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    Halbgott Avatar von Oblomow
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    Kapitel 20

    Die Sonne hatte sich noch nicht lange über die antennenbestückten Stümpfe der Stadt erhoben, als Djuren die Aussage der letzten Randalierer der Nacht abwickelte. Gerade war das schlichte Gestell aus Stahl und Plastik, welches auch gerne als „Stuhl“ bezeichnet wurde wieder frei geworden. Die Konstruktion verpustete den Zeitgeist von vor zwanzig Jahren, als er noch mit etwas mehr Ehrfurcht auf seinen Beruf geschaut hatte. Polizist oder Feuerwehrmann waren die ehrenhaften Helden in Uniform, welche durch den Kopf jedes normalen Zweitklässlers wanderten. Er hatte die Uniform. Die zweite Hälfte der Verheißung hatte sich in einen Pappbecher schwarzen Kaffees und ein Schokohörnchen aus der Bäckerei neben dem Revier verwandelt. Djuren nahm einen Schluck und kramte sein Frühstück aus der braunen Papiertüte, die es umgab. Er mochte Schokohörnchen nicht einmal sonderlich, aber die beschränkte Auswahl an Alternativen in der Backstube gepaart mit dem hohen Zuckeranteil sprachen für sich. Er kaute. Jeden Moment würde vor ihm wieder einer jener Möchtegernplayboys sitzen, deren Coolness nicht einem einzigen Schnapsglas standhielt. Er kaute noch immer. Eine Geschäftsidee mit kandierten Socken kam ihm in den Sinn. Er verwarf sie. Den Standortvorteil neben einer Ansammlung anspruchsloser Frühaufsteher sein Geschäft zu betreiben konnte er nicht bieten. Das Schokohörnchen war in der Zwischenzeit zur Hälfte vertilgt. Eine Tür am anderen Ende des Raumes schlug auf. Djuren drückte sich das halbe Hörnchen in den Mund und spülte mit dem Rest des Kaffees nach, nicht ohne sich wie immer damit fast den Gaumen zu verbrühen. Ein junger Ork in Handschellen wurde von zweien seiner Kollegen hereingeführt, bevor er schließlich auf den Stuhl gegenüber Djurens fallen gelassen wurde. „Der hat in einer Diskothek Stress gemacht, hat zwei jungen Burschen ne gebrochene Nase verpasst“, erklärte der Beamte zur Linken des Orks trocken und schob die aufgenommenen Personalien und Aussagen über den klobigen Tisch zur Lektüre Djurens. „Ich hab' nicht damit angefangen. Die beiden hatten mich beleidigt und gestoßen. Das ging an meine Ehre“, verteidigte sich der Ork und gestikulierte soweit er es mit den Handschellen konnte. „Jaja, Orks und Ehre, das kennen wir ja“, witzelte darauf der Rechte los und blinzelte in Richtung Djuren. „Von euch Rassisten hier kann man auch nicht erwarten, dass ihr das kennt“, grummelte der Ork in sein Fell und fing sich damit gleich eine Schelle des Beamten. „Scheiß Bullenschweine“ murmelte er darauf noch, worauf sein Gegenüber schon ein weiteres Mal ausholte, ehe Djuren ihn mit ausgestreckter Handfläche davon abhielt. „Es reicht. Ich kann zum Verhör keinen Blaugeprügelten gebrauchen.“ „Als ob diese Kerle eine andere Sprache verstünden“, bemerkte die Streife abfällig und brachte den Ork zu einem empörten Versuch, sich zu erheben, der jedoch direkt vom Kollegen des Polizisten unterbunden wurde. „Und Sie, Herr Gronkh, halten sich jetzt besser auch zurück, wenn Sie nicht noch eine weitere Anzeige riskieren wollen. Der Ork atmete tief durch. Der Polizist grinste selbstgefällig. „Zerkow, haben Sie nicht noch etwas Anderes zu tun, als hier herumzustehen?“, fand Djuren darauf klare Worte und das Lächeln verschwand wieder. „Sicherlich. Also, Berwik, komm, wir hauen wieder ab“, verabschiedete er sich unmittelbar darauf und die beiden verließen das Revier.

    Nun war es an Djuren einmal einen tiefen Zug Luft zu sich zu nehmen. Das Verhalten seiner Kollegen war ein Deeskalationsdesaster sondergleichen. Anstatt nüchterne Angeklagte hinterließen sie ihm aufgebrachte Linksautonome, die ihm lieber einen Stein an den Kopf schmeißen wollten, als auch nur ein Wort zu wechseln. Er zog die Unterlagen wieder vor sich hoch. „Also Herr Gronkh, wie ich hier sehe sind sie in zwei Fällen der schweren Körperverletzung angeklagt“, verlas Djuren ruhig die Vorwürfe. „Das war Not...“, wollte der Ork Einspruch einlegen. „Sie sind ruhig, während ich rede“, ließ Djuren jedoch keinen Ansatz einer Unterbrechung zu. „Also, laut Aussage der Geschädigten haben Sie gesagt, ich zitiere: „Soll ich euch mal meine Muskeln zeigen, ihr Schwächlinge?“ Als dies verneint wurde, heißt es weiter, dass Sie Ihre Hemdsärmel zurückkrempelten und in das Gesicht des Parvan K's schlugen, während sie „Pech gehabt“, schrien. Als der Tarin B sie daraufhin wegziehen wollte, schlugen Sie auch diesen. Ebenfalls in das Gesicht.“ „Das...“, setzte der Ork wieder wütend zu reden an. „Ich habe gesagt, Sie sollen den Mund halten, während ich rede. Sie bekommen noch genug Zeit Herr Gronkh“, stoppte Djuren sein Gegenüber erneut. Der Ork war wieder still. „Gut. Also, als Sie nach dem Tathergang befragt wurden waren Ihre Aussagen, ich zitiere wieder: „Fickt euch ihr Bullenschweine“, „Haltet die Fresse verdammt“ und „Wenn noch irgendjemand was sagt, prügel ich ihn ins Krankenhaus.“. Als Sie daraufhin, bereits zum zweiten Mal darauf hingewiesen wurden, dass alle Aussagen gegen Sie verwendet werden können, wollten Sie nach Aussage der Kollegen körperliche Gewalt anwenden, worauf Sie fixiert und in Handschellen gelegt wurden.“ Djuren legte die Papiere wieder auf die Arbeitsfläche. „So, wenn ich jetzt gleich die Aufzeichnung beginne dürfen Sie dazu Stellung beziehen. Wie Sie vielleicht schon ahnen, kann auch hier alles was Sie sagen gegen Sie verwendet werden. Sie können natürlich auch die Aussage verweigern oder einen Anwalt verlangen, wenn Ihnen das lieber ist.“ Djuren drückte auf einen Knopf, mit dem die Aufnahme begann. „Ich bin unschuldig, Herr Inspektor“, flehte der Ork nun fast. Djuren sah wieder auf die Unterlagen. Es war gut möglich, dass dem so war. Er kannte seine Kollegen und er kannte die Partyszene hier in Khorinis. Gewisse Vorbehalte kamen bei genug Alkohol hier immer noch gut zur Geltung. Khorinis war Touristenzentrum, aber im Kern immer noch zurückgebliebenes Bauernland. Nur Orks vom Festland wussten das meist nicht. „Ob Sie unschuldig sind entscheidet ein Gericht, nicht Sie“, sprach er die unverfängliche Erklärung aus, die er sich über die Jahre angewöhnt hatte. Er legte die Zettel wieder ab und tat so, als ob er nach Kaffee Ausschau hielt. „Ihr steckt doch alle unter einer Decke“, zischte indes der Ork. „Wie meinen?“, tat Djuren so, als ob er nichts gehört hatte und entdeckte dabei scheinbar, dass seine Tasse leer war. „Heißt, ich verlange einen Anwalt“, knurrte der Ork nun und Djuren stoppte das Band. „Schön aber beeilen Sie sich vielleicht besser. In ein paar Stunden beginnt die Verhandlung, ob wir Sie hier in Untersuchungshaft behalten. Und da Sie, wie ich in Ihren Personalien gelesen habe, von Hammerschmidt in Nordmar kommen, besteht immerhin Fluchtgefahr.“ „Verdammtes Lügnerkaff hier“, murmelte der Ork noch. „Wenn Sie meinen“, bemerkte Djuren gleichgültig. In der Zwischenzeit hatte er tatsächlich Lust auf Kaffee bekommen. „Hören Sie, ich gebe Ihnen jetzt die Visitenkarte eines Anwalts. Sehen Sie das bitte jetzt nicht als Falle oder unerlaubte Werbung, aber mit ihm dürften Sie immerhin besser aufgehoben sein, als bei einem Pflichtverteidiger.“ Djuren zückte ein kleines Kärtchen und schob es zu dem Ork herüber, der es mit einem Naserümpfen einsteckte. Djuren drückte auf eine Schnellwahltaste seines Telefons. „Marvin, ich bin fertig, schickst du mir jemanden zum Abholen? Ich bräuchte nämlich mal nen Kaffee.“ „Alles klar, ich schick dir Lumag vorbei. Kaffee kannste dir beim Chef abholen, der will dich im Büro haben, anscheinend was Dringendes.“ „Ich hoffe Mal der hat Espressobohnen“ „Kaffee halt, is doch alles das Gleiche.“ „Marvin?“ „Ja?“ „Erinner mich das nächste Mal, dass du noch einen Schlag bei mir gut hast.“ „Wenn ich mich dran erinnere gerne, aber mein Gedächtnis ist manchmal sehr lückenhaft wie du weißt.“ „Jaja, is klar, ich leg dann auf“, beendete Djuren das Gespräch und erhob sich von seinem Stuhl. „Also auf Wiedersehen, Herr Gronkh", verabschiedete er sich von seinem Verhörten und machte sich auf zur Leitung der Station, bereits ganz mit der Frage beschäftigt, was man von ihm wollen konnte.
    Geändert von Oblomow (28.11.2012 um 19:45 Uhr)

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    Kapitel 21

    Er blieb einen Moment vor der Tür mit dem verdeckten Sichtfenster stehen, dessen Minijalousien eindrücklich die Bedeutung des Raumes hinter ihnen unterstrichen. Der anonyme Blick auf wuselnde Untergebene war das Angebot jener anderen Seite, auf der sich das Gewaltmonopol der Stadt Khorinis konzentrierte. Dass Staubschichten mehrerer Jahre bereits ihren Stammplatz auf den Lamellen hatten, tat diesem Umstand keinen Abbruch, vielmehr waren sie einfach nur ein Zeichen dafür, dass Allmachtsfantasien heutzutage lieber über die Freisprechanlage an der Sekretärin ausgelebt wurden. Noch besser eignete sich dafür natürlich ein Polizist selbst. Er umschloss die schlichte Messingklinke. Wollte er wirklich wissen, was man ihm wieder zumutete? Die Türklinke senkte sich quietschend unter dem Druck seiner Hand. Natürlich wollte er das nicht. Doch er hatte das nicht zu entscheiden, seine Pflicht war es immer noch Optionen zu verwirklichen, nicht sie zu ziehen. Das war Chefsache. Die Klinke ließ sich nicht weiter senken. Der Weg in jene kleine Hölle mit der Nummer 001c war geebnet.

    Er trat ein. Kühle Luft umspielte seinen glänzigen Kopf, der Geruch feinen Espressos drang an seine Nase. Hier leistete man sich etwas, von dem der einfache Beamte nur träumen konnte. Djuren sah sich etwas um. Der Bambus neben dem Kopierer war inzwischen durch eine kleine Yuccapalme ersetzt worden. Auf der Fensterbank wuchs hingegen immer noch der gleiche kümmerliche Kronstökl wie vor Urzeiten schon. Wer immer sich hier um die Pflanzen kümmerte, er machte es nicht sonderlich gut. Das sanfte Fiepen eines Bürostuhls weckte Djuren schließlich wieder aus seinen Gedanken. „Ah, Djuren, ich habe Sie bereits erwartet, kommen Sie her“, überfiel ihn sein Chef mit ausgestreckten Armen, kaum hatte er sich aus dem Designerledersessel erhoben. Ein aufgesetztes Strahlen, versuchte Djuren in seinen Bann zu ziehen, welcher es jedoch vorzog die zwei schwarzen Augen, die aus der braunen Beamtenhemdödnis unter den Achseln hervorstachen zu fixieren. Sein Gegenüber war indes in seiner Freundlichkeitspose regelrecht eingefroren. „Sie haben mich rufen lassen?“, erwiderte Djuren jedoch nur trocken. Das Lächeln des Oberinspektors wurde merklich abgemildert. Die Arme wanderten nach unten. „Setzen Sie sich doch. Wollen Sie einen Espresso? Die Bohnen sind frisch vom östlichen Archipel eingeflogen“, bot der Inspektor darauf an, um ohne Pause den ersten Sieb gemahlener Bohnen in die Maschine einzuklinken. Djuren überlegte sich für einen Moment, auf den Espresso zu verzichten, um seinen Vorgesetzten gänzlich aus dem Konzept zu bringen. Doch so fein der Unterschied zwischen erfrischender Gelassenheit und reiner Geschmacklosigkeit auch war, Djuren konnte gut erkennen, wann etwas zu weit ging. Und Kaffee vom östlichen Archipel abzulehnen ging definitiv zu weit. „Ja, einen bitte“, antwortete er, als ihm auch schon eine kleine Tasse gereicht wurde. „Jetzt setzen Sie sich doch schon!“, forderte sein Vorgesetzter ihn nochmals auf. Djuren ließ die Tasse langsam unter seiner Nase kreisen und setzte sich ebenso langsam in Bewegung. Ein lederbezogener Stul mit Edelstahlgerüst erwartete ihn und er ließ sich nur zu bereitwillig in das Polster einsinken. Er wippte auf und ab. Eines war ihm bereits jetzt klar, die Arbeit die er bekam musste wirklich extrem schlecht sein, sonst hätte er keinen Espresso in der Hand gehabt.

    Leder knautschte, als sein Chef sich ebenfalls niedersetzte. Eine Krähe landete fast zeitgleich auf dem Fenstersims. „Also, Djuren, wie Sie vielleicht bereits erahnt haben, habe ich einen Auftrag für Sie“, begann sein Vorgesetzter zu sprechen. „Hat die Witwe Kalew etwa wieder die Tanne des Nachbarn im Garten?“, fragte er rhetorisch. Sein Chef grinste. Schon seit einem Jahrzehnt rief die Witwe wöchentlich an, weil sie glaubte, der Baum des Nachbargrundstücks, reichte auf ihres. Und jedes Mal mussten die Beamten zum Ausmessen ausrücken, um festzustellen, dass alles in Ordnung war. „Nein, es ist etwas wesentlich Heikleres“, wurde der Stationsvorstand nun ernster. „Etwas, das die ganze Stadt betrifft. Man ist deswegen direkt aus dem Rathaus an mich herangetreten“, fuhr er fort. Djuren hörte kaum zu, sondern sah sich lieber die Krähe auf dem Sims an, die sich eifrig ihr Gefieder putzte. Er hatte es sich gleich gedacht. Ein freundlicher Chef ging nur mit einem unglücklichen Polizisten konform. „Djuren, verdammt nochmal. Hören Sie mir eigentlich zu?“, rammte der Stationsleiter ihn wieder aus seinen Gedanken. „Oh, entschuldigen Sie, wo waren wir stehengeblieben?“, versuchte dieser zu erwirken, dass man ihm ein Ende des Gesprächsfadens reichen mochte. Sein Chef hatte die gute Laune nun endgültig abgelegt.

    „Trinken Sie Ihren Espresso leer!“, befahl er mit fester Stimme. Djuren sah verwirrt hinab auf seine Tasse, um daraufhin zu dem angespannten Gesicht seines Gegenübers zurückzukehren, welches sich in der Zwischenzeit aus seinem opulenten Sessel gequält hatte und sich auf das Fenster zubewegte. „Ich habe sie gewarnt“, sprach der Oberinspektor noch, dann schob er mit einem kräftigen Ruck das große Panoramafenster auf. Mit empörten Krächzen flatterte die Krähe zu ihren Genossen auf der Stromleitung zurück. Djuren sah nur auf den Stationsvorsteher. Nichts passierte und er wollte bereits zum Protest anheben, als ein undefinierbarer Geruch aus faulen Eiern, vergorener Milch und Dingen, die man lieber erst gar nicht erkennen wollte, ihn zur Ruhe zwang. „Machen Sie das Fenster zu, bitte“, flehte Djuren, die Nase bereits im Hemd vergraben. Quälend langsam glitt der Stahlrahmen wieder zurück in die alte Defensivstellung. Der Stationsleiter schlenderte zurück zu seinem ergonomisch geformten Lederkissen.

    „Also, Djuren, vielleicht hören Sie mir jetzt auch einmal zu. Wie Sie wissen, wird der Müll dieser Insel per Schiff nach Irdorath entsorgt“, fing der Oberinspektor an zu erzählen. Djuren nickte, um Verständnis zu signalisieren. „Und wie Sie jetzt vielleicht erahnen können, ist das dafür zuständige Schiff derzeit nicht im Einsatz, genau genommen fehlt von ihm und seinem Kapitän seit gestern Vormittag jede Spur.“ „Vermutlich wars ne Schrottmühle, die einfach gesunken ist, aber das ist doch nicht ernsthaft ein Problem“, hakte Djuren ein. Er erntete ein Kopfschütteln. „Nach Sichtung der Peilsenderdaten ist das noch das unwahrscheinlichste Szenario. Demnach war die Gomorrha bis 3:47 Uhr vorletzter Nacht noch planmäßig auf dem Weg nach Khorinis, der Funkkontakt war bis dahin ebenfalls noch normal. Und ab jetzt beginnt die Sache merkwürdig zu werden. Für eine Viertelstunde hat dieses Schiff quasi nicht mehr existiert. Das Signal war tot und weitere Anfragen blieben erfolglos. Danach tauchte das Peilsignal wieder auf. Das Schiff fuhr nun beschleunigt, ein Kontakt mit dem Kapitän war ab diesem Zeitpunkt aber nicht mehr herzustellen. Jedenfalls legte die Gomorrha um 5:10 Uhr am Hafen an, verließ diesen um 5:13 Uhr jedoch bereits wieder in Richtung Irdorath, wo sie bereits um neun Uhr eintraf. Von dort aus nahm das Schiff Kurs in unbewohnte und unbefahrene Gewässer, wo sich das Signal dann um 10:16 endgültig verlor.“ Der Hauptmann hörte auf zu reden.

    Djuren hatte aufmerksam zugehört, eine wirkliche Erklärung dafür hatte er jedoch nicht daraus extrahieren können. Er sah hinaus auf die nahen Stromleitungen, die vor lauter Krähen gut durchhingen. Man merkte, dass der Herbst angebrochen war, genauso wie man merkte, dass Abfall Raben magisch anzog. „Und worin soll nun mein Auftrag bestehen?“, erkundigte er sich, den Kopf immer noch zum Fenster gerichtet. „Wir müssen in dem Vermisstenfall zwingend jemanden nach Irdorath schicken, was immer auch in der Nacht da geschehen ist, es muss irgendwas mit dieser Insel zu tun gehabt haben. „Ein Vermisstenfall ist erst nach 48 Stunden möglich und das wissen Sie auch“, unterbrach Djuren seinen Vorgesetzten. „Das ist eine Notsituation“, empörte sich sein Gegenüber nur und lief dabei rötlich an. Djuren kannte das schon, waren doch Notsituationen die einzigen Anlässe, dass jemand ins Büro gelassen wurde. Zufälligerweise war jeder Notsituation auch ein Anruf über die interne Nummer 00 vorangegangen. Einer Nummer die seit jeher einem Telefon im Büro des jeweiligen Bürgermeisters zugeordnet war. Manchmal fragte er sich, ob es dauerhaft erfüllend sein konnte, seinen Flüssigkeitshaushalt mit dem Speichel anderer Leute zu decken. Danach wusste er auch meistens wieder, warum er es zu keiner höheren Position gebracht hatte. Er verschränkte die Arme. „Dass der Stadtrat zu geizig war, ein Ersatzschiff anzuschaffen und jetzt bis zum Hals in der Scheiße steckt ist keine Notsituation“, widersprach er aufmüpfig. Es war gut möglich, dass er damit zu weit ging, aber einem Auftrag auf Irdorath entgegenzufiebern, konnte niemand ernsthaft von ihm verlangen. War überhaupt schon einmal ein Polizist dorthin geschickt worden? Er hatte jedenfalls noch nie etwas davon gehört. „Die ganze Stadt versinkt im Müll, das können Sie nicht ignorieren“, wurde unterdessen sein Chef lauter.

    Djuren ließ sich in seinem Sessel zurücksinken. „Ich werde um Punkt 3:47 Uhr mit den Ermittlungen anfangen, wenn Sie das früher haben wollen, müssen Sie sich an jemand Anderen wenden, wenn Sie denn einen finden, der das mitmacht“, entgegnete er bestimmt. Zerknirscht, aber mit weniger Röte, ließ sich der Oberinspektor zurückfallen. „Ist das ein Versprechen?“, fragte er überlegen. „Aber sicher doch, Inspektorchen“, schnaubte Djuren zurück, doch die ihn umgebende Stille schnürte ihm mit einem Mal die Luft ab. Er verstummte. Sein Gegenüber beugte sich zurück nach vorne. „Dann kann ich Ihnen das ja jetzt zeigen“ Er schob eine Mappe in Djurens Richtung und klappte sie mit zwei Fingern ohne abzusetzen gekonnt vor ihm auf. „Das ist die Akte des Kapitäns“, bemerkte er dazu mit trockenem Zittern in der Stimme. Die Blicke Djurens wanderten über das zuoberst liegende Dokument und noch ehe er wieder aufsah, zwang sich eine unabwendbare Frage aus seiner Kehle. „Wollen Sie mich verarschen?“ In der Ferne ertönte ein Krächzen.
    Geändert von Oblomow (03.10.2023 um 16:48 Uhr)

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    Kapitel 22


    Er öffnete sein linkes Auge. Dämonen vergangener Jahrtausende schienen aus dem verwitterten Gestein des düsteren Gemäuers in ihn eingezogen zu sein. Er versuchte zu stöhnen, doch war das, was sich aus ihm löste nur ein schwacher Hauch. Das rechte Augenlid zitterte sich langsam nach oben. Die Wirbelsäule sendete ein stummes Signal als Fragment unwohlen Befindens, das unterging in einem Meer gleichartiger Anklagen. Er überlegte einen Moment, wo er sich befand. Er war gelähmt im Körper als auch im Geiste, bis jene sekundenlange Vorwegnahme des Todes ihn endlich aus ihren Fesseln entließ. Mit einem Ruck riss er seine teigig haftende Hülle in die Höhe, um darauf vor Schwindel wieder einen Schritt zurück zu taumeln.

    Er war in der Bibliothek gewesen und es hatte ein Passwort gegeben. Er wusste es nicht mehr. Er griff mit der rechten Hand tief in sein schwarzes Haar. Er musste sich erinnern. Er wankte einen Schritt nach vorne. Er konnte es nicht. Er kratzte sich die Schuppen von der Kopfhaut. Vereinzelt fielen mit ihnen entwurzelte Haare auf die vom schwarzen Stoff einer Robe bedeckten Schultern. Übelkeit machte sich in ihm breit, doch war es noch zu früh, ihr einen entsprechenden Ausdruck zu verleihen. Kargal hielt inne. Wie spät war es eigentlich? Es war hell, doch er war weiter vom Tageslicht entfernt, als man es sich vorstellen konnte. Er sah sich erstmals genauer um. Alle Fackeln im Raum brannten und entsendeten ihr warmes Licht. War der Fremde noch einmal zurückgekommen oder war es nur ein Spuk? Gab es einen Unterschied? Seine Füße trugen ihn unelegant zu der Wand, hinter der die Bibliothek gelegen war. Langsam fuhren seine Hände den feuchten Stein entlang, unter denen eine dünne Dreckschicht zerrieben wurde, um wie Puderzucker hinabzuregnen. Es war sicher kein Zufall, dass ihm das Licht nach draußen schien. Doch wenn er ihm folgte, sollte es ihn auch wieder zurückgeleiten? Er versuchte noch einmal, sich an den Zauberspruch zu erinnern. Erfolglos. Die nächste Runde des Spiels würde beginnen und er war süchtig. Hier stand er: Allein im Raum, 500 Meter unter der Erde verbuddelt isoliert und wusste nicht, wohin sein nächster Schritt ihn führen sollte.Eine ausgezeichnete Möglichkeit, ihn einfach zu tun. Er ging auf den Ausgang zu. Sollte Beliar ihm die Erinnerung zurückgeben, wenn er glaubte, dass er seine Prüfung gemeistert hatte. Falls dem nicht so sein sollte, war jeder Gedanke daran wahrscheinlich ohnehin sinnlos.

    Er trat in die große Halle. Hinter ihm verloschen die Lichter und ließen ein dunkles Loch zurück. Der Abschied schien endgültig. Kargal hoffte dass es dabei bleiben würde. Die Halle selbst lag immer noch in Dunkelheit gehüllt. Von fern stachen nach wie vor die zwei leuchtenden, roten Punkte hervor. Irgendwann musste er sich den Tempel genauer besehen, doch nicht jetzt. Er ging weiter, vorbei an den Skeletten, die jetzt mehr wie ein paar Übernächtigte im Morgenrot, denn als Kriegsopfer wirkten. Anteilslos schritt er durch ihre Mitte, weiter den Gang entlang zu dem Raum seiner Aufnahme. Was war eigentlich aus den Schmerzen geworden? Er schob die Robe zurück, sodass seine Schultern einsehbar wurde. Die Haut war makellos. Hatte er halluziniert? Er konnte es sich nicht vorstellen. Doch wenn er dem Wahnsinn so nah war, konnte er seinen Erinnerungen wirklich noch vertrauen? Die kleine Eingangshalle kam in sein Sichtfeld, während er rätselnd weiter seines Weges zog. Direkt vor ihm begrüßte ihn durch einen Torbogen seine Kleidung. Er hatte schon fast vergessen, sich umzukleiden, doch das Schicksal wollte das Fett im Napf wohl noch nicht verunreinigen. Er hob sein T-Shirt von der Kommode und erwartete bereits den schweißdominierten Geruch von Verwesung, doch es war sauber, so wie auch seine Hosen. Jemand oder etwas hatte sich an seinen Sachen zu schaffen gemacht, aber unrecht war es ihm nicht. Er entledigte sich seiner Robe und streifte sich den frischen, harten Stoff seines Oberteils über. Ein kurzes Gefühl von Frische blitzte auf, ein Effekt wie von frischem Kaugummi, ganzkörpergekaut. Bald würde wieder alles verklebt sein, aber es war immerhin mehr als nichts.

    Kargal nahm sich eine Fackel und trat hinaus in das Dunkel der Höhle, die die Geräusche seiner Schritte verstärkt zu ihm zurückwarf. Er war allein, ein einsamer, leuchtender Stern inmitten der Dunkelheit. Von fern sahen ihm bereits die Wachtürme entgegen, denen doch so vieles unter ihren Augen so egal war. Verlosch ein Stern an ihrem Firmament, so sollte doch niemand mehr Alarm schlagen. War dies wahre Erhabenheit oder doch nur Zerfall im Endstadium? Die Frage war nicht zu lösen, doch an diesem Morgen schien ihm die zweite Möglichkeit der Wahrheit am nächsten zu kommen. Überhaupt wirkte alles nun mehr trostlos als eindrucksvoll. Alte Zeitungen raschelten unter seinen Füßen, wie er den Graben betrat. Die Gedanken waren geleert worden. Das war der Morgen danach, wenn die Scheinwerfer der Hauptbühne bereits wieder in Lastwägen über die Autobahn fuhren und der letzte Gast sein Zelt von dem Vorboten der Apokalypse namens Campingplatz geräumt hatte. Es war der Kater eines Ortes, nur würde kein Aufräumdienst der Welt sich mehr um seine Beseitigung kümmern. Er war die letzte verbliebene Seele und die letzte Hoffnung für eine aufgegebene Idee. Der feste Boden hatte ihn wieder und auch seine Erinnerungen waren wiedergekehrt. „Esxro Bibliofrytix“, sprach er leise jene magischen Worte aus. Die Reise war noch nicht vorbei. Er betrat das einsame Zimmer, welches den Durchgang zur Außenhöhle markierte. Es wurde heller. Er steckte die Fackel an die Wand und ging dem Licht entgegen.
    Geändert von Oblomow (02.12.2012 um 16:05 Uhr)

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    Kapitel 23


    Nebelschwaden aus verdampftem Fett zogen in sein Haar und verliehen ihm langsam aber sicher einen Glanz, welchem ihm nicht einmal die Haarpflegeprodukte aus der Werbung hätten geben können. Er hatte den Rest des Tages frei bekommen und das beste, das ihm eingefallen war, war eine ausgedehnte Mittagspause in dem kleinen argaanschen Schnellrestaurant in der Kanalgasse, dessen fettgegarte Spezialitäten er sowieso schon viel zu oft und ausgiebig genoss. Doch welcher Ort blieb Menschen wie ihm noch, wenn man sich nicht in die angesagten Lokale der Hauptstraße setzen wollte, die eine Szene bedienten, welche es eigentlich nie gegeben hatte. „Nomja zwaiunzwahnzieg?“, verkündete einer der vielen Köche nun in einer kleinen Pause vom monotonen Gemüsehacken, das außer zu diesem Anlass kaum eine Unterbrechung fand. Ganz unabhängig davon, wie viele Gäste anwesend waren. Im Moment war es neben Djuren nur noch eine Person und er selbst war sich nicht einmal sicher, ob diese nicht irgendwie dem größeren Familienkreis des Betreibers zugehörig war. Aber offensichtlich hatte sie immerhin etwas bestellt. Er hatte schließlich die 47. Er sah dem anderen Gast zu, wie er langsam seinen Nudelhaufen mit Geflügel und Frühlingszwiebeln abholte, bevor auch schon seine Nummer aufgerufen wurde und sein Gericht auf dem Tresen landete, das optisch seltsamerweise kaum einen Unterschied zur 22 aufwies.

    Langsam ließ er sich von seinem Barhocker hinabsinken und griff nach seinem Teller. Vor den Besteckauslagen zögerte er einen Moment, ob er nicht wenigstens dieses Mal die stilechten Einwegessstäbchen verwenden sollte. Zeit genug sein Essen kalt werden zu lassen war zweifelsohne vorhanden. Verführerisch lockten ihn die langen Beine der auseinanderbrechbaren Pressflusen. Er schnappte sich ein Exemplar, um direkt danach seinen Besteckbestand um Gabel und Messer zu erweitern. Zufrieden ob dieser optimalen Entscheidung machte sich Djuren auf den Weg zurück zu seinem viel zu hohen Tisch und dem dazugehörigen gepolsterten Hocker mit rotem Kunstlederüberzug. Angestrengt brach er die Essstäbchen entzwei , um damit zu beginnen lieblos in seinem Essen herumzustochern. Ein Nudelstrang nach dem Anderen richtete sich nach seinen Zügen aus, deren Ausführung er nicht unterbinden konnte. Mit Mühe gelang es ihm nach einer Weile sein Essbesteck niederzulegen. Das Gericht war gekämmt. Nicht einen Bissen hatte er zu sich genommen. Er wagte einen Blick hinab zu seiner schwarzen Aktentasche, deren neuester Inhalt die Akte eines gewissen Milkets war. Und sie stank, so sehr, dass es ihm den Appetit verdarb. Er griff nach dem Henkel. Im Büro hatte er sich noch ernsthaft vorgenommen gehabt, bis drei auch nicht den kleinsten Gedanken an diesen Fall zu verschwenden. Mit geübtem Fingergriff sprangen die Schnallen der Tasche auf. Seit den letzten dreißig Jahren hatte ihn nichts mehr in diesem Maße zu bewegen vermocht. Er zog den Ordner heraus und legte ihn neben sein erkaltendes Mittagessen. Er wusste, was er zu sehen bekommen würde, schlüge er ihn auf. Dieses eine Dokument, welches jedes Strafverfolgungsverfahren zu einer Farce machte. Er öffnete den Ordner und die inzwischen bekannte Unterschrift sowie der dazugehörige Stempel kamen zum Vorschein. Ein unabstreitbarer Beweis für die Echtheit. Djuren schüttelte leicht den Kopf. Er hatte diesem Land einiges zugetraut, aber einen bescheinigten Toten im öffentlichen Dienst zu beschäftigen war eine gänzlich neue Dimension.

    „Sein recht?“, erkundigte sich plötzlich der chronisch unter- und überbeschäftigte Koch, der den Servicebereich mitübernahm. Djuren stopfte sich schnell ein Stück Hähnchen in den Mund und reckte den Daumen nach oben. Eine Sache des Respekts. Er hatte so schnell gegessen, dass er nicht einmal ansatzweise auch nur etwas mit Geschmack verwandtem hätte bemerken können. Er schaute wieder auf seine Papiere. Vermutlich war alles nicht wirklich so verzwickt, wie man hätte meinen können und vermutlich musste er noch nicht einmal nach Irdorath fahren, um dem geheimen Verschwinden auf die Spur zu kommen. Das Einfallsloch für finanziellen Betrug bei einem Toten war einfach zu hoch, als dass er sich vorstellen konnte, dass dies unbenutzt gelassen worden wäre. Ein Besuch bei der Bank sollte genügen, um den wackeren Müllfahrer als abgesetzten Steuerhinterzieher oder Geldwäscher zu entlarven. Er wusste noch nicht genau, wie das aussehen würde, aber die Lösung war von allen sicherlich noch die naheliegendste. Er schlug die Akte wieder zu und besah sich sein fast kaltes Essen, für das es ihm trotzdem noch an genügend Appetit mangelte. So sehr er auch von seiner nüchternen Schlussfolgerung überzeugt war, sein Bauch sagte ihm etwas anderes. Mit einer Ladung Nudeln ließ er ihn verstummen, um gleich darauf vom Piepen seines Mobiltelefons gestört zu werden. Er gab die Stäbchen auf, steckte die Gabel in seinen Nudelhaufen und nahm einen weiteren Bissen. War es wichtig, würde der Anrufer sich auch noch etwas gedulden können. Die Gabel wanderte wieder zum Teller und erzeugte einen Nudelstrudel. Das Handy klingelte weiter ununterbrochen. Djuren fuhr unbeirrt mit dem Essen fort, ohne dabei zu übersehen, wie der einzige andere Gast immer entnervter zu werden schien. Etwas eiliger legte er sein Besteck beiseite und putzte sich die Hände an der Serviette ab.
    Er klappte das Handy auf.
    „Was fällt dir eigentlich ein, nicht abzunehmen?“, schallte es aus der minimierten Hörmuschel.
    „Ich halte mich noch nicht für so fett, dass du dir darüber Sorgen machen bräuchtest“, antwortete Djuren gelassen. Ein unterdrücktes Lachen war vom anderen Ende der Leitung zu vernehmen. Djuren blieb ruhig. Er wusste genau, weshalb dieser Anruf kam. „Normalerweise wäre ich auf dem Revier, das ist dir bewusst, oder?“
    „Ich weiß. Aber ich weiß auch, dass du das jetzt nicht bist. Genauso wie ich weiß, dass du ins Büro vom Chef gerufen wurdest.“
    „Sag bloß, du hast einen Spion bei uns, Dervon. Aber ja, du hast Recht. Ich soll dem verschwundenen Kapitän des Müllschiffs nachspüren. Ich vermute, dass da ein ziemlich krummes Ding gedreht wurde. Irgendetwas im Bereich von Steuerhinterziehung und Geldwäsche, wenn du verstehst.“

    „Ich verstehe schon, nur hat das dieses Mal wirklich nichts mit mir oder einem Mandanten zu tun, da wirst du wohl einmal leer ausgehen müssen. Ist aber auch mal schön zu sehen, dass wohl doch nicht alles von mir direkt auffliegt.“
    Djuren war in Gedanken verfallen und achtete kaum mehr auf die Stimme aus seinem Handy. Einen Finanzbetrug ohne Dervon war in Khorinis fast unmöglich. Sein Bauchgefühl hatte ihn offensichtlich doch nicht getäuscht gehabt. Der Appetit war nun gänzlich verflogen.
    „Jetzt sag schon was, ist ja nicht so, als ob du jetzt den Hungertod sterben müsstest. Hab dir ja genug für die Überweisung von diesem Gronkh an mich auf dein Konto in Bakaresh überwiesen. Nebenbei ein guter Fang, Nordmarer Orkadel, da lässt sich ein hübsches Sümmchen rausschlagen, mit solchen Fatzkes, lässt sich gut durch drei Instanzen gehen, jetzt sag doch auch mal was...“
    „Äh, hör Mal, mir geht’s grad nicht so ganz gut, lass uns darüber ein andermal sprechen“, beendete Djuren das Gespräch und drückte auf die rote Auflegetaste. Eines war klar. Diese ganze Sache stank zum Himmel, noch mehr als es die Stadt bereits tat.
    Geändert von Oblomow (03.10.2023 um 17:08 Uhr)

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    Kapitel 24


    Er wusste nicht mehr, wie er es zu dem kleinen, unscheinbaren Bretterverschlag, der seine Hütte war, geschafft hatte. Weder hatte er den Eindruck verspürt dem Weg bei seiner Reise zum Tempel sonderlich viel Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, noch, dass sein Orientierungssinn ihm je so hold gewesen wäre. Doch ein Gedanke an göttliche Führung wollte ihm nicht in den Sinn kommen. Es wäre vielleicht angemessen gewesen, vielleicht gar zwingend logisch. Und doch wären es die Gedanken eines Wahnsinnigen gewesen. Rationales Denken war immerhin noch längst nicht Ausdruck geistiger Gesundheit. Doch um diese zu stören bedurfte es dieses Gedankens nicht mehr. Er war auch schon so nicht mehr mit sich im Reinen. Irgendetwas hatte sich bei ihm seit seiner Ankunft auf Irdorath verändert und es war mehr als bloß seine dreckverkrustete Jeans. Er wusste nur nicht genau was es war. Ob nur der Verlust jeglicher Reflexion seiner Bewegungen, eine Folgsamkeit mit zu wenig Widerstand als gut für ihn sein konnte oder umgekehrt eine Willensstärke, wie er sie noch nie erlebt hatte? Es fühlte sich nicht wirklich nach nur einem davon an. Zumindest nicht momentan. Wenn, dann lag das worum es ging tiefer in seiner Seele und verschloss sich zugleich vor seinem Blick gleich dem Inneren einer Tulpenblüte im kalten Regen.

    Er ging die letzten Schritte zur Tür seiner Baracke. Statt zu schlafen würde er noch versuchen müssen seine Tarnung aufrechtzuerhalten. Dafür und nicht für ein Bett war er aufgefordert hierher zurückzukehren. Um mit einem Arbeitsbeginn zur Mittagszeit noch einen Arbeitsalltag vorzutäuschen, der bei genauerer Betrachtung doch nur eine weitere Prüfung und Demütigung war. Was sollte ihm als Erklärung bei seiner ersten Bewährungsprobe Stunden zu spät anzufangen anderes übrig bleiben, als sein eigenes Versagen in den Vordergrund zu schieben? Und welcher Sinn steckte bei genauerer Betrachtung noch dahinter, wenn ihn dabei trotzdem eine Aura des Verdachts umgab? Wie bedeutungsvoll konnte denn der Ruf seines gewählten Gottes sein? Er hielt ein. Das war es nicht worum es ging und all dies war nicht das, womit er sich beschäftigen wollte. Er suchte nach den richtigen Worten, um seine Situation treffend zu beschreiben. „Scheißegal“ Ja, das war es. Diese Gedanken, diese Fragen, diese Hütte und seine Tarnung. Das alles hatte seine Berechtigung und doch wollte es ihm nicht mehr als am Arsch vorbeigehen. Es gab Wichtigeres als unnütze Erfahrungen zu sammeln, größere Herausforderungen als etwas, das nur Arbeit war und wichtigere Beziehungen als zu Randfiguren der Geschichte. Und musste er seine Würde derart untergraben lassen, seine wertvolle Zeit unnütz zu vergeuden? Dies war vielleicht die letzte Chance ein Zeichen gegen einen vollendeten Gehorsam zu setzen.

    Kargal trat in die Baracke. Die Dose Bohnen schaute ihn noch immer durch das Loch in der Schranktür an. Von rechts tat Kyle das Gleiche, während er an einer Blechtasse voll Kaffee nippte. „Du lebst also doch noch? Hätte ich nicht gedacht, als ich hier reingeschaut habe“, begrüßte er Kargal trocken. Dieser machte vorsichtig die Tür hinter sich zu. Er überlegte sich einen Moment, ob er sich noch eine Ausrede einfallen lassen sollte und beantwortete sich die Frage umgehend selbst. Natürlich sollte er das. Jeder wollte schließlich gute Lügen hören, nicht um darauf hereinzufallen, sondern zu erkennen ob das Gegenüber die eigenen Prioritäten respektierte. Ein Abtasten des Anderen, um sich seines eigenen Wesens sicherer zu werden. „Du brauchst dir keine Mühe geben, dir was auszudenken. Das Schiff kam bis jetzt noch nicht“, platzte Kyle mitten in diese Überlegungen. „Setz dich doch, oder willst du unbedingt stehenbleiben?“ Kargal schlich langsam zum nächstgelegenen Stuhl, ohne dabei auch nur einmal die Augen von seinem Gast zu lassen. Die Frage, was jener in seiner Behausung zu tun hatte drängte sich auf, doch würde die Frage danach unweigerlich tiefer in das Thema führen, über das Kargal vorhatte so wenig wie möglich zu sprechen. Darauf weiter hinzuarbeiten war nicht seine Aufgabe. „Wäre auch unnötig gewesen, wenn du zu spät gekommen wärst. Entschuldigungen akzeptieren wir hier nicht“, fing Kyle zu erklären an. Es würde also doch auf eine Standpauke hinauslaufen. Kyle nahm einen weiteren Schluck aus seiner Tasse und setzte sie wieder ab. Jetzt würde die Show also beginnen. Kargal ließ sich in seinem Stuhl demonstrativ entspannt zurücksinken. Nichts geschah. Psychospiele, mehr nicht. Bisher hatte Kargal sein Gegenüber angesehen, doch dieses schien seinerseits lieber den eigenen Kaffee zu fixieren. Er entschied sich dafür, sein Haupt doch lieber in den Nacken zu legen und darin Ruhe zu finden, zuckte jedoch sofort wieder zurück, als Kyle zum letzten Schluck ansetzte. Jetzt musste endlich etwas passieren. Er verkrampfte sich beim entspannten Sitzen, als sein Gegenüber sich erhob und gen Tür lief. „Was wird das jetzt?“ Kyle blieb kurz stehen. „Ich geh arbeiten, was denn sonst?“ Kyle wandt sich wieder dem Ausgang zu und öffnete die Tür. Kargal war in der Zwischenzeit ebenfalls wieder aufgestanden. „Und was ist mit mir?“, fragte Kargal etwas entgeistert von solch durchgehender Nüchternheit. „Du kannst mitkommen, wenn du das willst“, antwortete Kyle und verließ dabei auch schon die ärmliche Hütte. Kargal lief hinterher. „Was glaubst du denn wofür ich hergekommen bin?“, rief er dem vorausgehenden Müllmann zu. „Sags doch einfach noch einmal“, gab Kyle ohne anzuhalten zurück. Kargal blieb einen Moment stehen. Um Müll in der Gegend herumzutransportieren war er ganz sicher nicht hergekommen und trotzdem hatte Kyle es hinbekommen irgendetwas wie Ehrgeiz in seinem müden Fleisch zu wecken. „Ich bin hier um zu arbeiten“, log er so laut und überzeugt, wie er noch nie gelogen hatte. Kyle hielt inne. „Dann komm und beweg endlich deinen faulen Arsch.“
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    Kapitel 25


    Kräftige Motorengeräusche brandeten auf und verhallten in den Weiten der künstlichen Gebirge Irdoraths, als das gelbe Ungetüm von Bagger sich aus seiner Halle pellte. Beständig führten seine Ketten ihn zu dem sonnendurchfluteten Pass hinauf, an dessen Fuß in kompletter Gerade der festgefahrene Einsatzweg pappte. Es musste schon annähernd ein Jahr vergangen sein, seit Mervel das letzte Mal selbst am Steuer gesessen war, doch die Handgriffe saßen als hätte er Knüppel und Steuer keinen einzigen Tag aus den Händen genommen. Mit einem Rußnebel aus dem Auspuff erklomm das Biest die Anhöhe. Ein kleines Hochplateau, in dem, scheinbar wild, die Zeichen vergangener Fahrten eingestanzt waren, erstreckte sich vor ihm. Doch hier an diesem Ort gab es keine Zufälle. Dies war das Epizentrum von Mervels Planung. Kein Gerät bewegte sich hier, ohne, dass es eine Anweisung von ihm gab oder er selbst hinter dem Steuer saß. Er lebte im Chaos, doch wollte man dauerhaft darin bestehen, so musste man einen gleichermaß aufgeräumten Verstand und präzise Planung entgegensetzen. Mervel kramte aus seinem Handschuhfach einen Zettel und starrte in den möwenbehangenen Himmel, während er das Papier sorgfältig entknitterte. Noch zwei Wochen, und er würde an jener Stelle in ein schwarzrotes Eingangstor zur Hölle schauen. Das war es, weshalb er diese Arbeit liebte. Allein deswegen war er hier und nicht in einer Einzelzelle in Montera. Allen war die Härte des Knastes leichter auf den Schultern gelegen als die Härte dieser Freiheit. Alle hatten sie es vorgezogen gefangener Abschaum zu bleiben. Er machte sich selbst nichts vor. Für die gesetzestreuen Menschen die überall dort waren, wo er nicht sein konnte, gab es keine Abstufungen zwischen humanem Abfall. Doch brauchte er inmitten seines selbst erschaffenen Universums sich seinerseits nicht mehr mit diesem Gedankengut auseinandersetzen.

    Er hielt nun endlich den vollends ausgebreiteten Plan vor sich. Ein Grundriss von Irdorath war darauf gedruckt, ergänzt um einige Zeichnungen, die er selbst über das letzte Jahr hinzugefügt hatte. In der Mitte der Insel war mit Wachsmalkreide ein weitläufiger, roter Ring gezogen. Es war die erste Markierung, die er auf der Karte gesetzt hatte und zugleich die wichtigste, ergab sich doch jede weitere aus dem Ziel, von jenem roten Kreis aus das Feuer geordnet weiterzutragen oder einzudämmen. Einen Hügel aufzubauen war dabei keine einmalige Entscheidung, sondern vielmehr ein kontinuierlicher Prozess, in Zuge dessem die Mischung für eine optimale Brandnährung stets verfeinert wurde, bis die Geräte nicht mehr sinnvoll einsetzbar waren. Erst dann war ein Schritt vollendet.
    Mit seinem Finger bahnte er sich den Weg zu der kleinen Bucht unter ihm. Um zum geplanten Brandherd zu gelangen musste er nach Norden. Seine braunen Augen richteten sich wieder nach oben aus. Die Sonne hatte sich zu seiner Linken über dem an jenem Tag erstaunlich ruhigen Meer vor der Anlegestelle postiert. Er musste demnach fast eine Drehung um 180° machen. Doch dieses Fast machte den Unterschied zum ortsfremden Laien, welcher sich lieber einen scheinbar bequemeren Weg von der Halle zum Ziel gebahnt hätte. Natürlich hätte er dabei dem von oben drückenden Unrat Tür und Tor geöffnet. Es war längst kein einfaches Loch mehr, in dem das Lager stand. Es war ein mit selbstgebauten Dämmen geschütztes Tiefland, auf das Mervel als oberster Bauherr zumindest aus seiner Sicht nicht umsonst stolz war.

    Geübt drehte er den Bagger herum, sodass er geradewegs auf eine leichte Senke zwischen dem Hügel, welchen er Minuten zuvor zur Linken passiert hatte und einem im Gegensatz dazu unbesteigbar anmutenden Berg ausgerichtet war. Er drückte auf das Gaspedal. Dröhnend und knatternd eilte das Gerät in den noch locker aufgetürmten Unrat und zerquetschte ihn unter sich, während sich die Ketten zugleich immer tiefer darin eingruben. Mit entschiedenem Griff bremste Mervel den Bagger und setzte mit Unterstützung der Schaufel vor sich wieder zurück. Ein kleines, gespurtes Wegstück zeigte sich nun vor ihm. Er drückte wieder auf das Gas. Dies war mit die nervenaufreibendste Arbeit an der jährlichen Prozedur. Peinlichst genau hatte er darauf geachtet möglichst stabiles Material auf dem Weg zum Brandherd abzuladen, doch trotzdem war damit nicht zu vermeiden, dass diese Fahrt der in ein Moor glich. Er legte wieder den Rückwärtsgang ein, als plötzlich eine Erschütterung ihn mitsamt seinem Gefährt erfasste.

    Fluchend zog er den Schlüssel und sprang hinaus auf den Boden aus zersplittertem Pressspan und Laminat. Missmutig musterte er die Lage. Die gesamte hintere Hälfte war übermannshoch in den Grund eingebrochen, ohne erkennbare Chance sie eigenmächtig wieder herauszumanövrieren. Er kannte diese Situation. Mindestens zwei Männer mussten nun den Raum unter dem Bagger zuschaufeln, während er diesen mithilfe der Schaufel Stück für Stück anhob. Nur hatte er jene zwei Leute nicht. Er atmete tief durch. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis dies geschehen musste. Er hatte dennoch auf einen späteren Zeitpunkt gehofft. Seine Blicke schweiften über das Umland von Menschenhand. Noch immer war keine Spur von Kyle oder dem Neuen zu erkennen.

    Er schaute erneut zur Sonne hoch. Es war zweifelsohne ein schöner Tag, sofern man Tage nach ihrem Wetter beurteilen wollte. Mervel bewertete seine Tage grundsätzlich nicht. Wichtig war seine Arbeit und ob er diese ordnungsgemäß erledigen konnte. Alles andere war sinnentleertes Gequake und Pseudophilosophie. Was machte schließlich das Wetter für einen Unterschied, wenn die durch Schicksal bestimmte Arbeit trotzdem getan werden musste? Wie wollte mancher Tor da draußen seinen Lebenssinn in unbedeutenden Kleinigkeiten suchen, während er auf seine einzig sinnbehaftete Hauptbeschäftigung verächtlich spuckte? Der Wechsel aus Ruhe und Arbeit, dies war sein Lauf der Dinge.

    Was hingegen nicht in den normalen Ablauf passte, war, dass er um jene Zeit noch immer noch alleine zugange sein musste. Er setzte sich wieder in das Führerhaus und schaltete das Radio ein. Eine weibliche Orkstimme schmetterte einen der unzähligen Schlager. Ihr sirenengleicher Gesang glich dabei den vergleichsweise schwachen Text aus, der von ewiger Liebe und einem verbotenen Kuss handelte. Mervel selbst hatte nichts von beidem erlebt, ganz zu schweigen davon, dass er von der Existenz ewiger Liebe ohnehin nicht überzeugt war. Der Tod eines Menschen war dafür eine zu große Hürde. Er vermutete, dass er mit dieser unromantischen Sicht der Dinge womöglich aus der Zielgruppe fiel. Zur Vermeidung ungeliebter Stille erfüllten jene repetitiven Tonaneinanderreihungen dennoch ihren Zweck. Allein über das Fehlen seiner Mitarbeiter konnte jene Kleistermusik nicht hinwegtäuschen. Nur einen Tag zuvor hatte er noch geglaubt mit Zaylan abschließen zu können. Dass alles weiter den Weg der Dinge gehen würde. Letztlich tat es das natürlich, nur mochte er diesen Weg nicht. Wie sollte er sich auch darüber freuen können, dass das erstmals ausfallende Schiff Kyle offenbar zu einem erstmaligen Urlaub veranlasste, während sich der Eifer des Jünglings allem Anschein nach bereits binnen eines Tages aufgezehrt hatte. Er ließ seine groben Finger durch das glänzend rote Haar gleiten. Bisher hatte er sich keine allzu großen Gedanken über die Ereignisse der letzten Tage gemacht. Es war nie seine Art gewesen Dinge zu hinterfragen, so lange alles gut war. Nur, wenn er an jenem Punkt angekommen war es doch zu tun, konnte etwas schon lange nicht mehr gut gewesen sein. Etwas lief auf dieser Insel falsch und nicht einfach nur unglücklich. Jahre der Ereignislosigkeit hatte er hier verbracht, bis plötzlich wildgewordene Ratten einen von ihnen umbrachten, um nur einen Tag darauf durch einen Städter, die sonst diesen Ort nicht einmal erwähnen wollten, ersetzt zu werden. Er fühlte eine kühle Brise durch sein Gesicht ziehen. Die Türen des Führerhauses waren geschlossen. „Kargal“, so hatte er sich vorgestellt. Konnte er glauben, dass dies sein echter Name war? Und warum war das Schiff immer noch nicht gekommen? Konnte er ernsthaft glauben, dass es sich hier um Zufälle handelte? „Sag, magst du mich? Ich weiß es nicht“, trällerte nun ein Tenor aus dem Radio. Mervel drehte den Ton ab. Nein, natürlich konnte er das nicht, doch welchen Schluss sollte er daraus ziehen? Welches Ziel verfolgte dieser ominöse Jüngling, die ein solches Handeln im Zweifelsfall erforderlich machte? Er überlegte, welche kriminellen Machenschaften Irdorath zu einem lohnenden Ziel machen konnten. Es wollte ihm nichts einfallen, doch floss ein mulmiges Gefühl in seine Lungenflügel hinab. Was war, wenn Kyle nicht aus freien Stücken der Arbeit fern geblieben, sondern in eine Falle getappt war?

    Irdorath war bereits vor langer Zeit seine neue Heimat geworden. Er kannte jeden Hügel, jede Baracke und die Positionen ihrer Bretter. Dies war seine Welt. Nun bekam er das erste Mal Angst vor ihr. In diesem Moment erschienen am oberen Rand einer Halde die Umrisse zweier Personen. Mervels Herzschlag beruhigte sich wieder. Es waren Kyle und der Neuling. Die Welt war wieder in Ordnung, doch es war nicht mehr die Selbe.
    Geändert von Oblomow (05.11.2015 um 20:46 Uhr)

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    Kapitel 26


    Männer in Schwarz liefen hinter seinem Rücken auf und nieder. Vor ihm stand hinter Gittern ein hagerer Mann mit eingefallenen Wangen. Die Augen ausdruckslos und doch wachsam auf ihn gerichtet. Die Jahre waren ihm unmittelbar vom Gesicht abzulesen. Manchmal kam Djuren bei solch einem Anblick etwas wie Mitleid hoch, bevor ihm wieder bewusst wurde, dass jenes Schicksal allein ihre eigene Wahl gewesen war.
    „Und ich soll Ihnen nun die Kontenunterlagen vorzeigen?“, fragte die dürre Gestalt an Djuren gewandt. Djuren kaute etwas auf einem imaginären Kaugummi herum, um dem Bankangestellten dessen Position klarer zu machen. „Ob Sie oder jemand Anders das macht soll mir letztlich egal sein. Ich habe Ihnen jedenfalls eine richterliche Entscheidung vorgelegt und dieser hat Ihre Bank Folge zu leisten. Der Mann am Schalter lächelte matt. „Dann muss ich aber erst den Filialleiter rufen. Ich habe dahingehend leider nicht die nötige Befugnis“, säuselte er vor. „Tun sie, was Sie tun müssen. Ich warte hier solange“, gab Djuren ungerührt zurück. „Aber er ist derzeit im Urlaub in...“ Er gab dem Angestellten Ruhe zu verstehen. Spätestens jetzt wusste er wieder, warum sich jegliches Mitgefühl an diesem Ort verbot. Nicht umsonst hatte er wider seiner Vermutung einen Fall von Steuerbetrug konstruiert. Ohne richterliche Rückversicherung war hier nichts auszurichten.

    „Könnten Sie dann bitte hinter dem Schalter vorkommen?“ Der Bankangestellte kippte seinen Kopf zur Seite. „Warum das, wenn ich fragen darf?“, ließ er der Geste einen verbalen Zusatz folgen. „Weil ich Sie wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt nun in Gewahrsam nehmen werde. Wenn Sie hier jemanden für dumm verkaufen wollen, müssen Sie zu Ihren Bausparkunden gehen.“ „Ich verbitte mir...“, begann der Angestellte energisch Widerspruch einzulegen, doch verstummte fast augenblicklich, als Djuren seine Handschellen auf den Schaltertresen legte. „Ich meine, ich muss mit dem Leiter von Abteilung E telefonieren. Er ist derzeit auskunftsbefugt, wenn ich nicht irre.“ Djuren schwieg und ließ den Stahl der beiden Armreifen aneinander schlagen. Der Angestellte hob scheinbar unbeeindruckt davon seinen Telefonhörer ab und drückte eine der vielen Tasten, welche für eingespeicherte Kurzverbindungen gedacht waren. Der Beweis für Djuren, dass sein Gegenüber sehr wohl wusste, dass sein Gedächtnis sich bester Gesundheit erfreute. Er klackerte nochmal mit den Handschellen. Wie gern hätte er diese Hyäne in Anzug zum Revier geführt, nur hätte ihm das im Gegensatz zu seinen fragwürdigen Ermittlungen vermutlich ernsthaften Ärger eingebracht. Er klackerte weiter und begnügte sich mit den verunsicherten Blicken des Bankiers. „Eine Minute“, beschwichtigte jener mit zeitgleich erhobenem Zeigefinger. Djuren nickte vorgeblich verständnisvoll.
    „Ja, hier Bernard Diegan von Schalter B“ sprach er plötzlich los. „Hier steht ein Polizist mit richterlichem Beschluss, der eine Auskunft über ein Kundenkonto verlangt.“ Er pausierte. „Ich habe ihm gesagt, dass der Filialleiter außer Haus sei.“ Pause. „Nein, er wollte nicht gehen.“ Erneut entstand eine Pause. „Er steht gerade vor mir und hört das Gespräch mit.“ Bernard zwang sich zu einem gequälten Lächeln. Djuren rührte sich nicht. Nach einer endlos wirkenden Unterbrechung legte der Angestellte auf. „Es wird sich gleich jemand um Sie kümmern“, erklärte er, merklich erleichtert die Angelegenheit von sich geschoben zu haben. „Danke“, warf Djuren dem Bankier zu und zog sich in den leeren Lobby-Entspannungsbereich, welcher mit modern wirkenden schwarzen Ledersofas angefüllt war, zurück. Ächzend ließ er sich in einem der Sessel nieder.

    Eigentlich war alles besser gelaufen, als er es sich vorgestellt hatte, dafür, dass er erst mitten in der Nacht einen Fall haben würde. So schnell mahlten die Mühlen der Khoriner Justiz, wenn die Bürgermeisterin es nur wollte. Sonst hatte er sich schon bei einfachsten Hausdurchsuchungen von offen kriminellen Steuerberatern die Zähne bei seinem eigenen Vorgesetzten ausgebissen. Wenn er auch nicht korrumpiert war, hatte jeder trotzdem Angst davor, durch Dervon im Nachhinein verklagt zu werden oder eigene Nachteile, wenn sie einen Kredit für ein Haus brauchen würden, einstecken zu müssen. Nur, dies war eine Sache, die nichts mit Dervon zu tun hatte und die ihm Narrenfreiheit gewährte, da er der einzige Narr war, der sich darum kümmern wollte.

    Aus einem Lift huschte ein Mann mittleren Alters in Anzug heraus und steuerte direkt auf Schalter B zu. Dies war offensichtlich sein Mann. Er blieb sitzen. Der Mann kam auf ihn zu. Die Haare blond mit Schmalzlocke, die Augen tiefblau wie das Meer, das Brillenglas wie kaltes klares Wasser. Ein Lächeln im Gesicht, das für jeden unter seiner Stufe wie ein Peitschenhieb wirken musste. Eine selbstgefällige Fratze, die signalisierte, dass man mit harter Arbeit so weit wie er kommen konnte und gleichzeitig jeder unter seiner Knute ein vom Leben vorbestimmter Versager war. Djuren hatte dieses Gesicht schon auf seinem Revier zur Genüge erleben müssen. Buckler nach oben, Treter nach unten. Glücklicherweise sperrte er sie kurz darauf meist hinter Gitter.

    „Sie müssen der dritte Vizefilialleiter sein?“, begrüßte Djuren den Anzugsträger, ehe jener endgültig die Sofainsel erreicht hatte. Er hörte wie der Mann scharf die Luft einsog. Er hatte sich in seiner Einschätzung anscheinend nicht getäuscht. „Korhan Trilax, stellvertretender Filialleiter“, stellte er sich vor und streckte Djuren die Hand entgegen. „Gut, ich möchte dann gerne endlich Einsicht in die Unterlagen von Milket Lyngstad erhalten“, gab sich Djuren nicht weiter damit ab und sprang von seinem Sessel auf. „Wir können Ihnen die Unterlagen auch zusenden. Was Sie wünschen ist bei uns nicht vorgesehen.“ Djuren fuhr herum. „Wir haben allen Grund zur Annahme, dass diese Person flüchtig ist, da kann ich keine drei Tage warten bis irgendwelche Vizekasper hier ihren Papierkorb durchgearbeitet haben.“ Korhan grummelte und führte ihn ohne noch etwas zu sagen in ein Büro hinter dem Schalterbereich, in dessen Mitte ein Rechnerterminal aufgebaut war. „Bleiben Sie bitte in der Tür stehen und geben Sie mir Ihren Beschluss. Ich durchsuche dann die Datenbank für Sie“, sprach der stellvertretende Filialleiter mit deutlich genervtem Unterton. Djuren zog den Zettel aus seiner Hosentasche und entfaltete ihn gekonnt langsam, um ihn anschließend seinem Gegenüber zu reichen, welches ihm das Papier fast schon gewaltsam aus der Hand riss und direkt damit begann auf die angegraute Tastatur einzuhacken.
    Etwa eine Minute verging, ehe Djuren sich endlich an den Bildschirm begeben konnte. Als letzte Kontobewegung war eine Einzahlung von 350 Gulden seitens der Stadt angegeben. Offenbar der letzte Monatslohn und ein denkbar schlechter noch dazu. Er selbst bekam immerhin etwa das zehnfache und fühlte sich noch unterbezahlt. Er sah hinab auf den Gesamtkontostand und riss die Augenlider überrascht auf. 83650 Gulden waren darauf verzeichnet. Ein unmöglicher Betrag bei einem solchen Lohn. Schnell schaute er auf weitere vergangene Transaktionen, doch egal wie sehr er auch suchte, das einzige was passierte waren 350 Gulden, die monatlich eingezahlt wurden. Er sprang weiter bis zur Kontoeröffnung. Er besah sich das Datum. Es waren auf den Monat genau 20 Jahre vergangen seit dieses Konto existierte. Als erste Aktion war natürlich wieder die Gehaltseinzahlung zu finden. Darunter war ein Bankeinzug über 350 Gulden von einem südländischen Tabakhändler. Djuren rechnete und kam zu dem Schluss, dass er keine weiteren Auffälligkeiten mehr finden würde und es beunruhigte ihn ungemein. Er jagte offenbar einem Phantom nach. Einem Toten, dessen Spuren sich im Sand verliefen. Er schluckte. „Möchten Sie noch länger schauen?“, unterbrach ihn plötzlich der Bankier. Djuren sah zu ihm herüber und fasste sich wieder etwas. „Nein, aber schicken Sie mir trotzdem den vollständigen Kontoauszug auf das Revier“, ordnete er in der Sicherheit an, daraus keine neuen Erkenntnisse gewinnen zu können und ließ von dem Bildschirm ab.

    Langsam schlenderte er aus dem Raum und vor das Hauptportal der Bank. Die Nachmittagssonne strahlte auf ihn hinab und spendete eine angenehme Wärme. Es waren nur noch wenige Stunden, dann würde er den Vermisstenfall Milket auch ganz offiziell bearbeiten. Er atmete tief durch. Aller Befürchtung nach musste er wirklich nach Irdorath. Nicht, weil ihn jemand dazu zwang, sondern weil er das erste Mal seit Jahren einen Fall ernsthaft selbst lösen wollte. Er sah sich um und sein Blick blieb auf einem kleinen Kiosk haften. Er würde sich eine Packung Zigaretten kaufen, sonst konnte er das nicht mehr aushalten.
    Geändert von Oblomow (27.01.2020 um 01:21 Uhr)

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    Kapitel 27


    Die frühe Abendsonne spiegelte sich in den austrocknenden Schweißperlen von Kargals Stirn, als er die zersplitterten Reste einer Plastikpalette unter den Bagger schob. „Probiers jetzt nochmal“, rief Kyle laut dem im Führerhaus befindlichen Mervel zu. Ein lautes Donnern ertönte als Antwort. Kargal ging zur Seite, so schnell er noch konnte. Seit dem frühen Mittag war er pausenlos hinter der Maschine, wie er sie nur noch nannte, hergelaufen und hatte Berge unheimlich anmutenden Schrottes unter die monströsen Ketten gezerrt. Schrott, um welchen jeder Mensch von klarem Verstand besser einen weiten Bogen machte; bei dem man den Tetanus aus Kilometern zu sehen glaubte. Er hatte sich dennoch nicht zurückgehalten. Seine Hände waren ihm dementsprechend geschwollen, die Beine zitterten, als hätte er nicht etwa einen halben Kilometer sondern derer 40 zurückgelegt. Dazu gesellte sich die feste Überzeugung, dass er gut zwei Tage außer Gefecht sein würde, sollte er sich erst einmal zur Ruhe begeben haben.

    Er nahm einen kräftigen Schluck aus der Plastiksprudelflasche, deren Inhalt nun schon seit Stunden nicht mehr sprudelte. Er war dennoch glücklich darüber, dass Kyle sich erbarmt hatte in einer seiner Pausen drei Flaschen aus dem Lager zu holen. Die Maschine hatte indes wieder ihren Weg aus der Grube gefunden und tuckerte dem nächsten Loch entgegen. Diese lagen nach den Erfahrungen des Tages maximal 50 Meter vom letzten entfernt, wobei es je nach Pech auch nur die Hälfte sein konnte. Plötzlich verstummte ohne ein weiteres Krachen das Motorengeheul und die Tür des Führerhauses öffnete sich. „So, ich hab genug von euch beiden für Heute gehabt. Ihr könnt euch verpissen“, rief Mervel Kargal und Kyle am Rande der gestopften Mulde zu.

    Kargal verstand zunächst nicht, was vor sich ging. Neben ihm hatte Kyle die Fäuste fest in die Seiten gestemmt. „Was meinst du, wie mich deine Fahrkünste annerven? Kein beschissenes Schlagloch auslassen und sich dann noch beschweren. Aus meinen Augen!“, gab dieser nicht weniger zimperlich zurück. Ohne noch ein weiteres Wort zu wechseln gingen die beiden Männer auseinander. Kargal wusste nicht, was geschehen war, doch es schien etwas wie das Einläuten des Feierabends gewesen zu sein. Etwas unentschlossen folgte er Kyle, welcher seinerseits den Weg zur Lagerhalle eingeschlagen hatte.

    "Da muss noch etwas Routine rein, aber ansonsten ist das nicht einmal so schlecht, wie ich befürchtet hatte“, sagte jener mit einem Mal, als Kargal aufgeschlossen hatte. „Das soll mich motivieren?“, entgegnete Kargal ausgelaugt. „Versteh es wie du willst. Schaden wird es dir schon nicht“, gab Kyle zurück. „Wenn du willst kann ich dir jetzt auch die Dusche zeigen. Du siehst aus, als ob du es nötig hättest.“ Kargal nickte, während er weiterlief. Sein Schweiß war zu einer Kruste verkommen, deren Gestank sogar den seiner Umwelt überdeckte. „Na dann komm mal mit“, sprach Kyle und stieg hinein in die Mulde, in welcher das Lagerhaus versunken lag. Als sie an diesem angekommen waren öffnete er jedoch nicht etwa das Tor, sondern startete einen Bogen um die Längsseite.
    Der Weg war gespurt, wie Kargal verblüfft feststellte. Bei seinem ersten Besuch hatte er an jener Stelle nur einen Rattenschwanz gesehen, der in einem übergroßen Haufen Abfall verschwand. War er wirklich so abwesend gewesen oder hatte er nur ein schlechtes Auge für derlei Dinge gehabt? „Seltsam“, nuschelte er leise sich selbst zu, ohne dass Kyle davon Notiz nahm. Kargal folgte ihm weiter der grün lackierten Wand entlang, aus der vereinzelt braunschwarze Rostmelanome wucherten. „Hinter der Halle ist es dann“, informierte ihn Kyle beiläufig, als sie auch schon fast um die Ecke bogen. Langsam schob sich ein gemauertes Gebilde in das Sichtfeld Kargals. Ein Haufen blassgrauer Ziegel formte einen schlichten Quader, welcher trotz der wohl angeblichen Vollständigkeit wie mitten im Bau wirkte. Kargal zugewandt leuchtete dabei im Licht der Sonne eine dunkelbraun lackierte Stahltür. Ein Schmuckstück, welches ein bisschen den tristen Anblick, den jener Eigenbau bot, unterbrach. Als ob jener Raum dahinter etwas Wertvolles beinhalten würde, schützte ihn ein bislang noch nicht durchoxidiertes Vorhängeschloss. An der Längsseite des Anbaus waren geschätzt hinter dem Raum zwei übereinander liegende, rechteckige Löcher im Gemäuer erkennbar. Das untere war offenbar als Eingang angedacht. In der Lücke darüber schien auf einer Stahlunterlage etwas, das nach einem Kanister aussah, platziert worden zu sein.

    „Das ist unsere Dusche. Selbstgebaut“, erklärte Kargal das Offensichtliche. „Mhm“, grummelte Kargal unbeeindruckt zurück. Kyle setzte einen strafenden Blick zu seiner Seite ab, welchem erst in diesem Moment bewusst wurde, dass das erste Mal seit seiner Ankunft auf Irdorath seine Meinung Relevanz besessen hätte. „Ich erkläre dir besser mal die Regeln hier.“ Er führte Kargal in den Raum unter dem Loch. In der oberen Öffnung lag tatsächlich ein halbgefüllter Plastikkanister mit Hahn, unter welchem er nun genau stand.

    „Das ist der Wasserkanister. Für jede Woche haben wir eine Füllung. Will heißen, du gehst mit dem Wasser sparsam um. In der linken Ecke“, Kyle wies mit der rechten Hand irgendwie hinter sich und sprach dazu weiter. „haben wir einen Eimer. Ich weiß nicht, in welchem Knast du schon warst, hier jedenfalls benutzen wir ihn zum Haarewaschen. Du machst mit der Kernseife darin eine Lauge und tunkst den Schädel ein paar mal rein. Für den Rest ist das abgesehen vom Tunken sicher auch nicht die schlechteste Methode.“ Kyle unterbrach sich für einen Moment und holte aus besagtem Eimer ein unscheinbares Ding, das etwas an einen Korken erinnerte, um ihn auf Augenhöhe Kargals zu heben. „Mit diesem Pfropf kann man den Wasserstrahl am Ende breiter fächern und sich nochmal kurz abwaschen. Falls ich Morgen sehe, dass du trotzdem zu viel verbrauchst darfst du mir die nächste Woche ein paar Mal an den Achseln schnuppern. Und noch etwas: Bevor du anfängst zu duschen gebe ich dir noch den hier.“

    Kyle zückte einen Metallbund mit drei Schlüsseln aus seiner Tasche. „Das sind die Schlüssel von Zaylan, deinem Vorgänger. Du wirst sie gleich brauchen. Der kleinste öffnet die Kleiderkammer nebenan und der mittlere deinen Spind. Das ist der erste rechts, wenn du reingehst. „Und der Große?“, fragte Kargal nach. „Keine Ahnung.“ Kargal sah ihm noch eine kurze Weile in das ledrige Gesicht, in der Erwartung irgendeinen Hinweis nachgeschoben zu bekommen, bis er bemerkte, dass dies nicht der Fall war und er zudem auch kein ernsthaftes Interesse daran hatte. „Ich lasse dich dann für heute alleine“, kündigte Kyle stattdessen denn auch seinen Abschied an. „Du wäschst dich nicht?“, sprach Verwunderung aus Kargal. „Was glaubst du habe ich den ganzen Morgen über gemacht?, etgegnete Kyle und wandte sich zum Gehen. Unruhig folgte Kargal ihm bis zum Ausgang der Duschkammer. Er sah ihm hinterher, bis er fast an der Ecke der Halle angekommen war, ehe er ihm die Frage zurief, die ihm unterbewusst den Magen zum Knurren brachte. „Bin ich jetzt einer von euch?“ Kyle drehte sich nicht um, antwortete ihm aber trotzdem. „Wenn du Morgen zu spät kommst, schlage ich dich tot.“
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    Kapitel 28


    Mervel war wieder in seine Hütte zurückgekehrt. Die Sonne schien noch durch seine Fenster auf den verschmutzten Holzboden, doch um seine Gedanken hatte sich ein dicker Panzer aus Schatten gelegt. Er hatte sich nichts anmerken lassen, hatte er doch ernsthaft darauf gehofft, dass die Sorgen des Morgens von der Musik der Maschinen in das Vergessen gelockt würden. Doch dem war nicht so. Er hatte den Neuen genau beobachtet und nichts festgestellt. Ein ehrlicher Arbeiter unter der Sonne. „Ein falscher Dämon unter dem Mond“, sprach er seinen darauffolgenden Gedanken aus. Das war keine logische Schlussfolgerung, nicht einmal ein Bauchgefühl, sondern zehrende Magenschmerzen. Doch schon zu Gefängniszeiten hatte er gut daran getan, dies nicht auf das fragwürdige Mittagsmahl, welches man euphemistisch als Bohneneintopf bezeichnete zu schieben. Manch einer hatte diesen sechsten Sinn nicht. Nicht wenige davon hatte man eines Tages von Frotteehandtüchern stranguliert in der Waschküche gefunden. Er nahm eine Wasserflasche zur Hand und schüttete sich ihren Inhalt in das Gesicht, um sich daraufhin mit dem Rest darin notdürftig den darunterliegenden Körper zu reinigen. Es gab einen feinen Unterschied zwischen diesem Gefühl und etwa dem der Angst oder des Verdachts. Diese trieben ihr Opfer dazu, wie unter Zwang in das Dunkel zu stechen, ohne dabei zu wissen, wen sie dabei trafen. Nein, sein Gefühl war anders. Vielleicht waren selbst Begriffe wie Sinn und Gefühl grundsätzlich unzureichend. Es war komplexer und doch zugleich primitiver. Es war Instinkt. Und nichts führte ihn dazu irgendetwas zu tun, außer eine Information aus dem Äther, deren Art der Verwendung ihm frei stand. Er war der Herr der Dinge, die eigene letzte Instanz. Er stieg in seine abgetretenen Turnschuhe und verließ die Hütte. Die Arbeit war für Heute noch nicht beendet.

    Langsam schlappte Kargal durch den Müll zu seiner überbescheidenen Behausung. Die Müdigkeit fing an seinen Blick zu schwächen, doch solange er sich bewegte war er sich fast sicher nicht einschlafen zu können. Unstrukturiert trieben die Gedanken ihr Unwesen, ein Verhalten, aus dem immer mehr die Überforderung sprach. Er hatte sich genau nach Kyles Anweisungen gewaschen. Nun war er wieder rein genug, den Gestank seiner Umwelt wahrzunehmen. Sein Schuh trat auf ein laminiertes Papierschild und er rutschte etwas nach vorne ohne jedoch zu fallen. So weit hatte er seinen Gang zum Wohl seiner neuen Kleidung aus dem Spind bereits angepasst. Blaumann und Holzfällerhemd wären nichts gewesen, was er auf Khorinis je getragen hätte, doch er war glücklich genug darüber, dass ihm die Kleidung seines Vorgängers zumindest insoweit passte, dass er nun einen kleinen Fundus zur Verfügung hatte. Mehr war es allerdings auch nicht gewesen, was er an den Habseligkeiten für sich nutzen konnte. Außer der Kleidung hatte sich nur ein altes Familienfoto in schwarzweiß gefunden, welches er unmittelbar zerriss und dem lauen Herbstwind übereignete. Er konnte nicht mehr genau sagen, warum er dies getan hatte, ob aus Respekt vor dem Leben eines unbekannten Mannes oder dem genauen Gegenteil. Doch dies war ihm nun egal gemessen an dem Drang, sich endlich auf seine noch so kärgliche Pritsche zu werfen und für ein paar Stunden weit weg von allen Pflichten und Mühen zu sein, die sich auf seinen Rücken geschwungen hatten. Einen kurzen Moment musste er an die Lehrstunde im Tempel denken, welche er ursprünglich belegen sollte. Die Vorsehung würde an diesem Tag eine Ausnahme machen müssen. Morgen würde er sich doppelt anstrengen und den Stoff, sofern vorhanden, sicher aufholen können. Was wollte man ihm in seinem Zustand denn auch noch ernsten Gesichtes abverlangen? Er trat in seine Hütte und es wurde schwarz, sodass er einen Schritt zurückstolperte, bevor er sich, gerade rechtzeitig bevor er zu einem Sturz wurde, wieder fing. Keine Minute war mehr zu ertragen, keinen Schritt mehr zu gehen. Er erhob sich ein letztes Mal, um sich daraufhin quer fallend auf sein Bett zu begeben. Sein Atem wurde ruhiger, der Schlag des Herzens hörbar. „Esxro Bibliofrytix“, kam ihm die Passparole wieder in den Sinn, bevor sich seine Augen schlossen und er endlich schlief.

    Er hatte kaum den zweiten Hügel überschritten, als ihn bereits das ungute Gefühl befallen hatte. Es waren keine Geräusche, kein unbekanntes Erscheinungsbild, kein Instinkt. Nur dieses Gefühl, dass er nicht allein auf seinem Weg war und dieses andere Etwas ihm nicht freundlich gesinnt war. Ursprünglich hatte Mervel den Neuen bis in die Nacht beschatten wollen. Nun war er sich sicher, in dieser keinen Schritt mehr vor seiner Tür zu tun. Er beschleunigte seinen Schritt etwas, bis ihm am Rande einer Kuppe doch noch etwas in das Auge fiel, was nicht dorthin passte. Es war ein Hügel für Metallschrott, der irgendwann in die Öfen Nordmars wandern würde. Hier war es wichtig darauf zu achten, dass es zu keinen größeren Verunreinigungen des Materials kam und doch lag über dem Kamm, an welchem sein Sichtfeld endete ein tiefrotes bis violettes Stück Stoff herum. Doch kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht bewegte sich der Stoff und verschwand hinter dem Hügel, als ob man seinen Kopf ausgehört hatte. „Hab ich dich also“, schoss es Mervel durch denselbigen und er zog seinen Stammrevolver aus der Hosentasche. Vorsichtig, doch eilig, stieg er dem bewegten Stoffstück hinterher und als er den Sattel überschritten hatte, riss es ihn fast schon zu einem lauten Schrei hin, um den Verfolger zu stellen. Doch er sah nichts, außer dem verschwindenden Textil hinter dem nächsten Hügel. Wen auch immer er verfolgte, er war schnell, fast unheimlich schnell, wenn man bedachte, dass er als erfahrener Arbeiter an jenem schwer begehbaren Ort kaum folgen konnte. „Na warte“, knurrte er und biss die Zähne zusammen, um einen weiteren Anlauf zu nehmen. Doch egal wie schnell oder wie leise er sich nach vorne bewegte war er gerade schnell genug, um die Spur nicht vollends zu verlieren. Hügel um Hügel, Stunde um Stunde folgte er dem violetten Zipfel, bis sich die Nachmittagssonne in jene des Abends verwandelt hatte und sich statt eines Tals ein Plateau vor ihm erstreckte. Inmitten der kreisrunden Fläche stand ihm mit dem Rücken zugewandt ein Mann in tiefroter Robe mit einigen violetten Zusatzarbeiten. Der Stoff war fein gearbeitet, sodass er im tiefroten Schein der langsam untergehenden Sonne schimmerte. „Hände hoch oder ich schieße“, brüllte Mervel nicht ohne Genugtuung. Der Fremde folgte seiner Anweisung. Mervel sah sich vorsichtshalber um, doch nichts war zu sehen. Weshalb gab dieser Mensch nach einer stundenlangen Verfolgungsjagd so plötzlich auf? Er ging einen Schritt nach vorne und das Abendlicht verschwand mit einem Mal in tiefschwarzer Nacht, die alles um ihn herum auffraß. Alles was noch Licht spendete war ein unheimliches Leuchten, das der Fremde um sich herum ausstrahlte. Plötzlich erkannte Mervel auch, dass dieser überhaupt nicht auf dem Boden stand, sondern etwa zwei Zentimeter darüber schwebte. Sein Magen rumorte und ihm wurde klar, dass er sich bei dieser Verfolgung ganz anders als geplant doch von Gefühl hatte leiten lassen. Nur, was hier geschah konnte nicht real sein. Er wollte sich kneifen, doch er konnte sich vor der mit der Dunkelheit eingesetzten Angst kaum mehr bewegen. Es war wie damals, als Trico, sein ehemaliger Bandenführer, ihm als Loyalitätstest seinen halbgefüllten Revolver an den Kopf hielt und abdrückte, nur noch schlimmer. „Trico also, hahaha“, lachte die Gestalt mit einem Mal vor sich hin. Mervel bekam seinen rechten Zeigefinger in Bewegung und drückte ab. Die Kugel durchschlug den Kopf des Fremden, doch zeigte keinerlei Wirkung, außer dass sich dieser nun langsam zu Mervel drehte. Mervel drückte nochmal ab, doch alles was er tat konnte den Fremden nicht niederstrecken. „Bist du bereit, dich deinen Albträumen zu stellen?“, sprach der Fremde und hob seine Kapuze, sodass Mervel ihm nun direkt in das Gesicht sehen konnte. Einen Moment, blieb er noch wie versteinert stehen, ehe er mit einem jämmerlichen Fiepen zusammensackte.

    Der Staub legte sich in aller Ruhe auf die Nasenspitze Kargals. Gleichmäßig hob und senkte sich sein Brustkorb, beschienen von den letzten Strahlen des Abends. Traumlos schwelgte er in der Ruhe, die er sich so sehnlich gewünscht hatte, bis ein stechender Schmerz ihn auffahren ließ. Vom einen auf den anderen Moment fiel er aus dem Bett auf den Boden und wand sich wie ein gefangener Fisch umher. Das blanke Entsetzen riss die Augen auf und schnürte die Kehle gleichermaßen, dass sich kein Schrei aus ihr löste. Die Schultern fühlten sich an, als hätte man durch sie einen Dorn bis fast zum Herzen getrieben und ließen ihn vor Schmerz nahezu den Verstand verlieren. Ohne auf die Knöpfe zu achten, riss er sich das Hemd vom Leib, um freie Sicht auf die Ursache zu bekommen und er bekam sie. Tief eingebrannt in die Schulterblätter leuchteten die verschwundenen geglaubten Symbole der letzten Nacht nun feuerrot. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass ihm niemand ernsten Blickes auch nur das kleinste Bisschen erklären musste. Der Schwur, den er geleistet hatte war keine Formalie, sondern der pure Ernst und alle seine Erklärungen, die er sich zurechtlegen konnte, blieben so ungehört wie jene des Ertrinkenden. Er durfte zwei Wörter von Bedeutung sagen, jetzt trug er die Konsequenzen. Die Müdigkeit war nicht gänzlich verflogen, doch Schmerz und Panik ließen sie mit einem Mal bedeutungslos erscheinen. Er rannte so schnell er konnte aus der Hütte heraus. Die Arbeit war Heute noch nicht beendet.
    Geändert von Oblomow (05.11.2015 um 20:52 Uhr)

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    Kapitel 29


    Aufmerksam folgte Djuren dem roten Sekundenzeiger. Dies war das interessanteste, was noch geblieben war, nachdem alle anderen Elemente des Raumes in getragenem braun durchgeschaut worden waren. Beachtete man die trägeren Genossen des Zeigers so war zu lesen, dass es knapp vor halb zwölf war. Er streifte mit der rechten Rückhand seine Nasenlöcher entlang um den Ansatz eines Niesens zu unterdrücken. Als er den Anruf erhalten hatte, war der Tag noch drei Stunden weniger tot gewesen und er hatte sich zum Abendfilm gemütlich die Eier gekrault. Die Uhr tickte. Er hatte das „eilig“ des Inspektors tatsächlich ernst genommen und hatte sich von seinem Sessel geschält, um sich vor Ort von einer durchgeschwitzten Kugel von Beamtem in den Konferenzsaal führen zu lassen, in dem er nun saß. Auf den Tischen waren kleine Grüppchen von Minigetränkeflaschen auf Servietten für die nächste Sitzung in etwa zwei Wochen drapiert. Gnädigerweise hatte man ihm ein Wasser angeboten. Er hatte abgelehnt. Nun war dennoch in der gesamten Runde eine Traubensaftflasche weniger pro Platz vorhanden. Für einen kurzen Moment hatten an ihm ernsthafte Gewissensbisse genagt, danach hatte er ein Etikett überprüft. In einem Monat hätte der Saft seine Mindesthaltbarkeitsdauer überschritten. Danach wäre eine neue Tischdekoration ohnehin vonnöten gewesen. Das Anstandswasser natürlich ausgenommen.

    Die Zeiger der Wanduhr klangen lauter. Das Rathaus hatte er in all den Jahren nur ein einziges Mal betreten, als er seinen Ausweis erneuern lassen musste. Und außer der Pflicht gab es nichts, was ihn je an diesen Ort gezogen hätte. Aus jedem Winkel kroch hier eine Nebelschwade destillierter Langeweile, dass es fast schon unheimlich war. Zu Beginn hatte er noch gehofft, dass immerhin in diese Eigenschaft Verlass sei und eine kurze aussagenlose Ermahnung zur Vorsicht alles sei. Inzwischen erwartete er immerhin einen Hauch von spannenden Neuigkeiten und Instruktionen, trotz der Gewissheit nichts davon zu erhalten. Die bürokratische Mühle fraß immer nur die Zeit, anstatt sie zu verarbeiten. Er mochte seinen Arbeitsplatz in ihr nicht.

    Eine Türklinke wurde gedrückt und zwei in schwarz gekleidete Menschen traten in den Raum, die schnell als der Oberinspektor und die Bürgermeisterin zu identifizieren waren. „Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Felius“, trat Letztere an Djuren heran. Ungerührt sah er zurück. „Wenn es das Gespräch beschleunigt, glaube ich Ihnen das trotz der Verspätung einmal.“ Aus dem Hintergrund war ein tiefes Knurren zu vernehmen. Natürlich konnte dieser Umgang seinem Vorgesetzten nicht gefallen. Andererseits wusste er genau, was er zu erwarten hatte, wenn er ihn von der Leine ließ. „Ich hatte noch einige Fragen im Voraus zu klären, entschuldigen Sie bitte“, sprach die Bürgermeisterin ihn wieder an und überraschte mit dieser kleinen Geste derart, dass er tatsächlich hellhörig wurde. „Wenn das dann geklärt ist, können wir ja jetzt endlich anfangen“, hakte sich der Oberinspektor ein und nahm gegenüber von Djuren seinen Platz ein. Die Bürgermeisterin ließ sich zwei Sitze weiter rechts aus seiner Sicht nieder.

    „Als erstes würde ich Sie dann bitten, mir Ihre Dienstwaffe auszuhändigen, Herr Felius“, erging die plötzliche Aufforderung vonseiten seines Dienstherren. Djuren sah in die Augen aus Eis seiner Gegenüber. Unsicher zog er die Pistole aus ihrem Halfter. Ein einziges Mal hatte er sie einsetzen müssen, als sie einen Serienräuber gestellt hatten. Um ein Haar wäre er ihnen entkommen, hätte er mit seiner 38H nicht den Fluchtversuch mit zwei Schüssen in die Oberschenkel unterbunden. Fast wäre ihm das Schwein damals verblutet. Das war bei Weitem keine schöne Sache gewesen, aber eine, die getan werden musste. „Wollen Sie auch noch meine Marke?“, schob er halbherzig witzelnd hinter dem Schießgerät her. „Lassen Sie die Späße und nehmen Sie die hier“, zerstreute sein Vorgesetzter jedoch schnell die Sorgen und streckte ihm ein anderes Modell entgegen. „Das ist eine W-7.0.14“, bemerkte Djuren nicht ohne ein Zeichen der Überraschung in seine Stimme zu legen. „Gut erkannt“, bestätigte der Inspektor ernst. „Eine Militärwaffe, die ein Polizeibeamter im Dienst nicht zu tragen befugt ist“, ergänzte Djuren. „Im Dienst auf Khorinis, nicht auf Irdorath“, schaltete sich mit einem Mal die Bürgermeisterin ein. Verblüfft wandte er sich ihr zu. „Wir haben gerade noch einmal von unserem Juristen bestätigen lassen, dass durch den Kooperationsvertrag mit Montera auf der Insel ein weitestgehend rechtsfreier Raum herrscht. Die drei Schwerverbrecher, die dort derzeit im Einsatz sind, haben abseits der Arbeitspflicht das Recht zugebilligt bekommen, auf der Insel nach eigenem Ermessen vorzugehen.“
    „Wir können von hier nicht genau einschätzen ob und wie stark die Subjekte sich bewaffnen konnten, aber ich möchte Sie ungern mit einem Spielzeug losschicken.“ Djuren nahm die Waffe an sich. „Das ist ja nett, dass ich im Vorfeld informiert werde.“ Er lud sein neues Glanzstück fasziniert mit imaginärer Munition. „Und mit wem habe ich es genau zu tun?“, erkundigte er sich weiter.

    Drei Akten wurden ihm zugeschoben. Auf der obersten konnte er den roten „Geheim“-Stempelabdruck erkennen. Es war davon auszugehen, dass es um die anderen Mappen nicht anders stand. Fast automatisch hob sich der Pappdeckel von seiner Hand getragen, und gab den Blick auf das Leben eines Menschen frei. „Mervel Shaydign“, stand neben einer grimmigen Gestalt in schwarzweiß. Ein unangenehmes Gefühl bemächtigte sich seines Geistes, ohne dass er genau sagen konnte, weshalb dem so war. Der Mann sah kräftig aus. Wenige markante Züge prägten sein Bild. Aber Kraft allein hatte Djuren noch nie beeindruckt. Braune Augen waren es angeblich, die ihn anstarrten. Er blätterte eine Seite weiter und wusste wieder bescheid. „Der Grabscher“, flüsterte er kaum hörbar. Auf dem Tatortfoto war eine Leiche in Anzug zu sehen, den Brustkorb zerstört und überlaufen von Blut. Im Mund steckte ihm das unten fehlende Herz. Ein Fall der damals kaum durch die Medien ging. So sensationsgeil die Leute auch waren, gab es eine Grenze der Brutalität, ab der man etwas nicht mehr verkaufen konnte. Im Revier hatte man über diesen speziellen Totschlag natürlich trotzdem angeregt gesprochen. Ein Problem würde er dennoch kaum mit ihm haben. Abgesehen von dieser Tat taugte die restliche Laufbahn bestenfalls für die eines dummen Handlangers. Natürlich konnte man auf diese Weise nie ganz in einen Menschen sehen, aber der Gesamteindruck stimmte meistens.

    Konzentriert befeuchtete er die Innenseite seiner Lippen. Noch immer herrschte eine angestrengte Stille über den Raum, welche auch nicht durch Worte hätte durchbrochen werden können. Er zog die zweite Mappe von dem Stapel herunter und schlug den angestaubten grünen Pappdeckel auf die Seite. „Kilian Bronswik“, sprach Djuren den vermerkten Namen nach. „Ein Einheimischer“, fuhr er verächtlich fort. „Er hat bis 1780 ein Edelhotel auf der Insel in der Khoriner Bucht betrieben“, merkte die Bürgermeisterin an. Djuren lachte lautlos auf. Er konnte sich noch zu gut an diesen Fall erinnern. Als absoluter Neuling hatte er den Folterkeller für das Personal bewacht, bis die Forensiker eintrafen. Milde schaute das Gesicht des Terrors aus der Akte auf den Betrachter, dass man kaum glauben konnte, welcher Dämon sich dahinter verbarg. Die grauen Augen schienen so, als ob sie weder von Reue, noch von Rache getrieben seien, sondern als würden sie über allem Menschlichen an sich schweben. Er bemerkte, wie der Daumen seiner rechten Hand begonnen hatte den Griff seiner neuen Waffe zu massieren. Wäre dies sein einziger Kontakt gewesen hätte er ihn, gleichwohl aller Grausamkeit, wieder aus dem Gedächtnis verloren. Er hätte sich eingereiht unter allen Anderen nach der Schockstarre um die Räuberhöhle, jener isolierten Insel des Glücks, die kein Pöbel je beschmutzen sollte. Dem Paradies, wo sich der Chef jedes Problems persönlich annahm. Wie ernst es darum stand interessierte die Menschen nicht, solange die fünf Sterne am Himmel strahlten. Schuld bedeckte jeden einzelnen der hohen Gäste, von denen er nie einer gewesen wäre. Sein Problem war anderer, tieferer Natur. Was in den Kerkern des Gefängnisses passiert war würde zwar niemals jemand außer Kilian und ihm erfahren und trotzdem ließ ihn jeder Gedanke daran sein Herz implodieren. Beim Abtransport in den Hochsicherheitstrakt hatte er ihm noch in das Gesicht gesehen und einen Moment etwas wie Mitleid verspürt. Eine Woche danach kam der Brief in die Polizeidirektion. Es stand kein Name, kein Absender oder Empfänger darauf, nur einen Satz enthielt der Zettel darin. Die Wörter hatten sich in ihm eingebrannt. „Es ist schade, dass du nie Polizist werden wirst.“ Keiner konnte das verstehen, außer ihm selbst. Vor Gericht hatte es geheißen, er habe eine psychopathische Veranlagung gehabt. Er wusste es besser. Zitternde Hände schlossen die Mappe wie einen Sarg. Er hatte mit einem Mal keinen Drang mehr, diese Insel zu besuchen, auf der seine finsterste Stunde auf ihn wartete.
    Wortlos sah er auf zu den Masken seines Vorgesetzten und seiner Herrin aus Lonsdaleite. Alles was er wollte, war wieder nach Hause zu gehen, doch nun hatte er sich endgültig zu tief in den Sumpf gewagt, als dass er sich an den Haaren herausziehen konnte. Unwillig nahm er die letzte Mappe an sich, klappte sie auf und direkt wieder zu. „Das haben Sie nicht getan!?“, brüllte er plötzlich mit vor blankem Entsetzen geweiteten Augen. Sein Oberkörper fuhr in die Höhe und seine Hände rissen den Tisch mit sich. „Beruhigen Sie sich Djuren“, rief der, als ob er es geahnt hätte, ebenfalls aufgestandene Oberinspektor ihm entgegen, doch Djuren konnte nicht länger an sich halten. „Für jeden Bürger dieser Welt ist es schon schwer genug zu ertragen, dass diese Person noch existiert. Und Sie lassen sie frei umherspringen. Schande über Ihr Haupt, Frau Kantor.“ Die Angesprochene wirkte zerknirscht. „Das ist eine Entscheidung, die vor meiner Amtszeit gefällt worden war und die aufgrund der damit zugesicherten Rechte nicht mehr umgekehrt werden konnte“, gab sie kleinlaut zu bedenken. Der Inspektor hatte derweil den Tisch wieder aufgestellt.

    „Sie sollten auch nicht dem Irrglauben verfallen, diese Insel wäre ein Urlaubsparadies. Es ist ein Zuchthaus, ohne Chance auf Wiederkehr in die zivilisierte Gesellschaft. Die Subjekte, die dort hausen, sind Monster, das steht außer Frage, aber Sie sind nicht irgendein Held, sondern immer noch ein Polizist mit einem klaren Auftrag, den Verbleib des Schiffes und des Kapitäns zu klären. Verärgern Sie sie also nicht unnötig“, wies er Djuren zurecht, welcher sich langsam wieder auf seinem Stuhl niederließ. „Wenn Sie mir eine Waffe mitgeben, werde ich Iskariot umbringen“, antwortete jener trocken. „Ich untersage Ihnen das“, widersprach ihm der Inspektor. „Dann müssen Sie mir die Pistole abnehmen, Ben.“ Der Angesprochene schluckte. „Sie wissen genau so gut wie ich, das jede Äußerung, die dieses Subjekt am Leben erhält von keinem ehrlichen Menschen ausgesprochen werden kann, also bitte spielen Sie mir nichts vor. Wenn ich ihn umbringe, werden Sie der Letzte sein, der mich anklagt, nicht zuletzt deswegen, um diesen Fall geheim zu halten.“ Er sah hin zu der Bürgermeisterin, deren Miene sich während dieser Worte zusehends verfinstert hatte. In nicht einmal einem Jahr waren wieder Wahlen. Djuren schnaufte tief. „Dann sind wir uns ja wohl einig“, zischte er abschließend.

    Schweigen erfüllte wieder den Raum. Das Ticken der Uhr wurde langsam hörbar. „Ich schätze, wir sollten das dann zu einem Ende bringen“, meldete sich der Polizeihauptmann wieder zu Wort. Zögerlich glitt eine markierte Karte über den Tisch. „Wir haben Ihnen die vermuteten Standorte der Unterkünfte und das Lagergebäude eingezeichnet“, informierte die Bürgermeisterin. Djuren ließ immer noch etwas erregt ein paar Blicke über das Papier huschen. „Vermutet“, wiederholte er grübelnd. „Von einem früheren Erschließungsversuch waren an jenen Orten einige Hütten übrig geblieben. Wir gehen davon aus, dass sie auch weiterhin in Benutzung sind.“ Djuren brummte zum Zeichen der Kenntnisnahme. Er brauchte langsam wieder etwas frische Luft, um sich eine Zigarette anzuzünden, doch noch war dies wichtiger. „Und dieser schwarze Fleck?“ Er deutete auf einen unkenntlich gemachten Küstenstreifen. „Das ist ein Eingang zu einem unterirdischen Höhlensystem , den man bei den damaligen Arbeiten entdeckt hatte. Aufgrund der Erkenntnisse, die wir dabei gewonnen haben, ist dieses jedoch mit giftigen Nervengasen kontaminiert. Meiden Sie also diesen Ort besser, nehmen Sie im Notfall aber um jeden Preis Ihre Waffe mit“, mahnte sein Vorgesetzter.

    Djuren sah ihn verständnislos an, bemerkte jedoch auch den entgeisterten Blick der Stadtherrin, welcher ihm ob dieser Aussage galt. „Verstehe“, ging er nicht weiter auf die konfuse Aussage ein und strich den Gedanken an eine Aussprache dazu schnell wieder. Er hatte ohnehin nicht vor, sich diesen Ort genauer anzusehen.
    „Dann stellt sich ja nur noch die Frage, womit ich die See bereisen darf“, wechselte er lieber das Thema „Wir haben ein Mannschaftsboot herrichten lassen, das nun in etwa dem Stand einer Yacht entspricht, da es keine Unterkunftsmöglichkeiten auf der Insel gibt. Mit den Vorräten und Frischwasser die geladen sind sollten Sie gut eine Woche zurechtkommen. Danach kehren Sie hierher zurück. Ich erwarte einen täglichen Bericht über Funk.“ Ein ernster Blick voller Sorgen traf ihn dabei. Djuren lehnte sich in seinem Sitz zurück. „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
    Geändert von Oblomow (05.11.2015 um 20:54 Uhr)

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    Kapitel 30


    Er rauchte. Und er fühlte sich schmutzig. Er rauchte. Immer und immer wieder kam die glimmende Besucherin und verabschiedete sich wieder. Er rauchte. Stundenlang das immer gleiche Spiel. Er rauchte. Er stank. Er rauchte. Der Ascher war voll. Er rauchte bis zum letzten Zug, drückte die Zigarette aus und verließ das neblige Zimmer. Die Schlüssel für das Boot mussten noch immer abgeholt werden. Aber er hatte erst noch zu rauchen gehabt. Die Welt durfte gerne zusammenbrechen, aber nicht ohne Tabak. Nun lief er über den Flur, in dem ihn das beißende Licht von Neonröhren anstrahlte. Abgesehen von dem Geräusch seiner Schritte war es still. Irgendwo saßen noch die Nachtwache und das arme Arschloch der Telefonzentrale, beziehungsweise des Nachtschalters. Ab und an kam in der Nacht auch eine Streife für einen kurzen Kaffee vorbei, doch er hatte im Gefühl, dass dem gerade nicht so war. Er trat in den Hauptraum ein. Seine Vermutung bestätigte sich. Verlassen standen die Bürotische und Schalter da. In der Ecke brummte stoisch der Kaffeeautomat. Ein Lämpchen signalisierte, dass der Kaffeeweißer alle war.
    Er schlenderte durch die Tischreihen und sah sporadisch hinab auf die Zettel, deren Bearbeitung vom jeweiligen Beamten auf den nächsten Tag geschoben worden war. In der vorletzten Reihe vor dem Eingangsbereich hatte jemand vergessen die Schreibtischlampe auszumachen. Es war sein Tisch. Ohne das Tempo zu verändern, ging er auf seinen angestammten Arbeitsplatz zu. Auch er hatte noch einiges an unerledigter Arbeit, die anstand. Teilweise war er längst überfällig, hatte keine Lust mehr gehabt wegen gestohlener Reifen eine Anzeige gegen unbekannt aufzugeben. Er hatte auch so genug zu tun. Er griff nach dem Papierberg, setzte ihn auf die andere Seite des Ganges über und knipste das Licht aus. Schon wieder stieg in ihm das Verlangen auf, sich eine Zigarette anzuzünden. Der Kauf einer weiteren Stange schien unausweichlich zu werden. Eine harte Woche erwartete ihn.
    Er machte sich auf zum Nachtschalter, an dem in einem faltigen Gesicht vergrabene Augen apathisch in Richtung des Eingangs schauten. Langsam trat er in das vermutete Sichtfeld seines Kollegen, der nun ihn geistesabwesend anstarrte. Der Gedanke eines armen Arschloches hatte seine Berechtigung, die Rollenbeschreibung schien mit jener traurigen Gestalt kompatibel zu sein. Er klopfte auf das Holz der Servicetheke für die Opfer der Nacht und verlangte seine Schlüssel. Ein tiefes Einatmen befähigte nach einer Karenzzeit von gut 13 Sekunden die knorrigen Pranken einen bereitgelegten Schlüsselbund von der Seite in die Übergabeschublade zu schieben. Die Schublade wechselte die Seite. Er griff nach dem Schlüssel und stopfte ihn sich in seine Diensthose.
    Ohne noch ein Wort zu verlieren, verließ er die Station nach draußen. Der Blick wandte sich unmittelbar in Richtung des in Weiß gehüllten Hafens. Allein ein grelles Licht aus der Ferne durchbrach den Dunst der Stadt, doch konnte man nicht entscheiden, ob dieser das Licht zurückhielt oder erst sichtbar machte.

    Er hatte keine Gedanken mehr, kein einziges bewusstes Gefühl und war zugleich bis zur Unterlippe voll des Schmerzes, der ihn durch die Nacht trieb. Hätten ihm die brennenden Male eine ruhige Sekunde gegeben, so hätte er sich der animalischen Natur, die darin lag, bewusst werden können, doch als Ratte, die er war, war ihm eine Abstraktion seiner Selbst nicht mehr möglich. Die Gegenwart, in der er lebte, war ein Punkt. Und er rannte. Rannte als Folge eines Impulses, der ihn getroffen hatte, als er noch in einer anderen Dimension existierte. Zielgerichtet schoss er durch die Wüste in das schwarze Loch, das Linderung versprach. Und in dem Moment angekommen, in dem er nicht mehr funktionieren wollte, fiel er hinein in das Auge des Sturms und der Schmerz hielt inne.
    Geschunden an Leib und Seele wanderte der Blick zu seinen Malen, welche sich wieder unter seine Haut zurückgezogen hatten. Alles an ihm schien. Alles an ihm schien wieder in bester Ordnung zu sein. Doch den trügerischen Charakter jener Ruhe war er zu ignorieren nicht mehr imstande. Er sah auf die mondbeschienenen, grauen Hügel, vor einer unbekannten schwarzen See und in das dunkle Nichts der Grotte. Er konnte nur noch in die Finsternis gehen, wenn er überleben wollte, dessen war er sich gewiss. Er wollte diese Gewissheit auch nicht auf die Probe stellen, nahm ihm die Ausweglosigkeit doch einen Teil seiner Angst.
    Er trat einen Schritt voran und ein violettes Licht erschien, ihm den Weg zu leuchten, wie ein versöhnliches Angebot für den geläuterten Sünder. Er konnte nicht mehr anders, als es anzunehmen. Wieder schritt er durch die Höhle, durch den immer noch leeren Raum mit dem Steinblock, das Müllfeld vor den Wachtürmen, bis er vor seiner schon mit Fackeln beleuchteten Heimstatt ankam. Maschinell, aus einer Leere heraus, derer er sich kaum bewusst war, war er diesen Weg gegangen und streifte sich an gewohntem Ort wieder seine Robe über für die nächste Nacht, in der der Pflicht nachzukommen war. Er hatte nicht mehr jenen Stolz, zu denken, dass er der beste dafür war, sondern nunmehr der Einzige. „Esxro Bibliofrytix“ war alles, was er bisher gelernt hatte. Ein erster Schritt, auf den noch 1000 weitere folgen würden. Er wollte sie noch immer gehen, aber in seinem Magen rumorte die Angst, dass seine Beine versagen würden. Und doch lief er noch über den Friedhof auf blankem Stein, ohne einen Moment des Zauderns. Zwei rote Punkte blitzten ihn vertraut aus der Tiefe der weithin verfinsterten Halle an. Unter ihrem prüfenden Blick bogen seine Füße schließlich in den Vorraum ein, in dem das Portal zu einer anderen Welt schlummerte.

    Sofort schoss, zu seiner Überraschung, ein Gitter hinter ihm hinab. Aus allen Ritzen des alten Gemäuers begann ein milchig-trüber Nebel auszutreten. Er dachte, in ihm würde Panik ausbrechen, doch war die Entscheidung zwischen Fressen und Sterben von ihm in allen Variationen schon getroffen worden. Er holte Luft um jene magischen Worte auszusprechen, an denen die Zukunft hing, doch trat ein Schmerz ein, als hätte er reine Glasscherben geatmet. Kaum ein Ton wollte ihm noch entfleuchen. Ein Rest von Stolz flüsterte ihm ins Herz, einfach an jenem Ort zu sterben, sie fühlen zu lassen, dass man so nicht mit Menschen, mit ihm umgehen konnte. Doch sein Überlebensinstinkt behielt die Oberhand. Röchelnd und krächzend spuckte er die magischen Worte heraus und die Wand hinter dem Giftnebel verwandelte sich wieder in pulsierendes, grünes Licht. Nur ob es den trüben Dunst überstrahlte oder ihn erst wirklich sichtbar machte war in jenem Moment nicht zu entscheiden.
    Geändert von Oblomow (03.10.2023 um 17:42 Uhr)

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    Ungebremst stolperte Kargal über seinen Schatten zurück in die große Halle der Bibliothek. Er war wieder in seinem Käfig und konnte frei atmen. Das gedämpfte violette Licht wirkte in jenem Moment fast surreal, so sanft es ihn empfing, doch ließ sich an seinem Bestand nicht rütteln. Er sah hoch zu dem Gesicht der großen Statue. Ihr Blick ging an dem seinen vorbei. Er hielt Ausschau nach seinem Ausbilder. Niemand war zu sehen. Er war allein. Alles, was ihm in das Auge fiel, war ein abgegriffenes, schwarzes Buch mit Goldrand auf einem der Studiertische nebst einem Stück Pergament. Langsam ging er auf den Tisch zu. Suchende Blicke zu den Seiten formulierten die herangaloppierende Enttäuschung. Er hatte sich den Unbekannten gewünscht. Einen Lehrer, der ihm Stütze und Orientierung sein konnte. Oder zumindest jemanden mit dem er offen reden konnte. Doch wieder einmal blieb er allein mit seinen Dämonen. Vor dem Tisch kam er zu stehen. „Beliar, Gott des Tieres“, war der gut lesbare Titel des schwarzen Einbandes. Ein Titel, der nicht nach Zaubersprüchen oder magischer Kraft klang. Seine linke Hand griff nach dem Pergament. „Lese und erkenne dich“, stand darauf. Sein Blick wanderte zurück auf das Buch. Leise flüsterte es ihm zu, was ihm widerfahren sollte, hielte er sich nicht an diese Anweisung. Er verstand diese Aufgabe nicht. Wie hatten sie ihn fast umbringen können, nur der Lektüre einer philosophische Betrachtung wegen? Wie konnten sie überhaupt das Erlernen von Magie derart verzögern, wenn er nicht einmal mehr einen Monat Zeit hatte, um sich diese Künste zu erschließen? Er hatte doch sein Leben schon in die Hände Beliars gelegt, wovon sollte man ihn überzeugen, wenn er kämpfen wollte? Keinem dieser Gedanken würde er Ausdruck verleihen. Sie hatten ihn zu einem Sklaven gemacht, beaufsichtigt von seinem eigenen, strengen Blick, der tiefer sah als es ein Gott je gekonnt hätte. Er setzte sich nieder, schlug das Buch auf und begann die einleitenden Worte zu lesen.

    „Gott des Tieres“-Ein Titel, der für den Laien oder unerfahrenen Adepten ungewöhnlich erscheint, vielleicht gar provokativ wirkt, wenn man bedenkt, wie verbreitet inzwischen die Annahme, die Geschichte der Götter, wie sie kulturübergreifend in Schrift und Wort vermittelt wird, sei abzulehnen, ist. Die wenigen unstimmig scheinenden Details, auf denen jene, die Tatsachen zu leugnen suchenden Konstrukte zurückgreifen, werden vorliegend auch vereinzelt behandelt. Eine Widerlegung kruder Theorien soll jedoch nicht Gegenstand dieser Schrift sein.

    Um jedoch Kritik einer zu vorgefärbten Forschung vorzugreifen, wurde selbst bei den Überlieferungen zum Weltenursprung verstärkt darauf geachtet, auf kritische Passagen, die einer zu starken Verzerrung durch die unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften unterliegen in der Argumentation dieser Schrift zu verzichten. Um dieses Ziel zu erreichen standen mir der innostrische Nantaniara, Kopien entsprechender Abschnitte des schwarzen Buches aus Bakaresh, die überlieferten Erzählungen des Al Shedim da Nab der Nomaden sowie gar einige Fragmente des Krushur ur Arrak, einer Steintafel aus Nordmar, die orkischen Ursprungs ist, zur Verfügung. Ein Schraffierungsabdruck wurde unter den Augen der Brüder des nördlichen Tempels angefertigt und in den Fundus der Bibliothek eingepflegt.
    Als gesicherte Quellen wurden ohne eine weitere Prüfung jene Stellen übernommen, welche in mindestens drei der angegebenen Quellen vorkamen. Bei Passagen, die nur nur in zwei gleichlautenden Schriften präsent waren, wurden diese nur bei Übereinstimmung mit der orkischen Schrift oder den Adanos-Überlieferungen für die weiteren Forschungen und Überlegungen berücksichtigt.

    Selbst unter diesen strengen Regeln hat sich die Schöpfungsgeschichte der Götter als eine der wenigen verlässlichen Quellen für unser Wissen über die Götter erwiesen, sodass in diesem Werk einige weitere Überlegungen auf deren Basis angestellt werden konnten. Insbesondere hinsichtlich der Rolle Beliars als jener Gott, der das Tier erwählte, wurden einige rassenspezifische Verhältnisse genauer unter den Bril genommen.
    Tierkundliche Untersuchungen, unter anderem von Nergal und Karsius zu Bakaresh werden vorliegend zusammengefasst und sind Grundlage dieses Werkes, das diese durch eigene Untersuchungen, insbesondere im Bereich der Theologie ergänzt. So wurde die Faune verstärkt auch unter einem göttlichen Gesichtspunkt erforscht, sodass sich ein umfassenderes Bild des Lebens auf Erden ergibt.

    In diese Reihe der Abhandlungen wird dabei erstmals auch der Mensch eingepflegt. Zwar gab es bereits viele Versuche das Verhältnis des Menschen zu Beliar zu erklären, indem man dem denkenden freien Menschen, welcher bis zu einer Gottesentscheidung existiere, die Abkehr von Innos als eine logische Entscheidung des Geistes zuwies. In diesem Zusammenhang seien auch die in diesem Werk behandelten Theorien des Ziela von Kuadyr und Borkhan I, Fürst des östlichen Archipels zu erwähnen. Die Argumentation wurde in Teilen übernommen. Zusätzlich wird, wenn auch in veränderter Form die Alternativlosigkeit des Dienstes an Beliar als Ergebnis eines freien Denkens erklärt.
    Der vorgestellte neue Ansatz liegt jedoch darin, den Menschen bereits als von Beliar Erwählten zu behandeln, als Tier, dessen besondere Eigenschaften nicht nur die Erkenntnis der wahren, sondern auch die Einbildung einer Trugwelt ermögichen, in der ein vom Tier losgelöster Mensch existieren kann. Insofern wird neben der natürlichen Ordnung auch das Verhältnis zur Innoskirche in einen neuen Kontext gestellt. Hat manch einer noch einen Blick für eine friedliche Koexistenz, so wird man die Legitimität der Innosverehrung nach diesem Buch verneinen müssen, da sie direkt der Wahrheit und Logik dieser Welt zuwider läuft. Ein Gott, der auf einer Illusion aufbaut, kann dem Tier namens Mensch nicht wohlgesonnen sein, sondern ist als Parasit niederer als jedes lebende Wesen anzusehen.
    Auf dem Weg zu dieser Erkenntnis begleitet, haben mich neben Suetavin IV, oberster Priester zu Irdorath, zwei jüngere Gelehrte in unseren Reihen, deren Arbeits- und Denkweise manche Erkenntnis erst möglich gemacht haben.Den Herren Isidor und Warscak widme ich daher diesen Gruß und möchte sie gerne den Gelehrten der anderen Tempel als bereichernde Hilfen für ihre Studien anempfehlen.
    Nicht zuletzt möchte ich auch einen Gruß an einen Gelehrten außerhalb unserer Gemeinschaft des Beliar richten. Dem Wassermagier Korlatius, der sich einem Leben der Unentschlossenheit verschrieben hat, sei mein größter Dank auszusprechen für einen weitestgehend unverfälschten Blick auf die Geschichte der Götter und das Bild der Gemeinschaft Innos, das ich als treuer, fürchtiger Diener Beliars sonst nicht erlangt hätte.
    In diesem Sinne möchte dieses Werk nicht nur als für die Diener Beliars , sondern auch als Augen öffnender Einstieg für die Menschheit verstanden werden wissen. Möge der Leser Nutzen aus meinen Worten ziehen.
    Kargal blätterte um zum Inhaltsverzeichnis. Mit dem Vorwort wusste er wenig anzufangen. Zwar hatte ihm sein Großvater von den Göttern erzählt, doch war der Name Innos darin nie gefallen. Er fühlte sich fehl am Platz. In was er blickte, schien nicht ein Buch, sondern eine gänzlich andere Welt zu sein. Er dachte darüber nach, welch unscharfes Bild er von seinem Gott und seinem Hintergrund bei genauerer Betrachtung hatte. Alles was ihn an diesen Punkt getrieben hatte, war ein unbestimmtes Gefühl und der Ekel vor dem Ungreifbaren unter den Unantastbaren, die die Gegenwart bevölkerten. Nun bot man ihm die Gelegenheit mehr zu erfahren. Eine Möglichkeit die vergessene Vergangenheit zurückzuholen, mehr darüber zu wissen wo Beliar, den er für den Einzigen gehalten hatte, im Gefüge des Alls stand. Nur war eine Nacht dafür gewiss nicht genug.
    Er sah sich die einzelnen Kapitelnamen durch. Nach einem offenbar als Grundlagenzusammenfassung gedachten Abschnitt namens „Schöpfung des Animus“ folgte eine große Reihe an Tiernamen. Von manchen Wesen wie dem Drachensnapper oder dem Sandcrawler hatte er noch nie etwas gehört, andere Tiere, wie den Schattenläufer kannte er nur als Fabelwesen, deren Erlegung immer als ein besonderer Akt der Stärke galt. Dass auch Scavenger und Molerats vertreten waren, ließ ihn immerhin daran glauben, nicht vollständig ahnungslos zu sein.
    Es war sicher interessant über die Fauna einstiger Tage zu lesen, doch war es gleichsam vermutlich nicht zielführend. Er blätterte sich weiter nach vorne, bis das Kapitel Mensch begann. Als Untertitel wurde eine Reihe von Theorien zu einer ihm unbekannten Schöpfungsgeschichte abgehandelt. Insbesondere der Name „Adanos“ schien dabei von großer Bedeutung zu sein.War dies ein dritter Gott? Er schämte sich fast, sich nie derart intensiv mit der Forschung in diesem Bereich auseinandergesetzt zu haben, dass er sich auch nur eines irgendwie fundierten Vorwissens hätte rühmen können. Aber sich alleine um die Existenz göttlicher Wesen bewusst zu sein, war schon mehr als der durchschnittliche Bürger in dieser Richtung zustande brachte. In Wissenschaftskreisen kursierten ab dem Zeitraum von über 400 Jahren in der Vergangenheit auch nur noch Gerüchte. Einzelne Dokumente aus dieser Zeit waren zwar aufgefunden worden, doch musste insgesamt eine derartige kulturelle Revolution gewütet haben, dass mündlich weitergegebene Sagen noch die ertragreichste Quelle waren.
    Manche ihm abstrus erscheinende Deutung der Historiker und Geologen hatte ihn von zu tiefer Einarbeitung bewahrt. Vielleicht hätte er mehr über Kult und Kultur auf diesem Weg erfahren, doch andererseits hatte er sich so den Glauben an die permanent geleugnete Magie erhalten. Würde er etwas Zeit haben, so würde er sich nochmal genau damit befassen. Er hatte nur den Kern des Ganzen zu extrahieren. Sein Blick fuhr weiter durch die Kapitelnamen.
    Auch die Sichtweisen Innos' hatten einige Abschnitte spendiert bekommen. Bei genauerer Betrachtung fiel auf, dass sie merklich kürzer als die Adanos zugehörigen Erörterungen waren. Er folgte weiter dem Inhaltsverzeichnis, bis er den Titel 'Der Mensch: Eine Täuschung' las. Ein unbestimmtes Gefühl verriet ihm, dass dies derjenige Teil war, der für ihn relevant war. Eilig schlug er die entsprechende Seite auf und vertiefte sich in die Lektüre.
    Hunderte von Generationen haben sich damit beschäftigt, eine Verbindung des Menschen zu Beliar zu begründen. Die Kraft des Gedanken, die Naturliebe, ein Akt der Befreiung von bindenden Regeln, all dies umschrieb, dass es sich um eine Abkehr von Innos, dem Gott des Menschen handeln würde. Diesem Grundsatz blieb man treu, ohne ihn ernsthaft zu hinterfragen. Erst im letzten Jahr vor dieser Schrift konnte man in Valorian zu Ishtars Werk „Das Leben im Schatten“ einen vielgerühmten Lobruf auf das „Ketzertum“ lesen. Es bedarf daher dringend einer Erörterung, welche dieses Bild des Beliarjüngers neu behandelt. Dies wird im Folgenden nun getan.
    Wie bereits in Kapitel II beschrieben sind zunächst alle Wesen und alle Materie, weder von Beliar, noch von Innos geschaffen, sondern eine Schöpfung des Adanos, oder, um auch diese Strömung zu berücksichtigen, ein Werk der göttlichen Singularität, auch Ra genannt (Ausführungen dazu in Kapitel XXIV). Insofern ist im göttlichen Kontext der Mensch zunächst ein Ding, gleich mit allem dieser Dimension, ob Stein, Pflanze oder bewegtes Wesen. Über den in der Urgeschichte geschilderten Kampf der Götter gibt es viele Meinungen, die wiederum auf geringfügig anderen Versionen, insbesondere in den Reihenfolgen der Erwählungen, aufbauen. Es ist eine angespannte Situation in der theologischen Welt, in der auch nicht eine weitere Auslegung der Schrift weitere Verwirrung stiften soll. Stattdessen möchten zur Klärung der Lage Ergebnisse der jüngeren Forschung zum menschlichen Körper herangezogen werden. Insbesondere die Protokolle zu den Sezierungen innostrischer Terroristen ergaben ein umfassendes Bild des menschlichen Körpers und natürlich auch jener, die sich nicht mehr als Mensch sehen könnten. Vergleicht man die vorgefundene Anatomie mit der eines gemeinen Hausschweins, so wird bei einem genaueren Blick eine gewisse Ähnlichkeit, ja, fast eine vollständige Entsprechung auffallen.
    Organe sind in gleicher Weise vorhanden. Ausnahmen bilden beispielsweise eine Ausbeulung des Darmes beim Menschen. Dies sind jedoch Unterschiede derartiger Gestalt, wie sie auch unter verschiedenen Tierarten oder gar Exemplaren derselben Art vorgefunden wurden. Ein bislang ungedachter Gedanke war bei den Untersuchungen dazu allgegenwärtig. Was wäre, wenn der Mensch auch nur eine Tierart wäre und kein grundsätzlich eigenes Wesen, wie man gemeinhin annahm? Eine Vielzahl an Theorien müssten revidiert werden. Doch reicht dafür ein solcher Hinweis?
    Als Konsequenz des gesäten Zweifels versuchte ich die Sachlage aus historischem Blickwinkel einer Überprüfung zu unterziehen. Und tatsächlich spross aus jener Saat dabei ein Baum stattlicher Gestalt. Aufzeichnungen der Stämme aus dem Monteragebirge und den Sildener Wäldern waren hierbei eine große Hilfe. Dass diese nicht einem breiteren Publikum in der Fachwelt bekannt sind, liegt daran, dass diese Schriften der Frühzeit aus dem Bestand des eingangs erwähnten Korlatius entstammen.
    In diesen wird bereits auf Basis eines weit verbreiteten Innosglaubens in Myrtana geschrieben. Spannend ist jedoch ein dort verewigter Rückblick, als „auch die letzten der alten Ära (werden) sich fügen“ würden. Einige Hinweise wie eine Tag, Nacht und Todessymbolik legen den Schluss nahe, dass diese alte Ära von Beliar geprägt war. Die Schrift aus den Sildener Wäldern hingegen ist mehr eine Malerei, welche auf Tierhaut verewigt ist. Auf dieser ist eine Gestalt zu sehen, die man am ehesten als halb Mensch, halb Bison beschreiben kann. Diese ist unter Mond und Sonne platziert. Diese stehen aller Wahrscheinlichkeit nach für die sich streitenden Götter. Weiteren Aufschluss über jene Zeit könnte sicher auch manche Bibliothek der Innosgläubigen geben, in welche ich allerdings verständlicherweise nicht vordringen konnte. Dennoch ergab sich aus den Quellen, welche ich aufgrund Herkunft, Inhalt und Beschaffenheit der Materialien als Originale einstufe, der Gedanke einer Entwicklung der Menschheit in kultureller Weise und somit auch die erst spätere Erwählung der Menschheit durch Innos, während zuvor allgemein Beliar als zu verehrender Gott angesehen wurde, mit Ausnahme der Religion des Adanos natürlich, welche jedoch, trotz der großen Kulturen, welche sie hervorgebracht hat, den Mensch immer nur als Ding begriff. Doch ist die Kultur des Adanos, insbesondere im Wüstenreich, das Kapitel einer anderen Zeit, die an dieser Stelle nicht im Fokus stehen soll.
    Die erwähnte kulturelle Entwicklung lässt jedenfalls den Schluss zu, dass der Begin der ersten Ära Innos' stark mit einem Gedanken des Menschen als vom Rest der Schöpfung losgelösten Wesens verknüpft ist. Die Geburt des Menschen nach Auslegung der Innoskirche ist also keinesfalls, wie vermutet, durch eine Erwählung unterschiedlicher Wesen oder gar eine Neuschöpfung vonstatten gegangen, so unwahrscheinlich diese davor auch schon war, ist die Endgültigkeit des Werkes Adanos' doch ein allgemein akzeptiertes Faktum. Nein, vielmehr steckt eine, durch unsere artspezifische Kraft des Denkens geschaffene, Ideologie einer Herrenrasse Mensch dahinter. Diese und auch nur diese wurde von Innos erwählt.
    Es ist bekannt, dass Beliar manchen Bürger und in wenigen Fällen auch schon Rabenvögel zwanghaft in seinen Dienst stellte, dass sie nicht mehr die Möglichkeit hatten nach freiem Willen die Erleuchtung zu finden. Einige erachten dies als verwerflich. Was jedoch wirklich verwerflich ist, ist einem Wahn gegenüberzustehen und anstatt dem Verlorenen zu helfen, seinen Irrsinn zu streuen, ja, gar zum Gesetz zu machen.
    Als sich nach dieser frühen Reformierung bis zum heutigen Tage keine gesamtweltliche Mehrheit hinter Beliar versammeln konnte, sondern man stets zwischen vollendeter Egomanie in Form des Glaubens an Innos oder jeglicher Verweigerung eines eigenen Willens in den Hochzeiten des Adanoskults wandelte. Doch hat all dies mit der Realität wenig zu tun. Umso fataler ist, dass wir seit jenen Urtagen auch als Diener Beliars dem Trugbild des Menschen verfallen sind. 'Gleiches zu Gleichem' sagt man und dies gilt auch für uns. Dem Tier zu entfliehen ist somit auch eine Flucht vor dem wahren Gott Beliar.
    Unklar ist indes, welche Implikationen diese Erkenntnis mit sich bringt. Im Folgenden sollen auf Basis des Innoskultes und dem dort vermittelten Bild eines guten Menschen Denkanstöße gegeben werden.
    Ein großer Wert wird etwa auf ein altruistisches Verhalten gelegt. Ein edles, uneigennütziges Tun für Mitmenschen. Es wurde dazu bereits viel über die Aufwiegung mit emotionalem Nutzen geschrieben, doch ist dieser Nutzen stets mit dem Bild des Menschen als einem grundsätzlich höheren Wesen verbunden. Dem entgegengesetzt soll hier eine Herleitung altruistischen Verhaltens über das Tier erfolgen. Nicht erst in jüngster Zeit wurde festgestellt, dass verschiedenste Arten ein kooperatives Verhalten an den Tag legen. Sei es bei der Aufzucht von Kindern, der Suche nach Wasser oder auch der Jagd. Dieses Verhalten scheint umso häufiger aufzutreten, als die Art uns intelligenter erscheint. Schauen wir genauer auf die Thematik, ergibt sich im Überlebenskampf ein unbestreitbarer Vorteil. Im Rudel vermag auch der einzelne Wolf eine größere Beute als ein einsamer Hetzer für sich zu gewinnen. Bisons sind als eine Herde fast so unbezwingbar wie die mystische, halbmagische Kreatur eines Drachen. Es bildet sich, um dies endgülig festzuhalten, heraus, dass ein Verhalten im Gemeinschaftssinn zu einem klaren Nutzen führen kann und dies weithin auch tut, der deutlich mehr als bloßes Gefühl ist.
    Übersetzt man dies auf die Art des Menschen, so wird man erkennen, dass sich diese Wahrnehmung bestätigt. Eine „gute Tat“ steigert das Ansehen in der eigenen Gruppe und bietet auf längere Sicht Dinge wie Schutz und Annehmlichkeiten. Betrachtet man dies nüchtern von außen, so hat es den Anschein, dass allein die längere Sicht, welche wohl durch den größeren Verstand unbewusst einkalkuliert wurde, als logische Weiterführung der bei den Tieren beobachteten Kausalität von Kooperation und Intelligenz, bewusst jedoch kaum wahrnehmbar ist, den Mythos altruistischen Handelns entstehen lässt.
    Dass dieses als ein allgemeiner Wert, selbst von seinen größten Verfechtern wenig Beachtung findet, ist ein gutes Zeichen dafür, dass diese Denkweise falsch ist. Als Belege dafür braucht man nicht nur auf die mit aller Grausamkeit geführten Kriege der myrtanischen Fürstentümer sehen, als vielmehr in das Innere einer jeden hierarchischen Kultur, in der die Edelsten -Priester, Ritter, Könige- den Ärmsten ungeachtet seines Verhaltens knechten. Spenden sind kein Beweis altruistischen Denkens, sondern finden ihren Sinn in der Stärkung einer Illusion, sei es für sich oder relevante Personen im eigenen Umfeld. Der Begriff des Altruismus ist somit ein Werkzeug um Zwecke zu erreichen, das je nach Fall Anwendung findet oder nicht.
    Hängt aber der Wert altruistischen Verhaltens von der Situation ab, so kann es zu jedem Moment dazu kommen, dass man die Vorstellung von Moral in einer Weise pervertiert, dass ein altruistisches Verhalten als böse Tat geahndet wird, weil sie der Gesellschaft überwiegenden Schaden beibringt und umgekehrt eine zutiefst egoistische Tat belohnt wird, bringt sie ebendieser genug Nutzen.
    Die Härte des Lebens will ich nicht anprangern, das eigentlich egoistische Verhalten ebenso wenig, da es nur natürlich ist. Diese Schrift gelte als Hinweis, dass es vielmehr keine dem Leben übergeordnete Moral gibt, die ein Verhalten als böse oder gut einzustufen vermag. Eine Verachtung bestimmter Taten kann sich nur durch eigenen Nutzen begründen, doch ebenso das Begrüßen dieser. Es geht also darum, offenen Auges einen Weg zu finden, der ein ertragreiches und erträgliches Beisammensein ermöglicht, doch nicht eine Moral zu finden oder zu begründen, die immer nur eine hohle Phrase sein wird.
    Es folgte eine weitreichende Abhandlung darüber, warum Gesetze als Grundsteine für die Vorteile einer Gemeinschaft als geeignetes Mittel anzusehen waren. Die genannten Regeln und drakonischen Strafen, welche dafür als Beispiel genannt wurden, kannte er nicht. Er glaubte dennoch, das Anliegen dahinter zu verstehen und sprang zum Beginn des nächsten Kapitels.

    Der Wert eines Gutes

    Sei es der materielle oder immaterielle Wert. Schon vor langer Zeit hat die Menschheit damit begonnen zu handeln. Erste Belege sind bereits...“
    Kargal unterbrach die Lektüre wieder, nachdem ein neugieriger Blick voraus, ihn darüber aufklärte, dass die folgenden Seiten allein aus der Geschichte des Handels bestanden. Er versuchte das Ende der Passage auszumachen, doch stieg er mangels Kriterien beim ersten Fall eines Götternamens wieder in die Lektüre ein.
    „Das Opfer ist letzten Endes ein spezieller Handel, der den Eindruck eines gesetzten Geld und damit von Waren manifestiert. Innos nimmt Geld und schenkt dafür zuweilen Leben und Mana. Beliar nimmt dieses und gibt dem Betenden Geld. Das folgende Kapitel wird zwar zeigen, warum auch ein Geschenk zu den Göttern ein perfides Geschäft ist, doch bleiben wir zunächst in der Ansicht der Dinge. Es wird immerhin suggeriert, dass Geld und Leben Werte seien, die stets aufgewogen werden könnten, so unglaublich das doppelte Beten auch für einen Einzelnen sein möge. Dass der Handel an sich kein vollendeter ist, sondern die Götter genau genommen willkürlich ihre Gaben geben, soll als Argument gegen diese Theorie jedoch keine Rolle spielen, da selbst dadurch nicht grundlegend andere Ergebnisse als Quintessenz des Sachverhaltes extrahiert werden könnten.
    Viel entscheidender in diesem Handel ist die Frage, woher das Gold kommt. Die Antwort entzieht sich jedem klassischen Ansatz, der Wert definiert. Bei jeder Gabe Beliars materialisiert sich Gold aus dem Nichts oder zumindest aus einer anderen Dimension in die unsrige. Von der im Vorhinein erläuterten Geschichte des Handels ist weiterhin nicht davon auszugehen, dass nicht immer das Gold die Währung der Götter war. Doch was heißt dies?
    Folgen wir dem Weg, dass letztlich alles Material beliebig verfügbar oder zumindest der Gesamtbestand durch den Dimensionswechsel nicht bestimmbar ist, so gibt es keinen Wert eines Gutes, gleich welcher Art, der sich sinnvoll bestimmen ließe.
    Bei diesen Gedankenspielen möchte ich jedoch an unsere Gemeinschaft eine unterstützende Erklärung gegen das Doppelgebet senden. Denn, so man sich in Demut an Beliar wendet, welcher uns unterstützenden Tand für diese Welt sendet und wir uns der Bedeutung dieser Gabe bewusst sind, also Gebet und Opfer wahrhaftig sind, so kann ein Opfer an Innos als logische Folgerung nicht mehr sein, da Gold nicht mehr zum Ruhme Innos gereicht werden kann, wenn man nicht mehr an seinen universellen Wert glaubt. Wer dies wiederum tut, wird sich nicht wahrhaftig an Beliar wenden können.
    An dieser Stelle ist ein Rückgriff auf die Schöpfungsgeschichte angebracht. „Und alles, das Innos erschuf, wurde von Beliar zerstört“, heißt es in der alten Überlieferung. Und es ist auch erkennbar, wie diese Zeilen zu lesen sind. Denn alles, was Innos erschafft, sind nicht mehr als Illusionen, Einbildung, und sonstige immaterielle, artifizielle Werte, die alle über kurz oder lang an der nüchternen Wahrheit, die Beliar innewohnt, zerbrechen. Man könnte im Umkehrschluss jedoch auch sagen, dass alles, was Beliar zerstörte wieder aufgebaut wurde. Dieser Kampf wird vom Anbeginn der Zeit, bis zum heutigen Tage auf allen Ebenen geführt. Doch dies soll nicht das Schlusswort sein. Denn in diesem Kampf sind auch die unsrigen Streiter verblendet durch etwas, dessen Grundfeste auf Sand gebaut sind.

    Göttliche Ehre

    Auch die Völker unter der Flagge Beliars bestritten bereits manchen Krieg im Namen unseres Gottes. Dabei nahmen die Krieger, aber auch die Gelehrten den Begriff der Ehre in den Mund. Auch aktuell wird vieles, das nicht per Gesetz zum eigenen Nutzen eingefordert werden kann, mit der Ehre begründet. Und, kaum fassbar, ist die Ehre doch der mächtigste ideelle Wert unserer Zeit, doch ist er hohl wie all die Anderen. Bevor die Argumentation fortgesetzt wird, ist es jedoch sinnvoll einige Abhandlungen zu dieser Thematik einzuführen.
    Kargal hörte auf zu lesen. Sein Atem war schwer geworden, als ob er binnen dieser kurzen Zeit um mehrere Jahre gealtert wäre. Er erhob sich von seinem Platz. Der Stuhl knarrte laut auf, doch Kargal fiel es, trotzdem er es hörte, nicht mehr auf. Er brauchte dringend eine Ablenkung von dem Buch, bevor er fortfahren konnte. Er hatte den Text verschlungen. Er hatte ihn vergiftet. Alles was er auf dieser Insel gesucht hatte, ward mit der Macht des Wortes pulverisiert worden. Jedes Versteck, in das er sich noch verkriechen konnte würde durch den ungezündeten Rest, der vor ihm lag, ausgeräuchert werden. Er wollte nicht mehr lesen. Doch ändern, was geschrieben stand, konnte er dadurch nicht mehr. Oder vielmehr ließ sich die Wahrheit nicht ändern. Alles, wozu er imstande war, war sie zu leugnen. Und selbst diesen Ausweg hatte man ihm genommen. Er wollte wieder nach Hause, doch würde man ihn nun nicht mehr zurück lassen. Der Schwur, den er geleistet hatte, war nicht umsonst mit seinem Körper besiegelt worden. Keine Worte von Ehre, Mut, Gewissen oder Wahrheit waren in ihm aufgetaucht. Er wusste nun, was der Grund dafür war. Er ging auf die nächste Bücherwand zu und lehnte sich an das polierte Holz, aus dem die Regale geschaffen waren. Barianenwurzeln waren es, die sie hinter der Wand verbanden, kam ihm in den Kopf geschossen. So viel Mühe steckte in diesem Tempel. Wussten seine Bewohner überhaupt, für was sie dies getan hatten? Wussten sie, was sie unterstützten und weshalb? Offenbar war dem nicht so, wie sich der Autor an die Gemeinschaft richtete. Die Skelette an denen er vorbeigegangen war, die unheimlichen Geister, die ihm den Schwur abgenommen hatten, waren sie wissend oder nur Werkzeuge dieses kalten Gottes, der den Menschen an sich band und ihm zugleich jeden Halt nahm? Auch Ehre würde kein Wert sein, der Bestand haben würde. Dieser anfängliche Glauben war verflogen. Nur der Grund dafür fehlte ihm noch, dies wirklich zu begreifen. Es würde ihm nichts anders übrig bleiben, als diese Lektion zu lernen. Das Grauen dieser Nacht, es war ein größeres als noch einen Tag zuvor. Er hangelte sich den Fächern entlang wieder in die Höhe. Dieses gleichmäßige Licht, der wohltemperierte Raum, die reine Luft. Wie verfluchte er diese Makellosigkeit, die ihm den Angriff verweigerte. Er ging wieder an den Studienplatz und setzte sich nieder, um sich wieder dem Strudel der Schrift auszusetzen. Er übersprang die Ausführungen zu den vergangenen Kriegen und las.
    Mitnehmen kann man also, dass die Ehre stets in einem göttlichen Kontext zu stehen hat, ist sie von ernsthafter Natur. Für eine Aufgabe bestimmt zu werden ist eine Ehre, wenn es, egal ob über Priester oder auch den König, ein Dienst an einem Gott ist. Dieser Begriff macht indes nur einen Sinn, sofern dies eine Adlung des eigenen Könnens ist. Doch der Diener Beliars weiß, dass hinsichtlich dessen kein kausaler Zusammenhang besteht. Im Gegenteil kann auch der ärmste, dümmste und von Talent befreite Tropf von Beliar erwählt werden, sei es durch Intervention oder direkte Steuerung, solange dies nur seinen Zielen dient. Auch diese Ziele werden noch betrachtet, doch ist hier ein anderer Punkt gewichtiger. Das Argument nämlich, dass eine Erwählung eine Ehre sei, da sie die Fähigkeiten der Person auszeichnet, mit dem Beleg der göttlichen Intervention, hält nicht. Stattdessen wird in dieser Sache umgekehrt vorgegangen, indem durch göttliche Aktion Ehre entsteht und deswegen bestimmte positive Eigenschaften vorhanden sein müssten, was sich allein schon durch die exakte Formulierung als Unfug darstellt. Was bleibt, ist nicht mehr als eine Worthülse, die im Gebrauch zwar mit Sinn gefüllt werden kann, deren historischer Hintergrund jedoch ein Nonsens ist.
    Kargal atmete tief durch. Die Rolle des Auserwählten schien ihm gerade noch eine Spur sinnentleerter geworden zu sein. Vor nicht einmal ein paar Stunden wäre er wie ein Krieger trotz allem bis in den Tod hinein in den Krieg gezogen. Nun wurde er ausgerechnet dafür verhöhnt. Wie konnte ein Schreiber in seinem Vorwort nur Beliar preisen, wenn er jeden Grund, einem Gott zu folgen, entkräftete? Und wie konnte ein Gott einen Jünger dazu zwingen, sich von ihm abzuwenden? Es stand noch ein weiterer Abschnitt aus, dessen Überschrift allein ihn schon fast zerstörte. Er hoffte, dass er danach noch lebend aus dem Tempel herausfinden wollte.

    Der Sinn des Lebens

    Als Mensch eine Theorie über das rein Göttliche zu entwickeln ist keine leichte Aufgabe. Der Sinn des Lebens als Grundpfeiler der meisten Modelle einer göttlichen Weltordnung macht es jedoch zwingend notwendig, sich über diesen Aspekt Gedanken zu machen. Zur Vorbereitung sollen jedoch einige Theologen der vergangenen Jahrhunderte zu Wort kommen.
    Kargal überlegte sich für einen Moment, ob er dieses Mal das gesamte Kapitel lesen wollte. Immerhin schien es einigen Aufschluss über die Vergangenheit und die Umstände dieses Buches zu bieten. Doch was dem Schwert des Damokles seinen Schrecken verlieh, war nicht der Tod, sondern der Sand, der bis dahin fiel. Es war seine Zeit, doch mit dieser Macht wusste er nichts anzufangen. Ihm fehlte die Willenskraft zum Widerstand. Für das Verständnis der Schlussfolgerungen, war es als Kind einer anderen Epochen vermutlich von niederer Bedeutung. Er haderte noch einige Sekunden mit sich, dann überblätterte er den Teil des Buches.
    Als wiederkehrendes Element können wir der Geschichte also entnehmen, dass es, wie zur heutigen Zeit, Epochen der Suche nach einem universellen oder zumindest für Menschen gültigen Lebenssinn gab. Umgekehrt gab es jedoch auch Zeiträume, in denen ein solcher vorhanden war. Meist war dies aber nicht viel mehr als ein besonders fester Glaube an die Götter, in welchem man den Ursprung eines Sinns vermutete. Die Probleme dieser Theorien lag in ihrer Verifizierbarkeit und dies ist auch nachvollziehbar. Denn sofern man davon ausgeht, es bei den Göttern mit Wesen einer übergeordneten, mindestens aber einer anderen Welt zu tun zu haben, wofür etwa die Sphäre der Toten, welche wir nicht sehen, spricht, aber zu der wir überwechseln können. So müssen wir anerkennen, dass wir Menschen nicht das gesamte Bild des Seins erfassen können. Genau dies wäre aber nötig, um gesamtheitlich beurteilen zu können, ob etwas Sinn des Lebens oder nicht ist. Die Lage ist sogar noch aussichtsloser, wenn man sich bewusst wird, dass man nicht überprüfen kann, ob die Dimensionen, welche man betrachtet vollständig sind. Denn wie sollte das gelingen, ohne zu wissen und wissen zu können, welche Faktoren in welcher Weise dafür zu berücksichtigen sind?
    Führen wir diesen Gedanken weiter, müssen wir gar zu dem Schluss kommen, dass möglicherweise selbst die Götter den Sinn des Lebens nicht kennen oder über die Richtigkeit eines solchen entscheiden könnten. In jedem Fall aber können wir nicht wissen, ob den Göttern eine derartige Erkenntnis möglich ist einen etwaigen Sinn zu kennen und zu erfassen. Und wenn sie uns etwas vermitteln, so könnte dies Lüge oder Wahrheit sein, wir wüssten nicht um dessen wahre Natur. Entsprechend ist die Sinnfrage eine mühsame und wer sein Leben ihrer Beantwortung verschreibt, ist zu bedauern, da ein Erfolg aussichtslos ist. Eine Lösung ist jedoch nicht grundsätzlich ausgeschlossen, sollten sich die jungen Theorien zum Ursprung allen Seins, auch bekannt als Ra, bewahrheiten. Im entsprechenden Kapitel werden daher einige Modelle näher beleuchtet und ihre Auswirkungen auf die verschiedenen Argumentationen dieses Werkes erörtert.

    Zunächst soll jedoch ein zumindest vorläufiges Fazit an dieser Stelle gezogen werden. Alles, was uns in diesem Leben über Gedanken zu binden sucht, ist für das Tier zu hinterfragen und nach seinem Nutzen zu bewerten. Auch eine blinde Gefolgschaft Beliars muss sich diesen Gedanken stellen können und tut es, indem in Beliar der einige Gott seine Macht ausübt, der den Menschen als das unterstützt, das er frei jeder Ideologie ist. So ist dies nach gemeinem Verständnis eher eine Partnerschaft, denn ein Glaube, auch wenn diese alternativlos ist.
    Doch gerade deshalb gilt es umso mehr als Regel anzuerkennen Beliar ein treuer Diener und gleichzeitig unnachgiebiger Kritiker zu sein. Denn dieser Weg allein kann uns aus den Banden des Menschen als Idee zu etwas Größerem führen.
    Dass Adanos diesen Tag fürchtet, an dem das Tier auf sein Land zurückkehrt, ist mehr als verständlich, denn dies wird der Tag sein, in dem nicht nur die Ordnung des Innos, sondern jede göttliche Ordnung hinweggefegt wird. Es wäre verlogen, die Risiken für diese Welt zu verschweigen. Dies ist auch der Grund, weshalb man die Anhänger Adanos nicht vorschnell zu seinen Feinden zählen sollte. Denn ihr Bild ist nicht eines, das sagt, wie es ist, sondern wie es sein sollte in Referenz zu einer göttlichen Vorstellung, die sie teilen. Es ist diese ihre Ansicht, die sie zu achtbaren Menschen macht, und es ist eine Vorstellung, die auch ein Jünger Beliars sein Eigen nennen dürfte. Der Makel der Adanosanhänger ist jedoch der Grund für ihre Meinung. Denn so sehr sie sich mit den Pflanzen und Tieren beschäftigen und manch außerordentliche Erkenntnis gewonnen haben, ist alle Einsicht und Verständnis zuletzt stets von ihrem Gott abhängig. Es herrscht Angst vor den Chancen freien Denkens. Wir aber wollen sie nutzen und mit Beliar allein an unserer Seite werden wir diesen Weg beschreiten können.
    Kargals Blick blieb wie gefangen auf die letzten Worte gerichtet. Er wusste nicht mehr für was er stand, was er machte, noch warum er es tat. Und wessen Zielen war er nun verpflichtet? Und egal ob es nun Beliar oder er selbst war, was wollten diese Fremden von ihm? Hilflos blätterte er gen des angesprochenen letzten Kapitels, als der sanfte Druck eines Handschuhs sich auf seine Schultern legte. Erschrocken fuhr Kargal um. Der dunkle Kuttenträger sah ihm direkt in das Gesicht. „Du brauchst nicht mehr weiter zu lesen“, sprach er ihm ruhig zu. „Gehe in deine Baracke und schlafe dich aus.“ Kargal schaute in die Schwärze der Kapuze. Noch immer konnte er nicht ergründen, was dahinter lag. „Was sollte mich dazu bringen, deinem Wort zu folgen?“, sprach er eine Frage aus, die ihn seit den zuletzt gelesenen Zeilen umtrieb. „Ich könnte sagen, dass es dein Schwur ist, aber bräuchte ich dich als willenlosen Sklaven, hättest du nicht dieses Buch gelesen. Unsere Ziele ergänzen sich gut, deswegen bist du hier“, sprach er ohne ein anderes Lebenszeichen von sich zu geben. Kargal atmete tief. Die Antwort befriedigte ihn nicht. „Wer sagt mir, dass du mich nicht anlügst“, giftete er die unheimliche Gestalt an. „Ich.“
    Geändert von Oblomow (30.10.2016 um 12:06 Uhr)

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    Kapitel 32


    Die W-7.0.14 war auseinandergenommen, geputzt, zusammengesetzt, entsichert, durchgeladen, feuerbereit und lag zu Djurens Rechter auf der Steuerarmatur. Angestrengt sah er auf die sanft wiegenden Wellen des Ozeans. Er lag noch immer im Hafen vor Anker. Nur das Tau hatte er gelöst.

    Es war 3:30 Uhr. Jeder Winkel des Bootes war geprüft. Der mit Vorräten vollgestopfte Zwischenboden, die Fächerwand unter dem Hochbett, das Abluftgitter der Toilette, selbst die Unterseiten der Stufen um von See an Bord zu gelangen waren seinem Blick nicht entgangen.

    Dreimal hatte er sich diese kleine Leiter angesehen. Sie war aus Edelstahl. Die Armläufe gingen geschwungen von Deck über die Brüstung und ins Wasser. Die Stufen dazwischen waren mit Ausbuchtungen versehen, um beim Betreten nicht abzurutschen. Fünf dieser Art waren es auf Seeseite, zwei an Bord. Um für Stabilität zu sorgen, war der Stahl der Trittstufen in jenen des Geländers eingelassen und verschweißt. Zugleich waren die Stufen vorne und hinten nach unten gebogen, jedoch ging die untere Ebene der Stufe nicht mehr zusammen, sondern hörte etwa nach vier Zentimetern in Richtung der Mitte auf. Dies war aus Sicht der Konstrukteure wohl genug, um beim Einstieg nicht mehr störend zu sein. Er sah das genauso.
    Das Schiff war insgesamt nicht das neueste, doch die Leiter war noch immer gut in Schuss. Sie glänzte, die Nieten der Arretierung am Schiff hielten einem festen Griff stand. Es war ein stabiles Stück Handwerkskunst und sollten keine unvorhersehbaren Katastrophen eintreffen waren keine Probleme mit der Leiter zu erwarten. Eher musste er sich um den Rest des Bootes Sorgen machen, als um den Einstieg zu diesem. Er wollte ihn sich dennoch ein viertes Mal ansehen, doch just in dem Moment als er aufstehen wollte, war der Knopf zum Heben des Ankers schon betätigt.
    Djuren blieb sitzen. Noch war der Motor zwar nicht gestartet, doch würde er versuchen nun noch einmal nach den Stufen zu sehen, so war er sich fast sicher, dass er diesen im ungünstigsten Zeitpunkt in Betrieb nehmen würde. Aber vermutlich würde dies sogar ohne den Kontext der Einstiegsleiter der Fall sein. Sein Blick wandte sich dem ehemaligen Tabakarsenal des Kiosks in der Parwinundallee zu. Er holte die erste Schachtel Zigaretten aus der Stangensammlung und steckte sich ein Exemplar an. Wie vorhergesagt drehte sich dazu der Motorschlüssel um. Langsam setzte sich das Boot in Bewegung und trieb aus dem Hafenbecken heraus. Er zog an seinem glühenden Stängel, während er beschleunigte und die Lichter der Hafenstadt hinter ihm verblassten.
    Kaum wurde das Meer vor ihm schwarz, fiel ihm auf, dass er vergessen hatte, seine Scheinwerfer einzuschalten. Ein Druck auf einen grünen Knopf links neben dem Steuer behob dieses Versäumnis und gab ihm einen klaren Blick auf die nächsten 100 Meter teerschwarzen Wassers.

    Er stippte eine erste Portion Asche auf den Boden. Dreieinhalb Stunden Fahrt hatte er sich bei ruhiger See eingeplant. Die Seekarten suggerierten eine weithin problemlose Route, bei der wach zu bleiben schon die größte Herausforderung zu sein schien. Er zog sein Exemplar nochmals aus ihrem Fach heraus. Ein ringförmiges Riff umgab die Insel, das an einer Stelle jedoch einen breiten Korridor zur Durchfahrt bot. Solange man sich dies in Erinnerung behielt, konnte man ohne größere Schwierigkeiten nach Irdorath gelangen. Er fasste an seine Waffe, doch machte ihn diese Geste nur noch nervöser. Das Boot fuhr indes ruhig weiter auf seinem Weg. Der erste Stummel stürzte glimmend auf den Boden und fand sein Ende unter Djurens grauen Polizeistiefeln. Er steckte sich eine neue Zigarette an und ließ sich in seinem Kapitänssessel zurücksinken. Leise summte er ein paar Töne, die er in den letzten Tagen immer wieder gehört hatte, dabei wusste er nicht einmal, wie das zugehörige Lied hieß. Ein Radio wäre zur Unterhaltung nicht der schlechteste Begleiter gewesen, überlegte er sich. Bei diesem Gedanken fiel ihm auf, dass er noch keinen Funkspruch gehört hatte. Er sah auf das Schaltpult. Der Funk war aus. Er knipste das kleine herausstehende Kästchen an. Stimmen drangen aus dem aufbrandenden Knistern des Äthers. Ein varantenisches Schiff bat den khoriner Hafen gerade um eine freie Anlegestelle. Es folgte eine Absage bis zum Morgen. Djuren fragte sich, woran das liegen konnte. Das Faltenfieber war bei drei Personen nahe der Kleinstadt Lago aufgetreten. Aber dies war nach offizieller Einschätzung noch keine Epidemie. Nicht einmal eine Reisewarnung war deshalb ausgesprochen worden. Djuren zog an seiner Zigarette. Er machte sich schon wieder zuviel Gedanken. „Hat der Zoll wohl keinen Bock mehr zu arbeiten“, sprach er das aus, was er nicht dachte und drehte auf Kanal J für das Polizeihauptquartier. Stille umgab ihn wieder. Er sah auf seine Koordinaten. Noch drei Stunden hatte er zu bewältigen. Die nächste Zigarette fiel auf den Boden. Die nächste Zigarette wanderte in seinen rechten Mundwinkel. Er drückte den Sprechknopf. Eine rote Leuchtdiode signalisierte, dass er den Kanal blockierte. Nach zehn Sekunden ließ er wieder von ihm ab. Das Lämpchen leuchtete wieder auf, dieses Mal ohne seinen Fingerdruck. Nach einer Weile hörte es ohne ein Sprachsignal wieder auf. Djuren lachte etwas in sich hinein. Er ahnte, wer am anderen Ende der Leitung saß. Sein Chef hatte jedenfalls Humor genug um ein solches Spiel zu verstehen.
    Sein Kopf schob sich aus der Lehne gen Sprechanlage. Der Sprechfunk wurde wieder aktiviert. „Zu zierlich um zu reden, Fötzchen?“, brüllte er so laut er konnte in das Mikrofon. Er lehnte sich wieder zurück. „Rachenschmerzen vom Schwanz deiner Mutter“, kam derweil schon die unverhohlene Antwort retour. Djuren musste einen Moment überlegen, dann ließ er ein amüsiertes „Touché“ über das Meer wandern.
    „Da ich noch im Dienst bin, sitzen Sie wohl alleine herum?“
    „Ja, um sieben übernimmt dann Harvald. Nur jetzt wäre niemand da gewesen. Und bei einer Fahrt nach Irdorath sehe ich das nicht als angemessen an.“
    Djuren schwieg und sah auf seine Instrumente. Knapp ein Viertel des Weges hatte er geschafft.
    „Was hat es mit dieser Höhle wirklich auf sich?“ Das Signallicht legte eine Pause ein. Djuren drückte seine Zigarette auf den Armaturen aus.
    „Das offizielle Ermittlungsergebnis habe ich bereits mitgeteilt“, antwortete der Oberinspektor zerknirscht. Djurens Hand fasste schon in die Pappschachtel für die nächste Portion Nikotin, doch zuckte dieses Mal wieder zurück. „Dann erzähl mir doch mal den Rest, sonst langweile ich mich noch“, blieb er am Ball. Das Signallämpchen blieb schwarz. „Ben, was soll der Mist? Ich muss wissen, was da los ist. Egal, was die Zippe von Bürgermeisterin dir gesagt hat. Wir sind Polizisten, Mann.“ Erst hatte er nicht so viel auf die Höhle gegeben, nun jedoch war er sich sicher, dass ihm etwas Essentielles vorenthalten wurde. Das Lämpchen blinkte wieder auf. „In der Schublade rechts unter dem Steuer liegt ein Zettel.“ Der Oberinspektor hörte wieder auf zu reden.
    Djuren zog die Schublade auf und tatsächlich lag ein beschrifteter und zerknüllter Kassenzettel darin. Sorgfältig entblätterten seine Finger das schon leicht verbleichte Papier. 200g Lyoner, 150g Leberwurst und 250g Original Treliser Handkäse, konnte er mühsam entziffern. Falls der Zettel von seinem Chef stammte, bewies er wenigstens einen guten Geschmack. Er drehte das Papier um. Eine Zahl war mit Kugelschreiber auf ihr notiert worden. „Dieser Trottel lässt den Funk tatsächlich abhören“, grummelte er mit schlechter Laune, als er ihrer Bedeutung gewahr wurde.
    Er wechselte die Frequenz. Auf dem Radar war abgesehen von seinem Punkt kein weiterer unterwegs. „Reden wir jetzt offen?“, fragte er in das Unbekannte. „Wenn du wirklich wissen willst, was es mit der Höhle auf sich hat, werde ich einmal die gesamte Geschichte erzählen. Wenn du wegschaltest werde ich sie nicht wiederholen und du fragst auch nicht mehr danach. Ist das klar?“ Djuren mochte das Angebot nicht. Es hörte sich an, als ob er ziemlich lange zuhören musste, etwas das er nur unter größter Selbstbeherrschung zustande brachte. Er sah vorsichtshalber noch einmal auf seine Koordinaten. Zeit hatte er noch genug und was immer in dieser Höhle steckte, besser er erfuhr jetzt davon, bevor er später eine böse Überraschung erlebte. „Ist in Ordnung“, bestätigte er und das Lämpchen fing an zu leuchten.

    „Das ganze begann vor 70 Jahren. Ein Investor, Braowin Ilitsch, hatte die Insel gekauft. Bis dahin war das nicht mehr als ein schwarzer Brocken im Meer, der zwar zur khoriner Gemarkung gehörte, um den sich aber nicht einmal das Militär geschert hatte. Ilitsch wollte dort ein Freizeitparadies mit einem Spa eröffnen. Wie gesagt, alles was man dort vermutete war Fels und vielleicht ein paar Brutplätze geschützter Vogelarten, also genehmigte man die Pläne. Bei der Erschließung stieß man jedoch bald auf die Höhle, die eigentlich als Grotte in das Meer führt. Ilitsch war über diesen Fund ganz außer sich und ließ die Höhle unter eigener Regie erkunden. Erst war es nur eine versteckte Bucht, doch dahinter fanden sich schon bald Überreste von Bauten und orkischer Relikte aus der alten Zeit. Eigentlich wäre das schon ein Grund gewesen die Arbeiten zu stoppen und fachkundige Archäologen zu entsenden, aber man ließ ihn weiter passieren. Erst nach knapp einem Jahr und ersten Einrichtungsarbeiten stieß man per Zufall auf einen Geheimgang, der tiefer in den Berg führte. Wieder übernahm Ilitsch die Erkundung, der in der Zwischenzeit seine Pläne um einen Millionärsclub in der Höhle erweitert hatte. Wieder ließ man ihn gewähren. Zu diesen Zeiten hatte man auch grundsätzlich noch eine andere Perspektive auf solche Dinge. Wichtig war, dass Geld in die Stadtkasse kam. Die Hochzeit des Tourismus hatte sich da ja erst ganz in der Ferne angedeutet.

    Die Entdeckungen von Ilitschs Leuten übertrafen dann aber wohl seine, als auch die Erwartungen der Stadt. Hinter dem Geheimgang startete ein Höhlensystem unvorstellbarer Ausmaße, dass in dessen Inneren gar Platz für einen Graben mit Türmen und Hängebrücke war. Allein schon dieser Fund war atemberaubend. Doch mit Abstand herausragend war eine riesige Tempelanlage, die in den Berichten vermerkt ist. Der erste Eindruck muss verstörend gewesen sein. In den Räumen standen Skelette, Särge waren allerorten aufgestellt. Es war offenbar die Heimstätte eines alten Totenkultes. Als die Sache bekannt wurde, war auch der Zeitpunkt gekommen, an dem die Stadt sich erstmals zum Handeln gezwungen sah. Bei aller Rücksichtnahme auf Ilitsch beschloss man einen Sachverständigen einzusetzen, der vor Ort einen denkmalverträglichen Bau gewährleisten sollte. Bis zur Ernennung waren weitere Arbeiten, selbst das Betreten der Anlage, untersagt.

    Es war ein offenes Geheimnis, dass man dieser Regel in der Realität nicht allzu viel Bedeutung beimaß, jedenfalls solange nichts an die Öffentlichkeit geriet. Der Kniff ist: Eine Woche vor der geplanten Wahl des Experten meldete Braowin Ilitsch zwanzig verschwundene Arbeiter. Da der Stadt die Angelegenheit zu peinlich war, entsandte man die Polizei, um deren Verbleib zu prüfen, in aller Stille.
    Die Arbeiter wurden schließlich in einer kleinen Vorhalle im Tempel gefunden. Bei den Untersuchungen vor Ort konnte man nur noch den Tod feststellen. Die ebenfalls noch in Irdorath durchgeführten Analysen hatten als offizielles Ergebnis eine Vergiftung der Opfer als Todesursache. Man konnte dazu sogar Rückstände in der Luft ausmachen, weshalb der Komplex dann auch schnellstmöglichst evakuiert wurde, aber…“
    Die rote Leuchte erlosch.
    „Was?“
    Die Lampe ging wieder an.
    Ein tiefes Atmen war zu hören. „In dem Bericht wurden auch Stiche und Schnitte festgehalten, die antiken Schwertern zuzuordnen waren, die in den Händen aufgefundener Skeletthaufen lagen. Das wollte ich dir sagen.“
    Djuren blieb einen Moment ruhig sitzen und ließ die Information auf sich wirken, dann beugte er sich weit über die Armatur. „Ich habe mir eine halbe Stunde deinen Mist angehört und jetzt kommst du mit einer Geistergeschichte?“, brüllte er wütend in die Anlage. Eine Reaktion ließ auf sich warten.
    Er sank in seinem Sitz zurück. Was hatte sich der alte Knacker nur dabei gedacht? Er lachte demonstrativ und wurde wieder ruhig. Er zündete sich eine neue Zigarette an und nahm den ersten Zug. „Wir sind doch in keinem Horrorroman“, sprach er entschlossen aus.
    „Wenn du mich brauchst, ich bin wieder auf der alten Frequenz“, tönte es plötzlich wieder aus der Anlage. Djuren verweigerte die Antwort und sog nochmals tief Rauch ein. Kein Horror, nur ein beschissener Job, das war alles. Er allein unter Verrückten, allein mit seinem Revolver. Eineinhalb Stunden, dann würde er sein Boot in der Bucht vor Anker gehen lassen, Teebaumöl auf den Boden schütten und erst einmal ausschlafen. Er nahm einen weiteren Zug. Und dann würde er sie verhören: Shaydign, Bronswik, Iskariot. Danach würde er dem letzten eine Kugel in den Kopf jagen und dann würde er das Schiff finden. Er war der letzte vernünftige Mensch, was interessierten ihn irgendwelche Gerippe in irgendwelchen Höhlen? Die Zigarette war wieder an ihrem Ende angelangt. Er fütterte weiter den Boden und steckte sich ihre Schwester an. Er würde die Sache regeln, keine Faxen, geradewegs durch zum Ziel. Vielleicht sprang sogar eine Beförderung dabei heraus. Sie hatten ja versucht ihn ruhig zu stellen. Wie lange konnten sie noch an einem senilen Polizeileiter festhalten?
    Er wechselte auf die alte Frequenz.
    Oberinspektor wollte er nicht werden, aber eine Stufe höher als seine jetzige, das konnte er sich vorstellen. Er biss sich auf die Oberlippe. Der Geschmack von Eisen breitete sich in seinem Mund aus. Er steckte bis zum Hals in der Scheiße. Eine Stunde war es noch nach Irdorath, eine halbe bis zu dem Riff. Konnte er nicht einfach verschwinden, wie dieses Müllschiff und sein Kapitän? Er drückte seine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger aus und griff nach der Pistole. Der Stahl war angenehm kühl. Vermutlich war das der Nähe zur Frontscheibe zuzuschreiben. Die Tage waren noch warm, die Nächte nicht mehr unbedingt. Die Hand schloss sich um den Griff. Der Zeigefinger strich über den Abzug. Ein Gefühl von Sicherheit kehrte wieder in seinen Körper zurück. Er entsicherte und schoss in die Frontscheibe.
    Er atmete tief durch. Im Sicherheitsglas versenkt steckte eine Kugel. Feiner Qualm aus der Pistole verteilte sich auf der Brücke. Langsam wanderte die führende Hand wieder über das Kontrollpult. Ein Knacken ertönte, als Djuren sich dazu überwand, die Waffe wieder zu sichern. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. In Khorinis eröffnete nun seine Bäckerei mit ihren Schokohörnchen und er war weit weg auf dem Meer unterwegs zu einem stinkenden, verspukten Müllhaufen. Es konnte wirklich alles immer schlimmer werden.

    Plötzlich hielt er inne. Seine Augen rissen auf, ein eiskalter Schauer trieb seinen Rücken herunter. Er sah durch das Fenster in die Schwärze der Nacht und konnte nicht mehr fassen, was er sah. Er schaute auf seine Koordinaten. Panik ergriff ihn. Er drückte den Funkknopf.
    „Ben, gib mir meine Position durch, schnell“, brüllte er angstgetrieben in das Mikrofon.
    „Was ist? Funktionieren die Geräte nicht?“ Djuren fiel ein Stein vom Herzen, zumindest der Funk funktionierte noch.
    „Du musst mich am Riff vorbei weisen, hier ist Nacht“, erklärte er sich. Einen Moment blieb es still, dann leuchtete die Lampe wieder.
    „Sofort Motoren runterfahren und hart Steuerbord, nach 3/8-Drehung gibst du Gas.“ Djuren reagierte geistesgegenwärtig. In einem Zug war das Ruder umgelegt und das Schiff trieb ausgeschaltet in die Kurve hinein. Sein Herz pochte. Er wartete ab. Er war zwar schon in Booten unterwegs gewesen, hatte sie auch oft gefahren, aber eine blinde Wende war weder bei der Bootsschule, noch später auf dem Plan gestanden. Drei Sekunden vergingen. Was war eigentlich, wenn das Problem bei ihm lag? Konnte er sich noch auf seine Sinne verlassen? Zwei weitere Sekunden vergingen. Wenn dem so sein sollte, war es letztlich egal, was er tat. Er fuhr die Motoren wieder hoch und zog das Steuer gerade. Es dauerte einen Moment, dann glühte die Leuchtdiode wieder auf.
    „Alles klar, du bewegst dich wieder aus dem Riffgebiet heraus, jetzt den Kurs halten, ich sag dann wann es backbord geht.“ Djuren atmete tief durch. Noch immer war durch die Scheibe nichts zu erkennen, was der Orientierung dienen konnte, aber das spielte keine Rolle mehr. Was oder wer ihn auch immer loswerden wollte: Dieses Mal würde er seinem Schicksal noch einmal entkommen.

    Nur, was war, wenn er in die Höhle musste? Selbst wenn um ihn die Apokalypse ausbrechen sollte, dies war der letzte Ort an den er gehen wollte. Gedankenversunken fuhr er geradeaus, bis sich der Funk zum Einbiegen meldete. Er bog ein.
    „Danke Ben“, schickte er trocken über den Äther, ohne final entschieden zu haben, ob es wirklich bedankenswert war. „Noch bist du nicht am Ziel. Kurs halten, bis ich Stopp sage.“ Djuren hielt das Steuer mit beiden Händen fest, bis das erlösende Wort fiel und verließ die Brücke.
    Die im Morgenrot leuchtenden Müllberge Irdoraths und eine Welle muffigen Verwesungsgeruchs begrüßten ihn. Er ging wieder zurück. Das Fenster zeigte nun das gleiche Bild. Die angezeigten Koordinaten hatten sich zumindest geändert. Ob sie stimmten wollte er nicht mehr überprüfen. Er zog erneut eine Zigarette aus der angebrochenen Packung, welche damit zur Hälfte geleert war, und steckte sie an, dann drückte er auf den Funkknopf. Er schwieg für einige Sekunden, sah nur auf das Licht der kleinen, roten Leuchtdiode. Der Rauch des ersten Zuges waberte zwischen seinen Lippen hervor, die begannen Worte zu formen.
    „Falls ich hier sterbe, lass das nicht mein Grab werden, Ben!“
    Geändert von Oblomow (22.02.2016 um 01:21 Uhr)

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    Kapitel 33


    Zu früh: Das war alles, woran er dachte. Er wollte nicht zu viel denken. Das Morgenrot war gerade verloschen. Er war wach, er war vor Ort: Am gelben Bagger, auf dessen Lack sich der Morgentau gesammelt hatte. Niemand war zu sehen. Das Gerät stand noch immer am gleichen Ort wie Tags zuvor. Er hatte sogar noch einen Umweg über die Lagerhalle gemacht und sich ein Frühstück besorgt. Den Pumpernickel hatte er im Gehen gegessen. Er wollte nicht zu viel denken.

    Es war Tag, wie in der Räuberhöhle. Wie immer in Khorinis. Er konnte nicht denken.
    Es bedurfte eines Schimmers der Nacht dafür, schwarz genug die blendende Sonne zu verfinstern.
    Nichts lag ihm in diesem Moment ferner, als diese Schwärze zu provozieren. Er genoss die wärmenden Sonnenstrahlen auf der Haut. Diese Freude zu erhalten, fiel schwer. Niemand war da. Niemand kam.


    Er hatte kaum schlafen können. Maximal ein paar Stunden. Es war nicht einmal Mittag. Die Kajüte stank nach Öl: Teebaum. Vielleicht nicht die beste Idee. Fichtengeruch wäre vermutlich weniger aufdringlich gewesen. Er hatte nur Teebaum. Der Blick ging nach draußen durch den dünnen erleuchteten Fensterschlitz. Sollte er versuchen wieder einzuschlafen? Es erschien ihm nutzlos. Er stand auf und griff nach seiner Waffe. Die Kleidung hatte er zum Schlafen anbehalten. Den Kapitän finden, das Schiff zurückbringen. Er würde keine Sekunde länger als nötig auf dieser Insel verbringen. Er schlüpfte in seine Stiefel und ging nach draußen, die Karte in seiner rechten Hosentasche. Würde er nach Osten gehen, käme er zu einer Gerätehalle. Das hatte er nachgesehen, bevor er zu Bett gegangen war. Eine Bergkette aus Abfall lag ihm im Weg. Kein Abwägen, keine Gnade. Er ging an Land. Der Blick streifte über die Landschaft. Die Sonne blendete. Angestrengt kniff er die Augen zusammen im spärlichen Schatten, den seine Hand auf Höhe der Augenbrauen bot. Für einen Moment schien es ihm, als hätte er einen Mann auf einem der Kämme gesehen.



    Er wusste nicht, wie ihm geschah. Er hatte sich erhoben, er hatte ihn gehört, er war gerannt.

    Er schlich. Das war nicht er. Seine Brust bebte. Normalerweise… Er konnte den Gedanken nicht zu Ende führen. Warum? Er konnte den Gedanken nicht zu Ende führen. Die Sonne brannte: Schleichen, verstecken, nicht aus den Augen lassen. Er musste aus der Sonne, musste etwas machen, aber er konnte nicht. Was war an diesem Morgen nur erwacht? Ein Schatten kam über ihn. „Was soll der Scheiß, Mervel?“
    Geändert von Oblomow (22.02.2016 um 01:10 Uhr)

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    Kapitel 34


    Auf halber Höhe des Hügels angekommen musste Djuren sich zurückhalten, um sich des aufgekommenen Schweißes in seinem Gesicht nicht über ein Darüberstreifen des Armes zu entledigen. Keine drei Schritte war er gegangen, als er auch schon ausgerutscht und Halt suchend mit beiden Armen in den Berg von Müll eingesunken war. Keine Minute, nein, keine Sekunde länger als nötig würde er auf dieser Insel bleiben. Direkt hinter dem Gipfel musste die alte Lagerhalle liegen, die er auf seiner Karte ausgemacht hatte. Er hoffte inständig, dass es dort eine Waschmöglichkeit gab. Seine braun und schwarz verschmierten Hände wollte er sich ungern wegen Feuerzeug und Zigarette in die Taschen stecken. Kurz schien wieder ein schwarzer Fleck über die sonnenüberfluteten Hügel zu huschen. Djuren rieb sich die Augen und ärgerte sich sogleich wieder maßlos darüber. Die Aufmerksamkeit aber hielt er aufrecht. Es konnte nur ein Spuk sein, aber in der letzten Nacht hatte er gelernt, dass das die Dinge nicht harmloser machte. Er griff aus Vorsicht nach seinem Halfter. Hier gab es keine Freunde, außer ihm selbst. Illusion oder nicht, er würde sich im Zweifel nicht zurückhalten. Die Halle, weiter würde er nicht gehen. Die auf seiner Karte eingezeichneten Baracken lagen wild verstreut im Inland. Für irgendwelche vergessenen Hütten den Tag über durch den Müll zu waten konnte nicht von ihm verlangt werden. Der ganze Einsatz konnte nicht von ihm verlangt werden. Dass sein Restanstand ihn nicht das Leben kosten würde, war inzwischen das letzte Ziel, an das er sich klammerte. Fast stolperte er bei diesem Gedanken wieder in den Dreck. Ein hastiger Tritt auf von ihrem Etikett zusammengehaltene Scherben verhinderte dieses Malheur jedoch im letzten Moment. Ein Krampf zog ihm in den linken Unterschenkel. Er verlagerte sein Gewicht auf die andere Seite und atmete tief durch. Agiler war er auch einmal gewesen: Früher. Nur hatte er gedacht, mehr in das Jetzt gerettet zu haben. Dass dem anscheinend nicht so war, belastete sein Gemüt mehr als der Dreck an Armen und Augen. Er mühte sich weiter zur Spitze.
    Als das Dach einer Halle langsam in die Mitte seines Sichtfelds glitt, sah er noch einmal zurück. Es waren keine Schatten mehr zu sehen.
    Er hielt es dennoch für besser wachsam zu bleiben. Mit den Augen nach vorne stieg er den Hang hinab und rutschte direkt zwei Schritte in Richtung des Abgrunds.
    Erschrocken hielt Djuren inne und versuchte wieder einen festen Stand zu etablieren, was ihm gerade noch gelang. Er nagte an seiner Oberlippe. Würde er mit der nötigen Vorsicht hinabsteigen, musste er für den restlichen Weg mindestens so viel Zeit wie für den Aufstieg einplanen. Er drehte sich um. Im Zweifel hatte er den vermeintlichen Schatten auf diesem Weg sogar besser im Blick. Der Griff ging wieder an sein Halfter. Sollte er sie jetzt schon in die Hand nehmen? Die Wahrscheinlichkeit sich selbst zu verletzen war vermutlich höher, als sie sinnvoll zum Einsatz zu bringen. Er zog die Waffe. Es war höchste Zeit zu rauchen. Er begann wieder Unfug zu denken. Schlimmer. Er folgte diesen Gedanken noch. Eigentlich hätte er einen ganz anderen Weg gehen sollen. Zumindest darüber nachdenken hätte er können. Die Sonne hatte ihm dafür wohl das Gehirn zu stark durchgebraten. Der Tag war zu schön, um gut zu sein. Er änderte seinen Plan nicht mehr und stieg rückwärts abwärts gen Grund, bis er vor dem Eingangstor der Halle angekommen war. Er lebte noch.

    Glückssache.

    Er musste vorsichtiger, kein Polizist sondern Soldat sein. Den Arm mit der Waffe angewinkelt schob er das Tor vorsichtig nach rechts auf, bis er sich durch den entstehenden Spalt quetschen konnte. Vorsichtig schlüpfte er in die Halle. Er sah nach links. Nichts war zu sehen. Als er den Kopf nach rechts drehen wollte wurden ihm schon die Arme weggetreten. Ein Schuss löste sich aus der Waffe. Ein kleiner Lichtpunkt fiel durch das Dach. Die Pistole lag auf dem Boden. Djuren rang um Fassung, schlug in Richtung der Ecke, außerhalb seines Sichtfelds in der er den Angreifer vermutete und schlug ins Leere. Er lugte in Richtung seiner Waffe. Ein verbrannter Fuß in Turnschuh mit der zugehörigen Hand hatten sich hinter ihr postiert. Er setzte zum Sprint an. „Stehenbleiben!“ brüllte eine Stimme rechts von ihm, deren zugehörige Person er nun erstmals sah. Einen kleinen Moment verlangsamte sich sein Schritt, einen erneuten Sprint unterband der Knall eines Schusses. „Hände Hoch, Penner!“, forderte der erste Angreifer mit rauer Stimme. Djuren hob resignierend die Hände und drehte sich in Richtung der Stimme. Es war das Gesicht eines alten Mannes, das er sah. Die Haut war faltig und abgenutzt, das Gesicht gebräunt und von schwarzen ungepflegten Barthaaren übersät, die wie Dornen daraus hervorwucherten. Nur die Augen hatten noch so viel Energie, dass er es kaum ertrug sie anzusehen. „Kilian“, zischte er zwischen knirschenden Zähnen hervor. Sein Gegenüber reagierte nicht darauf. „Mervel, hebst du jetzt mal die Waffe richtig?“, brüllte er stattdessen seinen Komplizen an. Aus den Augenwinkeln erkannte Djuren eine große, klobige Gestalt. Der waffenführende Arm zitterte in der Luft herum. Ein zweiter Arm kam hinzu, den Griff zu stabilisieren. Er hatte sich jemand anderes unter Shaydign vorgestellt, aber eigentlich war es töricht von ihm gewesen. Irdorath musste jeden mit etwas Menschlichkeit in sich brechen. „Dann mach mal jetzt den Mund auf und sag uns ganz langsam nacheinander, wer du bist, was du hier willst und warum du mit einer Waffe hier eindringst.“ „Ich bin von der khoriner Polizei“, rechtfertigte sich Djuren. „Beantwortet das meine Fragen oder soll mich das einschüchtern?“ Der Müllmann wirkte gereizt. Djuren atmete tief durch. „Leider nicht enttäuschend, was sich Polizist nennen darf. Zu keinem klaren Wort fähig, aber sich trotzdem für den Größten halten. Hat sich aber leider auch damals schon abgezeichnet.“ Djuren unterdrückte mit Mühe ein aufsteigendes Wutschnauben.
    „Ich bin auf der Suche nach Milket Lyngstad, dem Kapitän des Müllschiffes. Er gilt als vermisst.“ Sein Gegenüber sah ihn, anscheinend unberührt davon, an. „Ist nicht hier“, stotterte die Gestalt von der Seite. Kilian nagte etwas auf seiner Unterlippe dazu. „Zwei Fragen noch“, erinnerte er Djuren streng. Djuren fuhr innerlich zusammen. Er konnte ihm nicht seinen Namen nennen. „Ich hörte, man müsse sich hier auf sich selbst verlassen.“ „Richtig. Eine Frage noch!“

    „Djuren“, gab er kleinlaut aber deutlich von sich. Er erwartete ein Lachen, eine Konsequenz, die seine Ängste befriedigte. Nichts davon geschah. Mit einem Wink gab Kilian seinem Partner zu verstehen, dass er seinen Griff an der Waffe lockern konnte. „Besser du verziehst dich wieder, das ist nichts für dich“, sprach Kilian ruhig. „Deine Waffe werden wir jedenfalls behalten, solange du hier bist. Falls irgendwann wieder ein Schiff anlegen sollte, kannst du sie dort nach der ersten Fuhre abholen. Du weißt ja, hier muss man sich auf sich selbst verlassen, nicht auf die Polizei.“ Djurens Lippen hatten sich zu einem Strich verwandelt. Er wollte ihm nur noch eine Kugel zwischen die Augen setzen. Und er schämte sich dafür. Nicht schnell, nicht gut und keine Möglichkeit seine Schwäche noch zu überspielen, ob vor den Müllmännern oder ihm selbst. Kilian hatte ihn erneut gedemütigt. Was für ein elender Hund er war, ihn zum Jaulen zu bringen. „Wir machen uns jetzt an die Arbeit“, redete er weiter mit Betonung auf dem letzten Wort, während er drei Flaschen Wasser aus einer Palette herausgriff. „Ich werde nicht gehen, bis ich meine Antworten habe“, brüllte Djuren plötzlich so laut, dass er selbst davon überrascht war. „Pass auf die Ratten auf, die sind hungrig“, ließ sich sein Gegenüber nicht irritieren. Eine Flasche wanderte in die Hand seines stummen Komplizen, ein kurzes Handzeichen wies den Weg nach draußen. „Wo ist Iskariot?“ Kilian war bereits durch den Hallenausgang getreten. Der Herzausreißer blieb für einen Moment verunsichert stehen und sah Djuren stumm an. „Ist tot“, rief es von draußen. Shaydign wandte sich von Djuren ab und hechelte Kilian wie an der Leine hinterher. Er musste lügen. Natürlich musste er lügen, warum sonst hätte man ihn so dummdreist angestarrt? Er rannte aus der Halle „Seit wann denn?“ Er brüllte erneut. Keiner drehte sich um. „Geh, bevor du stirbst.“ Die Stimme Kilians war bedrohlich ruhig. Djuren verstummte. Den neu aufgetauchten Kloß in seinem Hals konnte er nicht überwinden. Er sah den Müllmännern hinterher, wie sie den Hügel erklommen: Schneller, eleganter, fehlerfreier als er es je gekonnt hätte. Aus dem Augenwinkel schien es ihm, als ob die Sonne eine Person am oberen Rand der Erhebung umrandete. Als er bei genauerer Begutachtung nichts mehr sah, war er sich ihres Verschwindens fast sicher.

    Der Schatten war verschwunden. Die beiden Männer gerieten außer Hörweite.

    Djuren fiel die wenigen Schritte zur Halle fast schon zurück. Unter normalen Bedingungen hätte er Kilian auf Hüftgröße zusammengestaucht. Man hatte ihn eiskalt belogen, so kalt, dass er es fast schon im Angesicht des Gegenbeweises geglaubt hätte. Er ging durch das Tor. Sein Gehirn forderte frisches Wasser zum Denken. Und Rauchen. Rauchen war nun wichtig. Er sah nach der Palette, aus der Kilian seine Getränke gezogen hatte und nahm sich aus dieser eine Flasche 'Classic'-Mineralwasser. Mit einem Knacken schraubten seine verschmutzten Hände die Plastikkappe ab. Er trank.

    Seine Blicke schweiften durch die Halle. Weitere Paletten standen fast verlassen und lieblos verteilt in ihr herum. Vom Dach hörte er nistende Möwen, die ihre Nester an das verblasste und teils zerschlagene Glas der Scheiben der Versetzung des Firsts gebaut hatten. Die Augen suchten weiter nach einem Waschbecken: vergeblich. Er wusch sich notdürftig die Arme mit dem Rest der Flasche, bis der Großteil des Schmutzes in einer Pfütze unter ihm gelöst war. Das Ergebnis ließ ihn noch immer eine Seife vermissen, aber es musste reichen, um eine Zigarette anzuzünden. Hinnehmbar war es nicht. Die Müllkippe, das Verhalten gegenüber ihm, sein Auftrag, all das war nicht hinnehmbar. Nur leben musste er nun damit. Sein Finger ließ das kleine Metallrädchen an seinem Feuerzeug schnappen und die erste Zigarette des Tages brannte. Er war wieder im Geschäft. Natürlich hatte ihn Kilian angelogen, was sonst hatte er von ihm erwartet? Er hauchte eine dicke Rauchwolke aus. Kein Gedanke an die Umkehr war mehr da. Das weitere Vorgehen wurde ihm klarer. Er musste Shaydign abpassen. Dieses Subjekt war ganz offensichtlich mit den Nerven am Ende, vermutlich sowohl durch die Insel als auch durch Bronswik. Würde er ihm auch nur ein paar Hoffnungen verschaffen hier wegzukommen, würde er ihm aus der Hand fressen. Er kannte sich aus mit solchen Elendsgestalten. Es waren keine schönen Gespräche: Die Psyche kurz vor dem Zusammenbruch, mit einer leisen Ahnung, dass sie nicht in irgendeiner Weise gut und edel waren. Dass sie keinerlei Respekt verdient hatten, weil sie Abschaum waren. Weil sie ihr Leben versaut hatten. Er musste daraus eine Gewissheit machen. Und er musste ihnen einen Zug geben: Ein Licht am Ende des Tunnels. Manche seiner Kollegen rechtfertigten das, indem sie sich dies als Erleichterung für ihre Opfer zurechtbogen, letzten Endes eine Gewinnsituation für beide Seiten. Er machte sich nichts vor. Sein Ziel war es sein Gegenüber zu zerstören um aus den Trümmern ein paar Informationen als Beute herauszugreifen. Was danach mit ihnen passierte konnte ihm nicht egaler sein. Auf einmal musste er Husten. Er hatte angefangen den Filter zu rauchen. Er trat den verbliebenen Stummel aus und steckte sich ein weiteres Exemplar an. Mehr Informationen über den Herzausreißer, das war es, was er nun brauchte. Er griff sich eine weitere Sprudelflasche von der Palette. Es war höchste Zeit für einen weiteren Funkspruch nach Khorinis. Er würde Kilian keine Genugtuung verschaffen. Die Zigarette qualmte.
    Geändert von Oblomow (03.10.2023 um 18:02 Uhr)

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    Kapitel 35

    Kam man ihn suchen? Der Augenblick einer halben Sekunde war ein Pfeiler.
    Hatte er ihn gesehen? Er war sich dessen sicher, aber die Frage blieb. Er musste schnell lernen. Zeit war angesichts der Jugend, deren ungestüme Energie ihn an jenen Ort verschlagen hatte, ein knappes Gut geworden. Die Mächte der Welt warteten nicht auf ihn, bis sie vergingen. Schon jetzt hielt er Wacht auf halber Tiefe des Abgrunds. Mervel und Kyle kamen über den Kamm.
    „Was wollte der Kerl?“ Die angestrengte Lässigkeit kam ihm nur mit Mühe über die Lippen. „Er wollte etwas über den...“ „Hallo“, wurde Mervel direkt ins Wort gefallen. Geweitete Augen, nicht eines Erwachsenen, eines Kleinkindes stierten Kyle an. War dies die selbe Person, die ihn auf der Insel begrüßt hatte? „Hallo“, antwortete er. Die Statur, die Stimme, die Bewegungen schienen gleich, nur wirkte es auf Kargal es nicht einmal mehr mit einem Menschen zu tun zu haben. Konnte ein einzelnes Gespräch Derartiges verursachen?
    „Und was…?“
    „Hallo.“
    Argwöhnisch sah Kargal auf Kyle. Was konnte dieser Polizist nur getan haben? Er hatte Kyles markantes Gesicht nun fixiert. Sein tiefer Blick schien ihn einsaugen zu wollen. Ein Geheimnis aus dem Trüben fischen. Nur was wollten sie tun, wenn in seinen Wassern nur Lurker schwammen? Er hatte nichts zu verbergen, das für sein Gegenüber von Relevanz sein konnte. Er hatte nichts zu verbergen. Sein Blick verlor den Fokus, schweifte um den Kopf Kyles herum. Kyle zwang ihn nicht mehr in seinen Fokus zurück.
    „Wir haben unsere Aufgabe zu erledigen. Das ist jetzt wichtig. Kargal, Mervel hat dir doch sicher noch erklärt, wie man den Bagger bedient.“ Er wusste noch immer nicht, was vor sich ging. Vielleicht war es aber auch nicht so wichtig, wie es schien. Vielleicht war es nur wichtig, den Tag zu überleben. „Ja“ Mit Mühe und Not, konnte er sich aus der damaligen Demonstration erschließen, wie man das Gerät zum Laufen brachte. Wenn er Glück hatte.
    „Dann werden Mervel und ich hinterherräumen. Du bedienst das Gerät.“ Er sah wie Kyle in seine linke Hosentasche griff und einen Schlüssel herauszog. „Fang!“ Der Schlüssel landete in seiner linken Hand. „Das heißt nicht, dass ich ihn fahren kann“, erhob Kargal Einspruch. „Dann lernst du es jetzt eben“, schmetterte Kyle den Einspruch ab. „Kann Mervel nicht...“. Kargal verstummte beim Blick auf den Betroffenen. Teilnahmslos starrte dieser irgendwo in die Ferne, den Geist scheinbar in den Weiten des Äthers verloren. „Wir reden nach Feierabend darüber. Nicht jetzt. Wir hängen auch so schon hinter dem Zeitplan.“ Kyle lief los. Mervel folgte ihm stumm. Kargal verstand die Situation noch immer nicht, schloss sich den beiden jedoch an. Er hatte sich ausgerechnet, dass ihn ihre Angelegenheiten nicht tangieren würden. Dass er seine Arbeit machen würde und sie die ihre. Sie waren offensichtlich nicht berechenbar. Nicht für ihn. Würde er die Gelegenheit bekommen, musste er sich absetzen. Dauerhaft, bis zu dem Tag, an dem er zurückschlagen würde.

    Sie schritten gemeinsam durch die Gebirge der Insel, dabei immer auf den Spuren des festgefahrenen Pfades, den ihre bisherige Arbeit hinterlassen hatte. Kargal fiel dabei auf, dass aus der linken Hosentasche Mervels der Griff eines großkalibrigen Revolvers herausstand. Hatte er ihn in den Tagen davor nur nicht gesehen, oder war er dem Polizisten entwendet worden? Sie waren nicht berechenbar. Und sie waren gefährlich. Mit einem Mal hatte er weniger Probleme damit zu versuchen einen Bagger zum Funktionieren zu bringen, als dass die beiden Müllmänner hinter seinem Rücken sich gegen ihn verschwören konnten. „Du fällst zurück“, keifte von vorne Kyle. Feindlicher als noch tags zuvor? Er holte auf. Konnte der Polizist ihnen etwas gesagt haben, das ihn verdächtig machte? Mehr als bisher? War es verdächtig, explizit als Hotelbedienung an diesen Ort zu kommen? Konnte ihm seine Vergangenheit hier zum Verhängnis werden, ausgerechnet auf diesem verlassenen Schmutzfleck? Er konnte es sich nicht vorstellen, doch sie waren nicht berechenbar.
    Sie gingen weiter über die Hügel. Er hielt Schritt und wunderte sich etwas darüber, dass ihm dies nach zwei Tagen schon gelang. Sicher hatte ihre Vorarbeit ihren Anteil daran, trotzdem wirkte die Situation auf ihn fremd. Und es hatte weniger mit der Erkenntnis zu tun, dass Körper und Geist so schnell lernen konnten, als dass sie gegen seinen Willen dafür Energie verschwendet hatten. Er war ein Tier. Das Buch hatte seine Sätze wohl gesetzt.

    Nie war die Enttäuschung größer gewesen, dass das, was seinen Leib umtrieb für ihn nicht von Bedeutung war und jemals sein konnte. Er musste sich zur Gänze von den Müllmännern hermetisieren, wenn seine Träume, seine Pläne von Erfolg gekrönt sein sollten. Vielleicht konnte er mit der Lektion der nächsten Nacht an diesen Punkt gelangen.

    Ihre tags zuvor verlassene Arbeitsstelle gelangte in seinen Blick. Er musste sich beweisen, den Bagger bedienen, nicht für die Müllmänner, nicht weil er es musste, sondern allein für das Ziel, den einen Tag, an dem er das Gericht einläuten würde.
    Sie hatten wenig zu tun mit denen, wegen derer er an jenen Ort gekommen war, aber sie waren genau so angeklagt. Er musste sich als Richter neutral halten. Es verbot sich, sie deshalb an jenem ersten Tag der neuen Welt grundsätzlich zu verschonen.

    „Bist du bereit?“ „Ja.“
    „Dann mach endlich!“, befahl Kyle. Kargal schreckte hoch. Er war aus Versehen schon einen halben Schritt in das Loch getreten, durch das sie das Gerät zuletzt manövriert hatten. Er ging einen Schritt zurück und trat an den Bagger heran, um sich in die Führerkabine hochzuhieven. Krümel des Dosenbrots aus dem Lager waren auf Sitzen und Boden großzügig verteilt. Nicht alle schienen bei genauerer Betrachtung jüngeren Datums zu sein. Der Ledersitz, auf dem er Platz nahm, war klebrig. als ob die oberste Schicht abgerieben worden wäre und die offenliegende Innere sich mit Dreck neu beschichtet hatte. Kargal rief sich in Gedanken, dass dies nicht nur nicht unwahrscheinlich war. Und überdies, erneut, dass jenes Denken ein Verschwendetes war. Nicht ihm nicht angemessen, aber nach wie vor zu vermeiden.

    Er steckte den Schlüssel in die passende Öffnung, stand auf die Kupplung und startete den Motor. Der Bagger war angeschaltet. Der erste Gang war eingerastet. Der Fuß stieg von der Kupplung und er fuhr. Langsam schleppten die Ketten das Ungetüm nach vorne. Er hielt an und testete die Mechanik für den Arm und die Drehung aus. „Halte die Schaufel besser unten wenn möglich, dann kippst du nicht zur Seite“, rief Kyle ihm von hinten zu. Er war bereit. Er hatte es einfach probiert und es hatte geklappt. Die Schaufel klappte auf seinen bestimmenden Griff hin ein und der Bagger fuhr wieder vorwärts durch seinen Druck auf das von Staub verblasste, schwarze Gaspedal. Das Gelände war uneben. Niemand hatte beim Aufschütten an den zu erstellenden Weg gedacht oder, falls doch, nicht auf seine Anfertigung hingearbeitet. Er befuhr Neuland. Er brach ein. Sein Kopf prallte ungebremst gegen das Steuerpult, die Hände hatten sich abzustützen gesucht an der viel zu weit entfernten Frontscheibe des Führerhauses und landeten verschränkt über seinem Haupt. „Du musst dich mit der Schaufel abstützen.“ Die Stimme Kyles, die an seine Ohren drang klang undeutlich und weit entfernt. Er atmete tief und allein das schien ihm bereits eine zu starke Belastungsprobe für seinen Körper zu sein. „Die Schaufel verdammt. Wir können die Kuhle nicht zuschütten, solange der Bagger noch drin liegt.“
    Es schwindelte Kargal bei dem Versuch, den Kopf in die Höhe zu recken. Irgendwo war der Hebel für die Schaufel. Aber war die Ausfahrrichtung nicht entgegen dessen gewesen, was er ursprünglich gedacht hatte und dachte er nicht inzwischen anders. Er fuhr sich mit der rechten Hand während des Versuches seine Gedanken wieder auf einen klaren Kurs zu bringen über den Mund. Die Körperteile wirkten unverbunden, der Zeigefinger wurde rot. Das Atmen fiel schwer. Ein Hebeldruck nach vorne entkam seinem Körper, es war der richtige. Der Bagger erhob sich wieder in die waagrechte, er stoppte die Schaufel. „Gut, nicht bewegen, bis ich es sage“, tönte es von irgendwoher. Kargal hatte nichts anderes geplant. Er holte tief Luft und rotzte das Blut aus seiner Nase in den Fußbereich des Führerhauses, um sich darauf in seinem Sessel zurückfallen zu lassen. Die Sonne stand noch hoch, die wahre Arbeit stand ihm noch bevor, wenn der Abend kam, dies war nur ein Vorgeschmack. Er schmeckte seine Oberlippe. Eisen. Er musste härter werden.
    Geändert von Oblomow (25.08.2017 um 21:22 Uhr)

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    Kapitel 36

    Eine Frage von hohem Range.
    "Wenn du meine Ziele kennst, dann fordere ich dich auf sie mir zu nennen."
    Eine Antwort aus Staub.
    "Es ist vor allem ein Ziel, in dessen Dienst fast alle anderen gestellt sind. Das ist eines jener, die sich über ihre Verbindung mit dem Gefühl namens Gerechtigkeit auszeichnen."
    Ein Zittern in der Wange.
    "Was soll diese umständliche Formulierung?"
    Ein Weg voller Laub.
    "Die Lektion der heutigen Nacht ist noch jung. Für Morgen gewähre ich dir eine Pause, um darüber nachzudenken. Aber eines verspreche ich dir jetzt: Dein Recht wird gesprochen werden. Du wirst der Richter der alten Welt, dessen Lehre sich in der neuen keiner einziger widersetzen können wird. Nicht weil man es nicht darf, sondern weil das, was du in der Nacht auf dem Scheiterhaufen der Geschichte verbrennen wirst, am nächsten Morgen nicht mehr gedacht werden kann. Die Gnade für dieses Amt gewähre ich dir."


    Die untergehende Sonne signalisierte den Eintritt des Feierabends. Für einen Moment fühlte er sich, als würde er seinen Traum leben. Dann holte ihn die Dämmerung ein.
    Kyle hatte sich vor der Führerhaustür des Baggers postiert. Sein Blick war wie immer nicht zu deuten, als ob die menschliche Gestalt nur ein Nebenprodukt einer lieblos geklebten Collage war.

    „Komm her, bevor ich dich ausräuchern muss.“ Kargal entlockten diese Worte vor lauter Überraschung nicht einmal ein Lächeln, sondern nur eine Bewegung seines linken Armes, der die Hand zur Klinke der Tür geleitete. Er stieg ohne eine Erwiderung gegeben zu haben aus. Kyle kam auf ihn zu und klopfte ihm auf die Schulter. „Das lief gut heute. Das wollte ich nur gesagt haben.“ Kargal schaute ihn intensiv an. Unergründlich ob Ernst oder Floskel den Moment prägten. Kyle setze mit tiefer Stimme wieder zu Reden an. „Ich werde jetzt Mervel in seine Hütte bringen. Wenn du dich heute Nacht etwas länger wach halten könntest, würde ich später noch vorbeikommen. Es gibt da ein paar Dinge, die ich noch mit dir besprechen will. Kargals Augenbrauen sprangen nach oben.
    „Wegen heute Morgen?“
    „Auch. Bis später!“
    Es lag Sicherheit über das Zustandekommen dieses Zusammentreffens in der Klangfarbe mit der er seine Worte verlautete. Und sie war berechtigt. Ein passgenauer Zufall, dass er in dieser Nacht eine Denkpause zugesprochen bekommen hatte. Der Müllmann stapfte von dannen. Mervel folgte ihm wie ein Hund seinem Herrchen. Wer hatte die Dressur übernommen? Bei allem, was er den khoriner Polizisten zutraute, derartiges brachten sie in keiner seiner Fantasien zustande. Er dreht sich zum Bagger um und schloss die Tür wieder. Was immer es war, er würde es wohl bald genug erfahren.

    Er trat den Weg zum Lagerhaus an. Die Luft war feucht, der Himmel dunkler und dunkler. Er beeilte sich trotzdem nicht. Der Mond würde ihm wie die Nächte zuvor Licht genug sein. Er erinnerte sich, da nun die Worte Kyles nicht mehr an sein Ohr drangen, derer der dunklen Gestalt. Sein Recht würde Geltung bekommen. Dessen versicherte man ihm, doch schien es ihm zugleich, als würde etwas Grundlegendes fehlen.
    Das Ganze, so hatte es ihm das Buch gesagt, war in seiner Position gar nicht zu erfassen. Seine Füße waren wieder zur Gänze in dem Abfallhaufen unter ihm verschwunden.
    Es war ganz offenbar und doch wollte er den sich aufdrängenden Schluss nicht ziehen. Er würde jetzt noch nicht so weit gehen. Der nächste Tag war fürs erste früh genug, für den Abend hatte er zu viele handfeste Probleme. Und es war spät.
    Ein wohliges Gefühl angesichts der verrichteten Arbeit des Tages und der behelfsmäßigen Dusche, die ihm bevorstand betäubten ihn für einen Moment, hielt das Gefühl von Ekel kurz zurück, das er mit jedem Schritt als seinen Edelstein bei sich trug. Er harrte einen Moment an einem Abhang aus. Dann ließ er seinen Schatz wieder glänzen. Er ging wieder weiter. Egal welche Widrigkeiten und Fallgruben seine Begleiter waren, er hatte eine Perspektive. Auf irgendwas. Er musste sie nur auspacken – seine Kofferbombe.


    Djuren war wieder zu seinem Schiff zurückgekehrt. Eine Dose Thunfisch stand vor ihm auf dem Tisch der Essecke. Sie war leer – seit über einer Stunde schon. Der Kopf war leer und doch voll.
    Er musste die Müllmänner am Abend noch einmal an der Halle abpassen. Und mit Ben war noch unbedingt davor ein Gespräch zu führen. Es stellte sich die Frage, wann er für Ersteres losgehen musste, und damit unweigerlich verbunden, auch, ob er davor genug Zeit für Zweiteres hatte. Diesen Konflikt hatte er nicht auflösen können. Tatsächlich war es ihm zu anstrengend überhaupt darüber nachzudenken. Stattdessen überlegte er sich, ob er noch eine weitere Dose Fisch aufmachen sollte, obwohl sowohl ein Mangel an Hunger als auch Appetit dagegen sprach. Er spielte etwas mit der Gabel herum, welche mit ihren Zinken im Öl der Thunfischdose positioniert worden war, bis er sie erfolgreich über den Dosenrand auf den Tisch springen ließ. Kleine Tropfen des Pflanzenöls, in welchem der Fisch gelagert hatte, fielen auf das Furnier und reflektierten das hereinfallende Tageslicht. Vielleicht konnte er auch einfach einen Tag warten. Das Gespräch konnte er dann irgendwann in der Nacht führen. Aber das war nicht, was er wollte. Er würde nicht mehr von diesem Fall ablassen. Mit diesem Morgen war es eine persönliche Sache geworden. Und wenn es weitergehen sollte, durfte er nicht weiter warten oder planen. Er musste etwas tun. Eine weitere Minute zog durch die Kabine. Dies war eine Situation, der nicht so leicht zu entkommen war. Er stand auf und lief zum Funkgerät.

    Er wählte die normale Frequenz als Verbindung. Für die Sache mit der Waffe ließ sich immer noch ein subtiler Hinweis platzieren. Die Bürgermeisterin musste darüber jedenfalls nichts erfahren.
    „Djuren an Quartier.“ Er wartete einen Moment.
    „Quartier hört.“ Djuren erkannte die vertraute Stimme Harvalds wieder.
    „Habe heute Erstkontakt mit den Subjekten Shaydign und Bronswik aufnehmen können. Bestätigten letzten Aufenthalt der Gomorrha. Weitere Einzelheiten dazu waren nicht zu gewinnen. Zustand von Shaydign wirkte labil. Wirkt als würde er von Bronswik an der kurzen Leine gehalten. Gut möglich, dass er mehr weiß. Versuche das Subjekt heute Abend zu beschatten und isoliert zu befragen. Iskariot war nicht anzutreffen und ist laut den beiden kürzlich verstorben. Habe jedoch starke Gründe zur Annahme, dass dies erfunden ist. Wurde angeblich von Riesenratten angefallen. Werde auch hier herausfinden, was los ist. Verbindung zum Verschwinden der Gomorrha ist nicht auszuschließen. Djuren Ende.“ Er glaubte nicht an diese Verbindung, aber im Zweifel war damit eine Konfrontation mit unvorhergesehener Todesfolge einfacher zu rechtfertigen.
    „Ist notiert“, klang es trocken aus der Leitung. Keine Aufregung war angesichts der Namensnennungen daraus abzulesen. Harvald war einer der Leute, die zum Beamtendasein geboren worden waren. „Sind noch sonstige Überbleibsel oder Spuren der MS Gomorrha gesichtet worden? Quartier Ende.“
    „Negativ. Kein Treibgut, keine Informationen, außer den gemeldeten. Näheres wie gesagt hoffentlich Morgen, aber wenn Sie Ben treffen, sagen Sie ihm, dass er damit Recht hatte, dass die Leute hier sehr großen Wert auf Reden legen. Ich schließe nun die Unterhaltung. Djuren Ende.“
    Er hoffte sehr, dass seine letzte Anmerkung ihren Weg finden würde. Sofern dies geschah war er sich sicher entsprechend zurückgefunkt zu werden. Er wechselte vorsorglich die Frequenz. Noch immer war die Frage bezüglich des richtigen Zeitpunkts um zur Halle zurückzukehren ungeklärt, aber er hatte sich immerhin auf den Weg gemacht.
    Geändert von Oblomow (28.10.2017 um 18:42 Uhr)

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    Kapitel 37

    Djuren war den Hügel vor dem Lager fast schon hochgesprungen. Ungeachtet seiner letztlich doch noch frühen Aufbruchzeit konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass eine drängende Notwendigkeit darin bestand, genau zu dieser Zeit keine weitere mehr zu verlieren. Er hatte knapp zehn Minuten auf das Funkgerät gestarrt und sich dann entschlossen nicht auf einen Rückruf zu warten. Es schien ihm mit einem Mal ein Ding der Unmöglichkeit geworden zu sein. Ob dieses treibenden Gefühls überraschte es ihn nicht einmal mehr, dass er im Gegensatz zum Morgen kaum mehr im Müll einsank. Kein Gedanke über den Dreck unter ihm entrang sich seinem Kopf mehr. Es war eine Gemeinheit, mit der er sich wie mit der Schwerkraft arrangieren musste. Der Umstand, dass er lebte brachte es unweigerlich mit sich, sich durch Müllberge zu pflügen.

    Er beeilte sich jedoch nicht nur wegen einer inneren Unruhe, viel mehr war es ihm klar geworden, dass er vorsichtiger vorgehen musste. Es brauchte ein gutes Versteck, wollte er unbemerkt dem Weg der Müllmänner folgen. Und um diese zu finden musste er seine Umgebung kennen. Er kannte sie nicht. Und das, obwohl er am Morgen so viel Zeit dafür gehabt hatte, um sich dieses Problems zu entledigen. Stattdessen hatte er Stunden damit verbracht von seiner Raserei wieder zu einem klaren Gedanken zu kommen. Djuren überschritt den Pass des Berges und konnte nun wieder hinab zur Halle sehen. Das war nicht schlau gewesen, eine Fahrlässigkeit, die er leicht bereuen konnte, zumal an diesem Ort. Umso wichtiger war es nun diesem Fehler seine Bedeutung zu nehmen.

    Sorgsam besah Djuren sich die Hügelketten ringsumher und konnte befriedigt feststellen, dass keine Person auszumachen war. Er zog es dennoch vor, bei diesem Mal den Berg nach vorne schauend hinabzusteigen. Kein dunkler Fleck, alles würde dieses Mal bedacht werden. Er ging in die Knie, um sein Gewicht nach hinten zu verlagern und schritt die Halde hinab. Schnell genug, um seine eingeplante Zeit nicht zu schmälern und langsam genug, nicht unvorsichtigerweise zu fallen und sich an verbliebenem Metallschrott in dem Morast unter ihm eine ernsthafte Verletzung zuzufügen. Es war kein Vergleich mit dem, was die Müllmänner ihm am Morgen vorgemacht hatten, aber für seine Ansprüche gut genug für nur einen Tag des Trainings. Für das, was er vorhatte, waren andere Qualitäten auszuspielen. Falls dem nicht so war, war ihm der Misserfolg ohnehin schon gewiss.

    Die Oberschenkelmuskeln pochten sich dem Grund entgegen, bis ihm das Wohlgefühl betonierten Grundes zuteil wurde. Wieder einmal ragte die Lagerhalle vor ihm aus dem Boden. Wieder war wilde Entschlossenheit seine Begleiterin. Er atmete einen Moment durch. Seine Augen suchten ein weiteres Mal erfolglos nach den Müllmännern. Es war kein Grund, die Sorgen abzulegen, aber dafür fortzufahren. Djuren schritt auf die Schiebetür zu. Der ausgeblichene Lack rieb an seinem Ohr, als er dieses an das Tor anlegte. Die Wärme des ausgehenden Sommertages war zu spüren. Zu hören war nichts. Vorsichtig zog er die Tür auf. Licht fiel sanft in das Innere der Anlage. Djuren sah hinter die Türe, an die Plätze, an denen man ihm aufgelauert hatte. Niemand war da. Einsam stand die Mineralwasserpalette im Raum, wie er sie am Morgen hinterlassen hatte.

    Er zog das Tor hinter sich wieder zu. Es wurde düster. Nur ein schwacher Schein aus den Fenstern des abgesetzten Firstes versorgte das Halleninnere nunmehr mit einer kümmerlichen Portion Dämmerlicht. Geübt steckte Djuren sich eine Zigarette an und zog seine Taschenlampe aus dem Halfter. Der Lichtkegel wanderte über die Getränke zu einigen Paletten, die mit Kartons beladen waren. Dosenbrot und Weidenbeergelee waren in aller Flüchtigkeit als Aufschrift zu entziffern. Irgendwelche Vorräte, die ihn nicht interessierten. Er strahlte auf den Boden dahinter. Eine braun-rötliche Verfärbung war zu erkennen. Etwas musste an diesem Ort gestanden haben, etwas großes. Er leuchtete die Umgebung der Schemen ab. Ein Lasthebemagnet und ein Greifbaggeraufsatz wanderten in sein Sichtfeld, offenbar gedacht, um an der fehlenden Maschine montiert zu werden. Vermutlich waren sie mit dieser gerade unterwegs. Er lief weiter. Ein paar geschlossene Schränke an der Wand hatten seine Aufmerksamkeit erweckt. Er griff nach der Tür – verschlossen. Ein kurzer Gedanke, ob er sie direkt aufbrechen sollte, blitzte auf, doch er zögerte. Später war dafür hoffentlich noch genug Zeit. Der hintere Teil der Anlage stand ihm immerhin noch zu erkunden bevor.

    Er lenkte das Licht auf einige Schwerlastregale, die sich in einer Reihe bis zum Ende der Halle zogen. Werkzeug, Kocher, Schneidbrenner, Kreissägen, Handhobel, Drechselbank, alles schien darin sauber verstaut worden zu sein. „Praktisch, praktisch, ihr Hunde“, grummelte Djuren leise in sich hinein und wechselte auf die andere Seite der Regalreihe. Die Zigarette hatte unterdessen ihr Ende gefunden. Ein weiteres Exemplar wanderte aus der Tasche zwischen die Mundwinkel. Vor ihm lag nun eine Ansammlung von Generatorwürfeln. Die Stahlstäbe wiesen darauf hin, dass ihre Lieferung nicht allzu lange zurückliegen konnte. Neben einer guten Portion Dreck war ausnahmsweise für Irdorath kein Rost zu erkennen. Er leuchtete weiter nach hinten. Eine beinahe endlos anmutende Benzinfasssammlung erstreckte sich hinter den Generatoren. Die Zigarette wanderte weiter unter die Schuhe.

    Er überlegte sich, ob er zurück zu den abgeschlossenen Schränken sollte, doch ein seltsamer Haufen aus Stroh hinter den Fässern hatte schon seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Zügig schritt er zum Hallenende, um einen nähren Blick darauf zu werfen. Er wusste nicht mehr woher, doch irgendwo hatte er schon einmal Ähnliches gesehen, nur kam er nicht darauf, wo das gewesen sein sollte. Es hatte nichts mit gewöhnlichen Werkstätten und Lagern zu tun, dessen war er sich sicher. Djuren schob einen Strohballen vorsichtig zur Seite, wohl darum bedacht die darüber gehäuften Exemplare nicht zu Fall zu bringen. Säcke wären zu erkennen, offenbar Sand. Ihm stockte der Atem, als ihm wieder einfiel, woher er solche Gebilde kannte. Reines Entsetzen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Notdürftig drapierte er den Heuballen wieder an seinen angestammten Platz. Wahnsinnige, es mussten Wahnsinnige sein, die allein auf die Idee kamen....

    Ein gedämpfter Klang, unterbrach seine Gedanken. Fallendes Wasser, ein leises Plätschern von hinter der Hallenwand. „Eine Dusche“, stellte er laut für sich selbst fest. Hinter der Halle mussten sich noch weitere Anlagen befinden.

    Djuren konnte kaum fassen, welches Glück ihm an diesem düsteren Tag noch widerfuhr. Er war kurz davor gestanden zu glauben es mit Übermenschen zu tun zu haben und nun waren seine Ziele so arglos, sich in seiner Gegenwart nackt zu machen. Die Taschenlampe kehrte in den Gürtel zurück. Er hastete zurück zum Eingang, griff nach dem Tor, schob es langsam, doch bestimmt auf. Das Metall kreischte unangenehm dabei. Wie unangenehm, das fiel ihm erst in diesem Moment auf. Warum nicht, als er die Halle betreten hatte? Wollte er nicht alles genau untersuchen, keine Fehler mehr begehen? Er verfluchte sich erneut für seine Unaufmerksamkeit. Wie wahrscheinlich war es, dass man ihn nun nicht gehört hatte? Er sah sich um. Keine Müllmänner. Noch nicht. Esoteriker glaubten an Geister von Bergen, er nicht. Aber an Dämonen von Mülldeponien bestand für ihn inzwischen kein Zweifel mehr.
    Hastig suchte er in den Müllbergen vor sich nach etwas, das zur Bewaffnung geeignet war. Ein rostiges Rohr, das herausragte schien ihm diesem Anspruch zu genügen. Mit einem kräftigen Ruck wanderte der augenscheinliche Waschbeckenrest in seine rechte Hand. Es war keine gute Wahl, aber die beste, die er in der Kürze der Zeit noch treffen konnte. Er drehte sich zurück zur Halle. Links der Halle verstopfte ihn ein Knäuel aus Metallschrott den Weg, doch rechts schien das Gelände auf eine gewisse Art eingeebnet worden zu sein. Er fragte sich nicht, warum er dies zuvor nicht bemerkt hatte, sondern eilte stattdessen den gespurten Pfad entlang.
    Er musste gehört worden sein, es konnte gar nicht anders sein, aber wenn er schnell genug war, vielleicht hatte er noch eine Chance sie irgendwie zu überrumpeln. Der Umstand, dass ihm ihm kein erfolgreiches Szenario einfallen wollte, strafte diesen Gedanken Lügen, er rannte trotzdem weiter, ehe er immer noch unbehelligt an der Hallenkante zur Rückseite zum Stehen kam. Er quetschte sich an die Wand und versuchte einen Blick auf die Rückseite zu erhaschen.

    Eine Person trat aus einem Anbau hervor. Sie war erkennbar nicht bullig genug um Shaydign zu sein. Er sah zurück. Konnte es sein, dass er noch immer unentdeckt geblieben war? Er schaute wieder die Person an. Die Bewegungen, die Statur, Bronswik war ebenfalls auszuschließen. Sein Atem wurde tiefer. War das das Aufeinandertreffen, dem er so entgegengefiebert hatte? Seine rechte Hand schickte sich an das massive Rohr zerdrücken zu wollen. Losrennen und zuschlagen: Das war die einzige angemessene Reaktion für diesen Fall. Die Last, die er sich mit diesem Anspruch selbst aufgeladen hatte, schien ihm plötzlich über den Kopf zu wachsen.

    Die Gestalt blickte in Djurens Richtung. Sein Kopf zuckte zurück um die Ecke. Sein Körper glitt die Wand hinab. Es bestand kein Zweifel: Das war nicht Iskariot.
    Geändert von Oblomow (02.02.2020 um 01:30 Uhr)

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    Kapitel 38

    War dies schon Magie, wie einfaches Wasser seine Gedanken zur Himmelsstürmerei befähigte? Für einen Moment schien ihm wieder die goldene Zukunft entgegen, die er einzuleiten dem Ruf der alten Stimme gefolgt gewesen war. Zeiten, in denen das Überleben arbeitender Hände Ernte sein würde und doch die Tristesse menschlichen Seins in den Ketten genau vermessener, vermeintlich verifizierter Regeln ihr Ende gefunden hätte. Sie hatten mit allem falsch gelegen, was sie getan hatten. Eine Krypta, ein Schrein, eine Klosterruine waren keine bloßen Felsbrocken, waren kein Touristenziel. Sie waren nicht einmal archäologische Studienobjekte. Aber was ihnen an Zauber inne wohnte, war nicht nachvollziehbar zu erfassen, bedurfte gewissermaßen des Blicks des dritten Auges. Er würde es ihnen öffnen, auf dass die göttliche Macht wieder bestand, dass man sich relevanten Dingen statt dem erbärmlichen Ansammeln von Reichtümern zuwandte, dass er am Ende zeigen konnte, dass er all die Jahre Recht gehabt hatte, ehe er sich dem System ergab.

    Ein lautes Quietschen riss ihn zurück auf den Erdboden. Es war unverkennbar das Geräusch des Hallentores. War Kyle doch schon wieder zurückgekehrt? Er wusch sich final mit dem Inhalt des Eimers ab, in dem er sich seine Laugenlösung zusammengerührt hatte und wandte sich den Spinden zu. Eine Waschmaschine oder zumindest Waschmittel musste er noch ausmachen, fiel ihm dabei ein. Es war fast schon irrsinnig an saubere Kleidung angesichts der Müllhalden, die er täglich durchwatete, zu denken, aber das Gefühl reinen Stoffes war derart anders als jenes seiner durchgeschwitzten Exemplare. Er griff sich eine neue Garnitur bedingt weißer Unterwäsche aus den Fächern heraus. Sie hatten einiges an Flecken, vermutlich Öl, mitgenommen, dazu noch normale Gebrauchsspuren. Alles war verblasst hinter einigen Waschgängen, aber noch gut zu erkennen.

    Hals über Kopf war er dem Ruf in festem Gottvertrauen gefolgt. Es war so gefügt gewesen, dass es ihm tatsächlich an nichts fehlte, aber rückblickend war er etwas verwundert darüber, wie ergriffen er in jener Nacht gewesen sein musste, dass er nicht einmal einen Gedanken an Gepäck verschwendet hatte. Wo man seine Wäsche wusch musste er noch herausfinden. Pro-forma, falls jemand ob der im Tempel gereinigten Garnituren Verdacht schöpfen sollte. Vielleicht bot sich ein Gang in die Halle an, um Kyle, falls das Quietschen keine Einbildung gewesen war, nach einer Waschmaschine oder -trommel zu fragen bevor er zu seiner Baracke zurückkehrte. Eine Flasche Wasser und Abendessen ließen sich bei dieser Gelegenheit auch bei einem Misserfolg mitnehmen. Während er sich dies noch überlegte hatte er sich bereits fertig eingekleidet und den Spind wieder abgeschlossen. Das Sonnenlicht schien ihm immer noch entgegen, als er dem Anbau entstieg. Kargal war etwas überrascht davon, wie lang sich der Abend doch zog, wenn man sich die Nacht ersehnte. Er wandte sich dem Weg um die Halle zu und für einen Moment schien es ihm, als habe er aus den Augenwinkeln eine Bewegung an der Ecke wahrgenommen. Er vermutete die einer Ratte.

    Djuren zog sich nach oben, nahm seine Beine in die Hand und rannte den planierten Pfad zurück in Richtung des Hallentors. Er konnte es sich nicht leisten, nochmal an diesem Tag entdeckt zu werden. Auch wenn es ihn dräute, dass dies in jenem Moment vermutlich schon passiert gewesen war. Den Überraschungsmoment wähnte er jedenfalls nicht mehr auf seiner Seite. Schon wieder war er zu leichtfertig gewesen: Das glorreiche Resultat jahrelanger Sesselbegasung, Umklatschen halbstarker Querulanten im Polizeirudel auf Streife und einer offen korrupten wie konsequenzlosen Anwaltsvermittlung auf Provisionsbasis zur Aufbesserung seines trotzdem noch unterdurchschnittlichen Lebensstandards. Er biss die Zähne zusammen. Er war ein kleines Würstchen, ein Fettfleck auf der weißen Weste der khoriner Polizei. Sein einziges Glück war, dass diese schon weit vor seiner Zeit zur Kochschürze umfunktioniert worden war. Aber er wollte verdammt sein, Kyle oder Sonst-wem auch nur noch einen Blick durchs Schlüsselloch auf dieses Elend zu ermöglichen. Er hastete weiter zur Frontseite der Halle. Inzwischen musste ihn der Duschende gesehen haben, hatte er die Verfolgung aufgenommen, aber dies musste er nun in Kauf nehmen. Die Müllberge um die Halle waren zu massiv, als dass sie als Versteck getaugt hätten. Wenn das Glück ihm hold sein würde konnte er in der Halle nochmal die Gelegenheit für einen Zugriff bekommen. Und das anschließende Verhör würde endlich auf seine Art laufen: mit seinem Zeugen fest niedergedrückt auf dem Boden, die Arme auf dem Rücken verschränkt und seine Finger bereit jederzeit als kleines Bonbon hinter das Ohr zu drücken, wenn ihm die Antworten nicht gefielen. Djuren warf keinen Blick mehr zurück. Das Stapfen im Müll, in beinahe übermenschlicher Geschwindigkeit schien ihm unheimlich nahe zu kommen. Hatte er tatsächlich seine Meister gefunden oder spielte ihm seine Einbildung einen Streich? Er rannte weiter, immer nur weiter. Und wenn der zusätzliche Blick ihn nur den Bruchteil einer Sekunde kosten sollte, wenn es der entscheidende war, war es einer zu viel. Er bog um die Ecke und hatte das Tor wieder im Blick, das er diesmal nicht mehr im Ansatz vorsichtig aufzog, ehe er in das Zwielicht unter dem Stahldach zurückkehrte.

    Es klang kein Quietschen, sondern ein Donnern, in jedem Fall aber keine Einbildung. Kaum war Kargal an der Ecke zur Längsseite angekommen, war es nun ganz offenbar, dass sich jemand in der Halle zu schaffen machte oder gemacht hatte. Das unbedachte, unsaubere Schmettern der Schiebetür klang allerdings nach keinem der Müllmänner, wie er sie bisher erlebt hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, wie merkwürdig es ihm doch scheinen gehabt hätte müssen, dass nach jener Verabschiedung überhaupt jemand so schnell wieder zur Halle gekommen war. Andererseits waren Mervel und Kyle im Gegensatz zu ihm geübt darin über die Müllberge zu wandern. Ein Unbehagen, wie er es weder vom Tempel, noch von der MS Gomorrha kannte, überwand diesen schwachen Abwehrversuch seines Gehirns jedoch mit Leichtigkeit. Doch konnte er es zulassen, dass ein ungutes Gefühl allein Führer seines Handelns war? Er ging weiter, nicht weil er noch weiter laufen hätte wollen, sondern des mangelnden Willens zum Stehenbleiben wegen. Hörte er durch das Wellblech Schritte? Hastend, suchen, der Routine der Müllmänner fremd? Es konnte eine Täuschung, ein Verhörer sein, doch die Insel war in jener Abendstunde bis auf das Geräusch seiner Schritte im Abfall fast schon gespenstisch ruhig. Er war schon fast an der Ecke zur Einfahrtsseite. Er wollte naiv genug sein, zu glauben, dass alles in Ordnung war, aber sich selbst zu überlisten, war ihm nicht möglich. Kargal ging um die Ecke. Das Tor war knapp zur Hälfte offen, das Licht im Inneren, war offenbar aus. Er beschleunigte seinen Schritt und hielt erst an, als er unmittelbar davor war durch das Tor zu treten.

    Komm nur näher – Djuren hatte sich hinter einer angebrochen Kartonagenwand, die Frühstücksgelee enthielt, postiert. Es war sicher nicht die beste Stelle für seinen Hinterhalt, aber gemessen an der Laufzeit der Suche hielt er sie dennoch für ein gutes Resultat seiner Bemühungen. Er war weitgehend von den fremden Blicken geschützt und doch konnte er durch Lücken in der obersten Stapelebene den Eingangsbereich im Auge behalten. Der Fremde hatte länger auf sich warten lassen, als er erwartet hatte. Hatte er ihn falsch eingeschätzt? Falls dem so war, war die Chance um so besser, im Duell die Oberhand zu gewinnen. Das Rohr hatte er immer noch in der Hand, die sich mit jedem Schritt, den der Fremde in seine Richtung setzte, fester darum schloss. Sein Blick war der des Tigers. Sein Atem wurde kontrolliert leise. Der Fremde blieb stehen. Was war mit diesem Typen los? Fühlte er sich unsicher? Duldete er seine Beschattung? Nichts davon traute er den Müllmännern zu. Er musterte die Gestalt näher. Die Haut hatte einen leicht bräunlichen Einschlag, die Haare waren schwarz und glatt, sahen aber nicht so aus, als wären sie über die letzten Jahre der eigenen Pflege überlassen gewesen, auch wenn dieser Eindruck nicht zu seiner Kleidung passen wollte. Doch bei genauerer Betrachtung wirkte die Person angesichts ihrer jugendlichen Frische die sie ausstrahlte bereits deplatziert auf der Insel. Er machte sich vielleicht wie zu oft in den letzten Tagen falsche Hoffnungen, aber vielleicht war diese Person tatsächlich eine mögliche heiße Spur zum Verschwinden des Abfalltransportschiffs. Ein Grund mehr diese Chance nicht erneut zu versauen. Noch während dieses Gedankens, begann sein Beobachtungsobjekt das Hallentor zuzuziehen.

    Kargal hielt inne. Kein Mucks drang mehr aus der Halle. Wie unberührt standen die beladenen Paletten im dunklen Inneren herum. Er schätzte weder Mervel noch Kilian so ein, dass ihre Arbeitsweise mit solch einem Zustand konform ging, auch wenn es ihm schwer fiel Mervel nach den Eindrücken des Tages noch richtig einschätzen zu können, falls er es denn überhaupt jemals gekonnt hatte. Die Situation befeuerte durch und durch ein Misstrauen an dem sicher geglaubten Umstand außerhalb des Tempels über den Dingen zu stehen. Unangenehm und doch vertraut war dieses Gefühl, das ihm das Herz so schwer und den Magen so unleidlich machte von seinem geistartigen Lehrmeister. Und doch hätte er diesen, der ganz andere Möglichkeiten kannte dieses zu erzeugen, nun zu gerne bei sich gewusst.
    Der Polizist vom Morgen kam ihm in den Sinn. Konnte es sein, dass dieser sich noch herumtrieb? Noch immer wusste er nicht, was die Polizei überhaupt auf jener Insel suchte, doch er war sich sicher, dass es Herausragendes sein musste. Kyle schien am Morgen nicht begeistert von der Präsenz gewesen zu sein. Er überlegte sich für einen Moment, ob er seine Vermutung in die Halle rufen sollte, damit sich jemand erkenntlich machte. Aber was sollte darauf folgen, wenn der Grundsatz galt, dass man man mit der Polizei nicht redete, erst recht nicht mit der khoriner Polizei? Er hatte keine Lust, er hatte keine Zeit, er hatte auch nicht den Willen auch nur das Risiko einer Konfrontation einzugehen, mit wem sie auch sein mochte. Und lag Kyle oder Mervel auch vielleicht niedergestreckt oder verunfallt herum, war das nicht sein Belang. Bei genauerer Überlegung beschleunigte es den Gang auf seinem Weg nur. Kargal ging ein paar Schritte nach links und tastete nach dem Griff des Schiebetores ohne den Blick von den Paletten und Geräten im Inneren der Halle zu lassen. Der vom Rost raue, doch stabile, schmiedeeiserne Griff fühlte sich gut in seiner Hand an, als er das Tor Schritt um Schritt zu zog. Er wandte sich von der Halle ab, ging ein paar Schritte und begann zu rennen.

    Der dünne Spalt Abendröte erstarb mit einem metallenen Schlag vor seinen Augen. Er hatte sich im Ehrgeiz der Müllmänner offenbar geirrt. Vielleicht wartete man aber auch nur, dass er sich zu erkennen gab in dem Moment als er die Tür wieder aufzuziehen versuchen würde. Er tastete an sich herunter auf der Suche nach seiner Diensttaschenlampe. Er atmete einmal tief durch, als seine rechte Hand sie wieder dort fand, wo er sie glaubte hin gesteckt zu haben. Er machte das Licht an, orientierte sich neu. Seine Pläne erlaubten keine weiteren Fehler mehr. Was Bronswik mit ihm machen würde, sollte evident werden, dass er seinem Rat nicht gefolgt war, konnte er sich nicht ausmalen, sondern sich nur davor fürchten. Er war ein Sadist, ein Psychopath, ein Monster. Deswegen hatte man ihn auf dieser Insel entsorgt. Ihn, als die geringst zu betrauernde Beute, die sich nun um ihr Überleben abstrampeln durfte. Er schlug in den Kartonsichtschutz vor ihm, der, nachdem eines ihrer tragenden Elemente in Richtung Hallentor geschleudert worden war, in sich zusammenfiel. Doch er würde dieses Mal schlauer und bedächtiger sein. Wenn er nicht mehr herauskam, ohne sich angreifbar zu machen, musste er eben in der Halle übernachten, bis die Müllmänner wieder zu ihren Vorräten mussten. Er leuchtete in Richtung des Strohs. Im Zweifel war er zu diesem Zeitpunkt auch wieder bewaffnet. Sein Magen sendete unangenehme Gefühle. Oder er ging mit der Scheiße hoch, in dem Moment, wenn er sie anfassen sollte.

    Kargal war den Weg bis zu seiner Hütte gerannt und war gerade noch rechtzeitig angekommen, um sie in der Dunkelheit noch erkannt zu haben. Es schien Neumond geworden zu sein, aber so plötzlich, dass er sich darüber wunderte noch in der Nacht zuvor das Mondlicht als Garantie an ihn gesehen zu haben. Das Innere der Hütte sah er nun ebenfalls nicht mehr, tastend hatte er sich zu dem Bett vorgewagt, in das er bislang nur schlaftrunken gefallen war, um nur kurz darauf hinausgetrieben zu werden. Laut und tief atmend saß er auf der weichen Auflage, von der er nicht einmal mehr wusste, wie sie aussah oder woraus sie bestand. Dem Eindruck seiner Finger nach zu urteilen war es keine Matratze wie in seiner khoriner Wohnung oder, falls doch, eine in äußerst schlechtem Zustand. Der Gedanke sich darauf niederzulegen schien ihm dennoch verlockend. Nichts mehr mit dem Geschehen zu tun haben zu müssen, ein vergifteter wie süßer Traum. Nur, dass Kyle tatsächlich nicht mehr erscheinen würde, davon ging er nicht aus. Und Kyle zu enttäuschen war nicht nur ihm gegenüber nicht entschuldbar, er brauchte ihn selbst dringend, um das Erlebte auszusprechen - eine Erkenntnis, die nach einer gefühlten Ewigkeit, in der er nur schnaufend in der Dunkelheit saß ihm immer klarer offenbar wurde. Das Geräusch von Schritten drang mit einem Mal durch die Nacht, erst leise, dann immer lauter werdend, ehe das schimmernde Licht einer Taschenlampe durch die offenen Ritzen der Baracke drang. War es Kyle oder der Polizist? Ein Zittern, das nicht mehr durch Atemtechnik kontrollierbar war, erfasste Kargals Körper nur einen Moment bevor die Tür seiner Hütte aufgestoßen wurde und ein mehrfaches Klicken eines Schalters vernehmbar wurde. Der Lichtkegel einer Taschenlampe richtete sich auf Kargal. „Gibt es 'nen Grund dafür, dass der Generator nicht an ist?“
    Geändert von Oblomow (10.04.2021 um 19:46 Uhr)

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    Kapitel 39

    Große Augen hinter zugezogen Lidern waren die einzige Antwort an die Außenwelt. „Alles muss man selbst machen“, zeterte Kyle und verließ die Hütte wieder. Das Stapfen durch den Schrott drang, fast ungedämpft von den dünnen Bretterwänden, ins Innere. Kurz darauf war das Aufheulen eines Motors zu vernehmen. Eine einsam am Kabel hängende, klare Glühlampe erstrahlte. Nun war auch zu erkennen woraus die Schlafunterlage bestand auf der er sich niedergelassen hatte. Es erbot sich eine mit löchrigen Laken überzogene Schaumstoffschicht, die sich insofern erkennbar aufzulösen schien, als dass sie keine Struktur mehr bildete, sondern teigartig durch die Löcher zu Spritzgebäckkringeln an die Oberfläche gedrückt wurde. Kargal besah sich seine Hände. Eine Probe dieser Backkunst war bei seiner blinden Erkundungsmission an ihm haftend geblieben. Er versuchte sie abzustreifen, doch deren klebrige Konsistenz machte dieses Unterfangen schwierig bis unmöglich. Das angenehme Gefühl der Reinheit nach seiner Dusche war wieder dahin. Die Tür ging ein zweites Mal auf. Die unzweifelhaft Kyle zuordenbare Gestalt presste sich aus dem Dunkel der Nacht in den kleinen erleuchteten Raum von Kargals Baracke, um auf einem der beiden schäbigen Stühle Platz zu nehmen.
    „Und wieder sitze ich hier und bin erstaunt, dass es jemand wie du geschafft hat bis jetzt zu überleben“, setzte der Müllman die erste Marke des Abends. Ob salopp oder verletzend gemeint: Der Puls Kargals sank ab anstatt zu steigen ob der vertrauten Stimme im Ohr. „Du wolltest Dinge mit mir besprechen?“ Kyle kratzte sich an seinem braunen Pullover. Der Stuhl ächzte bei jeder Bewegung seines Besetzers, als würde nur die Freiheit ihn noch vor dem Kollaps bewahren können. „Ja, aber ich werde das anders als geplant machen. Mit jemandem Rat halten zu wollen, der einen Generator nicht zum Laufen bringt, ist vergebene Mühe.“ Kargal sah den Müllmann verständnislos an. „Glotz nicht so und setz dich auf den Stuhl“, ordnete dieser an und zeigte auf den freien Platz direkt ihm gegenüber. Hatte er keine Fortschritte gemacht seit den letzten Tagen? Es schien ihm bereits eine Ewigkeit vergangen seit dem Tag als er angekommen war und doch wurde er, wie an jenem, wieder wie ein Schulbube von Kyle gegängelt. Unbeeindruckt von allem, undurchschaubar. Er hatte es in ihm immer noch nicht mit einem Freund, sondern einem Risikofaktor zu tun. Unleidig folgte er der Aufforderung.

    Das Holzgerüst, auf dem die Matratze lag, seufzte erleichtert auf. Der Sitz gegenüber Kyle keuchte. Der Müllmann faltete seine Hände auf dem Tisch und begann zu reden. „Es laufen hier ein paar merkwürdige Dinge: Aggressive Ratten, ein verwirrter Mervel, ein Neuer und, am Seltsamsten, die Polizei. Das für sich könnte ich alles noch so hinnehmen, nur langsam fängt es an die Arbeit zu stören.“ Die Stimme verfinsterte sich zum Ende merklich. Kargal versuchte den Gedankengängen seines Gegenübers zu folgen. Er wunderte sich über diese Dinge natürlich nicht, doch die Prioritäten seines Gesprächspartners waren ihm in der Tat ein Rätsel.
    „Das ist doch nicht das Problem“, wollte er einwenden. In Sekundenbruchteilen wandelte sich die Farbe von Kyles Kopf von Weiß zu Rot. „Ich sage was wichtig ist, nicht du. Du bist hier zum Zuhören!“, brüllte der Müllmann derart enthemmt los, dass Kargal vor Schreck beinahe hintenüber fiel. Spucketröpfchen schimmerten auf dem Tisch im Licht des Leuchtmittels. Kyle atmete tief, unterbrach seine Worte jedoch, als ob auch ihn dieser emotionale Ausbruch überrascht hätte. „Das hier“, fuhr er deutlich ruhiger fort, „das ist nicht einfach irgendeine Arbeit. Das hier ist eine Pflicht“, skandierte er. Kargal wagte es nicht mehr zu widersprechen. „Was wir hier tun ist ein Muss, das Letzte, was wir aus unseren Leibern herausholen können, anstatt im Knast zu versauern. Es gibt nur diese Insel und es gibt kein Zurück.“ Kyle war wieder lauter geworden unterdessen Kargal sich in seinem Stuhl zusammengezogen hatte. Kyles wild gewordener Blick traf ihn mit voller Härte, doch beruhigte sich bald wieder. „Scheiße, was versuche ich dir eigentlich zu erzählen? So ahnungslos wie du bist hast du noch nie ein Gefängnis von Innen gesehen.“ Kargal hatte die Umstände der Müllmänner nie zu ergründen gesucht.

    Die Überraschung über Kyles, ob seines Naheliegens kaum Offenbarung zu nennendes, Zeugnis, stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Willst du darüber reden?“, bot er seinem Gesprächspartner an. Dieser schüttelte leicht den Kopf, der erstmals nicht mehr so positioniert war um den Augenkontakt zu Kargal zu halten, sondern schlaff über seinem Schoß hing. „Nein, das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Ich bin jetzt hier. Etwas besseres hätte mir auch gar nicht passieren können. Außerdem: Ein Teil meiner Antwort könnte dich auch verunsichern.“ Ein schelmisches Grinsen zeichnete sich während des letzten Satzes auf das Gesicht des Müllmanns und erzielte damit genau jene Wirkung, die angeblich vermieden werden sollte. „Aber vielleicht lass ich einmal dir kurz die Gelegenheit vorzustellen woher du kommst“, spielte Kyle den Ball zurück. „Ich bin aus einem anderen Gefängnis gekommen“, suchte Kargal eine Halbwahrheit vorzuschieben. Der Müllmann beugte sich über den Tisch ohne den Blickkontakt zu Kargal zu unterbrechen. Eine gute Minute verharrte er in dieser Position, als ob er abwägte seinem Gegenüber für jene Aussage den Kopf zu spalten, dann sank er wieder auf den Stuhl zurück. „Gut, also ein Irrer. Das erklärt einiges.“ Kargal hielt sich mit einem Kommentar zurück. „Das erspart mir immerhin die Frage nach dem Warum in der anderen Sache, die ich noch ansprechen wollte“. Die Augenlider Kargals verengten sich zu Schlitzen. „Wie hast du den Kapitän umgebracht?“ „Was?“ Kargal wusste sich keinen Reim auf die Frage seines Gegenübers zu machen. „In Ordnung, dann kommen wir zu den Ratschlägen. Erstens: Egal für wie schlau du dich hältst. Wenn du versuchst mit mir so eine Scheiße abzuziehen, war es das mit dir!“ Die letzten Worte fauchte Kyle ihm fast schon entgegen. „Ich habe niemanden umgebracht“, ereiferte sich Kargal. „Was mich zum zweiten Ratschlag bringt: Halt dein Maul!“ Ein Gefühl der Hilflosigkeit war aus dem schäbigen Stuhl wie eine Dornenranke erwachsen und hielt Kargal eng umschlungen auf seinem Anklageplatz. „Den bekam ich von meinem Anwalt, nachdem ich mit der Polizei geredet hatte“, fuhr Kyle ungerührt in seinem Fluss fort. „Das war ein guter Ratschlag.“

    Kargal versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er verstand weder die Situation, in die er geworfen worden war, noch die Person, die mit ihm am Tisch saß, mehr. „Dir wäre also egal, wenn ich ein Mörder wäre?“ Kyle blickte ihn ernst an. „Was ist schon ein Menschenleben wert, wenn es nur um die Sache gehen sollte? Dein Vorgänger hat eine ganze Mordserie für irgendeinen okkulten Mist hingelegt und es hat mich nicht interessiert. Ich habe hier Dinge zu erledigen, die zwei Hände brauchen. Machst du deinen Teil der Arbeit, dann gibt es keine Probleme.“ „Ich habe trotzdem niemanden umgebracht!“, erwiderte Kargal trotzig. Der Müllmann stand auf und wandte sich zum Gehen. „Das interessiert hier keinen, dem du das erzählen solltest“, gab er trocken zurück. „Falls es wegen dir übrigens zu Lieferverspätungen kommen sollte, kappe ich deine Rationen.“ Kargal war, als redete er gegen eine Wand. Draußen war ein leichter Wind aufgekommen und rüttelte am Gebälk der Hütte, deren Tür von Kyle bereits geöffnet worden war. In wenigen Momenten würde er wieder allein mit seinen Problemen gelassen werden. Er hatte sie fast vergessen, so viele neue waren dazugekommen. „Halt!“, stoppte er den Müllmann, noch bevor er sich des Grundes ihn aufzuhalten wieder gewahr geworden war. Er wagte kaum zu hoffen Gehör zu finden, doch Kyle blieb auf der Schwelle stehen. „Was?“, fragte er mit fester, aber nicht genervt wirkender Stimme. „Warst du nach der Arbeit nochmal bei der Halle?“, sprach Kargal sich seine Frage vom Herzen. Einen Moment schien es, als habe sein Gesprächspartner ihn überhört, so reaktionslos blieb er stehen. „Weil das Tor geöffnet wurde, als ich duschte“, hing Kargal eine Erklärung an. „Ich kümmere mich darum“, sprach der Müllmann und verließ die Hütte endgültig um im Schatten der Nacht zu verschwinden.

    Kargal wandte sich ein zweites Mal an jenem Abend seiner Bettstatt zu. Angesichts deren Zustandes schien es ratsam eine weitere Decke darauf zu legen oder besser gleich auf dem Boden zu schlafen. Seine Gedanken kamen wieder zur Ruhe. Tot. Der Kapitän war tot. Alles auf seinem Weg schien dem Verfall preisgegeben zu sein, wie ausgebrannte Ascheschemen, die unter seiner leichtesten Berührung zerfielen und vom Wind davongetragen wurden. Er hing nicht an jenen Personen auf seinem Weg und doch überkam ihn eine seltsam nostalgische Form der Melancholie, als wäre ihm etwas Wertvolles verloren gegangen. Er schaute noch immer auf das Bett, ohne auch nur eine Regung getan zu haben um es bezugsfertig zu machen. Ein plötzliches Stechen in den Schultern signalisierte ihm, dass jeder Gedanke dazu auch in dieser Nacht vergebens war. Er war dieses Mal fast dankbar darum. Draußen trank der Generator beständig weiter seinen Dieseltank leer.
    Geändert von Oblomow (26.06.2021 um 12:22 Uhr)

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