Ergebnis 1 bis 4 von 4

[Story]Am Brunnen

  1. #1 Zitieren
    Provinzheld Avatar von Rogar
    Registriert seit
    Jun 2004
    Beiträge
    246
    Mitten im Dorf Vracun gab es den Brunnen, erbaut vor vielen Jahren, häufig genutzt und wenig beachtet. Jorge bemerkte ihn erst, als er dagegenstieß. Er sah ihn sich kurz an und schenkte ihm dann keine Aufmerksamkeit mehr. Sein Blick schweifte umher und versuchte vergeblich im dichten Nebel etwas zu erkennen. Dabei war er doch schon oft hier gewesen und hatte seinen Bruder besucht, der das Wirtshaus im Dorf besaß.
    Jorge seufzte, drehte sich einmal im Kreis, in der Hoffnung irgendeinen Hinweis auf das Wirtshaus ausmachen zu können und seufzte noch einmal. Erst jetzt wurde ihm sein Durst bewusst und er wandte sich wieder dem Brunnen zu, der seltsam klar aus dem Nebel herausstach. Er beugte sich gerade über den Brunnen, als er die Anwesenheit einer anderen Person spürte. Jorge fuhr auf und drehte sich um. Er sah ins Gesicht eines älteren Mannes.
    "Sei gegrüßt, mein Junge."
    Bis sich Jorge daran erinnert hatte, dass ihn ältere Männer grundsätzlich immer "mein Junge" nannten, vergingen einige Sekunden.
    "Sei gegrüßt", sagte Jorge, "wo ist hier das Wirtshaus?"
    "Wirtshaus?" Der Alte sah plötzlich sehr verwirrt aus.
    "Das Wirtshaus ´Zur blauen Hasenzehe´, gibt es seit ungefähr 17 Jahren hier, wurde vor vier Jahren von meinem Bruder übernommen und erhielt letztes Jahr den Preis für besonders schnelle Kakerlakenbeseitigung in der Küche", erläuterte Jorge.
    "Hmm", sagte der Alte, "kenn ich nicht. Aber wenn du mich jetzt zum Brunnen lassen würdest."
    Noch bevor Jorge zur Seite trat, wusste er, dass er im nächsten Moment auf einen glitschigen Stein treten, ausrutschen und auf den harten Pflastersteinen auftreffen würde.
    Hätte der Obsthändler genau diesen Stein nicht vor zwei Tagen weggetreten, Jorge hätte Recht behalten. So musste sich sein Schuh mit dem noch glitschigeren Ast begnügen, den sich der Holzfäller erst gestern aus den Haaren gestrichen hatte, als er am Brunnen vorbeikam.
    Rogar ist offline Geändert von Joni Odin von Hassenstein (06.06.2004 um 00:11 Uhr)

  2. #2 Zitieren
    Provinzheld Avatar von Rogar
    Registriert seit
    Jun 2004
    Beiträge
    246
    Der Nebel hatte sich verzogen, als Jorge aufstand; vom alten Mann war nichts zu sehen. Jorge sah sich um und erkannte das Wirtshaus in der Ferne. Erleichtert machte er einige Schritte in Richtung des Wirtshauses, als ihn eine heisere Frauenstimme zurückrief. Jorge drehte sich um und sah eine alte Frau am Brunnen stehen.
    "Du bist es!", schrie sie, während sich ihre Augen weiteten, als blicke sie dem Tod selbst ins Gesicht.
    "Wer...wer bin ich?" Jorge war verwirrt.
    "Du bist Snor, der mystische Gott aus alten Prophezeiungen! Ich weiß es genau!"
    "Ich glaube, du irrst dich. Ich bin Jorge."
    "Ach was, du bist der mystische Gott Snor! Ich weiß es aus diesen Steinstafeln der Erleuchtung!"
    Die Frau zog zwei steinerne Tafeln aus ihrem grauen Umhang, der ihren dürren Körper umhüllte und zeigte sie Jorge.
    "Lies!", schrie die Frau und ihre Mundwinkel zitterten, als Jorge den Text der Tafeln las.
    "Und? Was hast du gelesen?", fragte sie ihn, als Jorge zuende gelesen hatte. "Hmm...da steht was von einem Gott, der eines Tages während einer großen Notlage neben einem Brunnen liegen und das Dorf Vracun erleuchten wird."
    "Und? Was hast du gerade gemacht?"
    "Ich bin auf einem Zweig ausgerutscht und auf den Boden gefallen. Klingt nicht sehr göttlich, oder?"
    "Du lagst auf dem Boden!! Du musst der mystische Gott Snor sein!"
    Jorge seufzte. "Na gut. Dann befehle ich dir mit meiner göttlichen Macht, dass du mich zum Wirtshaus gehen lässt."
    "Nein! Hast du nicht richtig gelesen? Der mystische Gott Snor wird zehn Wochen lang am Brunnen verweilen, um ihn mit seiner göttlichen Macht zu segnen und das Dorf so von allem Unheil zu befreien!"
    "Vergiss es!" Jorge drehte sich um und lief mit großen Schritten auf das Wirtshaus zu.
    "Wachen!!", schrie die Alte und innerhalb weniger Sekunden befand sich Jorge in der Gesellschaft von fünf Wachen, die mit einem Mal aus allen Richtungen herangeeilt waren.
    "Was soll das denn? Ich bin doch der mystische Gott Snor, ihr könnt mich nicht einfach festnehmen!"
    Doch die Wachen hörten nicht auf Jorge und führten ihn zurück zum Brunnen.
    Rogar ist offline

  3. #3 Zitieren
    Provinzheld Avatar von Rogar
    Registriert seit
    Jun 2004
    Beiträge
    246
    Jorge trank noch einen Schluck und stellte das Glas dann zurück auf den Tisch, der nun neben dem Brunnen stand. Er ließ seinen Blick schweifen und sah in die begeisterten Gesichter der Einwohner Vracuns, freundliche Gesichter, in denen sich aber Spuren der Trauer zeigten. Die Leute standen überall auf dem Marktplatz und starrten Jorge an. Als das Oberhaupt des Dorfes bemerkte, dass Jorge sein Mahl beendet hatte, das ihm gebracht wurde, trat er vor und sah ihn feierlich an.
    "Mögen unsere Speisen deinen göttlichen Magen gefüllt haben."
    Jorge seufzte. Bisher war es ja eigentlich ganz praktisch gewesen, von allen für einen Gott gehalten zu werden. Er hatte reichlich Wein getrunken und wurde mit den köstlichsten Speisen verwöhnt, so dass sich Jorge fragte, ob er die Notlage des Dorfes nicht schon vergrößert hatte, anstatt sie abzuwenden.
    Aber jetzt hatte er wirklich genug davon. Er wollte seinen Bruder besuchen und nicht an einem Tisch mitten auf dem Marktplatz sitzen und sich von der halben Dorfbevölkerung anstarren lassen. Seit die ersten Menschen zum Marktplatz gekommen waren, hatte er erfolglos versucht unter ihnen seinen Bruder auszumachen.
    "Wenn du einen Wunsch hast, lass es uns nur wissen, Snor. Wir werden ihn dir gern erfüllen."
    "Ich will zum Wirtshaus gehen."
    Das Dorfoberhaupt lachte nervös.
    "Ein kleiner Scherz, wie? Du selbst hast doch in den alten Prophezeiungen angekündigt, dass du hier 10 Wochen lang sitzen und den Brunnen segnen wirst."
    "Dann lass mich wenigstens meinen Bruder sehen!"
    Wieder ließ das Dorfoberhaupt sein nervöses Lachen vernehmen. Er sah sich zu den Leuten um und rief: "Ja, seht nur, unser großer Gott Snor ist nicht nur gütig uns hilfsbereit, er hat auch noch Humor! Jeder weiß doch, dass Snor keinen Bruder hat!"
    Jetzt hatte Jorge genug. Er sprang auf, stieß dabei den Stuhl um und stürmte auf das völlig verblüffte Dorfoberhaupt zu.
    Er riss ihn zu den Boden und schrie wie ein Nomade in den Weiten der Wüste, der das Fehlen eines Kamels bemerkt und seinen Sohn des Diebstahls beschuldigt, auf ihn ein.
    "Verdammt noch mal, ich bin kein Gott!!!"
    Die Leute wichen entsetzt zurück. Jorge schüttelte nun am Kopf des bedauerndswerten Dorfoberhauptes.
    Schließlich wandten sie sich wieder ihrem Alltag zu. Sie hatten begriffen, dass es sich wohl nur um einen irren Wichtigtuer handeln konnte.
    Rogar ist offline

  4. #4 Zitieren
    Provinzheld Avatar von Rogar
    Registriert seit
    Jun 2004
    Beiträge
    246
    Keuchend stützte sich Jorge auf den Rand des Brunnens. Endlich waren alle gegangen, auch das Dorfoberhaupt hatte sich röchelnd verabschiedet.
    Jorge hatte gerade wieder die Kraft gefunden, um sich auf den Weg zum Wirtshaus zu machen, als er in der Ferne Trommelschläge hörte, die sich langsam näherten. Es dauerte nicht lange, da marschierte das größte Heer, das Jorge je gesehen hatte, auf den Marktplatz und stellte sich dort in Reih und Glied auf.
    Schließlich trat einer der Männer vor und sprach Jorge an, der sich gerade umgedreht und schon einige Schritte auf das Wirtshaus zugemacht hatte.
    "Erwarten Ihre Befehle, Hauptmann."
    Jorge blinzelte verwirrt.
    "Ähm...Hauptmann...nicht ganz, glaube ich."
    "Doch, Sir. Wir erwarten Ihre Befehle, Hauptmann."
    "Nein...verdammt, ich bin kein Hauptmann!"
    Jorge sah ihn schon deutlich vor sich: den Ärger, der sich langsam voranschob, langsam aber zielsicher, Jorge direkt zugewandt.
    "Doch, Sir. Sie sind jetzt Hauptmann. Unser ehemaliger Hauptmann wurde soeben von einer Schlange gebissen, Sir. Daher sind Sie jetzt Hauptmann, Hauptmann."
    "Nein, sucht euch einen anderen Hauptmann!"
    Jorge rannte auf das Wirtshaus zu.
    Aprupt blieb er stehen.
    STAMPF.STAMPF.STAMPF.
    "NEEIIIIN!!! Ihr sollt mir nicht hinterherlaufen!!!"
    "Wir möchten Sie nur daran erinnern, dass sich unser Feind ganz in der Nähe befindet. Sie sollten den Marktplatz besser nicht verlassen."
    "Was?!?! Ich werde den Marktplatz jetzt aber verlassen!! Und niemand wird mich daran hindern!"
    Sofort war er von dreißig der Soldaten umringt.
    "Es ist nur für das Wohl des Heeres", sagte einer der Soldaten, "einer in unseren Reihen ist ein Verräter! Es ist Ihre Aufgabe, ihn zu finden, Sir. Wir sollten den Marktplatz nicht verlassen, bevor wir ihn gefunden haben, Hauptmann."
    Jorge wischte sich den Schweiß von der Stirn. Warum konnte er nicht einfach zum Wirtshaus gehen, ohne dass ihn irgendwer aufhielt?
    Rogar ist offline

Berechtigungen

  • Neue Themen erstellen: Nein
  • Themen beantworten: Nein
  • Anhänge hochladen: Nein
  • Beiträge bearbeiten: Nein
  •