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    Ehrengarde Avatar von El Toro
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    Post [M-Story]Khorinis Urban Legends

    Moderne Mythen und Oral Poetry
    oder
    „Kennen Sie die Geschichte von der toten Ratte in der Coladose?“

    Ich weiß nicht mehr, warum ich diesen Thread so geplündert habe. Wie tragisch, dass "Zimmer frei" verloren ist. Nicht gespeichert, vielleicht gelöscht, wer weiß das schon? Ich mochte die kleine Geschichte um die einsame alte Hanna und ihre nachvollziehbare Vorliebe für makellose junge Männer.
    Aber ja, auch die Liebe ist ein Thema, das in Khorinis nicht fehlen darf. Lest selbst!
    Geändert von El Toro (26.01.2021 um 10:44 Uhr)

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    Ehrengarde Avatar von El Toro
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    Ein Morgen in Khorinis

    Langsam dämmerte der Morgen über Khorinis herauf. Jeder, der jetzt aus dem Fenster geschaut hätte, wäre überzeugt gewesen, es sei noch tiefe Nacht, doch in Wirklichkeit schlich die Morgendämmerung seit fast einer halben Stunde auf Zehenspitzen einher.
    In dem großen Ahorn im Park des Statthalterpalastes blinzelte ein rotes Eichhörnchen und betrachtete gleichgültig die schlafenden Häuser. Auf dem Rand des Brunnens hatte sich ein Spatz niedergelassen und verspritzte perlende Wassertropfen. Die nächtliche Brise, die die Blätter zum Rauschen gebracht und die Vorhänge hinter den geöffneten Fenstern aufgebläht hatte, legte sich.
    Ein schwacher Lichtstreifen tauchte den Himmel im Osten in zartes Rosa. Die Fledermäuse, die im Dachgeschoss des Richterhauses lebten, gingen zur Ruhe, die Meisen erwachten zögerlich, so als wagten sie es nicht, den neuen Tag als erste zu begrüßen. Das Eichhörnchen hob den Kopf, lauschte einen Moment und verschwand flink in seinem Bau an der Gabelung des Ahorns. Die Geräusche der Nacht verstummten, die morgendliche Stille lag einen Moment lang wie eine Verheißung über den Dächern der Hafenstadt.
    Der Moment verstrich. Das Klappern hölzerner Räder auf dem Straßenpflaster durchbrach die Stille. Irgendwo am Marktplatz bellte ein Hund. Der Spatz erhob sich vom Brunnenrand und flog davon. Ein Wagen, gezogen von einem Esel, passierte das Stadttor. Auf der Seitenfläche stand in ungelenken Buchstaben: BENGARS MOLKEREI. Darunter war eine Flasche Milch abgebildet.
    Pardos saß auf dem Kutschbock des kleinen Wagens. Er trug eine ordentlich gebügelte blaue Uniform, auf deren Tasche sein Name mit Goldfäden aufgestickt war. PARDOS. Er summte eine unhörbare Melodie, während hinter ihm im Wagen die Milchflaschen vergnügt klapperten. Vor dem Haus Bospers hielt er an und sprang leichtfüßig vom Wagen auf das Kopfsteinpflaster. Einen Moment lang blieb er stehen, atmete die frische, unendlich verheißungsvolle Morgenluft ein und ging dann schwungvoll auf die Tür des Bogners zu.
    Ein kleines, weißes Blatt Papier war an der Türklinke befestigt. Pardos las es aufmerksam und gründlich, als handle es sich um eine Botschaft aus der Feder Rhobars persönlich.

    1 Flasche Milch
    1 Flasche Sahne
    2 Pfund Brot.
    Danke, Bosper.

    Pardos betrachtete den Zettel nachdenklich, um sich zu vergewissern, dass er nichts übersehen hatte, dann nickte er und ging zum Wagen zurück. Hinten im Lieferwagen war es kühl und dunstig. Die Milchflaschen standen in der vordersten Reihe, die Sahne lugte hinter den Tollkirschen hervor. Pardos nahm je eine Flasche, dann holte er aus der Holzkiste mit den Broten - Bengar backte sie selbst - zwei kleine Laibe heraus und stellte alles vor Bospers Tür. Leise summend setzte sich Pardos wieder auf den Kutschbock und ließ den Esel weitergehen. Aus Harads Schmiede hörte er die gedämpft die ersten zaghaften Hammerschläge. Sein alter Freund Brian arbeitete bei Harad. Pardos dachte an Brian, der jetzt in der dunstigen, ungesunden Hitze der Schmiede stehen musste, und er lächelte. Vielleicht würde er Brian später besuchen. Vielleicht.
    Er summte seine leise Melodie und bog nach links ins Hafenviertel ab. Lehmars Bestellung war wie immer an den Türpfosten geheftet, und wie immer war sie kurz und bündig:

    1 Rübensaft
    2 Pf. Äpfel

    Pardos zog eine Schreibfeder aus der Tasche und kritzelte schwungvoll BESTELLUNG ERLEDIGT über Lehmars Zettel. Die Äpfel lagen griffbereit in Netzen zu je einem Pfund in einer weiteren Holzkiste, die Kartons mit dem Rübensaft standen hinten im dunstigen Dunkel des Wagens. Pardos dachte einen Moment lang nach, dann zog er den Kopf ein, um sich nicht an dem blutbefleckten Fleischerhaken an der Seitenwand des Wagens zu stoßen und beugte sich nach vorne. Er holte aus einer Ecke des Wagens einen leeren Rübensaftkarton. BENGARS RÜBENZAUBER. GESUND UND KÖSTLICH. KINDER LIEBEN IHN! Pardos stellte den offenen Karton auf der Pritsche ab und wühlte in der Apfelkiste, bis er das Glas mit dem Schraubverschluss fand. Er hob es ins erste Morgenlicht und sah hinein. Die kleine Giftspinne darin bewegte sich, aber nur träge. Es war eine kühle Nacht gewesen, und erst jetzt kehrte mit dem sanften Morgenlicht die Frühlingsmilde zurück. Pardos öffnete das Glas und drehte es über dem leeren Karton um. Mit einem erstaunlich lauten Plumpsen fiel die Spinne in den Karton. Pardos verschloss den Karton sorgfältig, fischte zwei Netze mit Äpfeln aus der Kiste und schlenderte zu Lehmars Haus. Er genoss die ersten Strahlen der Morgensonne auf seinem Gesicht und lächelte. Spinnen waren sein bestes Produkt, und ein Tag, an dem er eine Spinne liefern konnte, war ein Freudentag.
    Während er langsam die Straße zum Hafen hinab fuhr, färbte sich der rosige Perlenstreifen am Himmel scharlachrot. Bei Edda lieferte Pardos drei Flaschen Milch und ein Brot ab, bei Halvor und Fenia hinterließ er Äpfel und eine Flasche Sahne, der er den Sud von Giftpilzen beigemengt hatte. Die Damen von der Roten Laterne erhielten ihren gewohnten Eierpunsch. Bei Farim fand er einen Zettel, auf dem stand: HEUTE NICHTS, DANKE. Pardos nickte und hinterließ eine Flasche, die leer aussah, aber mit einem tödlichen Gas gefüllt war. Garvell erhielt wie jeden Tag zwei Kartons Rübensaft. Das gefiel Pardos, denn auch wenn die Leute immer sagten, Abwechslung sei das Salz des Lebens, so war und blieb er ein einfacher Mann der Hochebene, und die mochten nun einmal am liebsten Rüben.
    Inzwischen war es ganz hell geworden, der strahlend blaue Himmel war mit Schönwetterwölkchen gesprenkelt. Der Lieferwagen hatte seine Runde beendet und verließ die Stadt durch das Osttor. Ein Junge kam aus einem der Häuser, blinzelte verschlafen zum blauen Himmel empor, lächelte dann und holte die Milchflasche hinein.
    Geändert von El Toro (13.03.2009 um 15:57 Uhr)

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    Ehrengarde Avatar von El Toro
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    El Toro ist offline
    Khorinis Urban Legends

    Tills Kutsche

    Unscheinbar wie ein Ziegelstein in der Stadtmauer steckte die Anzeige zwischen den anderen Inseraten des Khoriner Morgens. In seltsam verkrüppeltem Myrtanisch stand da:

    Kutsche, Viersp., Vollh. Esche mass., Lederbez., neuwertig, Bj. 53, 1 Hd., abzh. b. Rosi, ehem. Sek. Hof

    Am Ende kauerte klein und bescheiden wie ein Feldhamster der Preis, so bescheiden, dass es sich nur um einen Druckfehler handeln konnte. Eine Unfallkutsche vielleicht? War nicht jeder Verkäufer durch das königliche Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb rechtlich dazu verpflichtet, seine Ware zu dem Preis abzugeben, mit dem er geworben hatte? War das vielleicht jene günstige Gelegenheit, die sich jeder erhofft, der die Annoncen der Tageszeitung liest? Die Angelegenheit begann mich zu interessieren. Ich tastete nach meinem Geldbeutel in der Rocktasche, heuchelte Zahnschmerzen und verließ, begleitet vom Mitgefühl Meister Thorbens, die Werkstatt. „Eine gute Idee bringt mehr ein als ein ganzes Jahr harter Arbeit“, pflegte er schließlich oft zu sagen. Diesem Gebot meines Meisters wollte ich endlich einmal Folge leisten.
    Als ich das Stadttor fast erreicht hatte, fuhr eine edle Eschenholzkutsche vorüber. Ich sah ihr nach und war mir sicher, dass große Ereignisse nun einmal ihre Schatten voraus werfen. Eine Kutsche aus dunklem Eschenholz, mit Bezügen aus feinem, duftenden Pferdeleder ist - oder besser war - für mich der Inbegriff allen Glückes. Wie hatte ich schon als Knabe jenen begabten und gefeierten jungen Mimen beneidet, der in einem solchen Gefährt in die Unsterblichkeit raste. Mein Lehrgeld reichte leider nur für einen Handkarren, mit dem ich mein Gepäck ziehen konnte, und als es endlich bergauf ging, wollte Lucia die Trennung. Das, was mir blieb, reichte gerade einmal für einen gebrauchten Zweispänner aus billiger Fichte.
    Sekobs Hof - wir nannten ihn immer noch „Sekobs Hof“, obwohl der alte Bauer schon viele, viele Jahre lang gestorben war - lag weit im Osten der Insel. Ich war schon lange nicht mehr dort gewesen, doch ich hatte gehört, dass die alte Rosi den Hof immer noch bewirtschaftete. Ihr Taugenichts von Sohn ging ihr dabei zur Hand. Als ich dort ankam, erschrak ich.
    Zwischen rostendem Schrott trockneten fleckige Laken im Herbstwind. Haufen von alten Kartoffeln und feuchten Kohlen bildeten eine merkwürdige Miniatur der Berge, die sich im Osten des Hofes vor dem Horizont erhoben. Ein dürrer, zitternder Köter kläffte seinem letzten Tag auf Adanos’ herrlicher Erde entgegen. Ich fand Rosi am Rande des Rübenfeldes, wo sie gebückt erbärmlich kleine, runzelige Knollen aus der trockenen Erde riss. Wenn sich die Kutsche in der gleichen Verfassung befand wie Rosi, dann war sie reif für den Schrotthändler. Die schmutzigen Strümpfe der alten Frau welkten über knotigen Krampfadern, ihre Schultern waren gebeugt, als laste gewaltiger Kummer auf ihnen. Sie sah von ihrer Arbeit auf, starrte mich mit wässrigen Augen an und schnarrte: „Die Kutsche steht noch zum Verkauf. Aber es haben sich bereits zwei Herren aus Khorinis angekündigt, die sie haben wollen.“
    Ich fragte vorsichtig nach dem Preis, der in der Anzeige gestanden hatte, und sie bestätigte ihn mit einem knappen Nicken. Stöhnend erhob sie sich und schlurfte vor mir her zum Schuppen. Ihr Kleid hing traurig an ihrem gekrümmten Körper herab, und ich sah, dass ihr im Nacken ein Geschwür wuchs, das seine bösartigen Arme früher oder später bis in ihr Gehirn ausstrecken würde.
    Als wir am Schuppen angelangt waren, schob sie ächzend die schlecht geschmierte Schiebetür beiseite, und da stand sie, wie ein Eisberg in der Wüste Varants. Das wenige Sonnenlicht, das durch den Türspalt drang, reichte bereits aus, das Holz der Kutsche in mattem Glanz erstrahlen zu lassen. Sie war ein Schmuckstück.
    „Ist das die…?“
    „Ja, das ist sie.“, keifte Rosi mit erschreckender Lautstärke. Es war offensichtlich, dass Innos ihr das Übel der Schwerhörigkeit nicht erspart hatte. Mit Erstaunen sah ich, wie sie die Kutsche mit ihrer schwieligen, arthritischen Hand streichelte, ja zärtlich liebkoste, so als sei sie lebendig. Ein Schoßhund oder ein Enkelkind.
    „Ist sie nicht schön?“, fragte sie andächtig, mehr zu sich als zu mir gewandt.
    „Doch, sehr schön, aber…“
    Sie ließ mich nicht ausreden, sondern schnarrte:
    „Willst du die Papiere sehen?“
    Sie kramte ein Bündel aus ihrer Schürze hervor, das ordentlich von einem Band aus rotem Stoff zusammengehalten wurde. Selbst im Zwielicht des Schuppens sah ich, dass die Dokumente ebenso neu waren wie die Kutsche selbst. Sie überreichte mir das Bündel mit feierlichem Ernst und ich blätterte darin. Die Papiere waren ausgestellt auf Till, der, wie ich sah, in diesem Monat vierunddreißig Jahre alt geworden war. Wie doch die Zeit verging!
    „Mein Sohn“, sagte Rosi.
    „Ich weiß. Aber warum will Till verkaufen?“
    „Till hätte nie verkauft. Er hat diese Kutsche geliebt wie einen Menschen.“
    „Till ist…?“ Ich brachte dieses kleine Wörtchen nicht heraus, um nichts in der Welt.
    „Er ist tot.“ In diesem Augenblick sah ihr verfallenes Gesicht noch viel, viel älter aus, älter als alles, was ich jemals zuvor gesehen hatte.
    Ich wusste nicht, wohin ich schauen sollte. Mechanisch sagte ich:
    „Oh, das tut mir Leid.“
    „Till ist in dieser Kutsche gestorben. Er…er hat sich das Leben genommen. Gift. Ich war für einige Tage bei Maria, drüben, auf Elenas Hof. Er muss es getan haben, als ich gerade wenige Stunden weg war.“ Ihre Stimme brach, und ein dichtes Schweigen senkte sich auf uns herab. Ich befürchtete, dass Rosi gleich in Tränen ausbrechen würde - ich würde sie in den Arm nehmen und ihren Altweibergeruch riechen müssen, ihre knochigen Schultern umfassen und sinnlose Worte stammeln -, doch sie fasste sich. Als ich sie ansah, waren ihre Augen trocken und glänzend.
    „Er hat diese Kutsche geliebt. Jahrelang hat er dafür gespart. Doch was soll ich alte Frau mit diesem Wagen? Ich möchte, dass ein junger Mann ihn bekommt, der so viel Liebe für ihn empfindet wie mein Sohn.“
    Wieder streichelte sie das seidig glänzende Holz, während der dürre Köter draußen seinen hysterischen Zorn in den trüben Herbsttag bellte.
    „Oh, das ist wohl schon der nächste Interessent. Wenn du also…“
    „Ich nehme die Kutsche“, unterbrach ich sie. Nie zuvor hatte meine Stimme so fest und entschlossen geklungen.
    Sie betrachtete mich prüfend, schätzte mich von Kopf bis Fuß, als sei sie der Käufer und nicht ich. Dann reichte sie mir langsam ihre knotige Hand - in den Falten ihrer Fingerknöchel hatte sich die schwarze Erde des Rübenackers gesammelt und malte dort wie auf einer Landkarte kleine Flussläufe auf die alte Haut - und sagte:
    „Ich gebe dir die Kutsche. Aber ich stelle eine Bedingung: Du musst mir bei allen Göttern versprechen, dass du den Wagen nur für dich selbst kaufst. Ich möchte nicht, dass mit dem Vermächtnis meines Sohnes Geschäfte gemacht werden. Die Papiere bleiben in meinem Besitz, damit du die Kutsche nicht verkaufen kannst. Sei gut zu ihr.“
    Wieder liebkoste sie das Holz, als nähme sie Abschied von einem treuen Freund. Dann fuhr sie fort:
    „Wenn du sie einmal nicht mehr willst, nehme ich sie zurück.“
    Nach einer kurzen Probefahrt mit den klapprigen Mähren, die bei Rosi ihr Gnadenbrot erhielten, folgten einige Unterschriften. Mein schönster Jugendtraum hatte sich unverhofft erfüllt: An diesem wolkigen Herbsttag war ich plötzlich Besitzer eines edlen Vierspänners geworden.
    Ein Sprichwort sagt, dass Kleider Leute machen. Aber Kutschen machen aus Leuten große Leute. Plötzlich gehörte ich dazu. Mit vier feurigen Rappen aus Elenas Mietstall brauste ich durch die Alleen. Mein Spiegelbild glitt über die Schaufenster und verschmolz mit edlen Schneewolfpelzen, teuren Varantiner Parfums und Juwelen aus den Diamantminen Jharkendars. Aus dem Kasten des winzigen, magischen Miniaturorchesters im Kutschbock pulste der Bolero des Komponisten Liareb. Welch eine Lust zu leben! Neben mir in einem alten Zweispänner zwei junge Frauen. Ich spürte ihre Blicke. Im Rückspiegel sah ich ihre geschminkten Lippen. Sie sprachen von mir. Ich verstand kein Wort, aber an der Art, wie sie sich die Lippen leckten, ihre Münde Ohs und Ahs formten, wie sie lachten und kokettierten, lag die ganze Hingabe des schwachen Geschlechts an den Erfolgreichen.
    Ich weiß nicht, wie lange dieser Höhenflug andauerte, und ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, wann ich den Geruch zum ersten Mal wahrnahm. Doch als er einmal seinen Weg in mein Bewusstsein gefunden hatte, ließ er mich nicht mehr los. Es war ein widerwärtig klebriger Geruch, süß und bitter zugleich, wie verwesendes Fleisch.
    Ich öffnete die Fenster der Kutsche, versprühte eine Flasche des teuren Duftöls, das ich zu einem astronomischen Preis erstanden hatte und hängte kleine Bündel getrockneten Lavendels auf.
    Der Geruch blieb.
    Ich versuchte ihn zu ignorieren, gewissermaßen zu überriechen, aber er stahl sich immer wieder heimlich in meine Nase. Nachts sah ich Till in der Kutsche, seinen Leichnam zähflüssig zerfließen. Es wimmelte von Maden. Dieses Bild wurde von Tag zu Tag deutlicher, stärker, ja realer, bis ich die sich windenden Larven auf meiner nackten Haut zu spüren schien. Plötzlich schien der klebrigsüße Geruch überall zu sein, in meinen Kleidern, in meinen Haaren, ja es kam mir vor, als würde er mittlerweile aus meiner eigenen Haut dringen, in die er sich tief eingefressen hatte. Ich konnte kaum noch schlafen, und immer öfter griff ich nachts zu starkem Wacholderschnaps.
    Ich baute die Sitze der Kutsche aus, tauschte die Bodenbeläge aus, bearbeitete die Innenverkleidung mit scharfen Reinigern, doch der Gestank saß wie ein Polyp in meiner Stirnhöhle. Ich bekam sogar einen Hautausschlag, der sich wie ein flammendroter Gürtel um meine Leibesmitte zog. Der alte Thorben hatte mich zu dieser Zeit bereits zweimal verwarnt, die Finger vom Wacholder zu lassen. Meine Arbeit verrichtete ich nur noch mechanisch, ohne Liebe. Dann kamen die Stiche in der Brust, und ich übergab mich beinahe täglich. Es war das Ende.
    Nicht einmal fünf Wochen nach Erfüllung meines lange gehegten Traums stand ich wieder auf Sekobs Hof. So wütend hatte ich Rosi noch nie gesehen. Ihre Harre standen ihr wirr vom Kopf ab, ihre Augen brannten wie Kohlen.
    „Das hätte ich mir gleich denken können, dass du die Kutsche nur für eine Spritztour wolltest. Mein armer, armer Till! Hätte ich doch bloß die anderen Interessenten nicht weggeschickt! Jetzt muss ich neu annoncieren. Das wirst du mir bezahlen, Elvrich! Und nur Innos weiß, was du mit der Kutsche meines Sohnes angestellt hast?“ Sie hielt kurz inne, sah mich lauernd an und fuhr fort:„Woher soll ich wissen, ob noch alles in Ordnung ist? Ich werde einen Gutachter kommen lassen, auf deine Kosten.“ Dann fischte sie ein paar Goldmünzen aus ihrer Schürze - kaum ein Viertel des Kaufpreises - , drückte sie mir in die Hand und sagte: „Den Rest behalte ich als Verleihgebühr und für die Abnutzung. Zeig mich bei Lord Nico an, wenn du willst.“
    Ich wollte nicht. Alles, was ich wollte, war, die grässliche Kutsche mit ihrem fürchterlichen Leichengestank los zu werden. Der Geruch zerfließenden Fleisches verfolgte mich noch wochenlang, doch dann begann er zu verblassen, bis er nur noch eine Erinnerung war. Alles ist vergänglich, auch der Hauch des Todes.
    Bereits einen Tag, nachdem ich mich des Albtraumgefährts entledigt hatte, erschien die Anzeige wieder im Khoriner Morgen. Dann war sie verschwunden und tauchte drei Wochen später wieder auf und ich wusste, warum. Sie erschien nun leicht verändert, aber stets mit der gleichen Adresse, in unregelmäßigen Abständen.
    Einige Monate später hatte ich den Auftrag, ein neu gezimmertes Deckgestell zu Elena zu bringen. Als ich die Ware abgeliefert hatte, trugen mich meine Füße wie von selbst durch die Rübenfelder zu Sekobs Hof. Es herrschte Grabesstille, der sonst frei umherspringende Köter war nirgends zu sehen. Auch brannte kein Licht in den Fenstern des heruntergekommenen Hauses: Es war dunkel wie eine Ruine. Rosi war nicht zuhause. Ich schaute mich um, und als ich keine Menschenseele sah, fasste ich mir ein Herz und überquerte den Hof mit eiligen Schritten. Das Tor des Schuppens war geschlossen. Ich zog an der Klinke und quietschend öffnete sich ein gähnender Schlund aus Dunkelheit vor mir.
    Der Geruch traf mich wie ein Faustschlag. Meine Augen füllten sich mit Tränen und in meinem Kopf schienen Schwärme von Hornissen zu wüten. Doch dann sah ich es: Keine Hornissen, nein, es waren Fliegen, Hunderte, Tausende, die grünschillernd aus den Ritzen der Kutsche quollen, die dort im letzten Tageslicht matt schimmernd stand.
    Mein Gott, Rosi! Sie ist Till gefolgt und hat sich in der Kutsche das Leben genommen.
    Ich hielt die Luft an und trat gegen meinen Willen einen Schritt näher. Um nichts in der Welt wollte ich den Leichnam der Alten sehen, der auf dem geschmeidigen Leder zerfloss, und dennoch warf ich einen Blick durch das spiegelblank geputzte Fenster. Auf dem Rücksitz stand eine Blechschüssel. Sie war gefüllt mit faulenden Innereien, mit verwesender Lunge und aufgedunsenem Schweinegedärm. Hundertschaften von Maden wanden sich durch die schillernde Masse.
    Noch während sich mein Magen schmerzhaft zusammenkrampfte und ich mich in den Schuppen erbrach, dachte ich an Thorbens Worte:“ Eine gute Idee bringt mehr ein als ein ganzes Jahr harter Arbeit.“

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    Drachentöter Avatar von Eddie
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    dort...manchmal aber auch hier
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    Eddie ist offline
    Eigentlich wollte ich ja einen Extrathread dafür aufmachen, dass ich EL Toro nich den schönen Thread versau, doch sie wollte, dass ich es hier rein poste. Und da ich ihr eigentlich keinen Wunsch ausschlagen kann...
    Naja, lassen wir das. Beim Bummeln über den WEihnachtsmarkt etwa letzte WOche um diese Zeit bin ich auf eine Figur gestoßen, die in ähnlicher Pose wie Hagen in dieser Geschichte dargestellt war. Das fand ich so toll, das ich da direkt was zu schreiben musste, doch lest selbst:

    Hagens Abschiedsgruß

    „Seine Finger zitterten, Espenlaub, mit dem der Wind im Herbst sein neckisches Spiel trieb, gleichkommend, sein Puls raste. Was sollte er machen? Wie sollte er weiter vorgehen? Einfach irgendeinen der „Hurensöhne“ wegwerfen? Doch dann würde er Andre einen Vorteil verschaffen. Nein, das konnte er nicht zulassen.
    Ein fahles Kerzenlicht erhellte die kleine Kammer in der ersten Etage im Rathaus von Khorinis, eine dicke graue Wolke lag in der Luft: Pfeifen- und Zigarrenqualm, der sich, für Andre zumindest, wie eine Wolke aus giftigem Gas anfühlte, giftiges Gas, das ihm schon im nächsten Moment sein Lungengewebe zerfressen würde. „Wir können doch mal lüften, ich komm hier drin gleich um!“ Andre konnte sich nun nicht mehr zurückhalten und platzte mit seinem Unmut heraus. Als einziger Nichtraucher war es ihm ein hohes Anliegen, den Raum mit frischer Luft zu fluten und den grauen Nebel hinaus in die Nacht zu schieben. Er hatte die frisch geöffnete Weinflasche, seine dritte an diesem Abend, auf dem Tisch abgestellt und widmete der Runde einen fragenden Blick. „Ach komm, so schlimm ist das doch auch nich?“ lallte Hagen mehr, als dass er es sagte, einen weiteren Schluck aus seiner Bierflasche nehmend. „Du hast damit kein Problem, versteh ich schon.“ Wegen einem kurzen Hustreiz musste Andre unterbrechen, erneut ätzte sich der widerliche Qualm durch sein Lungengewebe. „Dich stört die dicke Luft hier drin ja nicht. Du…“ Eigentlich hatte er vor gehabt, Hagen mit Beschimpfungen zu belegen und Vergleiche zu irgendwelchen Tieren zu ziehen, die seiner Würde alles andere als gerecht würde, doch er ließ es bleiben.
    „Lothar?“ Andre wandte sich nun dem Dritten im Bunde zu, die Stimme gereizt, die Stirn schon leicht in Falten gelegt. „Wie lang brauchst du denn noch? Mach endlich weiter!“ Seit etwa fünf Minuten saß dieser nun schon da, überlegte, welchen Zug er machen sollte. Man hatte das Gefühl dass er im nächsten Moment seine Karten davon werfen würde, so sehr zitterten seine Hände vor Aufregung. Wenn nicht, so würde der Wasserfall aus Schweiß, der ununterbrochen von seiner Stirn hinab floss, die Karten sehr schnell durchnässt und unbrauchbar gemacht haben.
    „Mach Jetzt!“ Abermals trank Andre von seiner Weinflasche, doch die ersten Auswirkungen des Alkohols bekam er erst zu spüren, als er sich erhob, um das Fenster zu öffnen. In seinem Kopf hämmerte es, als ob Harad mit dem größten Hammer, den er zur Verfügung hatte, auf ihn einschlug. Nichts desto trotz riss er schon kurze Zeit später das Fenster auf und die winterlich kalte Luft strömte in das Zimmer.
    „Hey verdammt, was soll das!“ brüllte Lothar.
    „Ich geh hier drin fast kaputt und außerdem“ mit voller Wucht warf Andre die Weinflasche zu Boden. „hättet ihr euch was dickeres anziehen können!“
    „Leude, bleibt doch mal ruhig! Es ist spät am Abend, die schlafen alle schon, wollt ihr die aufwecken?“ Stammelte Hagen notdürftig zusammen. Wäre er nüchtern gewesen, hätte er die beiden Paladine für ihr Benehmen wohl in hohem Bogen aus dem Rathaus geworfen. Doch die zehn Flaschen Bier, die er getrunken hatte und die mittlerweile ungeordnet auf dem Boden umher kullerten, waren auch an ihm nicht spurlos vorüber gegangen. Der Alkohol hatte ihn, wieder einmal, ziemlich gleichgültig gemacht. „Außerdem befinden wir uns im Rathaus. Da sollte man sich ja…“ er suchte nach einem passenden Wort, während er seine Augen ein wenig verdrehte. „…benehmen. Und jetzt mach das Fenster zu, mir wird schon kalt!“
    Knurrend wendete Andre sich, nachdem er das Fenster wieder geschlossen hatte, von Hagen ab und blickte erneut auf den Kartenhaufen in der Mitte des runden Tisches. Noch immer hatte sich nichts verändert, die Herz zehn lag, nach wie vor, oben auf dem Stapel auf, vergilbt, ergraut und an den Kanten etwas eingerissen. „LOTHAR!“
    „Schrei doch nicht so, er ist doch nicht taub!“
    „Aber anscheinend...“ Andre verkniff sich, was er sagen wollte, während Lothar ihn mit einem argwöhnischen Blick musterte. „Wir spielen Skat, wie kann man da fünf Minuten lang an seinem Zug überlegen? Ich begreif das nicht.“
    „Es geht hier um zehn Erzbrocken! Die möchte ich nicht verschenken.“ Meinte der Angepöbelte, der als Einziger in der Runde an diesem Abend auf größere Mengen Wein, Bier und Schnaps verzichtet hatte. „Mittlerweile müsstest du doch jede erdenkliche Varin…Varan…Variante in deinem Kopf durchgenommen haben, welche Karte ich als nächstes legen werde, oder? “
    „Das sagst du dir so einfach. Würde ich das auch schon so lange spielen, wie du…“
    „Seit doch endlich mal ruhig, mein Kopf tut weh! Und Lothar, leg jetz endlich eine Karte hin!“
    „Jetzt stresst mich nicht so, ich muss mich konzentrieren!“
    „Konzentrieren, konzentrieren, KONZENTRIEREN? Ja, ich glaub, mich tritt ein Pferd.“ Andres Verstand hatte sich nun endgültig zur Nacht gebettet und sich, der Kälte wegen, in einer dicken Decke vergraben. „Wisst ihr was, ich hab keinen Bock mehr auf die ganze Scheiße. Ich steige aus! Teilt euch das blöde Erz doch auf!“ Nachdem er mit der Faust einmal lautstark auf den Tisch eingeschlagen hatte, öffnete er die Tür, trat aus dem Raum und schlug sie, in ähnlicher Lautstärke, wieder zu. Hagens Rufe „Ach komm, bleib doch da!“ vernahm er zwar, doch er beachtete sie nicht mehr.
    Gerade als er die Treppe hinuntergehen wollte, sah er ein junges Mädchen vor sich, hinter ihr Larius, den Stadthalter von Khorinis und dessen Frau. „Was ist denn hier los?“
    „Ehm…äh…der Wind hat eine Scheibe eingeschlagen, schätz ich. Hab grad mal nachgesehen, sonst ist nichts passiert.“
    „Nein, wir teilen das Erz jetzt unter uns auf!“ hörte man Hagens laute lallende Stimme aus dem kleinen Raum.
    „Nichts passiert, soso?“ Larius wurde ungemütlich. „Was ist da drin los?“
    „Überzeug dich doch selbst, ich hab keine Lust mehr auf den ganzen Scheiß!“
    „Bleib gefälligst da!“ Doch Andre reagierte nicht und …“


    „Und was hat das jetzt mit der Legende vom Mondputzer zu tun?“ unterbricht mein Enkel mich. „Hab Geduld! Es dauert nicht mehr lang. Und jetzt lass mich bitte erzählen!“

    „Andre stolperte also die Treppe hinab und als er unten angekommen war, spürte er an seinem Hinterteil womöglich jede einzelne der hölzernen Treppenstufen. Ob ihm das Mädchen noch ein wenig nachsah und sich darüber wunderte, wie seltsam der Paladin seine Laufbahn beschrieb, ständig von links nach rechts wankte und desöfteren drohte, umzufallen, oder was Larius in diesem Moment alles mit Hagen anstellte und warum Larius ihn überhaupt hatte gehen lassen...“

    „Wie alt war das Mädchen eigentlich?“
    „Sie war zehn, genauso alt, wie du jetzt. Doch warum unterbrichst du mich?“ Meine Augen verengen sich ein wenig, meine Stirn legt sich in Falten. Ich glaube nicht, dass ich sehr zornig drein geschaut habe, doch offensichtlich hat es gereicht, meinen Enkel ein wenig einzuschüchtern.
    „Das wollte ich nicht, tut mir leid!“ Man kann förmlich dabei zusehen, wie sich sein Gesichtsausdruck verzieht, betrübt wird. Ob er mir in diesem Moment nur etwas vorspielt, kann ich natürlich nicht sagen. „Erzähl bitte weiter.“
    „Gut, wo war ich, achja…“

    „Andre stürzte wankend aus dem Rathaus. Der helle, silbern scheinende Vollmond wies ihm den Weg durch das obere Viertel der Stadt. Das Licht brach sich in den vielen, mit Eis überzogenen Pfützen, reflektierte es wieder hinauf zum Himmel und tauchte das Obere Viertel so in einen beschaulichen Glanz. Der frisch gefallene Schnee knirschte unter Andres schweren Lederstiefeln, die durchsichtigen Kristalle des kleinen Eiszapfens an der Mauer zersplitterten in hunderte kleine Fragmente, als er sich auf den kleinen Sims stützte. „Elendes Banditenpack!“ murmelte er, seinen Hosenstall aufknöpfend, um ein kleines Geschäft zu erledigen. Eigentlich hatte er erwartet, gleich von irgendwelchen Wachen verfolgt zu werden, die ihn dann in die Kaserne schleiften, doch nichts dergleichen geschah.
    „Der Mond ist aber heut schön!“ Ein verschmitztes Grinsen zauberte sich in Gesicht Andres Gesicht, als er seinen Gang durch das Viertel in Richtung der Kaserne fortsetzte, wie ein kleiner verträumter Junge den Kopf in den Himmel reckte…und ausrutschte.
    Rücklings stürzte er zu Boden, schlug mit dem Kopf auf den harten Steinboden auf. Einen halben Meter weiter nach rechts und er wäre mit seinem Hinterkopf mitten in einer riesigen Pfütze gelandet. Benommen versuchte er sich aufzurichten, doch der Alkohol in seinem Körper war ihm dabei kein besonders guter Gehilfe. Er stellte sich quer, richtete sich entgegen und warf Andre immer wieder zu Boden. Behelfsmäßig gelang es ihm schließlich, sich über den Brunnen zu lehnen, halbseiden, den Kopf auf dem gefrorenen Wasser aufliegend.
    Für einige Momente lag er benommen da und ob es nun die Kälte war, die ihn wieder in das Obere Viertel von Khorinis zurück geholt hatte, oder das Geräusch, wenn es etwas schweres Metallenes auf Pflastersteinen aufschlägt, wusste er nicht. Er sah, als er seine Augen geöffnet hatte, lediglich den betrunkenen Hagen neben sich liegen, wahrscheinlich bewusstlos geschlagen, so glaubte Andre. Die Wachen, die bereits wieder im Rathaus verschwunden waren, hatte er nicht bemerkt.
    Andre dachte sich nichts dabei, ließ ihn liegen und wollte seiner Wege gehen. Doch gerade, als er den verschneiten Torbogen durchqueren wollte und sich schon auf sein warmes Bett in der Kaserne freute – es fror ihn mittlerweile erheblich, der eiskalte Wind, der sogar Ritzen in die steinernen Mauern der Häuser hätte schneiden konnen, tat sein übriges –, drehte er sich wieder um, weil er Hagen ein paar undeutliche Laute sagen hörte.
    „Ich sehe dich! Warte, ich mach dich sauber, damit du wieder schön glänzt!“ Etwas unbeholfen torkelte Andre zurück zum Brunnen, ein eisiger Schauer fuhr seinen Rücken hinab. Doch war er froh darüber, seine Rüstung an diesem Tag in der Kaserne gelassen zu haben, hätte sie ihn bei diesen eisigen Temperaturen nur noch mehr ausgekühlt. Er lehnte sich an eines der Häuser und betrachtete, durch seinen verschwommenen Blick den am Boden kauernden Hagen, der sich gerade ein altes Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche gezogen hatte. „Was hat der denn vor?“ flüsterte er leise, für niemanden hörbar.
    „Warte, ich mach dich sauber, gleich kannst du wieder schön glänzen!“ Er nahm das Taschentuch und begann, die gefrorene Pfütze, die sich neben seinem Kopf in einem Schlagloch gebildet hatte, zu putzen, energisch zu polieren. Besonders tief schien sie nicht zu sein, doch hatte es gereicht, damit sich durch den Frost eine ansehnliche und glatte Eisschichte darauf bilden konnte.
    Andre ging ein paar Schritte auf Hagen zu, der ihn in diesem Moment eher an einen versoffenen Penner statt an den Anführer der Paladine erinnerte. „Soviel hat er doch auch nicht getrunken!“
    Den ganzen in dieser Nacht zur Erde gefallenen Neuschnee hatte Hagen mit seinem zugeschnäuzten Lappen nun schon beiseite gewischt – und ein fröhliches Lächeln zauberte sich in sein Gesicht, ähnlich einem kleinen Kind, dem man Süßigkeiten gibt. „Siehst du nicht schön aus?“ lallte der Stadthalter, als er mit seinem gedankenverlorenen Blick auf die blanke Eisfläche vor sich sah. Nun musste Andre auch einmal schauen, was es da zu sehen gab. Ungläubig und auch ein wenig verwirrt torkelte er hinüber zum Brunnen, zu Hagen.
    Ein Bild für die Götter, wie man sich erzählte, zwei Betrunkene, die in ihrem Rausch verträumt in eine gefrorene Pfütze starrten, einer auf dem Boden liegend und womöglich schon angefroren, der andere halbseiden am Brunnen lehnend, auf der Suche nach – ja, wonach eigentlich? „Was machst du hier?“ Wollte Andre nun von Hagen wissen. „Ja was wohl? Ich mach den Mond sauber, damit er wieder schön lachen kann. Sieht man doch.“
    „Nun…nö!“ Ungläubig starrte Andre zum Himmel und umgehend fing der silberne Himmelskörper seinen Blick ein, ähnlich, wie die schönen Frauen der „Roten Laterne“, zugleich wunderte er sich aber auch ein bisschen. „Der Mond ist doch dort oben? Warum machst du denn die Pfütze sauber, wenn du den Mond putzen willst.“
    „Ach, du Spinner, schau doch, hier!“ Hagen versuchte, ein wenig zur Seite zu rutschen, doch unerwarteterweise war er bereits durch eine dünne Eisschicht an seinen Kleidern mit dem frostigen Boden verbunden. Es knirschte leise, als er sich um eine halbe Umdrehung zur Seite rollte und sich langsam wieder erhob. Langsam war wohl der treffende Begriff, denn so lange wie Andre auf die glatte Eisfläche gestarrt hatte, gelang es Hagen nicht, sich auf seine beiden Beine zu stellen. Ihn plagten ähnliche Probleme, wie Andre noch zuvor.
    „Tatsächlich!“ murmelte Andre, der nun regelrecht verblüfft über den vollen silbernen Schein des Mondes in der Pfütze war. „Du hast deine Sache gut gemacht, Mondputzer, doch jetzt geh ins Bett! Ich bin nämlich müde!“ Etwas verwundert blickte Hagen noch in seine Richtung. „Hm, wie du meinst! Dann nehm ich das kleine Mädchen hier vorn beim Rathaus auch gleich mit. Dem ist sicher auch kalt!“ „Gute Idee!“ Doch hinter ihnen standen bereits zwei Wachen bereit, die sich über den Anblick der beiden Paladine nur amüsieren konnten.
    „Mondputzer!“
    „Hey, ihr da, lacht nicht so blöd, das hat…Konsequenzen!“ lallte Hagen, als er sich endlich erhoben hatte.
    „Es gibt da noch etwas ganz anderes, was für euch beide Konsequenzen haben wird. Wenn ihr also mitkommt?“ “

    „Hagen wurde später vom Dienst suspendiert, das Glücksspiel ist ihm zum Verhängnis geworden. Es hieß, dass er mit einer Eskorte nach Myrtana gebracht wurde, doch was danach mit ihm geschah, weiß hier auf Khorinis niemand. Den Beinamen „Mondputzer“ hat er jedoch behalten, jede Geschichte, die sich über den damaligen Anführer der Paladine erzählt wird, endet meist in dieser Erzählung hier. Seither versammeln sich auch bei fast jedem Vollmond ein paar Leute, um Hagen für diese tollen „Abschiedsgruß“ zu danken. Sie setzen sich im Oberen Viertel vor den Brunnen und betrinken sich. Mal schauen, vielleicht entwickelt sich daraus ja irgendwann mal eine Art Feier.
    Auch Andres und Lothars Tage bei der Miliz waren nach dieser Nacht vorbei. Doch was mit ihnen geschehen ist, weiß niemand so genau. Es ranken sich viele Geschichten darum, doch die meisten sind ziemlich absurd und unglaubwürdig, nicht erzählenswert.“
    „Was war mit dem Mädchen? Warum hast du die immer so erwähnt?“
    „Sie dient nur als kleine Untermalung in der Geschichte, ein nettes Detail, das mir gut gefällt!“ In diesem Moment gehen mir die Bilder der Vergangenheit durch den Kopf, wie der betrunkene Andre die Treppe hinunter stolpert, wie mein Vater, Lutero, den ebenso betrunkenen Hagen aus dem Rathaus werfen lässt und wie die Beiden schließlich von den Wachen abgeführt werden.
    „Warum haben die das überhaupt im Rathaus gemacht? Das ist ja ohnehin schon sehr gefährlich, wenn der Stadthalter quasi nebenan hockt.“
    „Tja, das weiß niemand so genau. Gemutmaßt wird, dass die drei einfach einen gewissen Nervenkitzel gesucht haben. Ich nehme an, sie haben ihn gefunden. Schau nur, draußen hat es geschneit! Willst du nicht ein bisschen raus gehen, Schlitten fahren oder mit den anderen Kindern Schneeballschlachten machen?“
    Geändert von Eddie (28.12.2008 um 17:15 Uhr) Grund: eddietiert: Korrigieren irgendwelcher Fehler, die John entdeckt hat.

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    Benazirs letztes Weihnachtsfest


    Der „Goldene Lurker“ in Montera war das, was man unter Einheimischen und Reisenden einen Geheimtipp nannte. Unauffällig schmiegte sich das winzige Restaurant in einer der unbekannteren Nebenstraßen der Festung an eine Eisenwarengroßhandlung. Es war nicht größer als ein gewöhnliches Wohnzimmer. Die samtenen Sitzflächen der durchgesessenen Plüschsofas im Inneren des „Goldenen Lurkers“ waren blankgescheuert, ihre gedrechselten Beine wackelig und wurmstichig wie Fallobst. An den Teppichen, die den längst vergangenen Glanz der Assassinenherrschaft über Varant widerspiegelten, nagten die Motten mit dem Zahn der Zeit um die Wette. Schwere, staubige Samtvorhänge mit gedrehten Kordeln rahmten die fast blinden Fenster, die den Raum auch in den wenigen hellen Stunden der kurzen Wintertage in schummriges Licht tauchten. Erleuchtet wurde das Restaurant von einem gewaltigen, in tiefstem Meeresblau erstrahlenden Aquarium. In den perlenden Fluten wogten üppige Wasserpflanzen. Nichts an dieser Einrichtung war typisch varantinisch, abgesehen von dem lebensgroßen Abbild Zubens, der aus seinem prunkvollen goldenen Rahmen milde auf die Gäste herablächelte. Der Wirt des „Goldenen Lurkers“, Bashir Ben Bakara, hatte es damals aus seiner Heimat Ishtar mitgebracht und verneigte sich immer noch fünfmal täglich vor dem letzten Propheten Beliars, obwohl der dunkle Gott diesen in seiner unendlichen Weisheit schon vor vielen Jahren zu sich genommen hatte.
    Alles äußerliche Gepränge dieser Welt ist ohne Wert, so hatte Beliar einst durch den Mund seines Propheten gesprochen, und Bashirs „Goldener Lurker“ bestätigte diese göttliche Mahnung. Was hier in die Schüsseln kam, war anbetungswürdig. Es gab grundsätzlich keine Speisekarte in Bashirs Restaurant, denn alle Speisen waren täglich wechselnde Neuschöpfungen, aromatische Entwürfe und verführerische Meisterwerke, die sich niemals der Mode, sondern allein dem Marktangebot unterwarfen, denn Bashir war überzeugt, dass bei einem Kunstwerk die Materie so wichtig sei wie die schöpferische Tat selbst. Salate und Gemüse kamen frisch von den Bauern der umliegenden Höfe, die Kräuter bezog Bashir ausschließlich von ausgewählten Druiden und Gewürze akzeptierte er nur, wenn sie das Siegel von Braga trugen. Absoluter Höhepunkt jedoch war der lebendfrische Fisch, der hier in unnachahmlich schmackhafter Weise vom Hausherrn persönlich zubereitet wurde.
    Cassia hatte die Adresse von einem Vengarder Geschäftspartner bekommen, dem sie einmal einige erlesene Stücke beschafft hatte. Sie verließ ihr Hauptquartier in Khorinis nur höchst ungern, und noch weniger schätzte sie Seereisen. Doch die Aussicht auf ein außerordentlich verlockendes Geschäft, möglicherweise das Geschäft ihres Lebens, hatte sie in diesem Dezember nach Montera geführt. Der Kunde war heikel, er verlangte nach einem persönlichen Gespräch mit der Geschäftsführerin des kleinen, aber weit über die Grenzen der Insel Khorinis hinaus bekannten Unternehmens, das Cassia leitete.
    „Du wirst über Weihnachten nicht in Khorinis sein?“, hatte Attila mit hochgezogenen Augenbrauen gefragt, als sie ihm von dem Geschäft erzählt hatte, das ihnen möglicherweise eine goldene Zukunft bescheren konnte - wenn sie es geschickt angingen.
    Cassia hatte einen Moment verwirrt innegehalten. Weihnachten? Seit wie vielen Jahren hatte sie Weihnachten nicht mehr gefeiert? Sie konnte sich nicht erinnern. Als kleines Mädchen hatte sie es geliebt, mit ihrer Schwester Jenna und ihrer Mutter unter dem festlich geschmückten Baum zu sitzen. Zu später Stunde hatte es dann immer an der Tür geklopft, und ein Ehrfurcht gebietender Mann war eingetreten, ein Mann mit einem gewaltigen weißen Bart und mit einer roten Feuerrobe bekleidet, die, wie Cassia schon damals aufgefallen war, schon bessere Zeiten gesehen hatte und unangenehm nach einem auf einem staubigen Speicher verbrachten Sommer roch. Außerdem hatte die Stimme des Mannes eine verblüffende Ähnlichkeit mit der ihres Onkels Ezechiel gehabt… Doch irgendwann war plötzlich alles anders geworden, Jenna war fort und auch Ezechiel kam nicht mehr zu Besuch. Die Heiligen Abende allein mit ihrer Mutter waren Cassia nicht in besonders guter Erinnerung. Sie…
    „Das kannst du doch nicht machen“, unterbrach Attila ihre Gedanken. „Sollte man Weihnachten nicht mit den Menschen verbringen, die man liebt?“
    Cassia hatte nur ein Schnauben für ihn übrig.
    Als sie jedoch allein durch die lichtergeschmückten Straßen des verschneiten Montera spazierte, verspürte sie ein seltsames Ziehen in der Brust. Sie wickelte sich ihren Mantel fester um die Schultern und versuchte, nicht auf die glücklichen Gesichter hinter den Scheiben der hell erleuchteten Häuser zu achten. Sie brauchte einen klaren Kopf. Doch bevor sie zu mitternächtlicher Stunde ihrem Auftraggeber einen Besuch abstatten würde, brauchte sie vor allem etwas zu Essen. Außerdem musste sie die Unterlagen ein letztes Mal durchsehen, die sie in einer schmalen Ledertasche bei sich trug. Cassia dachte an die Empfehlung ihres Geschäftspartners und fand den „Goldenen Lurker“ nach kurzer Suche. Mittlerweile hatte es zu schneien begonnen, und Cassia war erleichtert, als sie in den engen, warmen Raum des Restaurants eintrat. Einige Tannenzweige über der Tür kündeten von dem Fest, das an diesem Abend in ganz Myrtana begangen wurde, doch das Festlichste im „Goldenen Lurker“ war das Aquarium, das in geheimnisvollen Blaugrün strahlte. Ein gewaltiger Barsch zog mit majestätischer Melancholie darin seine Bahnen.
    Bashir Ben Bakara empfing Cassia wie eine alte Freundin. Er war wirklich kein schöner Mann. Seine Beine waren kurz und krumm und wie alle Assassinen trug er einen schwarzen Schnurrbart, den er um seinen beringten Zeigefinger zwirbelte. Nachdem er Cassia den Mantel abgenommen und einen Tisch zugewiesen hatte, ging er von Gast zu Gast und nannte ihnen die Gerichte, die er heute zubereitet hatte. Als Ouvertüre empfahl er eine kalte Joghurtsuppe mit Seraphis und wildem Majoran, danach heiße, scharfe Drachenwurzeln mit Auberginencreme. Das Glanzlicht dieser Sinfonie jedoch war der frische Fisch.
    „Meine Herrschaften, schaut ihn Euch an“, rief Bashir stolz in die Runde seiner Gäste und wies mit einer eleganten Handbewegung auf den Barsch, der durch die Scheibe des Aquariums gleichgültig in den Raum blickte. „Habt Ihr jemals ein vollendeteres Geschöpf gesehen? Sein Fleisch ist so weiß und fest wie die Schenkel einer blutjungen Tänzerin, seine Gräten zart wie die Wimpern eines weinenden Mädchens. Es gelingt mir nicht oft, eine solche Perle des Ozeans für meine Gäste zu erwerben.“
    Cassia verfolgte gebannt, wie Bashir Ben Bakara den Barsch fing. Er wehrte sich mit wilden Flossenschlägen. Wasser spritzte. Einige Gäste lachten. Bashir zeigte der Runde das im Netz zappelnde Opfer und verschwand mit ihm in der Küche. Nur wenigen Augenblicke später verkündete das Geräusch eines Messers auf einem Hackklotz das Ende des Barsches. Cassia hatte in ihrem Leben den ein oder anderen Mord in Auftrag gegeben, wenn es nicht zu vermeiden war, doch wunderte sie sich einen Moment lang über die wölfische Gier, die in den Augen einiger Gäste lag.
    Nur eine Viertelstunde später erschien Bashir mit einer dampfenden Kasserolle aus der Küche. Er öffnete den Deckel und wedelte mit einer weißen Serviette den Duft in den Raum. Der Barsch war in Scheiben zerlegt worden und lag in einem leichten Dillsud. Bashir beträufelte das Fleisch mit dem Saft frischer Kaktusfeigen, bevor er es seinen Gästen servierte.
    Auch Cassia schmeckte der Fisch hervorragend. Bashir setze sich einige Zeit lang an ihren Tisch, sie lobte sein Essen und trank auf sein Wohl. Der Gast am Nebentisch gab eine Anekdote zum Besten, und Bashir erzählte von den Abenteuern des jungen Zuben. Alle waren guter Dinge.
    Als Cassia den „Goldenen Lurker“ verlassen und sich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt gemacht hatte, bemerkte sie, dass sie die Tasche mit den Dokumenten im Restaurant vergessen hatte. Sie sah auf die Uhr am Wachturm, die den Bürgern von Montera die Zeit anzeigte. Cassia hatte noch eine gute halbe Stunde, also kehrte sie um. Im „Goldenen Lurker“ brannte kein Licht mehr, aber die Tür war nicht verriegelt. Nicht, dass ein einfacher Riegel Cassia hätte aufhalten können… Sie tastete sich durch den dunklen Raum, der ohne den blauen Schein des Aquariums viel enger wirkte, fand den Tisch, an dem sie gesessen hatte und entdeckte ihre Tasche auf dem Sofa. Sie fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit wie eine Diebin, als sie durch die Dunkelheit des Restaurants schlich. Aus der Küche fiel ein schmaler Lichtstreifen auf den abgewetzten Teppich. Cassia zögerte einen Moment, klopfte dann sacht an die Tür und betrat die Küche.
    Bashir Ben Bakara saß auf einem Hocker neben dem Herd und weinte.
    „Verzeihung, ich habe meine Tasche vergessen, und die Tür…“ stammelte Cassia hilflos. Die Tränen anderer Menschen bereiteten ihr stets Unbehagen, wenn sie sie sehen musste.
    Bashir sah mit geröteten Augen zu ihr auf.
    „Schon gut.“, sagte er.
    Cassia zögerte wieder. Am liebsten hätte sie sich auf dem Absatz umgedreht und den „Goldenen Lurker“ auf dem schnellsten Weg hinter sich gelassen. Doch als sie sah, wie neue Tränen über die faltigen Wangen des Wirtes rollten und in seinem Bart verschwanden, fragte sie:
    „Kann ich etwas für Euch tun?“
    Bashir blickte sie einen Moment lang zweifelnd an, seufzte tief und stieß hervor:
    „Sie ist tot.“
    „Wer ist tot?“, fragte ich.
    „Benazir.“ Er wies mit der Hand in das Dunkel des Raumes und murmelte einige Worte. Das Aquarium begann in einem dunklen Blau zu leuchten. Nun konnte Cassia sehen, dass darin ein Barsch schwamm, den Bauch nach oben. Bashir stand auf, hob den toten Fisch behutsam aus dem Becken und streichelte ihn.
    „Seid Ihr von hier?“, fragte er Cassia.
    „Ich bin auf der Durchreise“, erwiderte sie, „geschäftlich.“
    Bashir nickte.
    „Benazir war meine Partnerin. Ich habe sie jeden Abend verkauft.“
    „Ihr habt…was?“ Cassia war verwirrt.
    „Ich habe sie jeden Abend mit dem Köcher aus dem Becken gefischt und in die Küche getragen. Sie kam dann in dieses kleine Bassin hier.“, erwiderte Bashir und zeigte auf ein Becken, das zwischen zwei Holzfässern hervorlugte. „Wenn die Gäste gegangen waren, habe ich sie wieder zurück in ihr Aquarium getragen und gefüttert. Vier Jahre haben wir zusammengearbeitet. Ich bin sicher, sie verstand jedes Wort, meine Benazir.“
    „Aber…warum habt Ihr das getan?“
    „Die Menschen verlangen nach dem Erlebnis des Schlachtens. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, es ihnen vorzuenthalten.“
    „Das heißt, mein Fisch heute Abend kam aus einem Eisblock?“
    Bashir sah schockiert Cassia an. In seinem Blick lag tiefste Kränkung.
    „Hat mein Essen etwa geschmeckt wie aufgetauter Fisch?“
    Cassia schüttelte stumm den Kopf. Der Wirt fuhr fort:
    „Aufgetauten Fisch würde ich nicht einmal einem Ork vorsetzen. Selbst der Fisch vom Markt schmeckt in Montera abscheulich, bei Beliar. Die Stadt ist viel zu weit weg vom Meer. So etwas würde ich nie servieren. Nur frische Speisen schmecken gut.“
    „Aber was, bei Adanos, habe ich dann heute gegessen?“
    Bashir zupfte verlegen an seinem Bart, dann beugte er sich zu Cassia und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Cassia erbleichte zuerst, dann röteten sich ihre Wangen.
    „Ihr wollt damit sagen, dass ich heute Abend Lurkerho…“
    „Ja.“, unterbrach Bashir sie begeistert. „Ich lasse sie täglich frisch von zwei Jägern aus Okara liefern. Sie schmecken mehr nach Fisch als Fisch.“
    „Aber Ihr könnt doch keine…keine…“ Cassia rang nach Worten. „Ihr könnt so etwas doch nicht als Fisch verkaufen. Das ist doch…“
    Bashir sah sie mitleidig an. „Der Fisch vom Markt taugt eben nichts, und meine Gäste wollen frische Ware, lebendfrisch wie meine Benazir.“ Der Wirt wandte sich wieder seiner toten Benazir zu und streichelte zärtlich die Rückenflosse des Barsches. Dann fuhr er fort: „Soll ich denn einen Lurker in meinem Restaurant halten und sagen: Bitteschön, suchen Sie sich einen Hoden aus?“
    Als sich Cassia durch das dichter werdende Schneetreiben zum vereinbarten Treffpunkt mühte, musste sie immer wieder an Bashir und Benazir denken. Der, dessen Geburt sie heute Abend feierten, sollte fünftausend Gläubige mit einem Korb Fische gespeist haben. Im „Goldenen Lurker“ waren vier Jahre lang Tausende von Menschen mit einem einzigen Fisch gesättigt worden. Cassia wickelte sich noch etwas fester ihren Mantel und setzte ihren Weg durch die lichtergeschmückten Straßen Monteras fort.

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    Post [Story]Kaufrausch

    Kaufrausch

    Es war zu keiner Zeit ein einfaches Leben auf der Insel Khorinis gewesen, nicht einmal als noch der Rauch aus den Minen im Tal hinter den Bergen aufstieg und Händler aus aller Welt mit ihren Taschen voll von Gold Station machten. Die Menschen im Hafenviertel arbeiteten bis zur Erschöpfung und fielen Abends in den Suff und wenig später in ihr Bett, bevor sie früh am nächsten Morgen bereits wieder ihre Arbeit für ein paar lumpige Kupferstücke aufnehmen mussten. Den Handwerkern in ihren Fachwerkshäusern erging es zwar besser, doch man hätte nicht sagen können, dass sie in ihrem Leben nennenswerte Pausen von der Arbeit gehabt hätten. Das wenige Geld, das sie gespart hatten floss in ihre Kinder, die es einmal besser haben sollten oder in die Anschaffung neuer Geräte. Man hätte fast meinen können, dass Beliar selbst seine Finger dabei im Spiel hatte, denn kaum war wieder etwas Gold in die Kasse gekommen, da verbogen sich die Zangen oder krachten die Eimer durch einen unglücklichen Zufall auseinander. Doch Zeit um darüber nachzudenken hatte niemand, denn dafür wurde man schließlich nicht bezahlt und das Studium der Söhne auf dem Festland nicht finanziert. Ironischerweise dachten aber noch nicht einmal jene reichen Männer, die im oberen Viertel wohnhaft waren, über irgendetwas abseits des täglichen Geschäftes nach. Die armen Leute, die neidisch auf sie blickten konnten sich sicher fragen, warum dem denn so war und die Antwort wäre wie bei ihnen selbst das tägliche Geschäft gewesen. Alle Goldstücke der Welt hielten diese Menschen nicht davon ab, ihren Reichtum mit aller Macht zu mehren, neue Geschäfte und Märkte zu finden. Schließlich war Stillstand Rückschritt. Und so arbeiteten sie alle, soviel wie sie konnten, stets auf der Suche nach etwas Mehr, um irgendwann ein Leben leben zu können, in dem sie all das haben und bekommen würden, was sie wollten. Und für einen von ihnen kam dieser Tag tatsächlich.

    Es war schon spät Abends, als Brahim noch immer über einer Karte saß und unermüdlich seine Feder über das Pergament gleiten ließ. Sie war ein Auftrag eines der reichen Händler aus dem oberen Viertel, der bald zu einer weit abgelegenen Inselgruppe aufbrechen wollte und Brahim arbeitete nunmehr bereits zwei Monate an seinem Werk. Die vielen kleinen Inseln und Sandbänke, die er aus seinem Muster abzeichnen musste trieben ihn beinahe zur Weißglut, umso mehr, wenn er daran dachte, für welchen Hungerlohn er dies tat. Wütend tunkte er seine Feder zum zehntausendsten Mal in sein Tintenfässchen und setzte auf der Karte zum Zeichnen an. Er schob die Feder nach oben und stockte dabei. "Jetzt ist die Tinte auch noch leer.", beschwerte er sich wütend und stützte sich kurzerhand mit der Hand im Gesicht auf dem Tisch ab, bevor er sich ruckartig wieder von seinem Platz erhob und sich das Fässchen vom Tisch griff. Er ging einige Schritte, bis er an einem kleinen Schränkchen angekommen war. Dort kniete er sich nieder und öffnete die Türen. Mit seinen Händen tastete er in den einzelnen Fächern herum. "Immer wenn man was braucht findet man es nicht.", grummelte er entnervt, als er plötzlich ein Klopfen vernahm. Augenblicklich hielt er in seiner Suche inne und schaute auf den Eingang seiner schäbigen Baracke, doch erkannte nur ein paar Füße vor der Schwelle. "Ich habe zu tun, kommen Sie in ein paar Tagen wieder, dann kann ich vielleicht wieder Aufträge annehmen.", blaffte er den vermeintlichen Kunden an und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf sein kleines Schränkchen. "Ich bin aber nicht hergekommen, um etwas in Auftrag zu geben, ich möchte Ihnen vielmehr ein Geschenk machen." Ein zweites Mal stoppte Brahim seine Suche, doch dieses Mal stand er dabei auf. Vor ihm stand ein dunkel gekleideter Mann. Sein Schädel war rasiert bis auf das kleinste Haar. Die Hände hatten irgendwelche seltsamen Narben, die Runen oder etwas Ähnliches bildeten und seine Augen waren schwarz wie die Nacht, doch nicht wie die eines normalen Menschen, nein, sie hatten nicht einmal irgendetwas weißes darum. Brahim fing bei diesem Anblick an, etwas zu Zittern. "Ich habe nichts mit Beliar am Hut, lassen Sie mich in Ruhe, mit ihrem Geschenk." stammelte Brahim, doch der Gast trat stattdessen einfach über die Schwelle seines Hauses und setzte ein hämisches Grinsen auf. "Nicht doch der Herr, Sie wissen doch noch gar nicht was ihnen entgeht.", bagann der Fremde sein Präsent anzupreisen. "Wissen Sie, auch Beliar ist dem Menschen durchaus freundlich gestimmt an so manchem Tage.", fuhr er fort und legte den Arm um Brahims Schulter, wobei jener fast käsebleich wurde. Der Fremde ging, als er dies bemerkte wieder etwas zurück und redete einfach wieder so weiter. "Oder wie erklären Sie sich den Reichtum und Wohlstand der Assassine?", fragte er Brahim, welcher daraufhin jedoch erstmals wieder zum Wort einsetzte. "Das kann ich ihnen sagen: Indem sie andere Menschen versklaven.", brüllte er den Fremden an, welcher daraufhin lauthals zu Lachen anfing. "Da haben Sie wohl Recht", stimmte er Brahim zu. "Aber jetzt mal zu meinem Geschenk an sie.", wollte er zur Sache kommen und zog aus einer Tasche einen kleinen Lederbeutel heraus. Brahim, der sich inzwischen wieder gefangen hatte sah etwas unbeeindruckt darauf. "Hören Sie, ich mag zwar arm sein, aber ich brauche ganz sicher keine Almosen, erst Recht nicht von einem Gott, der mir bisher bestenfalls Schnupfen, Windpocken und ein paar Riesenratten ins Haus geschleppt hat.", versuchte Brahim das Angebot abzulehnen, doch der schwarz gekleidete Mann, hielt nur seine Hand zu ihm mit der Innenfläche hin, um ihn dazu zu bringen inne zu halten. Als Brahim dies tat, entfernte er die Kordel, welche das Säckchen verschloss und drehte den Geldbeutel einfach um. Ein paar Münzen sprangen heraus und Brahim wollte bereits wieder Protest einlegen, als plötzlich ein wahrer Strom an Goldmünzen aus dem Säckchen heraus auf den Boden erging. Brahim stand mit geöffneten Augen und Mund vor dem Goldhaufen. "Nettes Säckchen, oder?", kommentierte der Fremde die Szene und begann wieder zu Lachen. Brahim stand immer noch stark beeindruckt von dem Gesehenen herum. "Es gehört übrigens Ihnen. Sie dürfen sich damit alles kaufen, was sie wollen.", sprach der Fremde und Brahim erwachte urplötzlich aus seiner Schockstarre. "Alles was ich will?", fragte er ungläubig. "Alles, was Sie wollen.", bekräftigte der Fremde. Brahims Hände wurden unruhig und gierten nach jenem Objekt und Brahim war ernsthaft gewillt, ihnen zu folgen, doch sein Verstand hielt ihn noch etwas zurück. "Da ist doch ein Haken dran.", äußerte er seine Bedenken, doch der Fremde versuchte ihn wieder zu beruhigen. "Kein Haken, sie dürfen wirklich, alles kaufen, was ihr Herz begehrt.", versprach er noch einmal und der Wille Brahims war augenblicklich gebrochen. Hastig griff er nach dem Beutel und griff in den Goldhaufen zu seinen Füßen. Der Hass gegen Beliar war verflogen, Innos hatte ihm schließlich niemals etwas in die Wiege gelegt. Der Gast verkündete unterdessen seinen Abschied. Brahim bemerkte ihn dabei kaum. Als der Fremde auf der Straße angekommen war, rief er noch einmal: "Alles was sie wollen, denken Sie daran" zu Brahim, was jener zwar hörte, doch als Unwichtig ablegte. Er war viel zu beschäftigt damit, sich mit all dem Gold zu überschütten, das er nun in unendlicher Menge besaß.

    Der nächste Morgen begann und Brahim packte seine Karte unter den Arm. Sie war noch nicht fertig, aber das, was er mit ihr vorhatte, war auch nicht darauf angewiesen. Fröhlich grüßend passierte er die Wachen zum oberen Viertel und zeigte als Passierschein seine Pergamentrolle vor. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht lief er an den luxuriösen Steinbauten vorbei, hin zum Brunnen, an dem der Auftraggeber der Karte, welcher unter dem Namen Fernando bekannt war, mit einer jungen Maid redete. Brahim trat geradewegs auf sie zu. Angekommen, stieß er die Frau einfach auf den Boden. Ein Zetern und Schreien folgte, doch Brahim sah sie einfach an und beschimpfte sie als Flittchen. Die reichen Mädchen waren für ihn wahrlich nicht viel mehr, wie sie sich hübsch machten, nur um einen reichen Mann zu heiraten. "Sag mal spinnst du?", blaffte ihn dabei jedoch schon Fernando an. Doch Brahim drehte sich einfach um und schlug ihm in sein Gesicht. "Halt die Klappe, du Arsch mit Ohren", setzte Brahim seine groben Beleidigungen fort. "Deine Karte, kannst du dir übrigens sonst wo hinstecken", sprach er weiter und zerriss das Pergament vor Fernando in mehrere Stücke. Dieser stand nun sprachlos vor ihm. Einen Moment bevor er Brahim schreiend an die Gurgel ging. Ein paar Wachen sprangen herbei, um die beiden auseinander zu bringen und ergriffen Brahim an seinem linken Arm, um ihn aus dem Viertel zu bringen. "Jetzt kommst du wieder in dein Drecksloch im Hafen", sagte einer der Milizionäre verächtlich zu Brahim, doch dieser hob ihm einfach eine Hand voller Goldmünzen hin. Der Griff lockerte sich sofort und Brahim zog seinen Arm aus der Hand des Milizionärs. "Und jetzt führt mich stattdessen lieber einmal zum Statthalter, ich habe vor, Bürger zu werden." Der Soldat glotzte etwas dämlich auf Brahim, dann führte er ihn wirklich in das Rathaus hinein. "Herr Larius, es gibt einen Antrag auf Bürgerschaft", kündigte er Brahim laut an. Ein noch lauteres. "Soll hochkommen", folgte. Der Milizionär kehrte alsbald zurück und Brahim beschritt die Stufen des Rathauses zum ersten Stock. Oben angekommen bog er nach links ein und stand denn auch gleich vor Larius, welcher ihn kritisch musterte. "Wer hat dich hier eigentlich angeschleppt?", fragte er erzürnt, offenbar aufgrund der scheinbar mickrigen Gestalt und Erscheinung, die Brahim bot. "Das tut nichts zur Sache", erwiderte dieser jedoch einfach nur und zog seinen Geldbeutel. Ein kleiner Goldregen prasselte auf den Boden vor ihm und Larius stockte wie Brahim tags zuvor der Atem. Nach einer Weile verschloss Brahim wieder seinen Beutel und stellte nüchtern fest "Das ist jetzt genug." Larius schüttelte etwas seinen Kopf. Er konnte nicht glauben, was geschehen war, stimmte Brahim aber einen Moment später zu. "Ja, ich glaube das dürfte langen" und setzte zum Schreien an. "Cornelius, bring sofort ein Bürgerformular her", rief er seinen Sekretär zur Stelle, der ohne in das Zimmer zu treten einen Zettel reichte, den Larius direkt nahm und unterschrieb. "Sie müssen nur noch Ihren Namen darunter setzen", wies er Brahim an und jener nahm eine Feder in die Hand und tat genau dies.

    Als er das Rathaus wieder verließ war Brahim bester Dinge. Er war nun Bürger der Stadt und konnte tun, was er wollte und wo er wollte. Er dachte darüber nach, was er als Nächstes machen konnte und schlenderte etwas durch die Ladenzeilen des oberen Viertels. Bei einem Geschäft für feine Herrenmoden hielt er an und ging auch gleich hinein, um sich einem Bürger entsprechend mit feinem Stoff einzukleiden. Sogar einen Zylinder kaufte er sich. Diese Form der Hüte hatte ihm schon als kleines Kind imponiert. Neu eingekleidet lief er in das Handwerkerviertel und plötzlich gab es so viele Sachen, die er sich wünschte. Ein neuer Bogen, falls er denn jagen wollte war keine schlechte Idee. Etwas leckeres Obst und frischen Käse von Matteo konnte man sich immer leisten. Einen netten Schrank für sein Haus konnte er auch gut gebrauchen. Dabei musste er sich schließlich nur an die letzte Nacht erinnern. Zum Transport konnte er sich eine Ochsenkarre samt Ochsen kaufen. Wie ein Berserker konsumierte Brahim und brach danach auf zum Markt, um sich mit importierten Köstlichkeiten den Bauch voll zu schlagen. Purer Genuss belebte seine Zunge, allein ein Handkäse der Bauern aus Trelis wusste nicht ganz zu überzeugen. Doch Brahim ließ sich davon die Lane nicht verderben. Im Hotel mietete er stattdessen alle Betten für die nächsten zwei Wochen und ging zum Abend hin zu Abuyin, um sich dort den Tag mit Honigtabak zu versüßen. Todmüde fiel er gegen Mitternacht in sein Bett.

    Die folgenden Tage und Wochen vergingen wie im Flug. Brahim kaufte sich das Haus Fernandos im oberen Viertel und einige Sklaven eines Assasinen, der in der Stadt Halt gemacht hatte, um es sauber zu halten und ihn zu bekochen. Die Böden zierte nach einer umgehenden Renovierung schon bald reiner Marmor, der jedoch kaum zur Geltung kam unter den großen Schattenläufer- und Trollfellen. Auf den Regalen türmten sich funkelnde Diamanten, zusammen mit irgendwelchen Artefakten. Die Wände waren behangen mit Gemälden irgendwelcher Künstler, die ihm irgendwie ein bisschen gefallen hatten. Das Haus sah so aus, dass man, hatte man es erst gesehen, das Rathaus als schäbiges Loch hätte bezeichnen müssen. Doch mit dem Reichtum, wurde auch das Interesse der anderen Bürger Khorinis' geweckt. Freunde scharten sich um ihn wie Fliegen um einen besonders großen Kuhfladen, doch Brahim machte die falsche Art jener Leute nicht wütend, schließlich hatte er ja genug Geld und sie waren damit so dauerhaft, wie wahre Freundschaften. Vor seiner Pforte begannen sich die Händler der Stadt zu postieren und ihn mit ihren Produkten, dann immer öfter mit Lieferverträgen diese einzurennen. Brahim hatte es sich angewöhnt, täglich große Bankette auszurichten, mit Speis, Trank und Spiel, was ihm selbst gefiel. Zu Gast lud er die angesehenen Bürger und platzierte neben ihnen einige stinkende Penner aus dem Hafenviertel, zu seinem eigenen Vergnügen. Da er aber auf diesen Festen auch oft die großen Verträge unterschrieb, konnte es sich keiner von ihnen leisten, fern zu bleiben.

    Es waren 40 Tage vergangen, seit der Vertreter Beliars ihm das Geschenk seines Lebens gemacht hatte und wie immer war es ein Festtag für Brahim. Er hatte in der kurzen Zeit etwas an Gewicht zugelegt und zu den alteingesessenen Händlern aufgeschlossen. Zu seiner Rechten saßen an jenem Abend der Statthalter Larius, zu seiner Linken ein Geschäftsmann von weit weg, der aufgrund seiner mysteriösen Art gern gesehen war in der gehobenen Gesellschaft. Es gab wieder reichlich zum leiblichen Wohlbefinden und Brahim unterschrieb erneut Verträge, teilweise auch schon für das nächste Fest. Er sah kaum noch auf die Papiere, überflog sie nur rasch und manchmal aus Gewohnheit nicht einmal dies. "Sagen Sie mal, was machen Sie denn so?", fragte Brahim den mysteriösen Händler plötzlich. Der Händler wartete noch etwas, antwortete schließlich aber doch. "Ich handle mit Waren aus der ganzen Welt. Es lässt sich ordentlich Geld damit verdienen. Die Menschen reizt das Neue", sprach er. Brahim hörte halb interessiert zu, während er an einem Spanferkel aß. "Da müssen Sie doch sicher viel herumkommen, erzählen Sie doch mal", bemerkte Brahim. "Da haben Sie recht, ich halte mich aber meistens nur auf den südlichen Inseln, Varant und Myrtana auf. Nordmar mit seinen Orks und Ogern an jeder Ecke ist was für die Abenteurer. Produkte von dort kaufe ich meist wieder von anderen Händlern", erklärte der mysteriöse Mann. Brahim nickte zustimmend. "Das wäre mir wohl auch zu gefährlich, aber sagen Sie mal, wie läuft denn das Geschäft hier in Khorinis?" stellte er ihm eine weitere Frage und die Augen des Fremden blitzten dabei auf. "Es läuft ganz passabel, aber ein Produkt werde ich einfach nicht los", begann er sein Leid zu beklagen. "Was ist es denn?", fragte Brahim interessiert, worauf sein Gegenüber ihm erklärte, dass es sich um Handkäse aus Trelis handelte. "Bei so was ist das ja auch kein Wunder, das Zeug schmeckt scheußlich", bemerkte Brahim abfällig und der Fremde senkte sein Haupt. Es war ersichtlich, das er sich offenbar ein gutes Geschäft vorgestellt hatte. "Aber nicht traurig sein, ich kann es Ihnen ja abkaufen, man ist ja nicht so", spielte Brahim plötzlich den großen Massa und das Strahlen kehrte zurück in das Gesicht des Fremden und ganz zufällig hatte er auch gleich einen Vertrag bei sich, der den Verkauf abwickelte. Brahim rief einen seiner Sklaven her, um ihm Schreibzeug zu bringen und nickte seinem Gegenüber erheitert zu. Hinterher trank er noch einen Schluck Wein, als auch schon der Sklave wieder erschien. Eilig winkte Brahim ihn wieder fort und schrieb seinen Namen an das Ende des Schriebs. Doch plötzlich geschah etwas, was er nicht erwartet hätte. Der Fremde neben ihm, verwandelte sich in einem schwarzen Blitz zu dem Mann in schwarz, der ihn in jener schicksalhaften Nacht besucht hatte. Laute Schreie hallten durch den großen Saal und neben Brahim sackte Larius einfach ohnmächtig zusammen. "Was willst du von mir?", rief Brahim erschrocken dem Mann zu, doch dieser ließ nur wieder sein lautes Lachen ertönen. "Hab ich dir nicht gesagt, dass du davon kaufen darfst, was du willst?", fragte er Brahim und hob grinsend den unterschriebenen Handkäsevertrag hoch. Und plötzlich wurde Brahim bewusst, was die Worte bedeutet hatten. Der Haken an dem Geschäft, war die Belohnung selbst. Ruckartig erhob er sich von seinem Stuhl, Schweiß perlte ihm dabei von der Stirn. Er wollte wegrennen, doch noch bevor er auch noch einen Schritt getan hatte, packte ihn der Fremde am Hals. Brahim gab dabei einen fiepsigen Mädchenschrei ab und Urin floss ihm in seine Hose. "Ich nehme dich jetzt mit", hauchte der Fremde Brahim noch ins Ohr. Dann bildete sich vollkomene Dunkelheit unter ihnen, ein schwarzes Loch, das unendlich tief schien. Einen Moment später waren beide, der Fremde und Brahim, verschwunden.


    Dies ist die überlieferte Geschichte des Brahim wie sie noch heute auf der Insel Khorinis erzählt wird. Sie ist eine "Urban Legend".
    Geändert von Oblomow (09.08.2014 um 15:50 Uhr)

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    Reisschnapsgeschichte

    Seit Sonnenaufgang hatten die Kanonen gebrüllt. Sie hatten Feuer und Tod gespieen. Die Schlacht hing wie ein Gewitter über dem Meer. Dann endlich kam die Nacht. Die Gegner, die sich wie zwei tollwütige Schattenläufer ineinander verbissen hatten, erwachten aus ihrem Blutrausch, tödlich verwundet und am Ende ihrer Kraft. Die Orks hatten vierzehn ihrer Schiffe verloren, die übrigen waren schwimmende Wracks. Sie trieben wie sterbende Seeungeheuer auf dem Myrtanischen Meer, die zerfetzten Segel bewegten sich leise im Wind. Die Leiber der Toten bedeckten die Planken, zerrissen von Geschossen, erschlagen von Masten und verbrannt von magischen Feuer. Das Stöhnen der sterbenden Orks vermischte sich mit dem Klagen der Lebenden, die Schreie der Verwundeten wurden vom Wind davongetragen.
    Die Flotte Rhobars hatte alle Linienschiffe verloren. Ihr Admiral, ein Großneffe des Königs, lag schwer verwundet unter Deck des Flaggschiffes und rang mit dem Tod. Sein Adjutant und vier der fünf Stabsoffiziere lagen auf dem Grund des Meeres.
    Als der Morgen grau und trostlos heraufdämmerte, trauten die Myrtaner ihren Augen nicht. Die orkische Flotte war im Schutz der Dunkelheit davongesegelt und hatte nichts zurückgelassen außer einigen Stücken Treibgut, die müde auf den Wellen tanzten: Holztrümmer, eine zerbrochene Standarte, Fetzen von Segeltuch und Lederharnischen, Gliedmaßen.
    Acht myrtanische Schiffe hatten die Schlacht überstanden; der altgediente Kapitän Merrill wurde zum Befehlshaber der Flotte gewählt. Er verteilte die Überlebenden der ersenkten Boote auf die noch manövrierfähigen Schiffe, wobei er die Esmeralda zum Hospitalschiff ernannte. Merrill verfügte, dass alle Schwerverletzten dorthin gebracht würden, damit sie die Fürsorge erhielten, die ihr heldenhafter Einsatz verdient hatte. In Wahrheit jedoch wusste er, dass die Verstümmelten und die Sterbenden die Moral der Mannschaft untergraben würden, wenn es zu einer weiteren Auseinandersetzung mit den Orks kommen sollte. Die Esmeralda segelte eine halbe Meile hinter dem Flottenverband.
    „Der Sarg“, wie man die Esmeralda nannte, war eine schwimmende Hölle. Die Verwundeten lagen unter Deck, dicht nebeneinander auf dem Holzboden. Die meisten von ihnen hatten Arme, Beine, Hände oder Füße verloren; es gab Einäugige und Erblindete. Die mit Bolzen oder Pfeilspitzen in den Eingeweiden starben als Erste. Sie schrieen und rasten so, dass man sie knebeln und fesseln musste. Andere weinten wie kleine Kinder. Es gab keinen Heiler an Bord der Esmeralda. Die Fürsorge, die man den Verletzten zukommen ließ, bestand darin, dass man ihnen feuchte Tücher auf die Stirn legte, um das Fieber zu lindern. Man las ihnen aus den Hymnen Innos’ vor und fütterte sie mit eingeweichtem Zwieback. Diejenigen, die sich nicht mehr zu bewegen vermochten, wurden wie Säuglinge trockengelegt. Der Gestank nach Urin, geronnenem Blut und Schweiß war atemberaubend. Es wimmelte von Fliegen und Maden. Man verband die Wunden mit zerrissenen Mehlsäcken und Wäschestücken. Die Wunden wurden brandig, Maden nisteten sich darin ein, Blutvergiftung und Wundfieber rafften die Männer dahin. Einige erhängten sich oder gingen nachts über Bord.
    Baruch war von einem schamanischen Zauber gegen den Großmast seines Schiffes geschleudert worden. Man hatte ihn bewusstlos auf die Esmeralda gebracht, sein Gesicht war angeschwollen und blutverkrustet. Im Oberkiefer fehlten ihm alle Zähne, aber er erholte sich unverhofft schnell. Als Leichtverwundeter war er dazu verdammt, die Sterbenden zu pflegen. Er teilte sich seine Arbeit mit Hank, dem ein Bolzen die Nase und das rechte Ohr abgerissen hatte. Das andere Ohr hatte ihm die gewaltige Krush eines Orkkriegers vom Kopf getrennt.
    Hank und Baruch waren nach kurzer Zeit aufeinander eingespielt wie ein Paar Pflugochsen. Hank, der kleinere der beiden, fasste die Verstorbenen bei den Füßen, Baruch umarmte sie von hinten. Sie trugen die noch warmen Körper an Deck und schwenkten sie einige Male von rechts nach links, bevor sie sie losließen. Das alles geschah ohne Worte, so wie man eben Dinge tut, die getan werden müssen.
    Die beiden Männer redeten nur selten miteinander. Wenn der Gestank und das Stöhnen unerträglich wurden, sagte Baruch zu Hank: „Du hast es gut. Du hast keine Ohren und keine Nase.“ Und Hank, der ihn nicht verstand, weil die Wunden, wo seine Ohren gewesen waren, entzündet und geschwollen waren, nickte mit dem Kopf.
    In der zweiten Woche nach der großen Schlacht lag Baruch auf dem erhöhten Achterdeck der Esmeralda und döste. Trotz der Kälte schlief er lieber unter dem freien Sternenhimmel als im Bauch des schwimmenden Sarges. Wie er so lag, zu den Sternen sah und von einer Schankmaid im Hafen von Kap Dun träumte, hörte er in der Dunkelheit gleichmäßige Ruderschläge. Eine kleine Barkasse näherte sich der Esmeralda. Baruch sah, wie ein paar Männer ein großes Fass an Bord des Hospitalschiffes zogen. Sie rollten es über das Deck, öffneten eine Luke im Bug und ließen das Fass vorsichtig hinab. Dann verschwanden sie so lautlos, wie sie gekommen waren.
    Am nächsten Tag wusste Baruch nicht, ob der nächtliche Spuk Wirklichkeit oder nur ein Traum gewesen war. Er vermutete Letzteres, denn wer auf der Esmeralda war, verlor über kurz oder lang den Verstand. Er suchte nach der Luke und fand sie, und als der sie anhob, sah er das Fass.
    In der kommenden Nacht schlich er dorthin zurück und stieg hinab zu seinem seltsamen Fund. Es war ein Reisschnapsfass, verspundet und versiegelt. Baruch klopfte dagegen. Es war voll. Er holte einen kleinen Bohrer und schraubte ein fingergroßes Loch in den Deckel. Als er den Bohrer herauszog und daran roch, setzte sein Herz für einen Augenblick aus. Es war Reisschnaps, feinster, hochprozentiger Reisschnaps! Bei Innos! Er zog einen Halm Stroh aus seiner Matratze, steckte ihn durch das Loch und saugte sich voll wie eine Blutfliege, wie ein trockener Schwamm, wie ein verdurstender in Varant. Zwischendurch lachte er irr, sprach mit sich selbst und saugte, saugte, saugte…
    Als er erwachte, hielt er das Fass in den Armen wie eine dicke Geliebte. Trotz der stechenden Kopfschmerzen war er bester Laune, denn jetzt war ihm vor dem Rest der Reise nicht mehr bang. Mit einem Fass voll bestem Reisschnaps würde er sogar nach Irdorath segeln.
    Baruch kam jetzt jede Nacht und schlief bei seinem Fass im Ankerkettenkasten. Es waren schöne Nächte. Nur eines fehlte, denn beim Trinken war es für Baruch wie in der Liebe und beim Spiel: Allein machte es keinen Spaß. So erzählte er Hank von seiner wunderbaren Entdeckung, doch der konnte ihn nicht verstehen, bis Baruch ein Glas Schnaps abzapfte und es dem anderen gab. Hank schluckte den Reisschnaps wie Wasser, stutze und blickte Baruch mit Augen an, als sei ihm Adanos erschienen. Die Tränen liefen ihm über das faltige Gesicht. Dann fiel er Baruch um den Hals.
    In dieser Nacht lagen sie zu zweit bei ihrem Fass, tranken und sangen, lachten und schwatzten. Baruch verstand nichts von dem, was Hank erzählte, weil dieser durch den Verlust der Nase entsetzlich nuschelte, und Hank verstand nichts von dem, was Baruch erzählte, weil seine Ohrlöcher immer noch Wund und geschwollen waren. Trotzdem waren es die schönsten Nächte ihres Lebens. Es gab nur einen Umstand, der das Glück der beiden Männer trübte. Was würde geschehen, wenn die, die das Fass hier versteckt hatten, zurückkämen? Dann würde es Tote geben. Baruch und Hank würden um ihr Fass kämpfen. Wer waren diese Schurken überhaupt? Vielleicht hatten sie das Fass von den Orks erbeutet? Die Esmeralda war ein guter Ort, denn kein Gesunder würde freiwillig einen Fuß auf den schwimmenden Sarg setzen.
    Der Pegel im Fass fiel mit jeder Nacht, so dass sie bald mit ihren Strohhalmen nicht mehr an den Reisschnaps herankamen. Sie setzten tiefere Bohrungen an und verschlossen die alten Löcher mit Pech. Der Reisschnaps schmolz dahin wie Schnee in der Sonne, und schließlich verließen Hank und Baruch den Ankerkettenkasten nur noch, um sich zu übergeben.
    Die Esmeralda und die Tage segelten dahin und das Sterben nahm kein Ende. Täglich ging ein Toter über Bord. Die meisten der Verwundeten waren bereits von ihren Qualen erlöst worden, auf den Rest warteten die Fische. Ihre Wunden eiterten und faulten und das Fieber verbrannte ihre ausgemergelten Leiber. Der Gestank wurde schlimmer, so als hätten sich die Planken des Schiffes mit Fäulnis und Verwesung vollgesogen. Der Hauch des Todes hing überall, ekelhaft und übelriechend, in Haaren und Kleidern. Schließlich sogar im Reisschnaps. Er schmeckte nicht mehr. In ihm war der Tod. Der widerliche Geschmack verschwand erst, wenn man bereits einen Viertelliter im Bauch hatte. Dann läuteten alle Glocken von Myrtana und die Luft war erfüllt vom Duft blühender Wiesen. Das Leben siegte über alle Gräber.
    Als der Rest der myrtanischen Flotte den Hafen von Vengard erreichte, lebten auf der Esmeralda noch sieben Seelen. Baruch war vom Fieber so geschwächt, dass er den Tod seines Freundes nicht mehr bei Bewusstsein erlebte. Hank war bereits vor Ardea zu Adanos gegangen. Die Nacht zuvor hatten sie noch bei ihrem Fass gelegen und gesungen.
    Am Tag der Landung – die letzten überlebenden Verwundeten hatte man ins Hospital der Barmherzigen Schwestern Innos’ gebracht – wurde ein Ruderboot an der Esmeralda festgemacht. Sechs Männer kamen an Bord und holten das Fass. Sie verluden es auf ein Pferdefuhrwerk mit dem königlichen Wappen Rhobars.
    Das Fass wurde noch in derselben Nacht bei Fackelschein geöffnet. Mit Entsetzen stellte man fest, dass es nur noch zur Hälfte mit Reisschnaps gefüllt war. Der junge Admiral, den man auf diese Weise zu konservieren versucht hatte, um ihn in der königlichen Gruft mit allen Ehren zu bestatten, war in völlige Verwesung übergegangen.
    Baruch aber starb am anderen Tag in einem Bett der Barmherzigen Schwestern. Innos sei seiner Seele gnädig.
    Geändert von El Toro (03.08.2010 um 17:08 Uhr)

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    „Ah, bei den Mächten Adanos', es hat geklappt! Du bist erschienen, mächtiger Geist, und musst Dich nun MEINEM Willen beugen!“
    „Gruß Dir, oh Sterblicher! Da Du mich gerufen hast, werde ich Dir dienen, wie es in meiner Macht steht, und Dir drei Wünsche erfüllen.“
    „Gut, gut, so höre de...“ „Und Du sollst wissen, dass ich Dir gut dienen werde, oh Sterblicher, ohne Murren und Klagen, getreu Dich beim Worte nehmen und tun, was Du befielst, ausführen, was Du mir aufträgst, gewähren, worum Du mich bittest, erfüllen, was Du Dir wünschst, in kleinen wie in großen Dingen, denn bei meinem Namen hast Du mich gerufen, Deiner Macht mich unterworfen, Kraft Deiner Magie mich gebunden, gefesselt im Banne des...“ „Schweig!“ „Dein Wunsch sei mir Befehl!“ „Gut, gut, so höre denn meinen ersten Wun... He, was soll denn das?...Nun? Antworte gefälligst, wenn ich Dich etwas Frage!“ „Dein Wunsch sei mir Befehl, Oh Herr und Meister; ich knacke mit den Fingern. Aber davon brauchst Du Dich nicht stören lassen: Ich höre gleichwohl jeden Befehl, den Du mir geben magst. Also los, bringen wir es hinter uns! Ich höre auch auf, mit dem Knacken. Siehst Du? Ich bin schon ganz Ohr!“ „Gut, gut, Dschinn, so höre denn...Herrje, sieh mich gefälligst an, wenn ich mit Dir rede!“ „Dein Wunsch sei mir Befehl!“ „Na also, geht doch. Du solltest mir besser Respekt entgegenbringen. Also gut, so höre denn meinen ersten Wunsch! Ich wünsche mir...“
    „Tut mir Leid, daraus wird nichts. Ich mach mich jetzt lieber vom Acker.“ „WAS? Wie kannst Du...!“ „Na komm, jetzt blas Dich mal nicht so auf! Offen gestanden: Ihr Magier ward auch mal etwas pfiffiger. Aber eine schicke, blaue Robe macht eben noch keinen Dschinnemeister aus. Vielleicht übst Du noch ein Bisschen!“ „Unverschämte Kreatur! Ich habe Dich gerufen und Du wirst mir gehorchen! Mir stehen DREI...!“ „Ach, papperlapapp! Ich habe geschwiegen, als Du mir zu schweigen gebotest, geantwortet, als Du mir zu sprechen gebotest, und Dir mein Antlitz zugewendet, als Du mir Dich anzusehen befahlst. Drei Wünsche habe ich Dir erfüllt und bin somit frei. Also denn, machs gut, Sterblicher. Tschöhööö!“
    Geändert von Sir Ewek Emelot (25.11.2011 um 23:15 Uhr)

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    Geändert von El Toro (26.01.2021 um 10:08 Uhr) Grund: Großdruck für meine mitsehbehinderten Mitmenschen - war vielleicht doch ein bisschen zu groß!

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    Neuling Avatar von Professor Erlinger
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    Professor Erlingers gesammelte Stille

    Es war bereits früher Nachmittag, und ein schmaler Streifen goldenes Licht fiel in die düstere Halle, als sich die Tür öffnete und die Familie eintrat. Ein Mann und eine Frau mit ihrem Sohn. Sie waren die ersten Besucher heute, und nach der Erfahrung des Professors würden sie wahrscheinlich die Einzigen bleiben. In seinem Museum war nie viel los. Er würde also Zeit haben, sie herumzuführen. Viel Zeit.
    Die Frau stand noch mit einem Fuß auf den steinernen Stufen vor dem Eingang, unschlüssig, ob sie eintreten sollte. Über den Kopf des Jungen hinweg warf sie ihrem Mann einen zweifelnden Blick zu. Der Vater hatte die Hände am Kragen seines Wollmantels und schien noch nicht entschieden zu haben, ob er ihn ablegen sollte oder nicht. Professor Erlinger hatte das schon hundertfach erlebt. Hatten die Besucher sein Museum erst einmal betreten, blickten sie in die Dunkelheit der Eingangshalle und fragten sich stets, ob sie hier überhaupt richtig waren. Die Wände der Vorhalle waren aus groben Steinblöcken, manche moosbewachsen, und kaum ein Sonnenstrahl fiel durch die trüben kleinen Oberlichter. Nur der kleine Junge schien sich hier wohlzufühlen. Er schlüpfte aus seinem Mantel und hängte ihn an einem der Haken auf, die Professor Erlinger für seine kleinen Besucher etwas tiefer an der Wand angebracht hatte.
    Bevor sie sich wieder davonmachen konnten, räusperte sich Professor Erlinger vernehmlich. Waren sich die Besucher erst einmal bewusst, dass sie bemerkt worden waren, traute sich in der Regel niemand mehr, wieder hinauszugehen. Professor Erlinger wusste: Wenn Besorgnis und gesellschaftliche Umgangsformen im Widerstreit lagen, trugen Letztere üblicherweise den Sieg davon.
    Professor Erlinger faltete die Hände und schenkte ihnen ein Lächeln, von dem er hoffte, dass es beruhigend wirkte. Er war hager und außergewöhnlich hochgewachsen, und seine Schläfen waren bleich und eingefallen. Er hatte mit seinen achtzig Jahren immer noch die eigenen Zähne, die klein und grau waren und den unangenehmen Eindruck erweckten, zurechtgefeilt worden zu sein, so dass Professor Erlinger mit seinem Lächeln stets das genaue Gegenteil erreichte.
    Der Vater wich einen Schritt zurück, und die Frau streckte unwillkürlich die Hand nach ihrem Sohn aus.
    "Willkommen in meinem Museum! Bitte kommen Sie doch herein!"
    "Oh - hallo", sagte der Vater. "Wir wollten nicht stören..."
    "Sie stören überhaupt nicht. Wir haben geöffnet!"
    "Achso. Gut." Das klang nicht gerade begeistert. "Wir sollten jetzt lieber..." Der Mann verstummte - entweder hatte er vergessen, was er hatte sagen wollen, wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte oder ihn hatte - und Professor Erlinger wettete auf diese dritte Möglichkeit - schlicht der Mut verlassen.
    Die Frau sprang in die Bresche. "Uns wurde gesagt, dass es hier unten eine Ausstellung geben soll. So etwas wie ein Stadtmuseum."
    Professor Erlinger lächelte erneut, und das rechte Augenlid des Vaters begann hilflos zu zucken.
    "Aha. Da haben Sie wohl etwas missverstanden. Das Stadtmuseum von Khorinis befindet im alten Statthalterpalast. Hier unten ist ein Stillemuseum."
    "Hä?", fragte der Vater.
    Die Mutter runzelte die Stirn. "Ich glaube, ich verstehe nicht..."
    "Komm schon, Mama", sagte der Junge und befreite sich aus ihrem Griff. "Ich möchte mir das hier angucken. Ich will was sehen!"
    "Bitte", sagte Professor Erlinger, trat einen Schritt zurück und wies mit einer dürren, langfingrigen Hand auf den kurzen Gang, der von der Eingangshalle ins Dunkel führte. "Ich werde sie herumführen."

    In dem mahagonigetäfelten Salon, den sie betraten, war es so dunkel wie in einem Theater, kurz bevor sich der Vorhang öffnete. Einzig die Vitrinen wurden von verborgenen Lichtquellen beleuchtet. Auf Tischen und Sockeln standen blank polierte Becher aus Glas, die so hell schimmerten, dass die sie umgebende Finsternis noch schwärzer wirkte. An jedem dieser Becher war eine Art Hörrohr angebracht, das nur darauf zu warten schien, dass man es in die Hand nahm und hineinlauschte. Der Junge ging voraus, gefolgt von seinen Eltern. Professor Erlinger bildete den Schluss der kleinen Gruppe. Vor dem ersten Gefäß auf einem Marmorsockel blieben sie stehen.
    "Da ist ja gar nichts drin", sagte der Junge. Sein Blick schweifte durch den Raum und über die anderen verschlossenen Gefäße. "In keinem einzigen! Die sind ja alle leer."
    "Ha", sagte sein Vater trocken.
    "Nein, nicht ganz leer", erwiderte Professor Erlinger. "Jedes dieser Gläser ist luftdicht versiegelt, denn in jedem...", er machte eine Pause, um die Enthüllung umso eindrucksvoller erscheinen zu lassen, "...befindet sich die Totenstille eines Menschen. Hier, in den Eingeweiden von Khorinis, befindet sich die größte Sammlung von Stille auf der ganzen Welt. In einigen dieser Behälter ist das letzte Schweigen von äußerst berühmten Leuten eingefangen."
    Jetzt fing die Frau an zu lachen; sie lachte laut und wirklich und tat nicht nur so. Dann schlug sie sich die Hand vor den Mund, konnte sich aber nicht ganz beherrschen. Professor Erlinger lächelte nachsichtig. Seine Sammlung war den Touristen, die Khorinis besuchten, schon seit Jahren zugänglich, und er hatte bereits jede nur denkbare Reaktion erlebt.
    Der Junge hingegen hatte sich mit ernstem Gesicht dem Glasgefäß direkt vor ihnen zugewandt. Er nahm den Ohrbügel aus der Vorrichtung in die Hand und betrachtete ihn.
    "Setz ihn auf, wenn du möchtest", sagte Professor Erlinger. "Dann kannst du die Stille hören, die Lutero von Khorinis mit seinem letzten Atemzug ausgehaucht hat."
    "War Lutero ein berühmter Mann?", wollte der Junge wissen.
    Professor Erlinger wiegte seinen Kopf. "Eine Zeit lang schon, zumindest hier in Khorinis. Vor zweiundvierzig Jahren starb er hier am Galgen, nachdem er einige Zeit in meiner Klinik verbracht hatte. Ich habe seine Todesurkunde selbst ausgestellt. In meinem Museum hat er einen Ehrenplatz, denn seine letzte Stille war die erste, die ich eingefangen habe."
    Inzwischen hatte die Frau ihre Beherrschung wiedergefunden, doch sie sah aus, als könnte sie den nächsten Ausbruch nur mit Anstrengung zurückhalten.
    "Was hat Lutero denn getan?", fragte der Junge.
    "Er hat Kinder erwürgt", sagte Professor Erlinger. "Er hat sie im Keller seines prächtigen Hauses aufbewahrt, und hin und wieder hat er sie heraufgeholt, um sie zu betrachten." Er lächelte nachdenklich und fuhr fort: "Es gibt eben nichts, was Menschen nicht sammeln, wie ich immer sage." Professor Erlinger ging in die Hocke und betrachtete gemeinsam mit dem Jungen das Glas.
    "Nur zu, du darfst es dir ruhig anhören."
    Der Junge nahm den Ohrbügel und setzte ihn auf. Sein Blick ruhte aus dem lichterfüllten Gefäß. Eine Weile lauschte er aufmerksam, ohne zu blinzeln, dann runzelte er die Stirn.
    "Ich kann gar nichts hören." Der Junge hob die Hände, um den Ohrbügel wieder abzunehmen, doch Professor Erlinger hielt ihn zurück.
    "Warte! Es gibt die unterschiedlichsten Arten von Stille. Die Stille in einer Muschelschale. Die Stille in einem Wald, wenn ein Raubvogel über den Wipfeln kreist. Luteros letzte Stille ist noch da drin. Vielleicht müssen sich deine Ohren erst daran gewöhnen, aber dann wirst du sie hören, seine ganz eigene letzte Stille."
    Der Junge senkte den Kopf und schloss die Augen. Die Erwachsenen beobachteten ihn schweigend. Auf einmal riss er die Augen auf und sein Gesicht leuchtete vor Begeisterung auf.
    "Hast du es gehört?", fragte Professor Erlinger.
    Der Junge nahm den Ohrbügel ab und nickte heftig. "Es war wie..." Er hielt inne und atmete kurz und lautlos ein.
    Professor Erlinger nickte befriedigt und richtete sich auf. Die Mutter zog den Jungen zu sich heran und schaute dem Professor mit festem Blick ins Gesicht: "Und Sie sind also...Arzt?"
    "Im Ruhestand."
    "Und Sie finden das nicht ziemlich...weit hergeholt? Selbst wenn es Ihnen gelungen ist, das letzte bisschen Luft, das ein Sterbender ausatmet, einzufangen. Das kann man doch nicht hören. Man kann Geräusche doch nicht in Flaschen abfüllen!"
    "Nein", stimmte er ihr zu. "Nicht das Geräusch. Nur eine ganz bestimmte Stille. Wir tragen alle unsere eigene Stille in uns. Meine Liebe, schweigt Ihr Mann nicht auf die eine Weise, wenn er glücklich mit Ihnen ist? Und auf eine andere, wenn er ärgerlich auf Sie ist?"
    Die Frau kniff die Augen zusammen und wollte etwas Unfreundliches erwidern, aber ihr Mann kam ihr zuvor und erlaubt es so dem Professor, sich von ihr abzuwenden.
    "Wie fangen Sie so eine letzte Stille denn ein?" Der Mann war zu einem Glasgefäß hinübergeschlendert, das auf einem niedrigen Tischchen neben einem Sofa aus dunklem Samt stand.
    "Oh, eine interessante Frage!" Professor Erlinger wies auf eine schwarze Ledertasche auf dem Boden vor dem dunklen Sofa. "In meiner Tasche führe ich eine Art kleine Pumpe mit mir, die den Atem einer Person in ein Gefäß saugt. Ich habe sie immer bei mir, für alle Fälle. Ich habe das Gerät selbst entwickelt, obwohl es vergleichbare Apparaturen bereits vor fast hundert Jahren gab."
    "Hier steht 'Barthos von Laran'", sagte der Vater und wies auf eine elfenbeinerne Karte, die vor dem beleuchteten Glas auf dem Tisch stand.
    "Ja", antwortete Professor Erlinger und hüstelte verlegen. "Letzte Stillen werden gesammelt, seit die technischen Möglichkeiten es erlauben. Ich muss zugeben, dass ich dafür zwölftausend Gold bezahlt habe. Barthos' letzte Stille wurde mir von dem Urenkel des Arztes angeboten, der ihn hat sterben sehen."
    Die Frau fing wieder an zu lachen.
    Der Vater betastete den Ohrbügel, der mit Barthos' Gefäß verbunden war.
    "Manchmal ist so eine Stille voller Gefühle", sagte Professor Erlinger. "Man kann förmlich spüren, dass sie etwas zum Ausdruck bringen möchte. Viele, die Barthos' letzter Stille lauschen, erahnen nach einer Weile ein letztes Wort, das nie ausgesprochen wurde. Der Ausdruck einer Sehnsucht. Hören Sie selbst! Vielleicht geht es Ihnen ja ähnlich.“
    Der Vater beugte sich vor und setzte den Ohrbügel auf.
    „Das ist doch lächerlich“, sagte die Frau.
    Der Mann lauschte aufmerksam, und sein Sohn schmiegte sich dabei an ihn.
    „Darf ich auch mal?“
    „Pst“, sagte der Vater.
    Alle schwiegen, mit Ausnahme der Frau, die etwas Unverständliches vor sich hin flüsterte.
    „Reisschnaps“, hauchte der Vater, fast ohne die Lippen zu bewegen.
    „Drehen Sie die Karte um, auf der sein Name steht“, sagte Professor Erlinger.
    Der Mann drehte die elfenbeinerne Karte um. Auf der einen Seite stand „Barthos von Laran“, auf der anderen „Reisschnaps“. Mit ernster Miene setzte der den Ohrbügel ab und senkte den Blick voller Ehrfurcht auf das Glas.
    „Natürlich, der Alkohol. Wissen Sie…in der Schule habe ich seine Gedichte auswendig gelernt. „Die Gabe der Götter“ habe ich vor der versammelten Schulgemeinde vorgetragen, fehlerlos.“
    „Jetzt hör aber auf!“, schnappte die Frau. „Das ist doch nur irgendein billiger Taschenspielertrick.“
    „Es war, als wäre mir selbst der Gedanke gekommen…Reisschnaps…wie eine Stimme im Kopf…so voller Enttäuschung.“ entgegnete der Vater.
    Die Frau stieß ein missbilligendes Schnauben aus.
    Der Junge setzte den Ohrbügel auf, um dem stummen Wort Barthos von Larans zu lauschen.
    „Sind das alles berühmte Leute?“, fragte der Mann. Er war blass geworden, doch auf seinen Wangen hatten sich rote Flecken abgezeichnet, als hätte er Fieber.
    „Keineswegs“, antwortete Professor Erlinger. „Ich habe die letzte Stille von Händlern und Novizen, von Jägern und Milizen. Die unterschiedlichsten Leute, die meisten von ihnen völlig gewöhnlich. Das interessanteste Schweigen meiner Sammlung stammt sogar von einer Fischhändlerin.“
    „Marlan“, las die Frau von einer Karte ab, die vor einem hohen, staubigen Glasgefäß lag. „Ist das auch eine von ihren gewöhnlichen Menschen? Eine Hausfrau und Mutter wie ich vielleicht?“
    „Nein“, sagte Professor Erlinger nachdenklich. „Eine Hausfrau und Mutter habe ich noch gar nicht in meiner Sammlung. Seltsam.“ Er schwieg einen Augenblick und fuhr fort: „Marlan war eine aufstrebende und höchst talentierte Magierin des Feuers. Es gab…einen Unfall, ja. Hat viele Menschen das Leben gekostet. Marlan hat überlebt, zumindest vorübergehend. Sie hat sich durch Feuer und Trümmer gekämpft, und dabei Verbrennungen an ihrem ganzen Leib davongetragen. In meiner Klinik hat sie noch eine Woche durchgehalten. Ich habe zu der Zeit unterrichtet und sie meinen Schülern vorgeführt. Eine Kuriosität! Damals hat man nur selten jemanden zu Gesicht bekommen, der mit solchen Verbrennungen noch lebt. Es war unglaublich…ihre Gliedmaßen…sie waren miteinander verschmolzen zu einem einzigen…nun, Sie können es sich vorstellen. Glücklicherweise hatte ich meine Tasche bei mir; sie starb nämlich, als wir sie gerade untersuchten.“ Professor Erlinger lächelte bei der Erinnerung.
    „So etwas Abscheuliches habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört“, rief die Frau. „Ich glaube Ihnen kein Wort. Alles in diesem Museum ist doch erlogen; ein Versuch, den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen!“
    „Aber Liebling…“, sagte der Mann lahm.
    „Es ist Ihnen vielleicht nicht entgangen, dass die Ausstellung kostenlos ist“, sagte Professor Erlinger sanft.
    „Schaut mal!“ Der Junge stand am anderen Ende des Raums und las den Namen von einer Karte ab. „Das ist der Mann, der die Barriere über dem Minental zerstört und den Krieg gegen die Orks gewonnen hat!“
    Professor Erlinger wandte sich bereitwillig zu ihm um und wollte ihm mehr zu diesem besonderen Ausstellungsstück erzählen, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung sah.
    „Versuchen Sie es lieber zuerst mit einem anderen“, sagte er zu der Frau, die sich gerade den Ohrbügel an Marlans Glas aufsetzen wollte. „Manchen Leuten missfällt, was sie in dem Gefäß von Marlan hören…oder nicht hören können.“
    Sie beachtete ihn nicht, sondern nahm das Hörrohr und lauschte mit zusammengekniffenen Lippen. Professor Erlinger faltete ergeben die Hände und beobachtete ihren Gesichtsausdruck.
    Dann machte sie unvermittelt einen Satz zurück. Dem Professor blieb beinahe das Herz stehen, denn die Frau hatte immer noch den Ohrbügel auf und ihre plötzliche Bewegung ließ das Glas über den Tisch schrammen. Im letzten Moment bekam Professor Erlinger das Gefäß zu fassen. Die Frau riss sich unbeholfen den Ohrbügel vom Kopf. Ihre Augen flackerten, während sie das Glas von Marlan betrachtete, ohne es wirklich zu sehen. Sie schluckte vernehmlich und hielt sich eine zitternde Hand an den Hals.
    „Mir gefällt es hier nicht“, flüsterte sie.
    „Liebling?“ fragte ihr Mann. Er eilte zu ihr herüber. „Du möchtest doch nicht schon gehen? Wir sind doch gerade erst gekommen.“
    „Das ist mir egal“, erwiderte sie. „Ich will hier weg.“
    „Ach Mama!“, maulte der Junge.
    „Ich hoffe, Sie tragen sich noch in unser Gästebuch ein“, sagte der Professor und fasste die Frau sanft am Ellenbogen, um sie zur Gardarobe zu begleiten.
    Der Mann fragte: „Könntest du nicht für einen Moment oben warten? Wir würden uns gerne noch ein wenig umsehen.“
    „Ich möchte, dass wir sofort gehen. Und zwar alle“, sagte sie mit tonloser Stimme.
    Der Vater warf Professor Erlinger einen bedauernden Blick zu und half seiner Frau in den Mantel. Der Junge schob missmutig die Hände in die Hosentaschen und trat nach der schwarzen Arzttasche vor dem Sofa. Dann begriff er, wonach er da eben getreten hatte, kniete sich hin und untersuchte ohne die geringste Spur von Scheu oder Anstand den Verschluss, um sich die Pumpe anzusehen, von der Professor Erlinger gesprochen hatte.
    Die Frau zog ihre Ziegenlederhandschuhe an und glättete sie, bis sie straff saßen. Plötzlich drehte sie sich auf ihren Absätzen um und sah dem Professor ins Gesicht.
    „Sie sind widerlich. Ein Leichenfledderer.“
    Professor Erlinger faltete die Hände und betrachtete sie mitfühlend. Er zeigte seine Sammlung schon seit Jahren und wurde nicht zum ersten Mal der Leichenfledderei bezichtigt.
    „Ach Liebling, nun sei doch nicht so…“sagte ihr Mann.
    „Ich gehe jetzt nach oben“, sagte sie und senkte den Kopf. „Beeilt euch!“
    „Warte“, versuchte es der Mann ein weiteres Mal.
    Er hatte seinen Mantel noch nicht angezogen, und auch der Junge kniete noch vor der offenen Tasche am Boden. Er strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über ein Gerät, aus dem schwarze Schläuche wuchsen. An einem Ende war eine metallene Gesichtsmaske angebracht.
    Die Frau hatte sich mittlerweile abgewandt und war hinausgegangen. Sie ließ die Tür hinter sich offen stehen und eilte die steile Granittreppe zum Gehweg hinauf und hastete, ohne aufzublicken, über die Straße.
    Professor Erlinger wollte gerade das Gästebuch holen – vielleicht würde der Mann ja noch hineinschreiben -, da hörte er das Kreischen von metallbeschlagenen Rädern auf dem Straßenpflaster. Dann einen dumpfen Schlag.
    Der Mann schrie auf, und Professor Erlinger sah ihn auf die Treppe zustürzen. Von oben rief eine Stimme: „Sie hat nicht einmal geschaut! Ist einfach auf die Straße gelaufen! Was hätte ich denn machen sollen?“
    Der Mann schien den Gehweg bereits erreicht zu haben, denn Professor Erlinger hörte, wie er schrie: „Professor! Bitte! Kommen Sie doch! Sie braucht Hilfe!“
    Professor Erlinger hielt inne, um sich seinen Mantel vom Haken zu nehmen. Es war ein windiger Tag, und er wollte sich keine Erkältung zuziehen. Man wurde schließlich nicht achtzig, wenn man leichtsinnig war. Als er an dem Jungen vorbeilief, der mit bleichem Gesicht am Boden kniete und die Treppe hinaufstarrte, zog ihn dieser leicht am Hosenbein.
    Professor Erlinger sah zu ihm hinunter. Der Junge hielt ihm die offene Tasche hin.
    „Ihre Tasche. Vielleicht…brauchen Sie etwas daraus.“
    Professor Erlinger lächelte sanft und nahm die Tasche aus den kalten Fingern des Jungen entgegen.
    „Besten Dank. Das ist gut möglich.“
    Geändert von Professor Erlinger (12.12.2012 um 07:50 Uhr)

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    Die Lüge

    Die Lüge


    Es war ein goldener Sonntagnachmittag im Herbst. Valentino lag nackt und erschöpft auf dem Bett, auf das die schräg einfallende Sonne ein wildes Lichtmuster zeichnete. Sagitta, ebenso nackt wie er, hatte sich aufgesetzt, um zwei Stängel Sumpfkraut aus der Nachttischschublade zu nehmen. Sie entzündete beide, legte sich wieder Valentino und reichte ihm einen der Stängel. Ihr rotes Haar floss über das Kissen wie ein feuriger Wasserfall. Valentino sog den weichen Sumpfkrautrauch ein, ließ ihn einen Moment lang seine entspannende Wirkung in seiner Lunge tun und stieß ihn wieder aus. „Sumpfkraut ist der vollendete Genuss“, sinnierte er. „Es befriedigt, ohne zu sättigen.“
    Sagitta schenkte ihm das rätselhafte Lächeln, das sie so anziehend machte. Valentino überlegte, ob er gleich die nächste Runde einläuten sollte, aber sie sagte:
    „Wahre Liebe braucht keine Erfüllung.“
    „Was meinst du damit?“
    Im schwindenden Licht des Nachmittags erzählte Sagitta ihm folgende Geschichte:
    „Als man sie zu mir brachte, war sie bewusstlos. Ihr Körper war hoffnungslos zerstört. Sie hatte sich von der Trollklippe gestürzt. Zwei Fischer hatten sie gefunden und zu mir gebracht, so schnell sie konnten, aber ich war sicher, dass sie die Nacht nicht überleben würde. Wie eine zerbrochene Marionette lag sie auf der Bahre. Ich versorgte die äußerlichen Verletzungen, so gutes ging, und gab ihr Tränke gegen die Schmerzen. Dann setzte ich mich zu ihr und betrachtete sie. Wie durch ein Wunder war ihr Kopf beinahe unversehrt geblieben. Sie war wunderschön, ihr Gesicht blass und ebenmäßig. Die Fischer hatten von ihrem Boot aus beobachtet, wie sie an der Klippe stand und auf dem äußerten Grat balancierte. Es war kein Unfall. Ihren Namen kannten weder die Fischer noch ich. Sie hatte keine Handtasche bei sich, keine Papiere, nur einen Brief ohne Umschlag und Adresse. Sie trug ihn unter ihren Kleidern, direkt an ihrer Haut. Als ich ihn fand, dachte ich, es wäre ihr Abschiedsbrief, also faltete ich ihn auseinander und las. Doch es war kein Abschiedsbrief. Es war ein Liebesbrief, den sie von einem Mann erhalten hatte. Das Datum lag erst wenige Tage zurück. Der Brief konnte unmöglich der Grund für ihren Selbstmordversuch sein. Er war voller Wärme und Zärtlichkeit, schlicht und ehrlich, ein Brief, wie ihn sich wohl jede Frau erträumt.“
    Valentino zog an seinem glimmenden Sumpfkrautstängel und grinste. „Du auch?“
    Sie antwortete nicht darauf, sondern fuhr fort:
    „Gegen Mitternacht kam die unbekannte Frau zu sich. Sie versuchte, sich aufzurichten, aber ich hielt sie zurück. ‚Alles wird gut‘, log ich. Sie lächelte schwach. Ich ergriff ihre schmale Hand und drückte sie sanft. Niemand stirbt gerne allein. Sie hielt meine Hand umklammert, wie alle Sterbenden es tun, so als ob wir sie festhalten könnten. Ihre Hand war kalt, aber ihre Stirn glühte von Fieber. Dann sprach sie. Trotz des Fiebers, der Schmerzen und der Tränke waren ihre Worte erstaunlich klar. Das Sprechen fiel ihr schwer, als ich spürte, dass sie jemandem ihr Herz ausschütten wollte. Es war totenstill im Raum, aber ich musste mich zu ihr hinunterneigen, um sie zu verstehen. Sie starb, und sie erzählte mir ihre Geschichte.“
    „Eine Geschichte in einer Geschichte?“, fragte Valentino und hob eine seiner kühn geschwungenen Augenbrauen. Er fuhr mit seiner Hand über die vollendete Rundung von Sagittas Hüfte. Das goldene Licht umschmeichelte die schäumende Pracht ihres Körpers. Wenn es nach ihm ginge, könnten sie das Reden jetzt wieder einstellen und weitermachen.
    „Es ist eine Liebesgeschichte“, erwiderte Sagitta, als ob das etwas daran ändern würde, dass hier wertvolle Zeit vertan wurde. Sie lächelte wieder auf ihre verführerische Art. Ihre Hand fuhr durch Valentinos Haar, was ihn ausnahmsweise nicht in Sorge um seine Frisur versetzte, glitt über seine Brust, seinen Bauch, und noch ein Stück tiefer. Sie hatte zarte Hände, aber einen erstaunlich festen Griff. Valentino zog hörbar die Luft ein.
    „Ich will dich damit auch nicht langweilen“, hauchte sie. „Aber lass mich dir ihre Geschichte erzählen, und danach hast du drei Wünsche bei mir frei.“
    Valentino schluckte. Innos, sie hatte wirklich geschickte Hände.
    „Neo, der junge Mann, der ihr den Brief geschrieben hatte, war ein Sträfling in der Kolonie. Er arbeitete als Bote für die Feuermagier und litt sehr unter der Einsamkeit in der Barriere. An seinem neunundzwanzigsten Geburtstag erhielt er ihren ersten Brief. Die Barmherzigen Schwestern der Flamme Innos‘ betrieben ein seelsorgerisches Programm, Häftlinge suchen Brieffreundschaft, und stellten den ersten Kontakt her. Ihr Brief veränderte sein Leben.
    Rena war frei, eine Bürgerin von Khorinis aus gutem Haus, aber was besagt das schon? Sie war ebenso einsam wie er, und auch ihr Leben erhielt durch ihn einen neuen Sinn: Sie hatten sich beide seit Jahren nach Liebe gesehnt und einander gefunden. Ihre Briefe gingen hin und her. Obwohl sie durch eine undurchdringliche Barriere aus magischer Energie getrennt waren, gab es zwischen ihnen keine räumliche Entfernung. Sie waren so innig miteinander verbunden, als lebten sie in einem Raum. Sie kannte jeden Winkel des Zimmers, in dem er schlief, seine Bücher auf dem Brett über seinem Bett und die Bilder, die er zeichnete. Sie kannte seinen Blick durch das vergitterte Fenster der Burg. Er wanderte in seinen Gedanken durch ihre Wohnung, als sei er dort zuhause. An sonnigen Abenden saß er auf ihrer Terrasse, blickte hinab auf das Meer, das im goldenen Licht glitzerte und streichelte ihre Katze Semiramis, die auf seinen Schoß gesprungen war. Manchmal gingen sie früh zu Bett oder liebten sich auf dem Schattenläuferfell vor dem Kamin. Sie hatten einander noch nie gesehen, doch sie schickten Zeichnungen, und sie waren so miteinander vertraut, als sähen sie sich jeden Tag. Täglich tauschten sie Zärtlichkeiten und teilten miteinander ein nie gekanntes Glück. Ihr Leben hatte endlich einen Sinn, und sie waren glücklich.“
    „Schön für die beiden“, sagte Valentino. „Wo du gerade davon sprichst…“ – er wies mit der Hand auf das Wolfsfell, das Sagitta als Bettvorleger diente – „…wollen wir es da drauf machen?“
    „Gleich“, antwortete Sagitta. „Lass mich noch das Ende erzählen. Eines Tages verschwand die Barriere, wie du weißt. Von einem Augenblick auf den anderen löste sie sich auf und die Sträflinge strömten hinaus in die Freiheit.
    Am Abend nach dem Fall der Barriere klopfte es an der Tür eines Hauses im Oberen Viertel von Khorinis. Die alte Dame, die dort wohnte, wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und fuhr sich durchs Haar. Es war selten, dass sie Besuch bekam. Sie öffnete. Draußen stand ein junger Mann in schäbiger Kleidung. Nur Innos wusste, wie er sich an den Soldaten vorbeigestohlen haben mochte, die den Zugang zum Oberen Viertel bewachten. Der Mann blinzelte die alte Dame verwirrt an. Offenbar hatte er jemand anderen erwartet.
    „Verzeihen Sie“, brachte er verlegen hervor. „Ist Rena hier?“
    Als die alte Dame schwieg, fügte er hinzu: „Ich bin Neo… ein Brieffreund von ihr.“
    „Ich weiß“, sagte die Alte leise. Sie sah bleich aus.
    „Hat Rena Ihnen von mir erzählt? Sind Sie ihre Großmutter? Sie haben große Ähnlichkeit mit ihr.“
    „Ja“, flüsterte die alte Dame.
    „Darf ich reinkommen?“, fragte Neo höflich.
    Sie nickte und ließ ihn ein.
    Alles war so, wie er es kannte, selbst Semiramis lag auf dem Sessel und schlief. Dort war der Kamin, dort das Schattenläuferfell.
    „Ist Rena hier?“, wiederholte Neo seine Frage. „Warum sehen Sie mich so an?“
    Sie klammerte sich an die Lehne eines Stuhls und schüttelte den Kopf.
    Seine Stimme klang beunruhigt, als er fragte: „Was ist mit ihr?“
    „Rena…“, sagte die Alte kaum hörbar. „Sie ist tot.“
    „Sie kann nicht tot sein!“, rief Neo. „Sie hat mir vor ein paar Tagen erst geschrieben. Das ist unmöglich!“
    „Sie ist tot“, wiederholte die alte Dame, nun mit festerer Stimme.
    „Aber wieso? Was ist geschehen?“
    „Ein tödliches Fieber.“
    „Sie lügen“, schrie Neo. „Sie wollen mich nicht zu ihr lassen, weil ich ein Sträfling bin. Aber ich will ihr nichts antun. Ich liebe sie!“
    „Und Rena hat Sie geliebt“, erwiderte die Alte mit erstickter Stimme.
    „Bitte sagen Sie mir, wo sie ist. Bitte.“
    Die Bitte klang so flehentlich, dass es der alten Dame das Herz zuschnürte. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Tränen liefen durch ihre knotigen Finger und benetzten den Kragen ihres altmodischen Kleides. Da erkannte Neo, dass die Alte die Wahrheit sprach.
    „Verzeihen Sie“, sagte er und wandte sich ab, als ob er sich ihrer und seiner Tränen schämte. „Ich habe sie wirklich sehr geliebt.“ Er senkte den Kopf und ging, ohne die Tür hinter sich zu schließen.“
    Sagitta schwieg. Ihr Blick hatte sich verdüstert.
    Valentino setzte sich auf. Er war verwirrt. „Was hatte das denn mit der Sterbenden zu tun?“
    „Weh dem, der lügt“, erwiderte Sagitta. „Das waren ihre letzten Worte, bevor sie starb.“
    Valentino ließ sich wieder in die Kissen sinken. „Ich verstehe“, sagte er. „Die Alte hat den Jungen also doch belogen. Sie hat ihn mit einer Lüge für immer fortgeschickt, und als Rena davon erfuhr, war sie darüber so verzweifelt, dass sie sich von der Klippe gestürzt hat. Die Alte hat das Mädchen auf dem Gewissen.“
    Sagitta stieß einen Laut aus, der ein Lachen sein könnte. Oder ein Schluchzen, wer wusste das schon?
    „Es gab gar kein Mädchen. Oder doch, es gab eines, aber das war schon viele Jahre her.“
    Sie zündete sich einen weiteren Stängel Sumpfkraut an und fuhr fort: „Wie alle alleinlebenden Alten muss Rena sehr einsam gewesen sein, doch dann kam unerwartet die Liebe in ihr Leben. Neo und sie verliebten sich ineinander, und es war die glücklichste Zeit ihres Lebens. Alles war gut, solange sie getrennt waren, und ihr Glück zerbrach, als es sich erfüllte und sie einander gegenüberstanden.“
    Geändert von El Toro (26.01.2021 um 12:56 Uhr)

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