziel steuerte. Vielleicht hatte er sich aber auch gar nichts gedacht, denn obwohl ihn nur wenige Minuten vom Besteigen des finsteren Kahns trennten, so wusste er es dennoch nicht mehr. Doch eines wusste er nun. Mindestens eine Person musste mit ihm der immer mehr aufrauhenden See ausgeliefert sein. Es war ihm dabei egal, wer diese Person sein mochte, denn allein konnte er keine Sekunde länger an Deck bleiben, dessen eiskalter Geist ihn in jeder von ihnen mehr seiner Zuversicht beraubte. Wie zur Bestätigung zuckte in der Ferne ein Blitz hernieder und ließ das Deck in der Farbe verbleichter Knochen aufleuchten, sodass Kargal seinen Schritt nochmals beschleunigte.

    Zögerlich zog Kargal an der Klinke der dicken Stahltür, welche zur Brücke führte, wobei ein Knarzen ertönte, als wären die Scharniere seit dem Stapellauf nicht mehr geölt worden. Vor ihm erstreckte sich ein enger dunkler Flur. Die einzige Lichtquelle, wenn sie denn überhaupt den Titel verdient hatte, war eine flackernde Neonröhre, die als einzige neben ihren längst toten Kumpanen noch Lebenszeichen von sich gab. Kargal tappte langsam durch den Gang. „Ist hier wer?“, rief er laut, doch die einzige Antwort war sein eigenes Echo. Er lief weiter zum Ende des Ganges. Links ging es hinunter in eine Schwärze, die er nach Möglichkeit nicht erkunden wollte. Das Schwappen von Wasser ließ zudem den Schluss zu, dass es ohnehin nicht möglich war. Rechts von ihm führte eine Treppe nach oben, woher ebenfalls ein unregelmäßiges Flimmern kam. Kargal atmete die muffige Luft des Schiffes tief ein und bestieg danach eine nach der anderen Stufe, wobei das Geräusch der Blechstufen wie ein technischer Pulsschlag durch die Gänge raste. Als Kargal das Ende der Treppe erreicht hatte, sah er erneut einen Gang vor sich. Links und rechts waren Türen mit Bullaugen darin, doch diese strahlten keinerlei Licht aus. Kargal wandte seinen Kopf dem Ende des Ganges zu, welches nicht zu erkennen war. Sämtliche Lichtquellen schienen dort ihre Reise ins Jenseits angetreten zu haben, bis auf eine. Ein kleines Bullauge strahlte ein warmes Licht auf den Flur und wies Kargal den Weg. „Gleich werden wir sehen, wer hier steuert.“, bereitete sich Kargal innerlich auf das Treffen mit dem Kapitän vor, als er die Tür erreicht hatte und kurz darauf mit einem Ruck, diese aufriss. Kargal schaute in den Raum. Nahe den Fenstern waren die Armaturen zu sehen, auf welchen einsam und verlassen eine Pfeife lag. Vor ihnen stand ein alter Sessel aus abgewetztem braunen Leder. Kargal ließ seine Augen weiter durch den Raum wandern auf der Suche nach dem Kapitän, doch zu seiner Verwirrung konnte er niemanden entdecken. Langsam schritt er in Richtung der Armaturen und musterte sie aufmerksam. Hatten sie übernatürliche Kräfte bedient, fragte er sich und bekam keine Antwort. Er kam noch näher auf die Kontrollhebel und blinkenden Knöpfe zu. Er wollte sie berühren, spüren, dass sie real waren in den Wirren dieser Nacht, doch gerade als er daran war seine Fingerkuppen an einen der Hebel zu setzen ertönte aus dem Gang ein lautes Rauschen, während Schritte zu hören waren, die unmissverständlich in seine Richtung kamen und noch bevor Kargal es geschafft hatte, sich umzudrehen, drang eine tiefe Männerstimme in seine Ohren. „Finger weg, du Landratte.“, befahl sie ihm und Kargal erstarrte.
    Geändert von Oblomow (11.02.2010 um 00:13 Uhr)

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    Kapitel 7

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    Eine kräftige Hand riss ihn von den Armaturen weg, um Platz für den großen Mann zu schaffen, welcher sich in einem Ruck vorbeischob und hastig Blicke auf jeden einzelnen der vielen Knöpfe und Knüppel warf. Der Kopf drehte sich dabei nach links, nur um einen Moment später die entgegengesetzte Position einzunehmen. Hastige Schritte ließen dabei den Körper von dem einen Ende hin zum anderen gleiten. Ein paar Sekunden vergingen auf diese Weise, während Kargal versteinert auf den Neuling im Raum sah, welcher offensichtlich der Kapitän des Schiffes war. Eine Uniform, ähnlich derer der Kreuzfahrtschiffskapitäne, zierte seinen leicht ausgemergelten, langen Körper. Kargal wusste nicht, wie ein Frachterfahrer an diese gekommen war, bis ihm einige Flecken und Löcher an seiner Kleidung in die Augen sprangen. Es war offensichtlich aus irgendwelchem Abfall gefischt worden und auf einmal hatte der große Mann etwas leicht komisches an sich, in seinem Versuch die Würde eines Kapitäns zu erlangen und dabei doch nur auf der alten Ebene zu verharren. Doch zum Lachen war es nicht. Der Kapitän hatte sich indes anscheinend davon überzeugt, dass sein Passagier nichts angefasst hatte und drehte sich zu Kargal um, wobei sein Mantel leicht in der dunstigen Luft der Brücke flatterte.

    Kargal sah zum ersten Mal in das Gesicht des Mannes. Tiefe Sorgenfalten durchzogen seine Stirn, während der Rest des Gesichtes durch normale Falten geziert wurde. Vereinzelt hatten sich kleine Schweißtröpfchen auf seinem Haupt gebildet und ließen es das Licht der Neonröhren reflektieren. Seine blauen Augen sahen wie seine gesamte Erscheinung dem Leben abgewandt aus. Hätte man genauer hingesehen, so hätte man möglicherweise einen fernen Glanz entdecken können, doch sicher hätte man sich dessen selbst dann nicht sein können. Kargal bekam allerdings keine Gelegenheit, solchen Details nachzugehen, denn bevor er noch weiter seine Blicke wandern lassen konnte, wurde er auch schon unterbrochen. „Sag mal, macht es dir Spaß, an fremder Leute Sachen rumzufingern?!“, brüllte der Kapitän ihm in sein Gesicht und jedwedes Alter schien plötzlich aus dem seinigem gewichen zu sein. Kargal versuchte etwas vor sich hin zu stammeln, doch stand er nur stumm da, während er seinen Mund bewegte und der Kapitän bereits ohne Rücksicht zu nehmen, seinen Gedanken freien Lauf ließ. „Ich weiß nicht, wozu man dich braucht, es ist mir auch egal. Was mir allerdings nicht egal ist, ist, dass du mich hier störst. Was erlaubst du dir eigentlich hier hoch zu gehen?“, endete er in seiner Aufregung und zog damit doch die verwunderten Blicke Kargals auf sich, welcher sich zwar wohl bewusst gewesen war, besonders zu sein, jedoch zum einen diesen Gedanken fast schon verloren hatte und zum anderen sich nicht erklären konnte, wie ein Mann mit lädierter Uniform, der auf einem stinkenden Schiff lebte, davon Kenntnis haben konnte. „Hat es dir die Sprache verschlagen oder weshalb redest du nicht?“, unterbrach der Kapitän seine Gedanken, als ob er diese gelesen hätte, worauf Kargal sich, peinlich getroffen, leicht zusammenzog. Der Kapitän sah ihm dabei direkt in die Augen und rümpfte seine Nase, wobei man den Schleim in die Nebenhöhlen zurück fließen hören konnte. Verachtung und Distanz waren aus ihm heraus zu lesen und verschwanden doch nach ein paar Sekunden der Stille wieder. Seine Gesichtszüge wurden weicher, seine Muskeln schlaffer. „Setz dich!“ , formte er einen sanften Befehl, der väterlich, wie auch resignierend klang. Kargal folgte wie geheißen und setzte sich auf ein Brett, welches wohl eine Art Ablage oder Tisch darstellen sollte und nur allzu bedrohlich unter seinem Gewicht knirschte. Der Kapitän lehnte sich dagegen einfach nur an einer der Computerapparaturen an, die zu einem großen Teil schon ihren Dienst quittiert zu haben schienen und nur noch vereinzelt etwas unkoordiniert herumblinkten.

    „Mein Name ist übrigens Milket.“, stellte sich der Mann spontan vor und klang damit so, als ob er nicht noch gerade vor einigen Augenblicken sein Gegenüber mit lauter Stimme den verbalen Kampf angesagt hatte. „Stolzer Kapitän dieses Schiffes, auf dem du dich befindest.“, fuhr er fort, wobei man die unbewusste Lüge, die darin lag fast schon an ihrem fetten Hals hätte packen können. So viel Selbstmitleid troff mit den Worten aus seinem Mund, dass Stolz , selbst wenn er vorhanden gewesen wäre, von den Tropfen und Rinnsalen erschlagen und darauf ertrunken wäre. Doch Milket hielt Fassung. „Wenn ich dann deinen Namen erfahren dürfte?“, gab er das Wort an Kargal, welcher in der Zwischenzeit wieder neues Selbstvertrauen geschöpft zu haben schien. „Kargal, einfach Kargal. Erretter Khorinis.“, antwortete er und die Euphorie und Sicherheit, die ihn vor wenigen Stunden erfüllt hatten, flammten erneut auf. Milket sah ihm tief in die Augen, bis er plötzlich anfing zu lachen. Irritierte Blicke seitens Kargals trafen ihn, doch es war ihm egal. Er lachte nur um so mehr, bis ihm durch sein eigenes Husten Einhalt geboten wurde und er sich wieder seinem Gesprächspartner zuwandte. Seine Mundwinkel gingen wieder nach unten. Die letzten Freudentränen rollten sein Gesicht hinab. Alles war wie zuvor und ernster denn je sprach Milket zu Kargal: „Du hast keine Ahnung.“
    Geändert von Oblomow (02.04.2012 um 22:05 Uhr)

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    Kapitel 8

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    „Selbst Beliar hat nicht genug Macht, diese Menschen zu ändern.“, begann Milket zu Kargal zu sprechen. „Diese Gesellschaft ist zu sehr in ihrer Gier und Dummheit gefangen, zusammen mit dem Rest der Welt. Du wirst nichts bewegen, egal wie stark du daran auch glauben möchtest. Der dunkle Gott ist töricht, und du ebenfalls, wenn du auf seine längst verflossene Macht vertraust. Ein Haus auf Sand wäre dein Schicksal.“, fuhr er fort und unterbrach sich für einen kleinen Moment durch ein jämmerliches Lachen, nur um danach sogleich wieder fortzufahren. „Angenommen, du solltest wirklich in dem, was du vorhast oder bald vorhaben wirst erfolgreich sein und für den großen Knall sorgen, was vermutest du, was passieren wird? Soll es eine Revolution geben? Sollen sie dich wirklich als ihren „Erretter“ und Führer in die neue Welt ansehen? Falls es das sein sollte, wonach du strebst, empfehle ich dir, dich noch heute Nacht in diesen Gewässern aus der Welt der Lebenden zu verabschieden. Das einzige, was passieren kann, ist, dass du als irrer Terrorist in eine Zwangsjacke gesteckt und in einer Anstalt bis zum Ende deines Lebens, betäubt von Medikamenten, verrotten wirst.“, endete Milket und atmete einmal tief durch, bevor er sich seinen Instrumenten zuwandte. Alles schien gesagt und die Worte hingen als endgültige Wahrheit im Raum, bis Kargal mit einem Ruck das Schweigen durchbrach. „Warum sollte ich auf einen alten Mann hören, der alle Ideale und Hoffnungen aufgegeben hat?“, fragte er Milket aufgewühlt, doch dieser drehte sich nur langsam um und schaute Kargal tief in dessen Augen. „Du brauchst meinen Worten nicht folgen oder ihnen Glauben schenken, mir ist es egal, was du tun wirst. Doch sage mir Eines, der du so voll von Eifer bist. Weshalb solltest du aus dem Muster ausbrechen?“, gab Milket zurück. „Beliar wird stärker sein, als du es dir je erträumt haben wirst und zusammen mit ihm kann dieser Welt der Neuanfang gelingen.“, war die trotzige Antwort, während der das Funkeln in Kargals Augen wieder aufleuchtete, doch der Kapitän blieb unbeeindruckt. „Vor 2000 Jahren, ja, da hättest du noch eine Chance gehabt etwas zu erreichen, doch seit Rhobar III. sind die Götter nur noch ein paar machtlose Geister in dieser Sphäre. Parasiten, die sich an der Energie der Erde laben. Jeder für sich ein Schatten seiner selbst. Mögen sie zornig sein, mögen sie die Menschheit verabscheuen. In dieser Welt sind sie hilflos, dass sie unsere Gedanken verwirren können, ist das letzte, was sie zu tun vermögen. Denke darüber nach, was du tun wirst. In einer Stunde werden wir bei Irdorath anlegen. Und jetzt lass mich in Ruhe.“ , beendete Milket das Gespräch und Kargal verschwand in den schaurigen Gängen des Schiffes. Er dachte über das nach, was ihm gesagt worden war. War es wirklich so, dass der sagenumwobene Rhobar III die Götter fast all ihrer Macht beraubt hatte? Was sollte er tun, wenn dem so war? Was konnte er ausrichten? Hatte der Kapitän damit Recht gehabt, dass er so verblendet gewesen war? Ernüchterung machte sich in Kargal breit. Ernüchterung, die ihn stärker denn je über sein Tun in Zweifel kommen ließ. Er setzte sich auf den verrosteten Metallboden und ließ seinen Kopf in die Handflächen sinken. Die Neonröhren sendeten flackernd ihr Licht auf seinen Körper, doch er selbst wurde immer ruhiger. Der Kopf wanderte gen Schoß und die Augenlider unhaltbar zu ihren Gegenstücken. Die lange Nacht verlangte ihren Preis und während Kargal in das Reich der Träume entschwand kreisten immer noch die Gedanken an den Kapitän wirr in seinem Kopf herum.

    Absolute Schwärze umgab Kargal. Hektisch drehte er seinen Kopf von der einen zur anderen Seite, doch nichts war erkennbar. Er versuchte nach vorne zu gehen, doch es war, als wäre er wie gelähmt. Er schaute sich noch einmal um. Nichts war erkennbar. Da kam die schwarze Masse in Bewegung und aus dem Dunkel lösten sich drei Pyramiden, jede von ihnen mit einer Statue aus Gold versehen. Davor standen viele Menschen, den Pyramiden mit den Gesichtern abgewandt. Den Blick in die Dunkelheit gerichtet und die Gesichter mit leerem Ausdruck. Kargal versuchte zu ihnen zu gelangen, doch seine Beine blieben starr. Erneut veränderte sich die Szenerie. Ein Erdbeben erschütterte die Pyramiden, die wie durch Magie zueinander rückten und sich zu einem Denkmal, das bis zum Himmel ragte, zusammenschlossen. Und aus der großen Pyramide, schossen Flammen, die die Hälfte der Menschen versengten und bis auf die Knochen abbrannten und weiter brennen ließen. Doch die Skelette der Opfer lebten weiter und wandten sich gemeinsam mit den Lebenden um und knieten nieder vor dem großen Bauwerk. „Bei den Göttern.“, murmelte Kargal mit geweiteten Augen und konnte nicht fassen, was er sah. In jenem Moment kehrte jedoch die Dunkelheit zurück und verschlang das Bild aufs neue und mit dem Bild auch dessen einzigen Beobachter.

    „Was wirst du nun tun?“, weckte die Stimme des Kapitäns Kargal aus seinen Träumen. Verträumt sah er zu Milket hinauf, bevor er sich nur einen Moment später wieder fasste. “Ich gehe.“, beantwortete er überzeugter denn je die Frage des Kapitäns, sodass er selbst von sich überrascht war. Alle Gedanken waren vergessen, jeder Zweifel ausgemerzt, der Traum war über sie alle erhaben. Hatte jeden Widerstand aufgelöst und die Kontrolle über alles denken ergriffen, ohne ihn in seiner Gänze verstanden zu haben. Zusammen mit dem Kapitän ging Kargal in Richtung Ausgang. Er legte seine Hand auf den Griff der Tür und wollte sie gerade öffnen, als ihm noch eine letzte Frage einfiel. „Weshalb stehst du im Dienste Beliars, wenn du ihm doch alle Macht absprichst?“, fragte er Milket. Ein ernster Blick kam von diesem zurück. „Ich bin ein Diener, der in einer anderen Welt angeworben wurde.“, war dessen Antwort, die in Kargal nur noch mehr Fragen aufwarf. Doch er fühlte, dass es nichts bringen würde, den alten Mann auszufragen, denn so verbittert, so verschlossen war er und so ging er hinaus an Deck, auf dem die ersten Strahlen des Tages die Wasserlachen auf den rostigen Dellen schimmern ließen.
    Geändert von Oblomow (02.04.2012 um 22:17 Uhr)

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    Kapitel 9

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    Ein widerwärtiger Gestank von Verwesung wehte Kargal entgegen, dass ihm das Atmen nahezu versagt wurde. Abfall von über einer Dekade mischte sich hier mit giftiger Asche und denen durch sie gestorbenen Fischen zu einer Masse, die ihre Schatten voraus warf. In Form, der großen Müllgipfel, welche aus dem Wasser aufragten sogar im wörtlichen Sinne. Milket, der immer noch hinter Kargal stand, reagierte jedoch nicht oder zumindest in keiner sichtbaren Weise auf den betörenden Geruch. So unglaubwürdig es auch schien, er musste sich in all den Jahren wahrhaftig an ihn gewöhnt haben. Kargal machte ein paar Schritte nach vorne. Ein paar Möven hatten sich auf dem Deck des Schiffes niedergelassen und die Reling dabei mit weißem Kot bedeckt, sodass sie in ihrem hellen Glanz das gesamte Schiff an Schönheit übertraf. Wildes Gekrächze, das zur Malträtierung der Ohren geschaffen war, kam unter ihnen auf, als Kargal an ihrer Aufstellung vorbei trat. „Das Begrüßungskomitee“, schoss es Kargal für den Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf, in welcher sich dieses mit den ersten wegfliegenden Vögeln jedoch auch schon wieder auflöste. „Bleib dann einfach stehen, wenn du von Bord gehst.“, gab Milket ihm noch einen letzten Ratschlag auf den Weg. „Diese Leute hier kommen immer, wenn sie das Boot hören.“, endete er. „Und was ist wenn sie es nicht gehört haben?“, fragte Kargal halb verärgert, halb verwundert über diesen als so selbstverständlich geäußerten Satz Milkets. „Sie hören das Boot immer.“, antwortete Milket jedoch im gleichen ruhigen Ton wie zuvor und es klang so, als könnte man dieser Antwort vertrauen. Denn egal wie unlogisch etwas war, dieser Ton hob es in die Realität. Auch Kargal hatte nichts mehr, womit er dagegen protestieren konnte. Er schaute sich noch einmal um, schaute ein letztes Mal auf den Kapitän, den er nicht verstehen konnte. Er überlegte sich, ob er sich verabschieden sollte. Doch entschloss sich dagegen. Dieser Mann hatte sein Vertrauen in ihn, in dem Moment verloren gehabt, in welchem er sich für die Insel entschieden hatte. Überflüssige Worte waren nicht mehr richtig am Platze. So sprang er wortlos über die Reling, hinein in den Berg von Tüten und Dosen, die zu allen Seiten wegsprangen. Sein Kopf lag auf einer Erdnussflipstüte, sodass er hinauf in den Himmel schaute. Blau war er an jenem Tag und die Sonne strahlte hell. „Wahrscheinlich liegen jetzt schon die ersten Trottel am Strand.“, dachte sich Kargal, doch es war ein flüchtiger Gedanke, der von der Freude, am Ziel angekommen zu sein fast zur Gänze überlagert wurde. Er hörte die Möwen, hörte das Huschen von Ratten, doch es war für ihn schöner als jedes Orchester der Welt. Langsam gesellten sich die dröhnenden Motorengeräusche der MS Gomorrha dazu. Kargal legte seinen Kopf zur Seite und sah, wie das Schiff langsam aus der Müllbucht entschwand und schließlich aus seiner Sichtweite fuhr. Nichts erinnerte nun mehr an seine Überfahrt, außer er selbst. Langsam erhob er sich wieder. Er wandte seinen Blick nach rechts und wieder nach links. Eine monotone Müllwüste umgab ihm, welche aus allerlei Colaflaschen, Tüten und zum Teil auch Plastikstühlen bestand. Langsam ging er etwas nach vorne, bis auf einer der Erhöhungen ein Mann erschien. „Hey, bist du der Neue“, rief dieser Kargal zu, der voller Erstaunen auf die Gestalt blickte, die ohne eine Antwort abzuwarten den Hügel wie ein Snowboarder herunterrutschte.
    Milket schaltete die Motoren aus. Er war wieder draußen auf dem Meer. Nichts, außer Wasser und sein Schiff umgaben ihn noch. Hatte er alles getan, was nötig gewesen war, fragte er sich, noch immer an Kargal denkend. Vielleicht, vielleicht auch nicht, lautete jedoch die Antwort darauf. Für ihn sollte es ohnehin nicht mehr länger von Belang sein. Stumm schaute er aus den Fenstern seiner Brücke. Staub und Dreck verdeckten sie fast vollständig, doch auch das sollte ihn nicht mehr interessieren. Er war ruhig geworden und er blieb noch immer ruhig, als das Licht aus dem Raum verschwand und in die Ferne rückte. „Bist du bereit?“, fragte eine Stimme hinter ihm. „Ich war es schon damals.“, antwortete Milket. Ein letztes Mal dachte er zurück, als er seine große Liebe aus den Augen verlor. Der Autounfall hatte sein gesamtes Leben zerstört. Milket erhob sich von seinem Kapitänsstuhl. Er wusste, sie würde es nie ertragen. Und sie ertrug es auch nicht, auf Khorinis zu bleiben. Langsam drehte er sich um. Der Mann in dunkler Kutte stand dort stumm neben einem Portal. Einem Portal, das ihn zu seinem letzten Ziel führen sollte. Warum hatte er auch damals sterben müssen, fragte sich Milket seine letzte aller Fragen und schritt dann in eine andere Welt. Noch einmal stockte er in seinem Schritt, doch ob es ein Schock oder eine Erleichterung war, war nicht zu fassen. Dann verschwand er.
    Geändert von Oblomow (28.09.2012 um 13:32 Uhr)

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    Kapitel 10

    Rührstäbe, Spielzeug und zersplittertes Plastikbesteck wurden zur Seite weggeschleudert, als durch ihre starre Gesellschaft der Verwesung ein Paar notdürftig geflickter Turnschuhe hindurchstieß. Beseelt von einem verstörend-verzückendem Glanz, führten sie ihren Träger den Hang hinab und so faszinierend, wie diese Bewegungen einst auf Milket gewirkt hatten, so entfalteten sie nun auch bei Kargal ihre Wirkung. Wie wenn seine Füße sich mit dem Boden vereint hätten, blieb er stehen und wohnte der Vorstellung bei, deren Akteur, mit seiner bulligen, rauen Gestalt, nur ihre faszinierende Wirkung steigerte. Die schweißgestählte Jeans im Zusammenspiel mit einem verdreckten Muskelshirt trugen ihren Teil zu der entstandenen Unwirklichkeit bei. Sanft kam der Fremde auf dem Grund der Senke auf und machte sich geraden Weges auf zu Kargal. „Hätte ja nicht gedacht, dass es da drüben überhaupt einen gibt, der hierher will.“, rief er ihm in kratziger Stimme halblaut zu, als er schon fast vor ihm stand. Kargal war jedoch noch immer wie versteinert, eingefroren im Sommer. Der Mann war nun direkt vor ihm und sah ihm in die Augen. „Bist du stumm oder was is mit dir los?“, fragte er, wobei der Geruch von Bier seinem Mund entstieg und Kargal aus seiner Apathie erwachen ließ. „Ähm, nein, ich bin Kargal und ich möchte hier arbeiten.“, stotterte er hastig hervor und schüttelte etwas seinen Kopf. Der Fremde musterte ihn etwas genauer. „Bist du dir da wirklich sicher, Junge?“, flüsterte er Kargal fast schon zu und zog seine rechte Augenbraue etwas nach oben. „Ja“, antwortete Kargal, welcher sich wieder gefangen hatte nur knapp. Augenblicklich hellte sich das Gesicht seines Gegenübers auf. „Na dann, willkommen auf Irdorath, Kargal.“, begrüßte der Kerl ihn freundlich. „Mein Name ist Mervel. Ich bin hier der Chef. Sollte es Probleme geben, kommst du zu mir. Solltest du Probleme machen, komme ich zu dir. Das ist mal das wichtigste.“, gab der Müllmann eine kleine Einführung in das Arbeitsleben der Insel, bevor er mit einem Handzeichen Kargal gebot, ihm zu folgen. Gemeinsam durchquerten sie die Bucht, bis sie den Aufstieg an einem der Müllberge begannen. Dieser bestand überwiegend aus verschmutzten Servietten oder kleinen Plastikmitnehmschüsseln, wie es sie in den kleinen exotischen Fastfoodrestaurants gab. Einige Male sank Kargal mit seinen Schuhen in den Dreck ein, wobei sich seine Socken mit verschimmelten Soßenresten vollsogen. Angewidert zog er seine Füße heraus, nur um sie beim nächsten Schritt wieder in der alles bedeckenden Masse zu versenken. „Ist der Müll von Gestern“, informierte Mervel grinsend, während Kargal das Gesicht verzog. Langsam näherten sie sich der Spitze und in den Sichtbereich traten zu dem blauen Himmel die schwarzen Müllberge, bis sich zu ihnen eine gigantische Lagerhalle gesellte. Sie hatten den Gipfel erklommen und sahen gemeinsam hinab auf das wohl einzige nicht baufällige Gebäude des modernen Zeitalters, eine riesige, grüne Lagerhalle. „Komm.“, forderte Mervel und rutschte sogleich den Hang hinab. Kargal versuchte, es ihm gleich zu tun, geriet dabei jedoch bereits beim ersten Schritt ins Stolpern, dass er direkt in die verwesende Pampe hineinfiel. Vor Ekel erzitternd erhob er sich wieder. Er hatte sich die Ankunft auf Irdorath nicht unbedingt schön vorgestellt, doch bei weitem nicht so widerwärtig, wie sie sich nun entpuppte. „Kommst du jetzt oder muss ich dich wieder zurück schicken?“, rief ihm von unten bereits Mervel zu. Kargal setzte sich missmutig wieder in Bewegung, diesmal darauf bedacht, keinen falschen Schritt mehr zu tätigen. Kaum war er bei der Halle angekommen, wandte sich Mervel auch schon wieder von ihm ab und schob die große Schiebetür auf. Haufenweise Nahrungsrationen, Maschinen und Werkzeug kamen zum Vorschein. Doch Kargal hatte keine Zeit, sich umzuschauen, denn kaum waren sie eingetreten, zerrte Mervel ihn hin zu einem größeren Bagger. „Also, das ist dein neues Arbeitsgerät.“, machte er Kargal mit dem Bagger bekannt und hantierte ein wenig an den einzelnen Knöpfen und Knüppeln herum, wobei er hin und wieder ein paar wenige Wörter verlor. Kargal versuchte krampfhaft ihm zu folgen, doch es gelang ihm, so sehr er es auch versuchte nicht zur Gänze. Nach ein paar Minuten war die Einführung auch schon beendet. „Alles kapiert soweit?“, fragte Mervel zur Absicherung, in einem Ton, der so gleichgültig, wie der eines stofffixierten Lehrers klang. „Äähhh“, brachte Kargal nur als Antwort heraus, was Mervel umgehend als Bestätigung ansah und sich wieder zum Gehen wandte. „War das jetzt alles?“, fragte Kargal ungläubig. Was war mit der Unterkunft, dem Essen, wo lebte eigentlich Mervel und wann musste er was tun, all diese Fragen waren nicht einmal im Ansatz beantwortet worden. Doch Mervel drehte sich nicht einmal mehr um. „Besorg dir vielleicht einen Stock, hier gibt es Ratten.“, waren die letzten Worte, bevor er sich aus der Halle verabschiedete.
    Geändert von Oblomow (22.08.2013 um 12:45 Uhr)

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    Kapitel 11

    Kargal sah Mervel hinterher, der zügig den Müllberg, von welchem sie gekommen waren, erklomm. An der Spitze angekommen verdeckte er für den Bruchteil einer Sekunde den runden Ball der Sonne, wobei ihm, die an ihm vorbeischießenden Strahlen etwas von einem epischen Helden gaben. Als dieser Moment vorbei gegangen war, verschwand er hinter der Wand aus Restmüll. Ein zweites Mal an jenem Morgen erwachte Kargal aus einem tranceartigen Zustand, ausgelöst durch Mervel. „Seltsamer Typ.“, murmelte Kargal vor sich hin. Hinter der einfachen Fassade, die seine Erscheinung bot, schien sich ein größeres Mysterium, als bei dem Kapitän zu verbergen. Vielleicht war er aber auch nur sehr eigen. Kargal konnte es nicht wirklich einschätzen. Er sah sich, anstatt dem weiter nachzugehen, lieber in der Halle um. Das Dach bestand aus grün angemaltem Blech, welches an einigen Stellen bereits Spuren von Korrosion aufwies. In der Mitte war der Giebel durch eine Reihe Fenster senkrecht nach oben versetzt worden, wodurch Tageslicht in die Halle einfallen konnte. Ein paar der Scheiben hatten bereits Löcher. Die Möwennester auf den weiß gesprenkelten Querbalken ließen darauf schließen, dass sie auch recht häufig benutzt wurden. Kargal beschaute die Paletten, die um ihn herumstanden. „Dosenbrot“ stand darauf. Ewig haltende, geschmacklich fragwürdige Getreidepampe. Kargal neigte den Kopf hinab zu einem Pappkarton und stellte leicht überrascht fest, dass an jenem Ort das Unmögliche geschafft wurde. Das Haltbarkeitsdatum war seit einem Jahr überschritten. Kargal folgte den Spinnweben, welche an den Seiten die Synapsen mit weiteren Kartons darstellten. „Weidenbeergelee“ war die Aufschrift, die sie zierte und auch hier war die von den Produzenten zugestandene Zeit bereits abgelaufen und auch hier wusste man, dass der wirkliche Verfall wohl erst nach einem weiteren Jahrzehnt einsetzen würde. Jedenfalls durfte für ihn gesorgt sein, dachte sich Kargal. Er wollte ja ohnehin nicht allzu lange auf Irdorath verweilen. Langsam wandte er sich von den Paketen wieder ab und lief hinüber zu dem Bagger, den er bedienen sollte. Reglos stand er vor dem gelben Ungetüm und wandte seine Aufmerksamkeit nun, nachdem er zuvor nur auf Mervel geachtet hatte, der Maschine zu. Das Gerät sah alt, wie alles, aus, aber im Gegensatz zu dem Rest schien der Bagger gut gepflegt worden zu sein. Die Farbe war noch kräftig, die Scheiben, abgesehen von einigen Dreckspritzern, noch glänzend und spiegelnd. Kargal sah sein Gesicht in den Fenstern der Fahrerkabine. Die Strapazen der Nacht waren ihm noch deutlich anzusehen. Seine Haare waren trotz ihrer Kürze verklebt, an manchen Stellen standen sie auch wie einzelne Felsen aus seiner Kopflandschaft heraus. Sein Gesicht war angefeuchtet, glänzend und von seinem Sturz in den Abfall verdreckt und es war blass, sehr blass. Sodass seine braunen Augen wie ein Kontrastprogramm daraus hervorstachen. Langsam strich er über seinen Morgenbart, dann schmunzelte er etwas. Er stellte sich vor, wie er in diesem Aufzug vor den Hotelgästen erschien und in ihre entsetzten Gesichter blickte. Die Augen geschlossen, ließ er sich von dieser kleinen Glückswelle dahintreiben, bevor er sie schlagartig wieder öffnete. Wo war der Mann, der ihn erwarten sollte, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Ein leichter Luftzug ließ zugleich einen widerlichen Modergeruch in die Halle treten, der Kargal zwar nicht sehr, aber doch störte. Was war mit dem Kapitän? Er hatte von seinem Auftrag gewusst, wie konnte er also nur daran zweifeln, überlegte er sich, während er sich wie automatisch zum großen Lagerhallentor bewegte. Wie sollte er den Mann überhaupt wiederfinden? Er hatte nicht die geringste Ahnung. Wurde ein Zeichen geschickt, musste er suchen oder wurde er gefunden? Es war ja durchaus möglich, dass er schon etwas verpasst hatte, schließlich hatte er auf Mervel und nicht auf die dunklen Winkel, welche die Augen von sich wegtrieben geachtet. Vor ihm erstreckte sich nun wieder die karge Szenerie der Synthetikwüste. Niemand war zu sehen. Kargal machte sich daran das Tor zu schließen. Er wollte nachdenken, vielleicht auch endlich etwas essen, denn nötig hatte er es sicher. Außerdem hatte er keine Ahnung, wo er sonst hinsollte. Mervel hatte ihm keine Karte, keine Wegbeschreibung nach Irgendwohin gegeben. Er setzte seine rechte Hand an den Stahl, der bereits ein wenig von der Sonne aufgewärmt worden war. Als er von einem Eck der Halle ein Rascheln vernahm. Kargal hielt inne, um daraufhin die Außenwand entlang zu gehen, zu laufen und schließlich zu rennen. Keuchend kam er am Ende der Lagerfront an, doch einzig und allein ein Rattenschwanz, welcher sich in den Müll schlängelte, war noch zu sehen. Irrelevantes Nichts war es, was ihn angezogen hatte. Mit leerem Blick sah Kargal auf eine Bierdose, die von der Ratte aus dem Haufen gelöst worden war, so als würde sein Lebenssinn dadurch abgebildet werden und er verstünde ihn nicht. Doch plötzlich packte ihn eine Hand an der Schulter. „Waaah.“, schrie Kargal laut auf und drehte sich ruckartig um. Er blickte in ein ein faltiges, bärtiges Gesicht. „Haha, da hab ich dich wohl erwischt was?“, bemerkte sein Gegenüber lachend, während Kargal sich mit seiner rechten Hand an die Brust fasste. „Ich bin übrigens Kyle, Mervel hat mir von dir erzählt.“, stellte er sich immer noch mit einem Grinsen im Gesicht vor.
    Geändert von Oblomow (15.02.2010 um 20:24 Uhr)

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    Kapitel 12

    Kargal beruhigte sich nur schleppend von dem Schock, doch als er wieder normal zu Atmen vermochte, besah er sich den Mann, der ihm das Eis in die Adern fahren ließ, etwas genauer. Sein Gesicht war ihm bereits ersten Anblick haften geblieben. Gebirge aus Haut aus denen die Barthaare wie Kiefern herausragten, sorgten für eine unanfechtbare männliche Markanz. Dazu trug er einen braunen und ein wenig übergroßen braunen Pullover, wie ihn auf Khorinis meist die Männer, wenige Jahre vor ihrer Pensionierung trugen und das auch nur dann, wenn sie denn gesicherte Berufe hatten, in denen ihnen aus ihrem modischen Geschmack kein Strick gedreht werden konnte. Meist bespannte der Stoff bei diesen ihren in all den Jahrzehnten herangezogenen Wohlstandswams, doch Kyle war noch recht gut gebaut und so hing das Kleidungsstück einfach nur locker und etwas schmuddelig herunter. Seine Hosen waren schlichtweg blaue Jeans. Sie waren nicht abgewaschen, hatten keine Löcher, ja, sie waren nicht einmal irgendwie mit niedlichen Stickereien verziert. Es waren einfach nur echte Jeans, wie man sie noch von einst kannte. Befestigt waren sie an Kyles Hüfte mit einem schlichten, braunen Gürtel. An den Füßen trug er ein Paar Wanderstiefel. „Ja, ich weiß, das sieht etwas seltsam aus, aber ich habe ja auch nicht mit Besuch gerechnet gehabt, jedenfalls nicht so schnell.“, wehrte sich Kyle, der Kargals Blicken gefolgt war und dem die Musterung offenbar nicht genehm gewesen war. Kargal errötete ertappt ein bisschen und sah wieder hoch, direkt in die braunen Augen Kyles. Er hatte nicht die Absicht gehabt, etwas Schlechtes zu sagen, vielmehr hatte er das Gefühl, dass alles passte, auch wenn die Modeberater der Welt bei solch einem Anblick aus ihren Krokodilshautmänteln gefahren wären. Es harmonierte alles mit der Ausstrahlung von Kyle. Es war noch ein Gefühl von Echtheit, wenn man ihn sah und Kargal hätte sich nicht gewunschen, ihn irgendwie anders und fein gemacht vor sich gehabt zu haben, auch wenn er sich fast sicher war, dass Kyle ihn in dieser Hinsicht ohnehin angelogen hatte. „Macht nichts.“, antwortete er aber stattdessen so trocken und einfallslos wie jeder andere Mensch auch und führte dieses normale Begrüßungsritual, das doch immer gleich und meistens auch noch verlogen war direkt fort. „Mein Name ist Kargal.“, stellte er sich vor und setzt ein Allerweltslächeln auf, während er Kyle die Hand zum Schütteln hinhielt. Dieser jedoch faste nicht nach ihr, worauf Kargal sie etwas verunsichert wieder zurückzog. „Nun OK, Kargal, dann würde ich jetzt mal sagen, du holst uns was zu Essen raus und wir lernen uns beim Frühstück etwas näher kennen. Ich für meinen Teil habe nämlich heute noch nichts gegessen und du, wie du aussiehst auch nicht.“, ordnete dieser dafür mit unberührtem Gesichtsausdruck an und er hatte mit dem was er sagte auch Recht. Kargals Magen war leer und er verspürte wahrhaftig den Drang nach einem nahrhaften Essen. Eilig ging er in die Lagerhalle zurück und lief zu den Kartons, bei denen er zuvor herumgestanden gewesen war, bevor er nach draußen gelockt wurde. Weiter hinter ihm war ihm war ihm etwas langsamer Kyle gefolgt. Kargal klaubte ein paar Dosen, Gläser und Paketchen unter seine Arme und kam voll bepackt bei Kyle an. „Kannst gleich mal wieder die Hälfte zurücklegen.“, befahl ihm dieser und Kargal schaute auf seine Ladung. Es war nicht sonderlich viel darin, zumindest nicht so viel, dass er glaubte, es konnte irgendwie unangemessen sein. „Warum soll ich das tun?“ fragte er also Kyle, dessen Gesichtsausdruck nun von Gleichgültigkeit in Ernst überging. „Ihr Stadtmenschen habt es an euch kleben, so sehr ihr auch bemüht seid es euch nicht anmerken zu lassen. Ihr wollt etwas und holt euch dann doppelt so viel. Ihr wollt alles und dann kotzt ihr es wieder heraus. Du hast Hunger und deswegen wirst du automatisch zu viel genommen haben. Die Hälfte wird reichen. Außerdem schmeckt Dosenbrot sowieso nicht.“, sprach er laut und Kargal war überrascht, welche Gedanken durch den Kopf eines Müllmanns gingen. Es war alles mehr Sein als Schein. Etwas beschämt von seinem Handeln lief er wieder zurück und legte die Hälfte seiner Ladung wieder auf den Paletten ab um danach zurück zu kehren. Kyle nickte auf einen fragenden Blick Kargals hin diesmal ab und zusammen liefen sie zum Ausgang der Halle, wo Kyle erneut anhielt. „Ich werde dir jetzt noch etwas sagen, bevor wir zu meiner Hütte gehen. Hier ist es verdammt gefährlich seit den letzten Tagen. Die Ratten sind aggressiv und man sollte immer aufpassen, wie man hier herumläuft.“, warnte Kyle Kargal und seine Stimme verfinsterte sich bei jedem Wort etwas mehr. „Mervel hat mir gesagt, ich soll mir einen Stock besorgen.“, erinnerte Kargal darauf. Kyle fing bei diesen Worten jedoch nur laut zu Lachen an und ließ Kargal einen Moment alleine stehen, während er zu einem größeren Schrank tapste. Und als er zurück kam staunte Kargal nicht schlecht, als Kyle mit einem voll funktionstüchtigen Flammenwerfer wieder auftauchte. „DAS ist Rattenbekämpfung. Mit dem Rauch von ihrem verbrannten Fleisch muss man sie ausräuchern, diese verdammten Biester“, schrie er etwas hysterisch. Dann lachte er erneut. Es war das Lachen eines Irren.
    Geändert von Oblomow (12.04.2010 um 17:41 Uhr)

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    Kapitel 13


    Mit Einsatz seines ganzen Körpers schob Kyle das große Tor der Halle zu. Die Rollräder, die oben und unten an der Schiebetür befestigt waren, quietschten dabei laut auf, doch ihr Rost war nicht imstande Kyle aufzuhalten. Mit einem metallischen Schlag rastete sie schließlich ein und Kyle wand sich zum Gehen. Gemeinsam liefen sie los und stiegen aus der kleinen Vertiefung um die Lagerhalle heraus. Beide schwiegen sie sich an und liefen ihren Weg für sich. Kyle hatte dem Anschein nach nichts zu sagen und Kargal fühlte sich dazu nicht in der Lage. Es war nicht etwa so, dass er nichts zu sagen gehabt hätte, denn dies hatte er durchaus, aber er traute sich nicht allein Kyle zu unterbrechen, auch wenn es wohl kaum störend gewesen wäre. Der Ursprung dieser Zurückhaltung lag jedoch nicht etwa in der Angst. Es war zu seiner eigenen Überraschung eine Form des Respekts vor dieser seltsam-autoritären Person. Die Furcht erwuchs wie immer erst danach, wenn sich die Frage der Seite stellte und die Paranoia des Kranken in dem Gehirn des Gesunden aufblühte und eine wirre Erkenntnis als Frucht lieferte. Doch der Trieb war noch klein und so liefen sie ruhig nebeneinander weiter. Von Zeit zu Zeit sah Kargal auf die Gasflaschen des Flammenwerfers. Es war ein neues Modell und wenn er es richtig einschätzen konnte auch ein äußerst teures. Er überlegte sich, woher die Waffe wohl stammen mochte. Hatte die Stadtverwaltung die Müllmänner wirklich mit solchem Gerät ausgestattet? Es fiel Kargal im Angesicht des Zustands von Schiff und Halle schwer, das zu glauben. Doch woher sollte Kyle sonst solch eine Waffe bekommen haben? Vielleicht waren die Ratten doch schon länger ein Problem gewesen und knabberten gerne Mal die Leute an, dass der Stadtrat sich genötigt sah die Müllmänner auszustatten. Bei diesem Gedanken fiel ihm auf, dass er noch kein einziges Exemplar von ihnen seit dem Lager gesehen hatte, obwohl Kyle so agierte, als ob es nur so von ihnen wimmelte. Es wäre jedenfalls nicht erstaunlich gewesen. Doch keine Ratte traute sich an jenem Morgen aus ihrem Loch. Während Kargal noch so in seinen Gedanken schwelgte, bestiegen sie einen größeren Hügel aus altem Plastikspielzeug, das irgendwann in der Vergangenheit irgendwelche Kinder glücklich gemacht haben musste und wenn es auch nur für die Minuten des Auspackens gewesen war. Die Sonne wärmte Kargals Rücken als er Meter um Meter höher stieg und als er endlich an der Spitze angekommen war, fühlte er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter. „Warte Mal, ich geb dir jetzt einen kleinen Überblick über die Insel“, hielt Kyle ihn auf und zeigte mit seinem linken Arm in die Ferne. „Da wohnt Mervel, siehst du die Hütte?“, erkundigte sich Kyle. Kargal folgte Kyles Fingerzeig mit den Augen, doch konnte er nichts erkennen außer einem braunen Punkt, der aber genau so gut ein paar weggeworfene Spanplatten darstellen konnte. Doch anstatt seine Unwissenheit preis zu geben, nickte er und Kyle fuhr zufrieden fort. Er wies auf die Bucht und die Halle und Kargal schien es so, als ob sie eine halbe Ewigkeit von ihm entfernt war. Zum Schluss legte Kyle Kargal seinen rechten Arm auf die Schulter und drehte ihn zur Seite. Strahlend schaute er nach vorne und Kargal versuchte mit seinen Augen den gleichen Punkt wie er zu erhaschen. „Das ist mein Heim“, verkündete Kyle stolz und Kargal fiel dabei zeitgleich eine schändliche Baracke in die Augen. Sie war aus Spanplatten und Blech zusammengezimmert und wirkte so, als ob sie jeden Moment in sich zusammenfallen wollte. Und noch ehe er sich einen Gedanken über Höflichkeit gemacht hatte, hatte er schon seinen Mund geöffnet. „Drecksloch“, murmelte er leise, doch laut genug für die Ohren seines Nachbarn. De Arm auf seiner Schulter mutierte augenblicklich zu einem Schwitzkasten. „Jetzt hör mir mal gut zu. Ich bin schon über 20 Jahre hier und du bist der letzte, der mir etwas zu sagen hat, verstanden?“, fauchte er Kargal in sein Ohr, der mit rotem Kopf nickte. „Du hast noch viel zu lernen und bei Weitem nicht nur das Handwerk“, schnaubte er verächtlich und ließ Kargal aus seinem Griff entkommen. Darauf schnallte er sich den Flammenwerfer vom Rücken und ließ ihn auf dem Boden ab. „Du kannst gleich damit anfangen, dich einzuleben“, befahl er Kargal und riss ihm das Essen aus den Händen. „Lustlos sah Kargal auf den Flammenwerfer. Er hatte nicht vorgehabt, irgendetwas zu frittieren, aber er sah auch dass er keine andere Wahl hatte, wollte er es sich nicht mit Kyle verscherzen. Also packte er das Gerät auf seinen Rücken und sie begannen die letzten Meter des Weges zu bestreiten. Es war nach wie vor kein lebendes Wesen außer ihnen selbst zu sehen und jeder Meter, den sie voran kamen, ließ Kargals Herz leichter werden, war ihm doch das Töten eines unschuldigen Tiers zuwider, ja, wusste er überhaupt nicht, ob er es denn grundsätzlich konnte. Doch als sie es fast geschafft hatten, sprang eine Ratte direkt auf ihren Weg. Zu dritt standen sie reglos da, bis Kyle laut zu schreien anfing. „Machst du jetzt Mal?“, brüllte er ihn an und Kargal richtete im Affekt den Schlauch auf die Ratte, die sich aus unerklärlichen Gründen keinen Millimeter rühren wollte. Er sah ihr in die Augen und die Ratte sah unschuldig zurück. „Die tut doch keinem was, wa...“, wollte er sich nach dem Grund erkundigen, doch Kyle zog plötzlich einen Revolver aus der Tasche und richtete ihn auf seinen Kopf. „Weil es deine verdammte Aufgabe ist“, flüsterte er. Kargal lief der Schweiß seine Stirn herunter. Es war kein Zweifel mehr daran. Er hatte sich mit einem absolut kranken Irren eingelassen. Er schaute noch einmal auf die Ratte. Ihr graues Fell hob und senkte sich in einem schnellen Takt, fast so, als ob auch sie verschwinden wollte. Kargals Finger zitterte auf dem Abzug herum, doch er war mit einem Mal wie gelähmt. „3“, fing es plötzlich neben ihm an zu zählen. Kargals Herz begann zu schlagen, als ob es aus ihm herausspringen wollte. „2“, fuhr Kyle fort und Kargal fühlte, wie der kalte lauf sich auf seine Schläfe setzte. „Ich muss doch nur diese Ratte grillen“, schoss es ihm durch den Kopf, doch alles war wie blockiert. „1“, sprach Kyle und Kargal schloss seine Augen. So sollte es also enden, dachte er sich, als er mit einem Mal das Fauchen des Flammenwerfers vernahm, das sich mit dem gräulichen Todesschrei der Ratte mischte. Er fühlte, wie der Stahl langsam von seinem Schädel wich. Er hatte es getan. Er hatte getötet.
    Geändert von Oblomow (06.06.2010 um 20:59 Uhr)

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    Kapitel 14

    Kargal öffnete wieder seine Augen. Das Adrenalin pumpte noch immer durch seinen Körper, so dass er glaubte, der Fluss könnte niemals versiegen. Vor ihm sah er die Überreste der Ratte. Ein winziges Häufchen Asche, das sich inmitten von schwarzem, geschmolzenen Plastik wiederfand. Vereinzelt sah man noch orangene Flammen züngeln, die bereits in ihrem Endstadium angekommen waren, doch nicht müde wurden weiterhin ihren giftigen Rauch abzusondern, welcher die Luft tatsächlich noch schlechter als zuvor werden ließ. In etwas weiterer Entfernung stand Kyle, der schon vorgelaufen war. Kargal sah ihn mit Augen wie Schlitzen an. Der Respekt war schneller gewichen, als es zu erwarten gewesen war, Angst und Hass waren geblieben. Die Gefahr, die von ihm ausging, war unbestreitbar und unberechenbar geworden, doch dies war nicht der Grund dafür, auch wenn dieser Umstand Kargal beinahe das Leben gekostet hätte. Viel schlimmer wog, dass er zu einem willenlosen Spielball gepresst worden war. In der einen Sekunde, in welcher er abgedrückt hatte, hatte Kyle seinen Willen gebrochen und Kargal verabscheute ihn dafür. Er hatte sich ihm unterstellt und dafür ein Wesen getötet, das es nach seiner Ansicht noch weniger verdient hatte, als der Müllmann, der nun zu ihm zurück sah. „Kommst du jetzt?“, rief Kyle ihn ungeduldig zu sich und Kargal setzte sich in Bewegung, doch so langsam, dass er damit Kyle provozieren musste. Aber dieser wandte sich stattdessen nur von ihm ab und lief weiter, dass die gewünschte Wirkung nur auf ihn zurückgeworfen wurde und wie eine dunkle Regenwolke über ihm hängen blieb. Er beschleunigte seinen Schritt etwas, was aber nicht mit dem Ziel verbunden war Kyle einzuholen, jedenfalls nicht vor der Hütte. Er hatte genug, von Allem. Die Insel stieß ihn ab, ihre Erscheinung, ihre Bewohner und die Aussage ihrer Charaktere. Dieser Ort stumpfte ab oder machte die Menschen wahnsinnig, ähnlich wie der Krieg. Doch die klaren Ursachen fehlten. Hier starben keine Leute, nur ihre Seelen. Kargal hatte zumindest diesen Eindruck gewonnen. Er stapfte langsam voran. Es waren nur noch wenige Schritte bis zur Hütte, die auf dem Weg zu ihr nicht schöner geworden war. Kyle war bereits im Inneren verschwunden. Und auf einmal fiel Kargal wieder ein, dass derjenige, wegen dem er gekommen war, sich bisher nicht einmal hatte blicken lassen. Stattdessen wurde er mit einem bewaffneten Irren alleine gelassen, welcher ihn beinahe erschossen hätte. Die dunklen Mächte, die ihn gelockt hatten, mutierten vor seinem inneren Auge zu einem weiteren Feind. Alles und Alle waren sie gegen ihn und er stand verloren und dumm in ihrer Mitte herum, doch er würde es sich nicht mehr bieten lassen. Geladen stieß er die weiße Pressspanplattentür auf und betrat das Innere von Kyles Wohnung. Ein Schwall von penetrantem Schweißgeruch, gemischt mit der Hitze, welche die Vormittagssonne durch ihre Strahlen auf das billige Dach verursacht hatte, kam ihm dabei entgegen. Kargal besah sich die Einrichtung, die aus kaputten Schränken, einem Bett mit verschimmelter Matratze und einem Tisch bestand an dem Kyle begonnen hatte, sein Frühstück einzunehmen. Auf dem Boden lagen Stiefel, Werkzeuge und Konserven, in deren Innerem noch Essensreste zu erkennen waren, herum und ließen den Unterschied zwischen drinnen und draußen verschwimmen. „Setz dich“, forderte Kyle in einem Ton, der Kargal plötzlich wieder herunter holte und er nicht anders konnte, als den Flammenwerfer abzulegen und zu folgen. Kyle schob das Dosenbrot in die Mitte des Tisches. Kargal bediente sich wortlos. Träge kaute er auf der flachen Scheibe herum. Sie schmeckte nicht gut, wie es in ihrer Natur lag, aber Kargal war es egal. Er brauchte etwas, das er zu Brei verarbeiten konnte, wenn es mit seinem Gegenüber schon nicht möglich war. „In Zukunft erwarte ich übrigens, dass du deine Arbeit von selbst erledigst“, ergriff Kyle das Wort und schüttete damit einen Schwall Wasser in das überlaufende Fass. Kargal konnte nicht mehr länger an sich halten. Er ließ das restliche Stück Brot herunterfallen und schob den Tisch in einem Ruck beiseite, während er sich von seinem Stuhl erhob. „Ich lasse mich nicht befehlen, ich mache das, was ich will.“, brüllte er voll des Zorns Kyle an, welcher darauf immerhin von seinem Platz aufstand. „Hast du dich entschieden hierher zu kommen?“, fragte er bestimmt und Kargal wurde etwas unsicher. „Und hast du dich entschieden, dieses Gerät in die Hand zu nehmen?“, fuhr er fort, während er auf den Flammenwerfer zeigte. „Du hattest genug Möglichkeiten zu wählen. Ich habe nur dafür gesorgt, dass du dir selbst gehorchst. Vertrauen ist hier das Wichtigste und es ist mehr wert als das Leben einer Ratte. Mag sie auch noch so groß sein. Kargal sah in die Augen Kyles und erkannte die Tragweite des letzten Satzes. Sie hielten beide nichts voneinander und genau das war ihre einzige Gemeinsamkeit. Kargal hatte aber nicht vor, diese auszuleben. „Wo ist meine Hüte?“, erkundigte er sich trocken. „Hinter der nächsten Kuppe, gab Kyle genauso emotionslos Auskunft und ohne noch ein weiteres Wort zu wechseln übertrat Kargal wieder die Türschwelle. Er brauchte etwas Distanz, etwas Leere und so dachte er auch an nichts mehr, als er den Schrotthügel überschritt. Der Ort lohnte nicht, um dort zu denken. Und so dachte er noch immer an nichts, als er die Tür seiner ebenfalls schäbigen Behausung öffnete und auf eine dunkle Robe blickte.
    Geändert von Oblomow (25.06.2010 um 09:19 Uhr)

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    Kapitel 15

    Atemlos blieb Kargal im halb auseinanderfallenden Türrahmen der Hütte stehen. Es war das eingetreten, was er fast schon für unmöglich gehalten hatte. Doch der Blick in die hypnotische Schwärze und das angespannte Gefühl in der Magengegend, welches verzweifelt dafür kämpfte, sich zu einem brauchbaren Gedanken umzuformen, machten es unumgänglich den Mann vor ihm als Wahrheit zu akzeptieren. Starr wie eine Säule stand er zwischen einem verkratzten Holzbett und einer zerschlagenen Keramikschüssel, in welche das Regenwasser durch ein Loch im Dach hineintropfte. „Ich habe auf dich gewartet“, begrüßte Kargal die eisig-dämonische Stimme des Mannes und ließ ihn noch ein paar Sekunden länger reglos herumstehen, bis er sich mühsam wieder fing und die Gedanken des Tages wieder ordnete. „Wenn das wahr sein sollte, warum erscheint Ihr dann erst jetzt?“, platzte sein angesammelter Unmut aus ihm heraus. Doch der Mann schwieg, blieb stumm wie die weiße Polizeiumrandung einer Leiche vor den Angehörigen. „Willst du nicht reden oder was?“, hakte Kargal lauter nach, während sich seine Wangen rötlich verfärbten. „Diese Insel hat mehr, als nur mein Augenpaar und auch wenn du eines von ihnen zerstörst, so warten noch hundert weitere. Es wurde über dich gewacht, seit dem ersten Schritt, den du auf dieser Insel gemacht hast, dessen kannst du dir sicher sein“, erklärte sein Gegenüber emotionslos. Kargal wurde dabei etwas unsicher. Er verstand nicht mehr was man ihm sagte. Eifrig ließ er vor seinem inneren Ich die Bilder des Tages vorbeiziehen, um darauf den Mann zu suchen, bis sie in einem Tornado durch sein Gehirn wirbelten. Er war doch allein mit den Müllmännern gewesen, von was redete der Mann also? War er verrückt oder war er selbst nur blind? Kargal stand kurz davor nachzufragen, als ihm plötzlich das Bild der Ratte in den Sinn kam. Wie willenlos und gesteuert hatte sie ihn angesehen, bevor sie im Flammenmeer verbrannt wurde und mit einem Mal wurde Kargal alles klar. Wie viele kleine Kameras hatten ihn beobachtet? Es mussten Tausende und Abertausende sein, so viele, dass den Datenschützern beim Gedanken daran das Gehirn aus ihren Ohren geflossen wäre. Die Erkenntnis übermannte Kargal, doch sie erfüllte ihn nicht, sie entleerte ihn. Alles, was er sich zusammengebaut hatte, zerbrach wieder darunter, die Wut auf Kyle, die Einsamkeit des Ortes, es basierte alles alleine auf falschen Annahmen. Und wie im Reflex, fiel ihm ein neuer Gedanke ein. „Ich wäre fast gestorben wegen Euch“, reklamierte er laut und deutlich das, was ihn beschäftigte, doch wiederum folgte nur die alte, ekelhafte Stille, bis Kargal nicht mehr länger an sich halten konnte. Blitzschnell versuchte er auf den Gottgesandten einzuschlagen, doch als sein Arm ausgestreckt war, viel er fast von der Wucht seines eigenen Schlags vornüber. Überrascht sah Kargal nach unten und sah mit geweiteten Augen, wie sein Arm in einem Loch im Magen des Mannes in schwarz verschwand, das sich um ihn herum gebildet hatte. Dunkler Nebel waberte darin herum, vermischt mit einem schwarzen Schleim, der in kleinen Tröpfchen in der Luft schwebte. „Oh mein Gott“, rief Kargal entsetzt aus und zog seine Hand augenblicklich wieder heraus. Dahinter zog sich das Loch wieder langsam zu, bis der Mann aussah, als sei nie etwas geschehen. „Du bist nicht gestorben, ja, du hättest in diesem Moment gar nicht sterben können und tief in deinem Inneren, das du nur zu gerne vor dir selbst leugnest, weißt du es auch“, entschloss sich der Mann schließlich doch noch zu reden und unterbrach Kargal dabei in seinem fassungslosen Blick auf dessen Unterleib. Doch noch bevor Kargal in seine Gedanken hätte zurückfallen können, war der Zeigefinger des Fremden bereits, wie einst am Strand auf seiner Stirn gelandet. „Lass mich für dich die Tür zu deiner Seele etwas öffnen“, bat er, doch wartete keine Rückmeldung mehr ab.

    Kargal fühlte sich mit einem Mal so, als würde sein Gehirn gespalten... Es war keine Ruhe wie damals, nur purer Schmerz, der ihn durchfuhr. Er brüllte laut,,, doch der schwarze Mann nahm seinen Finger nicht wieder zurück und dann wurde es plötzlich doch still. Kargal sah nicht mehr die Welt um sich herum, sondern schwebte im Nirgendwo an sich selbst vorbei. Er sah Bilder, von sich selbst: Der erste Schultag, die erste Freundin, seine Einstellung als Kellner. Sie waren klar und deutlich, doch ein normaler Mensch hätte auf ihnen nichts, als ein einziges Chaos erkannt. Aber Kargal sah alles klar und deutlich, denn es waren nicht etwa die Absorptionen von Lichtwellen zu sehen, es waren perfekte Verbildlichungen, von dem, was er gedacht und gefühlt hatte, so schön, dass es seinen Augen wehtat von ihnen abzulassen. Doch wie weggerissen, flog er weiter und plötzlich sah er kein Bild mehr. Er sah sich selbst. Stehend auf den billigen, verrottenden Bretterdielen, neben einem alten Küchenbord, an dem Spinnweben wie Bambus wuchsen. Doch er konnte in sein Inneres sehen, das, was ihm bis dahin selbst verborgen gewesen war und diesmal folgte eine Erleuchtung, die ihn bis zum Überlaufen auffüllte. In diesem Moment ließ der Mann von Kargal ab und fing an, erneut zu sprechen: “Ich denke, wir können jetzt losgehen“

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    Kapitel 16

    Mit leerem Blick sah Kargal in das unendliche Schwarz der Kapuze, während vor der Hütte ein leichter Wind aufkam und einen leeren Joghurtbecher aus einem der scheinbar massiven Müllhügel herauslöste. Kargal nahm es nicht wahr, zusammen mit dem Rest der Welt. Sein Herz pumpte unaufhörlich Sauerstoff durch seinen Körper, doch nichts schien den Bedarf seines Gehirns decken zu können, in dem unaufhörlich Bilder hindurchflimmerten. Es war, als ob jemand ihn wie eine Festplatte formatiert hatte, nur um die gleichen Daten nun neu aufzuspielen, doch der Virus war verschwunden. Kargal fühlte sich frei, befreit. Der Ärger über die Müllmänner, die Angst, die Wut, alle Gefühle waren auf einmal wertlos geworden, Schuppen seiner selbst, vom Anzug weggebürstet. Nur Eines beseelte ihn noch und jenes Etwas war stärker, als alles Andere, ein vor langer Zeit angesetzter Sud, der nun bereit war, jeder von Kargals Zellen seinen Geschmack einzuimpfen. Doch die einzige Zutat, die er beinhaltete war nicht etwa das Gefühl von Liebe, sondern blanke Abscheu.

    Erinnerungen an vergangene Tage auf Khorinis wurden in Kargal wach, als die alte Krypta, im Norden des Landes zur Erschließung neuen Wohraums abgetragen wurde und der Bürgermeister fröhlich dem Immobilienhai die Hände schüttelte. Kargal spürte die Wut von einst wieder in sich hochsteigen. „Ein großer Schritt für unser schönes Khorinis“, hallte die Radioansage des Bürgermeisters in seinem Kopf von Synapse zu Synapse und fühlte sich an, als ob sie ebenjene dabei auch gleich mit in die Vergangenheit zerrte. Einige junge Studenten vom Festland waren damals gekommen, um gegen das rabiate Vorgehen der Großen zu demonstrieren, erfolglos natürlich. Kargal erinnerte sich wieder, wie er sich ihnen angeschlossen hatte und voller Überzeugung, etwas bewirken zu können, eine Packung Eier aus Käfighaltung an der Fassade des Rathauses zerschellen lassen hatte.

    Doch nun gab er die Schuld nicht länger dem Händler, nicht dem selbstgefälligen Bürgermeister. Sie taten was sie durften und wenn nicht, das was sie konnten, so wie es Tiere taten. Nein, das Problem lag bei denjenigen, welche es als ihre oberste Bürgerpflicht ansahen, ihren Rasen zu mähen, bis die Grashalme gleichgeschaltete, stramme Soldaten, wie ihr menschlicher Oberst waren. Es lag bei jedem Mitglied eines beliebigen Stammtisches, der es als „Schade“ empfand, wie sich alles entwickelte, um sich darauf ein Bier Marke Paladiner hinter die Binde zu kippen und bei der nächsten Wahl bei den gleichen, regierenden Parteien sein Kreuzchen zu machen. Und nicht zuletzt lag es an jedem Einzelnen, der mit dem Begriff „Fortschritt“ jede Diskussion im Keim erstickte. Kargal begann leicht zu zittern. Er hatte alles miterlebt, teilwiese sogar gelebt. Er kannte die Menschen und manch einen von ihnen hatte er sogar naiv als „Freund“ betitelt, doch nun konnte er kaum noch den Breichreiz bei dem Gedanken an sie unterdrücken. Generationen über Generationen hatten sie Khorinis zu dem geformt, was es nun war und wie einen Gendefekt hatten sie ihre Haltung vererbt. Sie alle hatten sich schuldig gemacht an der Insel, ihren Vorfahren, den Göttern und nicht zuletzt an sich selbst. Sie sahen die Wahrheit, fühlten das Wahre und als es ihnen unangenehm wurde, erfanden sie schließlich Lügen, die sie sich einredeten, bis sie selbst an sie glaubten.

    Plötzlich bemerkte Kargal, dass er anstatt auf den Fremden, nur noch auf einen biederen Holzschrank aus dem letzten Jahrzehnt blickte. Durch ein eingeschlagenes Loch schaute eine Dose gebackener Bohnen in Tomatensoße zurück. Langsam drehte sich Kargal zur Landschaft hin, welche die Gesellschaft geformt und in der untergehenden Sonne golden zu glänzen begonnen hatte. Einige Meter von ihm entfernt stand der Mann in seiner dunklen Robe inmitten des Unrats, die dunkle Kapuzenöffnung zu ihm gewandt. Seine Haltung barg eine stille Aufforderung in sich und Kargal schritt, ihr nachkommend, langsam aus der schäbigen Baracke seines Vorgängers heraus und atmete die vom Abend gekühlte Luft ein. Er war nicht hergekommen, um mit irgendwelchen Geräten in der Gegend herumzufahren, seine Aufgabe war nicht, sich mit fremden Menschen, die er nicht mochte, herumzustreiten. Er war ein Müllmann und seine Bestimmung war, sich um den Dreck zu kümmern. Das Kracken eines Plastikbechers erklang wie zur Bestätigung unter Kargals Schuhsohlen.
    Geändert von Oblomow (07.09.2010 um 09:24 Uhr)

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    Kapitel 17

    Ein leichter Wind war aufgekommen und ließ die Robe des schwarzen Mannes Kargal wild entgegenflattern, während dieser mit aller Not versuchte, den Fetzen Stoff nicht davoneilen zu lassen. Müllberg um Müllberg hatte ihn der Fremde erklimmen lassen, nur um sie wieder hinabzusteigen, doch Kargal dachte nicht daran, von seinem Führer abzulassen. Seine Augen hatten sich wie das Maul eines Bluthundes an dem Unbekannten festgebissen und alles in ihm drängte sie dazu, in diesem Zustand zu verbleiben. Schritt um Schritt trat er entschlossen nach vorne. Seine Körperhaltung hatte sich zu der eines Soldaten gewandelt, dessen Brust stolz und steif seine Überzeugung an die Welt übermitteln wollte. Er wollte endlich sehen, was ihm bestimmt war zuteil zu werden. Er beschleunigte ein weiteres Mal seinen Schritt, der Mann in schwarz wurde ebenfalls schneller. Für den Bruchteil eines Momentes kam in Kargal die Frage auf, ob der Mann ihn gesehen hatte, doch lief Kargal lieber weiter, als seine Neugier zu stillen. War es schließlich nicht egal, was der Bote konnte? Es ging immerhin um ihn allein, den zukünftigen Richter von Khorinis, den Erwählten, der mehr können würde als jene Gestalt, welche ihn bisher noch so zu faszinieren und verstören wusste. Was konnte er schon wissen, was besonders können, wenn nicht er selbst, sondern ein Anderer die wichtigen Aufgaben von dem großen Gott selbst erhielt. Kargals Muskeln spannten sich dabei an, dass sein Marsch sogar noch steifer wirkte, als zuvor. Gemeinsam eilten sie durch das nächste Tal, in welchem es sich einige verrostete Motoren gemütlich gemacht hatten und mit einem Mal fiel Kargal auf, dass der Fremde sich fast statisch vorwärts zu bewegen schien. Er ließ sich etwas zurückfallen und erneut passte sich der Fremde wie automatisch Kargals Geschwindigkeit an. Leichte Verwirrung trat in Kargals Gesicht, bis, am nächsten Hang angekommen, ein großes Staunen die Herrschaft darüber ergriff. Der Fremde schwebte starr mehrere Zentimeter über dem, zum Einsinken bestimmten, Grund aus Müll vor ihm her. Der Fremde wurde langsamer und langsamer, während Kargal auf ihn schaute, bis er schließlich ganz stehen blieb. Mit einem nun unruhigen Gefühl sah Kargal an sich hinab und erkannte, was er befürchtet hatte, er selbst war ebenfalls zum Stillstand gekommen. Seine Brust schrumpfte wieder auf ihre vorige Normalgröße. Er hatte mit Mächten zu tun, die er nicht einmal fassen konnte und selbst wenn er auserwählt worden war, er stand noch kilometerweit entfernt von all den Geheimnissen der Magie, die sein Führer schon lange kennen musste. „Wer oder was bist du?“, fragte Kargal den Boten, welcher sich nicht einmal umgedreht hatte. „Was willst du denn als Antwort hören?“, gab er kühl zurück. „Ich bin nichts besondereres als du, wenn du das wissen willst, all das was du siehst, wirst du selbst erlernen können, wenn du nur den nötigen Willen dazu aufbringst“, lieferte er eine Erklärung nach. Kargal schaute mit leerem Blick auf die sich über dem Boden im Wind wellende Robe. War es wirklich möglich, dass er all das einfach so erlernen konnte, wovon er bis zum heutigen Tag nicht einmal gedacht hatte, dass etwas Derartiges überhaupt möglich war? Der Mann in schwarz stand ungerührt wie ein Fels über ihm. Kargal war sich im Unklaren darüber, ob es Gleichgültigkeit oder die feste Überzeugung, dass er ihm weiter folgen würde waren, der Hintergrund für diese Ruhe waren, doch ihn selbst beunruhigte sie nur. Er atmete einmal tief ein, dann lief er weiter. Der Mann in Schwarz tat es ihm gleich.

    Der Mond beschien ihren Weg, als sie bei einer Höhle ankamen. Nicht weit entfernt glaubte Kargal das Brechen der Wellen zu hören, als sie sich in den vollkommen dunklen Schlund begaben. Wenig später hörte er nichts mehr, außer dem Geräusch seiner eigenen Schritte und ihrem Hall, der von den Wänden zurückgeworfen wurde. Fast ziellos irrte er in jene Richtung, in welcher er den Mann vermutete, bis er plötzlich auf festen Erdboden trat und ein gleißendes violettes Licht mit einem Mal den gesamten Komplex erhellte. Reflexartig wandte Kargal seinen Kopf zu dessen Ursprung und erkannte eine hell strahlende Sonne, die wie ein Heiligenschein über dem Kopf des Fremden ihr Licht aussandte. Kargal erkannte nun auch die Wände des Gewölbes an denen an einigen Stellen nebst der Endmoräne des Mülls einige verstaubte Maschinenpickel und anderes Bauwerkzeug angelehnt waren, offenbar seit Jahrzehnten ungenutzt. „Wahrscheinlich noch von der Erschließung der Insel“, murmelte Kargal leise, bevor er in die Richtung des Mannes ging und sie in einen gemauerten Gang einbogen. Ein leichter Schauer lief dabei über Kargals Rücken. Er fühlte förmlich, die Bedeutung jenes Platzes, als sie durch einen Raum mit erhöhtem Steinblock in der Mitte schritten und direkt einige Meter weiter in einen neuen Teil der Höhlenwelt eintauchten. Spuren von Abfall kamen wieder auf, doch sie nahmen nicht mehr die Vibrationen der Macht aus der Luft, die Kargal nun fast zum Platzen brachten. Beständig kamen sie voran, bis sich ein großes, totes Müllfeld vor ihnen zeigte, hinter dem zwei große Türme versuchten mit ihren Spitzen, die braune Decke zu kratzen. „Wir sind jetzt fast da“, informierte der Schwarzmagier Kargal, der nun anfing zu rennen, während vor ihm der schwarze Mann über den Boden hinwegflog. Immer weiter lief er, bis er schließlich große Säulen von schier unendlichem Alter vor ihm erkannte und der Fremde verkündete: „Dies ist der Tempel von Irdorath.“
    Geändert von Oblomow (26.12.2010 um 23:19 Uhr)

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    Kapitel 18

    Der violette Schein des magischen Lichts tänzelte entlang der kunstvoll gearbeiteten Fassade und führte ein Ballett auf, von welchem Kargal sich kaum mehr zu lösen vermochte. Minutenlang verharrte er im stillen Andenken, an die Geschichten, welche jener Ort in sich barg, bis ihn die kalte Stimme des Mannes aus seinen Gedanken riss. „Folge mir in den Tempel und verhalte dich angemessen“, forderte sie Kargal auf, hinter ihm durch den Eingang zu treten. Kargals Körper zitterte noch immer. Es war soweit, er würde die Hallen der einstigen Schwarzmagier betreten. Glorreich war jener Moment in seinen Vorstellungen gewesen, so, dass es nun fast schon einem Frevel gleich kam, den geweihten Boden mit seinen menschlichen Füßen zu betreten. Doch nun tat er es einfach. Schritt um Schritt ging er voran, bis er die Schwelle schließlich überschritten hatte, welche ihn von einer neuen Welt getrennt haben sollte. Das Gefühl reiner Energie donnerte durch die kleinsten Kapillare seines Körpers und dann sah er es.

    Zerbrochene Bierflaschen kauerten in einer Ecke des kleinen Raumes, in dem er stand, auf einigen Seiten braunen Zeitungspapieres, scheinbar noch vor seiner eigenen Geburt datiert. Die Packung des Sixpacks von dem diese herrührten lag weich gepolstert nur wenige Zentimeter von Kargal entfernt auf einem Rest gelber Dämmwolle. Kargal ließ seinen Blick zu den Seiten wandern, von denen eine mit einer brutal aufgebrochenen Tür, die andere mit einer weißen Pressspanplatte dekoriert war. Ein Gefühl bitterer Ernüchterung schuf sich beißend Platz in seinem Körper. Seine Augen hingen an einem Graffito fest, welches in halbverblasstem Rot verkündete, dass Bob dumm sei. Kargal zweifelte nicht daran. Es war einer der vielen Barbaren, welche unwissend in jenen Ort eingedrungen und ihn geschändet hatten. Schweiß statt Geist waberte in der Luft herum und ließ den Ekel in Kargal erwachen, schlimmer als es die Müllberge, welch er an jenem Tag bestiegen hatte, vermocht hatten. Sie hatten an einem Thron herumgeschraubt und die majestätische Ausstrahlung zur fachgerechten Entsorgung mitgenommen. Ein leeres Gefühl, eine leise Erinnerung an jenes, was sein sollte, doch nicht länger war, blieb. „Im Raum nebenan wartet deine Robe auf dich“, informierte der Kuttenträger Kargal plötzlich inmitten der bebenden Stille, so nüchtern, als wusste er nicht um ihre Bedeutung. Kargal sah auf die altbekannte Schwärze, welche keine Auskunft über irgendetwas lieferte, nur der Arm wies ihn hin zu der schmucklosen Pressspanplatte.

    Langsam schlenderte Kargal auf sie zu, auch wenn nunmehr Optionslosigkeit die treibende Kraft geworden war. Achtlos warf er sie schließlich zur Seite und sah hinein in einen weiteren Raum. Baustoffe waren in Stapeln angeordnet, dass der Raum sich als Lager nahtlos in das Gesamtbild der vergessenen Hinterhofmülldeponien einreihte, auf denen des Nachts die Heroinsüchtigen eine Nadel mehr auf dem Weg zum Paradies stachen. Mit Ausnahme eines kleinen Details. Säuberlich zusammengefaltet, wie frisch aus einer Wäscherei, thronte es auf einem Stapel Waschbetonplatten. Mit einem leichten Zögern in seinem Schritt trat Kargal auf den Ballen schwarzen Stoffes zu, der wie ein vergessenes Kleinod wirkte. Seine rechte Hand glitt über den Stoff, welcher sich trotz seiner scheinbar groben Beschaffenheit wie Seide auf seinen Fingerkuppen anfühlte. Ein leichtes Kribbeln wanderte seine Wirbelsäule hinab. Eiliger denn je entledigte er sich seiner verschwitzten und verdreckten Kleidung und entfaltete die dunkle Kutte, um sie sich überzuziehen. Stolz ließ er seine Augen die violetten Linien, die sich von oben nach unten durch tiefes Schwarz zogen, entlangfahren. „Wenn du bereit dafür bist, so werde ich die Zeremonie nun vorbereiten“, bot der schwarze Mann plötzlich vom Eingangsraum aus an. Kargal nickte leicht wie in Trance und das Quietschen der aufgebrochenen Tür krächzte auf. Gespannt wandte er seinen Kopf zum Eingang des gegenüberliegenden Raumes. Für einen kurzen Moment überlegte er sich, sich auf einen der vielen Steinstapel zu setzen und die geschundenen Füße zu entlasten, doch entschied sich ebenso schnell dagegen, um seine Kutte nicht mit etwaigem Schmutz zu beflecken.

    Minuten des Wartens vergingen, bis ein dicker, violetter Nebel durch das Türfenster hindurch ihm entgegen kroch. Angsterfüllt wich Kargal einen Schritt zurück, doch stieß dabei nur mit seinen Schuhen an den kalten Stein. Unaufhaltsam schluckte der undurchschaubare Dunst den Abfall vor ihm, bis er seine eigenen Gelenke umhüllte. Kargal sog ein letztes Mal frische Luft ein, dann verschwand auch sein Kopf in der lilanen Wolke. Eine blasse Suppe waberte vor seinen Augen umher, unterbrochen von kleinen Blitzen, welche vereinzelt darin zuckten. Aus dem Nichts klangen Worte in seine Ohren, als ob die Redenden bereits in seiner Schnecke flüsterten. Sekunden vergingen auf diese Weise, dann musste er Luft holen. Der Nebel war kalt, doch roch er erfrischend süßlich, wie eine angebissene Erdbeere, auf deren Haut sich der Saft mit Morgentau mischte. Es war ein angenehmes Gefühl, bis Kargals Brust höllische Schmerzen an sein Gehirn zu senden begann, als ob jedes einzelne Lungenbläschen in ihr begann zu explodieren. Seine Augen drehten sich krankhaft nach oben, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Dann knickten seine Beine ein.

    Eine seltsame Aura umgab Kargals Sichtfeld als er wieder erwachte. Er kniete vor Jemandem, dessen Füße mit einer Kutte, wie er selbst sie trug, bedeckt waren, ohne zu wissen, wie es dazu gekommen war. Der Boden vor ihm war auf eine irdorathuntypische Weise sauber und gepflegt und der Schein brennender Fackeln spiegelte sich darin. Er wollte sich erheben, doch plötzlich senkten sich zwei Schwerter, glänzend, sodass er selbst sich in ihnen spiegelte, auf seine Schultern hinab. „Sieh mich an, Schüler“, forderte die Stimme des Mannes vor ihm und Kargal erhob seinen Kopf um in ein weiteres unbekanntes Schwarz einer Kapuze zu blicken. Aus den Augenwinkeln heraus konnte er im hinteren Teil des Zimmers eine weitere aufgereihte Schar Robenträger erkennen. „Sprich: Schwörst du, dein ganzes Leben, all deine Kraft und Fertigkeiten in den Dienste Beliars, des einzig wahren Gottes, zu stellen?“, erhob der Mann vor ihm das Wort. Kargal schluckte einmal. Das Ritual hatte begonnen, so schnell, dass die Worte seines Mundes nicht erst geordnet hatten werden können, bevor er sie sprach. Die Klingen neben seinem Hals wirkten bedrohlich scharf und Kargal war sich fast sicher, dass sie genau dafür da waren, diejenigen zu richten, welche nicht mit ihrem Herzen das Richtige zu sagen vermochten. „Ich schwöre“, schoss es aus ihm heraus, während seine Blicke immer wieder zu den Klingen links und rechts von ihm wanderten. „Schwörst du, die Gemeinde Irdoraths zu schützen vor Anhängern des Innos? Die Ketzer und Gotteslästerer zu strafen und sie dem Reiche Beliars zu verantworten?“, fuhr es aus dem Kapuzendunkeln fort. Es wirkte etwas unwirklich auf Kargal, waren jene Feinde doch längst vergangen, doch erneut antwortete er mit derselben Antwort. „So sei es“, bemerkte der Magier und drückte die Schwerter fester herunter. Die hinteren Reihen begannen einen tiefen Choral anzustimmen, während die Klingen an den Rändern sich in Kargals Haut einschnitten. Ein lauter Schrei löste sich aus seiner Kehle, der jedoch im tiefen, monotonen Gesang unterging. Immer unerträglicher wurde der Schmerz, während die Umwelt mit dem dunklen Chor zu schwingen begann. „Beliar, fahre ein in diesen Körper, stärke ihn mit deiner Kraft und leuchte ihm den richtigen Weg, hin zur Vollkommenheit“, dröhnte es für Kargal aus dem allumfassenden Nirgendwo, bevor die Klingen plötzlich wie ein Brandeisen auf seiner Haut wirkten. Unsäglicher Schmerz durchzuckte seinen Körper, während die Hauptzentrale auf Standby schaltete und es wieder schwarz um Kargal werden ließ.

    Kargal wusste nicht mehr wie lange er geschlafen hatte, als er wieder aufwachte. Er lag inmitten eines vermüllten Raumes auf dem Boden, während seine Schultern Schmerzsignale an die Hauptzentrale sandten. Er blinzelte etwas, bis er merkte, dass er in die Augenhöhle eines Schädels blickte und erschrocken auffuhr. Halb wach sah er sich um. Knochenhaufen lagen säuberlich aufgestapelt an der hinteren Wand, stumme Zeugen einer längst vergangenen Zeit. Ungläubig fasste Kargal an seine rechte Schulter. Schmerzvoll zuckte er zusammen und bestätigte damit den Irrsinn. „Ich werde dich jetzt zur Bibliothek führen“, unterbrach ihn plötzlich die vertraute Stimme des dunklen Mannes. Leicht verstört sah Kargal zu seiner Rechten. Er hatte schwören können, dass dort niemand gestanden hatte, doch mitten in seinen Gedanken vertieft lief der Mann in Schwarz wieder los.
    Geändert von Oblomow (20.03.2011 um 19:58 Uhr)

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    Kapitel 19

    Gemeinsam bogen sie in einen Gang, der sie tiefer hinein in das kalte Herz der Insel führte. Das magische Licht des Kuttenträgers leuchtete Kargal und enthüllte von Schattennetzen überzogenes Gerümpel, welches langsam seinem Lebensabend entgegensteuerte. Kargal hatte sich damit abgefunden. Es war schließlich nicht grundlos gewesen, ihn gerufen zu haben. Vorsichtig strich er sich, statt sich erneut zu erbosen, über die schmerzenden Schultern, nur um die Hand darauf mit einem reflexartigen Zucken wieder zurückzuziehen. Immer weiter drangen sie durch die Dunkelheit des Ganges, dessen scheinbare Unendlichkeit nur wenige Schritte darauf in einer kleinen Halle ihr Ende fand.

    „Pass auf, wohin du trittst“, warnte der dunkle Mann plötzlich nüchtern und ließ Kargals Blick nach unten richten. Knochen und Schädel schälten sich mit jedem weiteren Schritt aus der Schwärze heraus. Leere Augenhöhlen starrten stumm in das Licht, visierten ohne die Grenzen ihrer Regenbogenhäute den ganzen Raum an. „Das, was du siehst, sind diejenigen, welche ihr Leben hier einst in Beliars väterliche Hände legten, so wie nun auch du“, fing der dunkle Mann an zu erklären, während sie um eine Ecke bogen und gelbe Bauhelme begannen, das violette Licht zu spiegeln. „Und dies jene, die dachten ungestraft ihre Ruhe stören zu können“, beendete er seine Ansprache. Kargal blieb im Angesicht des sich vor ihm erstreckenden Schlachtfelds stehen. Mumifizierte Leichen in Arbeiterkleidung lagen wild verstreut in der kleinen Vorhalle, welche sie betreten hatten. Schwerter steckten in ihren Leibern, deren Stellung das Ende einer hoffnungslosen Flucht nahelegten. Offene Münder, ausgestreckte Arme, wie beim Springen, zusammengekauerte Gestalten, umringt von weißen Gebeinen, gaben einen leichten Eindruck dessen, was einst an jenem Ort geschehen sein mochte. In tiefer Befriedigung atmete Kargal langsam ein und aus. Es war natürlich falsch, unmenschlich, doch Kargal konnte sich jener endlosen Schönheit einer wahr gewordenen Hassfantasie nicht erwehren. Bob war nicht nur dumm, sondern höchstwahrscheinlich auch tot. „Es liegt noch viel in dieser Nacht vor dir, deswegen würde ich dir raten, schneller zu gehen“, unterbrach der Magier seine Gedanken. Kargal fasste sich wieder und verbannte den Drang noch länger an seinem persönlichen Paradies des Augenblicks zu verweilen. Seine unter der neuen Robe versteckten Füße stiegen über den ersten Körper und richteten sich erneut nach seinem Führer.

    Nur wenig später traten sie in einen weiteren Raum ein. Von den Seiten führten jeweils zwei Gänge weg, welche ihrerseits in ihrer Mitte eine Tür umschlossen, die es der Fantasie des Beobachters offen ließen, ob noch zwei weitere Gänge sich durch die Untiefen des Tempels gruben. Die Dichte an toten Bauarbeitern auf dem Boden war soweit gesunken, dass der Blick ungehindert auf den überraschend reinen, mosaikartigen Boden fallen konnte. „Tritt zurück“, wies der Mann Kargal plötzlich an und vorsichtig setzte dieser seinen rechten Fuß hinter sich. Der Schwarzmagier schritt indes langsam nach vorne, bis er direkt vor dem steinernen, ausdruckslosen Gesicht, das zentral an der Wand prangte, auf seine Knie sank. Für Kargal unverständliche Worte plätscherten aus dem Mund, zerstäubten sich wie bei einem hohen Wasserfall und verschwanden. Nachdem der Mann fertig gesprochen hatte, kehrte ein kleiner Moment der Ruhe ein, welcher zugleich den nötigen Raum für den darauf folgenden Lärm bot, um sich auszubreiten. Reibgeräusche wie von Mühlsteinen aus dem Mittelalter beschallten den Eingangsraum. Der Boden begann unheimlich zu vibrieren, ehe wie durch Magie vier Kugeln, anscheinend nur aus Licht gebaut, aus dem Boden herausdrangen. Staunend sah Kargal hinein in ihr zuckendes Blau, doch wurde sogleich von einem mechanischen Klacken darin unterbrochen. Überrascht sah er auf, direkt in das kontinuierlich gleichmütige Gesicht, um das sich nun wild der zuvor nicht wahrgenommene, eiserne Ring wie eine alte Telefonwählscheibe drehte, jeweils mit dem schnellen Aufschnappen eines der vier Verschlüsse, als Zeichen, dass die Nummer erfolgreich angenommen wurde. Als schließlich die letzte Drehung beendet war schoben sich aus den Wänden zu den Seiten zwei massive stählerne Arme und griffen in den Ring, um ihn mit sich zu nehmen, wobei es schien, als würden sie ihn in zwei saubere Hälften zerbrechen. Knarrend schwang das Tor auf und gab den Blick auf eine Passage angeschwärzter Säulen frei, hinter denen in der Dunkelheit eine Ahnung des Nichts in die Realität diffundierte. Der Magier erhob sich wieder, ohne sich jedoch Kargal zuzuwenden. „Folge mir“, forderte er ihn auf und schritt in Richtung der Dunkelheit, sodass er fast schon verschwunden war, als Kargal sich ebenfalls wieder in Bewegung setzte.

    Eine feuchte Kälte drückte durch das Fasernetz seiner Kutte, als er durch den Säulengang in eine weiträumige, dunkle Halle eintrat. Von fern leuchteten ihm zwei rote Lichter entgegen, hinter denen die Schemen irgendeines Tieres vage zu erkennen waren. Doch Kargal bekam keine Zeit mehr zugestanden, den Tempel weiter unter die Lupe zu nehmen. Die hallenden Schritte des Fremden, der, wie Kargal erst jetzt auffiel, wieder auf dem Boden lief, mahnten ihn zur Eile. Und letztlich fühlte auch er, dass es an der Zeit war, mit der Arbeit zu beginnen. Zu lange hatte er nur herumgestanden, zu lange sinnlos in die Gegend gestarrt. Eilig bog Kargal hinter dem dunklen Mann in einen kleineren Raum zur rechten Seite und blieb erschrocken stehen. Ein paar Knochen lagen in verrosteten Handschellen inmitten vermoderten Holzes, doch was Kargal bewegte war eine einfache Wand. Eine Wand die existierte, unverrückbar dafür sorgte, dass nicht noch mehr Raum in das Zimmer eindringen konnte, doch vor Allem eine Wand an der Träume nur zu leicht zerschellen konnten. „Was...“, wollte Kargal zu reden ansetzen, doch der schwarze Mann erhob nur seine Hand, um ihm Ruhe zu bedeuten. Unbefriedigt kam Kargal dem Befehl nach und sah zu wie der Magier beide Arme zu den Seiten ausstreckte. Ein weiteres Mal begann er unverständliche Worte vor sich hinzumurmeln, die nicht bis an Kargals Ohren gelangten und nur zu offensichtlich wohl erneut nicht für ihn bestimmt waren. Ungläubig verfolgte Kargal das Gebaren seines Führers und wie simultan dazu die massive Steinwand vor ihm in grünem Licht zu pulsieren begann. Im Takt des Herzschlages wurde das grün intensiver, bis plötzlich die Wand zerbrach und den Blick auf einen Raum freigab, aus dem Bücherregale den Besucher von fern begrüßten.

    Ohne weiteres Halten rannte Kargal hinein in die Bibliothek. Fasziniert sah er um sich, während er sich im Kreis drehte und dabei fast umfiel. Die Bibliothek war ellipsenförmig angelegt. Die breiten Seiten flankierten drei, jeweils nach hinten versetzte, Etagen, voll mit riesigen Bücherregalen. An ihnen waren nicht minder hohe Holzleitern, die auf Schienen standen, angelehnt, um dem Leser leichten Zugang zu dem Objekt seines Interesses zu verschaffen. Dem Eingang gegenüber wuchs aus dem Boden ein Umhang gen Decke, als hätte man unter der Tischdecke den Kerzenständer stehen gelassen. Die Augen Kargals wanderten den geschwungenen Stein hinauf, bis aus diesem kurz vor der Decke ein Kopf mit goldener Zackenkrone spross. Grob eingravierte Striche, die wohl Augen darstellen sollten, schauten von dort auf ihn zurück. Kargal wusste nicht genau, wen die Statue darstellen sollte, doch war er sich fast sicher, dass nur Beliar selbst des Aufwands wert gewesen sein konnte. Knappen Atems drehte er sich zum Eingang hin um. An den Seiten des rechteckigen Eingangsloches streckten sich die Treppen in die Höhe, bis sie im dritten Stockwerk endeten. „Wenn du genug gesehen hast, so stelle ich dir nun deine erste Aufgabe“, teilte ihm der dunkle Mann mit, der ruhigen Fußes in der Zwischenzeit nachgekommen war. Langsam, wenn auch widerwillig löste Kargal die Augen von einigen Büchern mit brüchigen Ledereinbänden und lenkte seine Konzentration wieder auf seinen Mentor. „Gut“, setzte dieser wieder ein und fuhr gleich weiter fort.

    „Sodenn, deine Aufgabe in dieser Nacht soll es sein, zu erlernen, wie du dir Zutritt zur Bibliothek verschaffen kannst“, verkündete der Magier wortgewaltig. Ein selbstsicheres Schmunzeln umspielte dabei Kargals Lippen. Gedanken daran, was er noch alles lesen konnte, hatte er sich erst die Wörter eingeprägt schwirrten und sirrten in seinem Kopf herum. „Das ist ja einfach, wo steht der Zauberspruch?“, erwiderte er vergnügt. „Er steht in einem der vielen Bücher, die du hier siehst und solltest du jene Überzeugung noch dein Eigen nennen, welche ich in dir erkannt habe, sollte es auch kein Problem darstellen, dieses auch zu finden“, stellte der Fremde klar und drängte Kargals Blut weit hinter jene Wand, die es zuvor noch stolz zur Schau gestellt hatte. Er versuchte zu ergründen, ob ihm nicht möglicherweise der erste schlechte Scherz des Fremden zuteil geworden war, doch die Kapuze seines Gegenübers, hatte seit der ersten Begegnung nichts von ihrer abblockenden Wirkung eingebüßt. „Ich empfehle dir, dich zu beeilen, denn wenn die ersten Sonnenstrahlen Irdorath erreichen, wird der Zauber, der diesen Ort offen hält seine Wirkung verlieren und dich aus der Bibliothek verbannen. Und bevor die Frage aufkommen sollte, ich werde ihn nicht wieder für dich öffnen“, sprach der Magier und während Kargal noch verzweifelt versuchte ein paar Fragen zu formulieren, löste sich der Mann in einem blauen Lichtschein einfach auf.

    Verlassen sah Kargal auf die riesigen, nun eher bedrohlich denn eindrucksvoll wirkenden Regale. „Kein Problem“, hallten die Worte seines verschwundenen Mentors in seinem Kopf nach. Kargal sah sich erneut um und versuchte abzuschätzen, wie viele Bücher auf ihn warteten, ohne jedoch einen Erfolg zu erzielen. Doch konnte er wohl daraus schließen, dass er sehr wohl Probleme hatte, so lange ihm nicht ein übernatürliches Glück beschieden war. Zögerlich ging er einige Schritte nach links, um wahllos auszutesten, ob eben jenes an ihm haftete. Ein Buch in grünem Einband landete in seinen Händen, ohne Aufschrift, ohne sonst irgendwelche Details, die es hervorhoben. Vorsichtig schlug er den Buchdeckel auf. Eine mehrseitige Inhaltsangabe in schwer leserlicher, alter Schreibschrift zog sich über das brüchige Papier, das sich auf Kargals Haut so anfühlte, als würde eine falsche Bewegung ihn nur noch Staub in Händen halten lassen. Leichter Frust stellte sich bei Kargal ein, als auf Seite 17 immer noch kein Hinweis auf irgendetwas, das mit der Bibliothek auch nur ansatzweise zu tun haben konnte, zu finden war. Er hatte kein Glück gepachtet, war nicht wie ein Held aus zweitklassigen Fantasyromanen, denen alles in den Schoß fiel, kaum hatten sie mit irgendetwas begonnen. Missmutig wühlte er sich dennoch weiter, doch bis auf Techniken, mit denen man Blutfliegen mit Fleischwanzen kreuzen konnte hinzuweisen, besaß der Rest des Verzeichnisses keine Funktion mehr. Kargal stellte das Buch zurück.

    Er sah sich wieder in der Halle um. Was sollte er gelernt haben, um ein Buch aus Millionen herausfiltern zu können? „Vielleicht den Dreck suchen“, beantwortete Kargal die Frage selbst und ließ ein verzweifeltes Lachen folgen. So verzweifelt, dass es ihm einen verstohlenen Seitenblick abverlangte. Ein Irrsinn? Sicherlich. Doch war es nicht auch Irrsinn, vom einen auf den anderen Tag vom 4-Sterne Hotel zur städtischen Mülldeponie übergewechselt zu sein? Ein Irrsinn, dass er in einer Bibliothek stand, die tausend Jahre unberührt hinter verschlossenen Toren und Leichenfeldern unbeschadet überdauert hatte? Kargal sah sich um, doch unabhängig von seinen Gedanken, fand Kargal kein Buch, von dessen Äußerem auf einen sorglosen Umgang zu schließen war. Er drehte sich wieder um. Ein Farbreigen der Monotonie stand ihm entgegen. Suchte er einen blauen Einband? Und wenn ja, wie sollte er darauf kommen, waren doch rote, grüne und schwarze Bücher nicht weniger häufig in den Regalwänden anzutreffen. Sein Blick ging nach oben. Winzige Farbpunkte blinkten ihm auch von dort entgegen, zogen ihn an, in ihrer Botschaft, das Fehlen von Anhaltspunkten nicht zu hinterfragen. Er begann es trotzdem zu versuchen. Die wohl-und gleich geformten Stufen zogen unter Kargals Füßen vorbei, als er auf der linken Treppe nach oben schritt. Der untere Teil der Regale des ersten Stockwerks tauchten auf und vollendeten damit doch nur eine billige Kopie des Gesamtbildes. Willkürlich falsch gesetzte Farbtupfer machten den alleinigen Unterschied aus, der sich nicht als solcher anfühlte. Seine Beine schoben ihn nach oben in das letzte Geschoss und die Szenerie änderte sich nicht. Keine Aussagen, kein System, keine Beschriftungen, nichts das ihm Irgendwie weiterzuhelfen schien, weil es offenbar nicht angedacht war, Irgendjemandem zu helfen.

    „Scheiße“, entfuhr Kargal mit einem Mal ein Schrei. Das tote Holz der Regale sog ihn wortlos in sich auf. Mit einem Mal war Kargal sich des gesamten Dilemmas bewusst geworden, dem er sich gestellt hatte. Er war ohne Hilfe hilflos verloren. Er hatte keine Ideen, kein Gefühl und kein Glück und den Regeln entsprechend, würde er bereits am nächsten Tag wieder den Hafen von Khorinis ansteuern, um vor seinem Chef darum zu betteln, dass er ihn nicht entließ. Tief atmend lief er die Regale entlang, während er an seinen, auf zusehends stärker verkrampften Fingern sitzenden, Nägeln zu kauen begann. Ein paar Stunden hatte er noch Zeit und vielleicht konnte er das Buch auch durch Zufall finden. Eine Idee, nicht besser als der Ausbruchsversuch eines Bullen kurz vor seiner Schlachtung. Außer der Extraportion Verzweiflung war davon nichts zu erwarten. Aber konnte er sich dessen sicher sein, ohne es versucht zu haben? Das Ende der Galerie war fast erreicht und Kargal sah auf Augenhöhe in die eingehauenen Schlitze der großen Statue. Von unten hatte es ihm so geschienen, dass sie herabblickende Verachtung ausdrückten. Nun, da er direkt vor ihnen stand, gaben sie ihm jedoch ein genau so großes Rätsel wie das unbekannte Gesicht des Fremden auf. Doch genau diese Ungewissheit ließ in ihm ein noch unangenehmeres Gefühl als er schon hatte aufkommen. Er wandte sein Gesicht dem Regal neben ihm zu und erkannte seinen Gegner. Eine Waffe, geladen mit nahezu unendlicher Munition in Form von geschriebenem Wort erwartete ihn. Ein Kampf mit Klassenunterschied, Eingeborenenvolk gegen Weltmacht, stand ihm bevor. Vorsichtig kniete er sich nieder und zog das erste Buch aus der unteren, rechten Ecke. Ungeduldig durchblätterte er die ersten Seiten, doch Kapiteltitel, wie „Gesteinssorten für traditionell korrekte Steinsäulen“, ließen schnell darauf schließen, dass jenes Buch eher wenig mit der Zielfindung konform ging. Missmutig griff Kargal das nächste Exemplar heraus und stellte es nach Anblick des Titels „Jahreszyklus der sakralen Roben“, welcher gnädigerweise auf der ersten Seite verewigt war, sogleich wieder zurück. Gleichzeitig gelangte er dabei zu der sicheren Erkenntnis, dass die Ordnung einer normalen Bibliothek kaum auf jenen Ort zu übertragen war. Eine alphabetische Sortierung, war den Verantwortlichen offenbar egal oder ungenehm gewesen.

    Kargal schloss seine Augen, um einen Moment Ruhe zum Denken zu finden, bis er bemerkte, dass sein Körper diesen zu etwas ganz Anderem nutzen wollte. Geschockt riss Kargal die Augen auf. „Bleib wach, verdammt“, versuchte er sich laut selbst aufzuwecken. Aufkeimende Kopfschmerzen und ein zittriger Atem waren die Antwort. Er hatte seinen Körper zu lange beansprucht, wie an so manchem Morgen seinen billigen Akkurasierer, nur hatte er für dieses Problem keine praktische Lösung, wie ein Kabel parat. Er musste weitermachen, wollte er wach bleiben, ansonsten war es für ihn vorbei. Er nahm ein weiteres Buch aus dem Regal, dessen Inhalt jedoch annähernd so hilfreich war, wie das seiner Vorgänger. Knurrend riss Kargal den nächsten Einband an sich. „Gilberts Tagebücher“, stand in fetten Goldlettern darauf. Das Buch war leicht, nicht dicker als ein Schulheft und nutzte dem Anschein nach auch nicht zu mehr, als einer halben Stunde seichter Unterhaltung. Die Frage was solch ein Werk unter Fachbüchern zu suchen hatte, stellte sich Kargal nicht mehr. Wütend schleuderte er es stattdessen hinter sich die Stockwerke hinab. Unaufhörlich grub Kargal sich voran. Buchdeckel klappten auf und zu, wirbelten den Staub der Jahre auf. Trockenes lähmendes Gift, das in die Nase stieg und sie von innen bepuderte. Ewigkeiten vergingen und Massen an nutzlosen Büchern passierten die schwachen Hände Kargals, bis der Staub wirkte. Trockene Fusseln, die sich mit Rotze gepaart verfestigten oder noch schlimmer, darin herumschwommen, zwangen Kargal inne zu halten, um sich in der Nase zu bohren. Das Kratzen nach Schmodder, so unkultiviert es auch war, wirkte entspannend und so beendete er auch nur widerwillig seine behelfsmäßige Reinigung.

    Er hatte sich aus seiner knienden Position dazu erhoben gehabt, nun stand er wie zu Beginn vor dem großen Regal, dessen unterste Reihe er allen Mühen zum Trotz nur bis zur Hälfte durchsucht hatte. Wie viel Zeit vergangen war, sein Geist konnte es nicht erraten, wie viel ihm noch zustand, unmöglich zu ergründen. Doch ihr Nutzen, das konnte er erahnen, ließ sich an einer gegen Null konvergierenden Funktion ablesen und er war dem Grenzwert sehr nahe gekommen. Er wollte schlafen. Er konnte nicht schlafen. Und so würde ihn sein Körper langsam in die Knie zwingen. Ein Hauch unbestimmter Wut, deren Ziel so wenig auszumachen war, wie das von ihm gesuchte Buch, kam in ihm auf. Er wollte irgendjemanden würgen, nur war niemand da, der sich als Opfer melden konnte. Es gab nur ihn, ihn und die Bücher. Er begutachtete das nächste Werk in der endlosen Reihe, die er zu prüfen hatte. Wie wahrscheinlich war es denn, dass dieses ebenjenes war, das er suchte? War es nicht viel wahrscheinlicher, dass in der ersten Etage, leicht zugänglich oder versteckt der erlösende Spruch auf ihn wartete? War es nicht sogar noch wahrscheinlicher irgendwo, ihm gegenüber interessantere Bücher anzutreffen, inmitten derer er auch endlich seinen Zauberspruch finden würde? Seine Augen verengten sich zu dünnen Schlitzen. Es war ein schwarzer Einband, ohne Beschriftung. Er hatte nichts außergewöhnlicheres, als die Anhäufungen unnützen Wissens zu seiner Rechten aufzuweisen und doch war sich Kargal mit einem Mal sicher, dass es genau dieser Eine war, den er suchte. Und es war mehr als nur der Mut der Verzweiflung, den er verspürte. Die Puzzlestücke setzten sich zusammen, ergaben ein Bild. Welche Prüfung konnte seinen Willen schließlich mehr auf die Probe stellen, als jene, deren kleinere Beispiele er zuhauf an jenem Tag zu bestreiten gehabt hatte? Dort musste man suchen, wo man glaubte nichts mehr zu finden, das tun, was auf den ersten Blick sinnlos erschien, dort weitergehen, wo man glaubte, nicht mehr weitergehen zu können. Kargal wollte fast lachen, so trivial erschien ihm mit einem Mal der Hinweis des Magiers. Hoffnungsvoll griff er nach dem Leder und klappte die Inhaltsangabe auf. „Goblinknochen und ihr Einfluss auf die Qualität dunkler Runen“, stand dort gut leserlich als Titel des ersten Kapitels und Kargals Gesicht versteinerte sich.

    Das Buch brachte ihm nichts, so sehr er auch daran geglaubt hatte. Nicht fassend, was er sah, nahm Kargal den nächsten Band heraus, eine Fortsetzung der sakralen Roben im Jahreskreis, die vierte. Für Kargal nur ein weiterer Schlag in sein Gesicht. Noch einen halben Meter wühlte er sich weiter, dann sank er vor dem Regal geschlagen nieder. Nichts war leicht. Der vermeintliche Hinweis mutierte trotz der simplen Genialität, die Kargal herausgelesen hatte wieder zurück von der Information zu einem Datum und die Zeit, von der er nicht einschätzen konnte, ob sie denn sogleich abgelaufen sein würde oder nicht, drängte ihn. Er musste seine Suche schnell fortsetzen, wollte er noch etwas erreichen, oder aber den erlösenden Einfall aus dem Meer von Teer fischen, in dem die Fauna zu tot war, um anzubeißen. Doch er wusste nicht mehr, ob er es wollte. Konstanter Druck breitete sich über seine Stirn aus und gestaltete das Denken schwer. Er wollte endlich schlafen. Vielleicht konnte er ja um Nachsicht bitten, kam ihm ein Gedanke, doch war dieser trotz Kargals Müdigkeit noch zu abstrus. Natürlich würde er keine zweite Chance bekommen. Er musste die Prüfung jetzt oder nie schaffen. Und der zweite Weg erstreckte sich als gefederter Waldpfad vor ihm, weg von jener Schlucht, an deren Hang der erste wie abgebrochen, sich die Klippen herabstürzte. Ein fast sicheres Versagen stand reiner Entspannung entgegen, der Kargal nur zu gern nachgehen wollte. Sollte ihn der Zauber aus der Bibliothek werfen und der Mann ihm erklären, dass sein Schweben ein offensichtlicher Hinweis auf ein Millimeter über dem Regalboden hängenden Buch gewesen wäre, er gab inzwischen darauf soviel wie auf trocknende Kotze an einem heißen Sommerabend. Ein unangenehmes Gefühl, von nicht vorhandener Relevanz. Er war offenbar nicht in der Lage, die Anforderungen an einen Erwählten erfüllen zu können. Eine bittere Erkenntnis, nicht leicht einzugestehen, doch fehlte ihm die Kraft, sie weiter zu leugnen. Die Last, versagt zu haben, er würde sie den Rest seines Lebens tragen müssen. Kargal atmete schwer, dann fielen ihm die Augen zu. Ein süßes Gefühl der Erholung dämpfte den Schmerz in seinem Kopf, während das Gefühl in seinem Bauch sich jedoch nur noch verstärkte. Die Knorpelmasse zwischen seinen Knochen wirkte, als ob kaum merkliche Stromstöße von ihr ausgingen und die Muskeln verkrampft aufzucken ließen. Sein Magen grummelte, während aus Schmerz und Müdigkeit die ersten verwirrten Träume entstanden.

    Verzogene Fragmente eines Mannes hoben inmitten dunklen Gewittertreibens eine Soja-Reis-Drink-Tetrapackung gen Himmel. Bräunlich verfärbtes Bratfett sprudelte aus ihr heraus, das zusammen mit darin gelösten Papierschnipseln aus zerschredderten Büchern eine Recyclingmasse für den Sondermüll bildete. An der Spitze der Fontäne hüpfte in halbhellem Licht ein Buch mit goldenen Beschlägen auf und nieder. Fett härtete sich an seiner Oberfläche aus, dass fast der gesamte Einband bereits davon umhüllt worden war. „Hol es dir“, „Na komm schon“, „Nur noch dieses eine“, „Was bist du? Ein Versager?“, drangen Stimmen aus dem Nichts an Kargals Ohr. Er musste wohl an das Buch kommen, sammelten sich seine Gedanken. Von endlos weiter Ferne hallte ein Schuss durch die Landschaft. Eine Kugel durchbohrte dennoch seine rechte Schulter. Stechender Schmerz durchfuhr seinen Arm, doch er rannte los, musste es, weil der Startschuss gefallen war. Blut zeichnete einen roten Faden auf den Boden, dessen Aussehen er nicht kannte und er lief der Spur entlang, die mit ihm sichtbar wurde. Die Masse unter seine Füßen rollte zur Seite, sank mit ihm ein, verformte sich so, dass das Vorankommen mit jedem Schritt schwerer fiel. Mit einem Mal beleuchteten zwei rote Lichter seinen Oberkörper und Kargal sah auf zu dem Mann, dessen Augen zu zwei roten Scheinwerfern mutiert waren. Schwarzer Rauch trat aus seinem, zu Dreiecken abstrahierten, Mund. „Hol dir das Buch, na los“, forderte er in maschinellem Klang und drehte die Öffnung der Reisdrinkpackung hin zu Kargal. Kochend heiße Fettmasse ergoss sich über Kargal, verbrühte seine Haut, ließ ihn absinken in ein Moor, das um ihn herum entstand. Und das Buch schwebte vor ihm, so unerreichbar nah. Er kraulte. Er streckte seinen Arm aus. Er starb. Er glaubte, dass er sterben würde. Sein Kopf senkte sich reglos nach unten. Rattenkadaver lagen dort überall verstreut, bildeten Berge und Täler im goldenen Glanz des Bratfetts. Papierschnipsel fielen wie in einer der billigen Plastikkugeln hernieder und ließ die unwirtliche Gegend unter einem weißen Schleier verschwinden. Und Kargal hoffte plötzlich, hoffte von ganzem Herzen, dass er in solch einem Tal landen würde, anstatt das Buch zu bekommen. Ein Tal, in dem man die Seele baumeln lassen konnte, für immer. Dann blieb er in dem aushärtendem Himmel hängen.

    Ein dünner, klebriger Teig lauwarmen Schweißes wurde von der dunklen Robe durchgeknetet, als Kargal aus seinem Traum aufschreckte. Er war noch immer in der Bibliothek, noch immer im dritten Stock und noch immer peinigte der Schmerz seinen Kopf. Links, am unteren Ende seines Brustkorbes lieferte irgendein Körperteil den passenden Takt dazu. Er wollte heulen, endlich aufhören zu suchen, doch die ihn gerufen hatten, wollten ihn nun nicht mehr von sich lassen. Es konnte keine Ruhe für ihn geben, bevor nicht auch die letzte Sekunde ausgereizt war. Mit mühsam hochgehaltenem Kopf, sah er auf das nächste Buch. Zittrige Finger ließen es hinab in seine rechte Handfläche fallen. Ein kleiner Luftzug fegte an seinem Gesicht vorbei, als der Einband raschelnd von selbst auffiel. „So sind etwa die Malereien des nördlichen Tempels ein Zeugnis jener Hochzeit des expressionistisch inspirierten Blutbundes, welcher sich in vielerlei Hinsicht auszuzeichnen wusste“, begann Kargal zu lesen und sprach die letzten Worte gar laut aus, bis im bewusst wurde, dass jene Stelle kein Element des Inhaltsverzeichnisses war. Erschöpft blätterte auf die ersten Seiten zu. Gedanken an seine noch zu beziehende Bettdecke, die Zuhause wartete, eingespritzt in fieberhafte Illusionen seiner Träume mischten sich dabei in seinem Kopf mit der Wirklichkeit. „Konzentrier dich“, grummelte Kargal mit Nachdruck, doch blieb dabei trotzdem mit seinen Fingern irgendwo im Nichts des Buches hängen. „Das gibt’s doch nicht“, wimmerte Kargal als Reaktion darauf, während ihm ein Schauer durch den Magen fuhr. Abseits dessen paarte sich Durst mit einem Drang, möglichst viel Flüssigkeit wieder abzulassen. Alles in ihm sträubte sich dagegen, noch eine kleine Bewegung zu machen. Er schlug sich trotzdem weiter vor, bis er endlich am Verzeichnis angekommen war. Sein Kopf wollte ihm fast von den Schultern fallen, als er ihn auf das schwarze Gekritzel hin ausrichtete, ein Überwechseln in ein Schaukeln bewahrte ihn jedoch davor. Irrelevante Kapitelnamen in unerfrischenden, neuen Varianten sprangen ihm erneut entgegen, wie es jener Ausschnitt, den er gelesen hatte, kaum anders vermuten hatte lassen. Einen Moment überlegte er sich, ob er das Buch nicht wieder weglegen sollte, doch Kargal hatte nicht mehr die Muse dazu, als Konsequenz daraus, den nächsten Band aus dem Regal zu kramen. So blätterte er ruhig weiter und schwenkte seine Augen über dem Buchstabenbrei, der sich ihm darbot. Seite um Seite sah er, ohne noch den Eindruck zu haben, sie wirklich zu erfassen, bis ein Titel sein Interesse auf sich zog. „Bautechnische Bedeutung der Bibliothek von Irdorath in Verbindung traditioneller Aufnahmepfrüfungen S. 738“, stand dort, eingezwängt zwischen Mausoleeneingängen und Einbindungen von Mären über Schrate in Portale. Mit einem Mal wurde Kargals Vitalität wieder zum Leben erweckt. Papierblöcke schlugen sich plötzlich wieder mit Leichtigkeit vor seinen suchenden Augäpfeln um, bis er am unteren Rand die 738 erkennen konnte. Er begann zu lesen.

    „Eine Besonderheit unter den Tempelbibliotheken stellt jene von Irdorath dar. Zwar wird äußerlich das klassische Bild der ovalen Form mit abschließender Beliarstatue und drei Stöcken gepflegt, hinter den Wänden ist jedoch durch Vernetzung von in Stein eingelegten Holzstäben aus Barianenwurzeln eine besondere Form der Aufnahmeprüfung möglich. Dieses Netz, welches mit jedem einzelnen Bücherregal verbunden ist, kann mittels eines Zaubers auf den Zustand des künftigen Adepten reagieren und Inhalte der Bücher je nach Bedarf austauschen. Sollte der Anwärter somit weit genug für die Aufnahme gehen, so ist ein Erfolg nahezu garantiert.“ Ein kleines Zeichen beendete Satz und Kapitel. Kargal sah missmutig auf den letzten Satz. War er etwa nicht weit genug gegangen, obwohl er fast aufgegeben hatte? Wie weich wollten die Prüfer von einst ihre Zöglinge klopfen? Er schaute noch einmal den letzten Satz durch und erst jetzt fiel ihm auf, dass das kleine Schlusszeichen eine Fußnote war. Er kniff die Augen für einen Moment fest zusammen, dann begann er am unteren Seitenende mit der Suche. Es dauerte nicht lange, und er hatte das Zeichen wiederentdeckt. Erneut verleibten sich seine Augen die kleinen Buchstaben ein.

    "Neben der Bewunderung durch die nicht unerhebliche Zeitersparnis von meist mehreren Wochen, sowie der Reduzierung des Glücksfaktors, erhielt diese Methode von einigen Gelehrten jedoch auch Kritik. Gründe dafür waren zu geringe Durchfallquoten, als auch die praktische Unmöglichkeit des Bestehens nach Durchschauen des Systems, was als unfaire Benachteiligung des selbstständig denkenden Individuums bezeichnet wurde. Dies führte gar zur zeitweisen Isolierung Irdoraths durch den nördlichen Tempel. Näheres zum Thema entnehmen Sie dem Buch „Die Prüfungen Beliars“.“

    Kargals Finger fingen an zu zucken. Seine Augen hingen noch versteinert auf den Worten „praktisch unmöglich“. Er klappte das Buch zu. Er wollte durchatmen, doch die Luft, wollte nicht durch seinen angeschwollenen Hals passen. Ihm fiel wieder auf, wie still es in der Bibliothek war und es erboste ihn, wie teilnahmslos sein Umfeld zusah, wie seine Träume und Hoffnungen unter den Trümmern ihrer eingestürzten Baracke qualvoll zerdrückt wurden. Er sah an die Decke. Die Kristalle leuchteten noch immer so wie in jenem Moment, als er diesen Ort betreten hatte. Gedimmtes Licht stieg aus ihnen heraus. Er wünschte sich, dass es hell genug werden würde, seine Augen zu blenden. Aus den Augenwinkeln sah er noch immer, wie in die Beliarstatue anstarrte. Dieser Blick, der ihn kontrollierte, wie die verzauberten Bücherregale, er wollte ihr am liebsten den Kopf abhacken. Doch er war nur eine der wenigen gescheiterten Existenzen, die nicht würdig genug für diesen Ort waren. Und es war immer noch still. „Aaaaaahh.“ Ein lauter Schrei entrang sich plötzlich seiner Kehle. Er begann an dem Buchrücken zu zerren, um ihn abzureißen, doch sein Handgelenk machte ihm schmerzend klar, dass er es nicht mehr konnte. Wütend riss er darauf einige Seiten mit den Schlussworten heraus und schmetterte den Rest über das Geländer hinab in den Abgrund in der Mitte. Ein dumpfer Klang machte nur kurz darauf klar, dass der Band nur ein Stockwerk tiefer zum liegen gekommen war. Wut strömte durch seinen verschwitzten Körper, wie Strom durch ein Glühwendel und erhitzte sein Gemüt noch weiter. Er würde bestraft werden, nur weil er einen Moment nachgedacht hatte, anstatt blind zu verzweifeln. Er wollte jemanden schlagen, eine Rippe herausbrechen, um sein Herz damit aufzuspießen. Doch er hatte nur Bücher, einen ermatteten Körper und Harndrang. Er krallte sich ein weiteres Exemplar von ersteren und griff wahllos mehrere Seiten zusammen, um sie herauszurupfen. Gleichmäßig schwangen sich die Blätter gen Boden und landeten sanft auf den unter der Robe hervorlugenden Fußspitzen Kargals. Als ob etwas Giftiges darauf gefallen wäre, zuckte er mit seinem Fuß nach oben. Die Blätter hoben sich wieder um ein paar Zentimeter, um sich wieder widerstandslos zu senken. Kargals finger zappelten wild umher, während aus seinem Mund ein leises Wimmern zu hören war. Er hatte seine Nerven als Lesezeichen in irgendeinen der vielen Einbände gelegt und dort vergessen. Er konnte nicht mehr. Schluchzend bückte er sich und griff nach einem Zettel. „Scheiß Papier“, krächzte er das Stück Totholz an und setze an, ihn zu zerreißen, ehe ihm ins Auge fiel, was auf ihm zu sehen war. „Zum Öffnen der Bibliothek sprechen Sie die Worte „Esxro Bibliofrytix“, stand dort unscheinbar zwischen den Zeilen. Mit ausgemergelten Augen blickte er ungläubig auf den kleinen Ausschnitt, ehe er begann, das Passwort immer und immer wieder zu wiederholen. Unter ihm begannen indes von ihm unbemerkt die Regale und Böden im weißen Nichts zu verschwinden. Er wiederholte weiter und er tat es immer noch, als er wieder liegend in der dunklen Vorhalle angekommen war, so lange, bis er, sich in die Hose urinierend, einschlief.
    Geändert von Oblomow (30.09.2013 um 19:09 Uhr)

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