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Weißaugengebirge #8
Für einen Moment war der Kommandant versucht, sein Schwert auf todbringende Weise einzusetzen, aber irgendetwas hielt ihn zurück – er konnte es nicht und er wollte es auch nicht. Was wäre dadurch gewonnen, das Leben eines alten Kameraden unter diesen Umständen zu beenden?, die klare Antwort seiner inneren Stimme lautete, nichts und sie hatte vermutlich recht. Mal abgesehen davon, das es nicht die Art des Paladins war, ohne guten Grund Jemanden ins Reich der Toten zu schicken, diesen guten Grund hatte er bei DraconiZ nicht, trotz seiner Verfehlungen. Der ehemalige General war derzeit nicht bei Sinnen, stand unter Einfluss von dunklen Mächten, gegen die sich der Kamerad scheinbar nicht wehren konnte obwohl er es versuchte, das spürte der Paladin ganz deutlich und hatte es auch mit eigenen Augen gesehen. Unter diesen Umständen wäre es nicht richtig und schon gar nicht angemessen, ein vorschnelles Urteil zu fällen, das den Tod eines Kameraden zur Folge hätte. Vielleicht war es ja genau das, was diese dunklen Mächte bewirken wollten, kam es Ulrich in den Sinn, er fand diesen Gedanken gar nicht mal so abwegig.
Der Paladin senkte sein Schwert und trat einen Schritt zurück. „Das Rad des Schicksals dreht sich in der Tat immer weiter“ bestätigte er DraconiZs Aussage, „aber es nicht alles vorbestimmt. Man kann sein Schicksal beeinflussen, zumindest bedingt, wenn man es wirklich will, und du willst es scheinbar nicht“ bemerkte Ulrich nicht ohne Grund. „Sieh dich an, du bist nichts weiter als ein Häufchen Elend, das keine Kontrolle mehr über sich hat. Schlägst wild um dich, bedrohst meine Leute, stellst dich sogar gegen mich. Demjenigen der dir Vertrauen geschenkt hat, der an dich geglaubt hat – der dich in den Kreis ehrenwerter Krieger aufgenommen hat, um dir eine neue Perspektive zu eröffnen. Das alles trittst du mit Füßen, machst alles zunichte – siehst du das nicht? - kriegst du das nicht mehr mit? - wie konnte es nur so weit kommen?“ fragte der Paladin, der seine Enttäuschung nicht verbergen konnte.
„Ich weigere mich zu glauben, das dies wirklich dein Wunsch und Wille ist, du bist besessen, das sehe ich, das spüre ich. Du musst dich dagegen wehren, mit aller Kraft die du aufbringen kannst, sonst bist du verloren, wirst nie mehr du selbst sein“ versuchte der Kommandant die innere Stimme DraconiZs anzusprechen. „Wo ist dein Glaube an Innos' geblieben?, deine Stärke und Willenskraft Gutes zu bewirken? - es steckt noch in dir, dessen bin ich mir sicher. Du musst dich daran erinnern, auf Innos' vertrauen, nur so kannst du diesen ungleichen Kampf in dir gewinnen – lass nicht zu dass das Böse in dir obsiegt“ beschwor der Paladin seinen Kameraden regelrecht. „Sprich ein Gebet wenn du kannst - triff eine Entscheidung, damit dieser Spuk hier endet – ich werde solange an deiner Seite bleiben“ schloss Ulrich ab, es gab im Moment nichts weiter zu sagen...
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Er sah den Zorn wie inneres gerechtes Feuer in den Augen seines Waffengefährten aufblitzen. So als wäre das Feuer dafür bestimmt ihn in Flammen zu setzen. Ulrich haderte mich sich, ob er beenden sollte, was schon lange beendet werden sollte. Doch irgendetwas hielt ihn zurück. DraconiZ selbst war es nicht. Der Assassine war hin und her gerissen. Der ewige Konflikt der die ganze Welt zu regieren schien hatte nun vollends von ihm Besitz ergriffen. Licht und Dunkelheit kämpfen um ihn. Es war als würde eine mächtige Hand ihn nach oben in Richtung des Lichts ziehen und gleichzeitig dämonische Tentakel ihn nach unten ziehen. Er selbst war in diesem Malstrom gefangen und drohte in Stücke zerfetzt zu werden. »Wenn es nur so einfach wäre«, antwortete er kleinlaut zu dem Paladin vor ihm und fühlte wie schwarze Tränen sein Gesicht herunterliefen. Ein infernalisches Brennen erfüllte seine Augen und die Tränen vergifteten die Haut wo sie herunterliefen. Gleichzeitig entwickelte das noch immer in seiner Hand befindliche Valien solch eine Hitze, dass er meinte bald verbrühen zu müssen. Wo nahm der Kommandant die Zuversicht her, dass es einen Ausweg gab? Er sah seine Seite das war klar. Doch Beliar würde den Assassinen nicht freigeben. Der Gott des Todes war unbarmherzig und endgültig so wie das Ende eines jeden Wesens in Morgrad. »Worauf wartest du? Töte, töte TÖTE!«, hallte die Stimme des Skelettmagiers und damit der Befehl des Totengottes in seinem Kopf.
Also was sollte er tun? Wenn er nichts tat würden sie ihn zerfetzen und diesmal gab es kein Entrinnen in Dunkelheit. Die beiden Mächte würden ihn zerreiben und es würde nichts von ihm bleiben. Sollte er den Schwur an Beliar erneuern?
Dann würde Ulrich ihn hier und jetzt niederstrecken. Er stand hier wie der Bote des Lichts mit erhobener Waffe und als Verkörperung der Gerechtigkeit vor ihm. Seine Entschlossenheit deutlich sichtbar. Ein neuerlicher Verrat an den Idealen des Ordens und Innos’ würde das Schicksal endgültig besiegeln und seine Verdammnis vollkommen machen. Es hatte ein Licht in der Dunkelheit gegeben. Eine Chance auf ein neues Leben. Die konnte und wollte er nicht ausschlagen.
Also Innos’ die Treue schwören? Dem Gott der Ordnung die Hand reichen und seinen Segen empfangen? Die Vergangenheit vollends ungeschehen machen? Wie sehr wünschte er, dass dies möglich war. Doch dann würde ihn Beliar hinabziehen. Seinen Schwur und die Schattenmimik die er tief in seinem Inneren verankert hatte, benutzen um ihn in alle Ewigkeit zu quälen. Er hatte die Entscheidung getroffen einen Pakt mit dem Tode zu schließen und der war unwiderruflich. Der Dämonensultan würde ihn bekommen. Die Frage war nur, wann genau das sein würde.
Dann begann er voller Inbrunst und Verzweiflung zu Lachen. Der Ton wirkte in der Nekropole so grotesk und unpassend, dass ihm selbst ein kalter Schauer über den Rücken lief. Fast meinte er tausende kleine Spinnen über sein Rückgrat kriechen zu fühlen. Doch er konnte sich des Impulses nicht erwehren. So verzweifelt war die Situation, dass ihm nichts blieb als Resignation und Kapitulation. Mit ihnen kam der Galgenhumor. Wenn er nichts tat würde er von Beiden vernichtet werden, schwort er Beliar die Treue würde Ulrich oder ein anderer geweihter Mann ihn richten und schwor er Innos’ die Treue so würde der Skelettmagier oder irgendein anderer der dämonischen Diener ihn in den Abgrund reißen.
»Eine Entscheidung. Mein Schicksal..«, murmelte er auf die Worte des Paladins hin. »Mein Schicksal«, wiederholte er wieder und stützte sich kniend weiter schwer auf die heilige Klinge die er so lange gesucht hatte. Doch gerettet hatte sie ihn nicht. Im Gegenteil. Sie hatte den Konflikt besiegelt und ihn in diese Situation gebracht. Sie zwang ihn zur Entscheidung. Sie vibrierte. Gemahnte ihn zum Gehorsam. Ebenso wie die Schatten begannen an seinem Körper zu zerren und ihn wieder zurück zu ziehen. Auch Ulrich bemerkte die Veränderung an der Gestalt und spannte seinen Körper. Entschlossenheit breitete sich in seinem Blick und dann in seiner Haltung aus. Es würde jetzt enden, wenn DraconiZ nicht irgendetwas tat. Er musste etwas tun. Aber was? Angst lähmte ihn als würde er ein Bad in pervertiertem Öl nehmen.
Seine Füße sanken wie Treibsand in die Schatten und begannen sich Stück für Stück aufzulösen. Ulrich erhob sein Schwert. Wenige Augenblicke bis zum Ende. Ob es schnell gehen würde? Das letzte Mal, als er gedacht hatte es würde enden, hatte er über ein Jahrzehnt in Finsternis verbracht. Hoffentlich ging es schnell. Er war des Leidens nicht mehr fähig. Konnte nicht noch einmal den endlosen Strom aus Dunkelheit ertragen. Konnte nicht noch einmal in die Verzweiflung und in die Enttäuschung seiner einstigen Waffenbrüder sehen. Hatte er nicht schon genug gebüßt? Waren mehr als Zehn Jahre nicht genug gewesen?
»Entscheide dich!«. Der Ruf drang donnernd in seine Ohren. Er sah das Schicksal flammend vor seinen Augen. Er schmeckte die Gewissheit scharf auf der Zunge. Er fühlte die Macht knisternd unter seinen Fingerkuppen. Die Bitterkeit kroch stinkend in seine Nase. Keine Zeit mehr. Er entschied sich. In dem Moment in dem er Valien brachial vor sich tiefer in den Zwischenraum zwischen zwei Steinplatten stieß und seine Augen schloss, begann die Dunkelheit von ihm abzufallen und Valien begann silbern zu leuchten. Ulrich hielt inne, als der Paladin und Klingenmeister feierlich zu sprechen begann:
»Es ist Licht in der Dunkelheit und Dunkelheit im Licht. Alles ist eins und alles ist verschieden. Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.«
Er hielt inne. Die Dualität würde ihn retten. Es waren keine Gegensätze. Harmonie statt Balance. Vereinigung.
»Es gibt keinen Frieden ohne die Leidenschaft etwas zu erschaffen
Es gibt keine Leidenschaft ohne Frieden der uns leitet
Wissen verblasst ohne den Willen zu handeln
Macht blendet ohne die Welt mit innerer Gelassenheit zu sehen
Es gibt Freiheit im Leben und Bedeutung im Tode«
Er sah die Mutter vor sich, deren Abbild er unten im Weißaugengebirge gefunden hatte. Er würde sich nicht für den Einen oder den Anderen entscheiden. So würde der Konflikt niemals enden. Er drehte sich im Rad des Schicksals. Jetzt würde er einen neuen Weg gehen. Eine dritte Alternative wählen. Auch wenn es völlig verrückt und unberechenbar war. Wer wusste schon was mit dieser Mutter war? Wer wusste was passieren würde, wenn er tat, was er vorhatte? Ohne Aussicht auf eine bessere Alternative, schwor er beiden göttlichen Brüdern die Treue und vereinte die Schwüre die ihn durch Uncle-Bin und Ardescion an Innos’ und Beliar banden:
»Hiermit schwöre ich von nun an und auf ewig, dass ich mein Handeln, meinen Willen und meinen Verstand einsetzen werde dem myrtanischen Reich und den Menschen darin in Ehre zu dienen.
Ich schwöre die Schöpfung zu verteidigen, bis die Flamme meines Lebens erlischt und zum ewigen Schatten wird.
Dies schwöre ich zum Ruhme des heiligen Lichts Innos’ und bei der Macht der Finsternis Beliars!«
Licht und Schatten wechselten sich in einer Kaskade um seinen Körper ab. Mal war er völlig in Dunkelheit verschwunden, dann war er hell erleuchtet als würde er in reinem Sonnenlicht baden. Wieder fühlte er sich hin und her gerissen zwischen den beiden Machtfeldern. So würde ein Teil nach oben und einer nach unten gezogen. Doch der Druck nahm ab. Langsam und stetig. Es war als würde das Licht nach unten tropfen und die Tentakel nach oben sprießen, bis alles eins wurde. Verschmolz zu etwas Neuem oder Altem. Die Intervalle wurden immer kleiner zwischen den Wechseln, bis seine beiden Augen und Valien silbern zu glimmen begannen. Das Licht wirkte wie reines unbeflecktes Licht, welches der Mond kurz vor der Morgenröte aussendet. Dann war der Druck fort. Das Reißen an seinem Inneren fand langsam ein Ende. Dann war da etwas, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte: Ein Moment voller Frieden. Wie das Laufen über eine wundervolle Blumenwiese. Wie das schauen eines einzigartigen Morgengrauens.
Der Assassine spannte sich, fürchtete, dass er seine Entscheidung unmittelbar bitterlich bereuen würde. Das nun der Zorn beider Götter ihn treffen würde und ihn endlose Pein erwartete. Doch auch nach mehreren Atemzügen, die sich wie Äonen anfühlten, passierte nichts. Blieb der Frieden in ihm bestehen. Stattdessen kehrte eine fast unheimliche Stille und Ruhe in ihm ein. Dann spürte er Kraft in sich hochkommen. So als hätte er ein mächtiges Gewicht getragen, was er nun unter Aufbietung seiner letzten Reserven von sich geworfen hatte. So als könnte er endlich von dem Brunnenwasser trinken, von dem er glaubte, dass es vor langer Zeit versiegt war.
Er stand auf und wog Valien in der Hand. Die heilige Klinge gehorchte ohne Widerstand. Präzise und gefühlt leicht wie eine Feder lies er sie in die Scheide am Rücken gleiten. Er tauchte seine Linke in Dunkelheit, sah zu wie sie verschwand und konnte sie mühelos wieder aus den Schatten herausziehen. Es war getan. Was auch immer das bedeuten mochte. Er hatte eine Alternative gewählt die er nicht verstand und sich damit auf ungewisses brandgefährliches Terrain begeben. Er war der Diener des Reiches und zweier Götter. Das war sein selbst gewähltes Schicksal. Zum ersten Mal hatte er wirklich aus freiem Willen gehandelt.
»Ich danke dir Ulrich«, sprach DraconiZ zu dem fassungslos vor ihm stehenden Paladin. »Du hast recht. Es musste eine Entscheidung her und ich habe gewählt. Anders wahrscheinlich als du und ich es gedacht hätten«. Seine bedächtigen Schritte hallten in der Nekropole wider. »Mein Schicksal gehört mir«, meinte er feierlich. Er lies noch einen Moment verstreichen. Einen letzten Moment der Ruhe.
»Es wird Niemand verstehen«, meinte er bitter, »Ich verstehe es selbst nicht«. Er schaute Ulrich an. »Ich werde gehen müssen. Die Adler werden mich nicht mehr hier dulden«. Es war keine Frage. Er war gefährlich solange er nicht verstand, was geschehen war. Für was er sich entschieden hatte. Nun war er frei genug selbst einzusehen, dass es so war.
Er sah die andauernden Kämpfe in einiger Entfernung. Sah wie Sunder sich durch die Skelette schlug. Ungelenkt und grobschlächtig. Aber sehr tapfer und effektiv. »Wir haben es geschafft. Sunder kann sich selbst verteidigen. Er braucht keinen Unterricht mehr. Was beizubringen war ist beigebracht«. Einen Moment zögerte er, dann blickte er Ulrich in die Augen. »Wir sehen uns wieder«. Dann verschwand DraconiZ in die Dunkelheit.
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„Man könnte fast denken, jemand will nicht, dass wir hier sind!“, kommentierte Jörg, nachdem er einem weiteren Skelett mit einem gezielten Schwerthieb den Schädel zertrümmert hatte. Die zum Parieren erhobene Waffe des Untoten war so sehr vom Rost zerfressen gewesen, dass sie einfach zersplittert war, ohne nennenswert Kraft aus dem Schlag zu nehmen.
„Er weiß, was wir vorhaben, Bruder“, antwortete Jacques, „Er hat … Angst!“
„Er…“, sinnierte Jörg, „Wer ist er überhaupt? Weißt du das zufällig auch, Wunderknabe?“
„Nein. Er … es … ist älter, als wir es uns vorstellen können. Wer oder was es ist oder war, wo es herkommt und wie es hier unten eingesperrt wurde – vielleicht gibt es noch Aufzeichnungen darüber in irgendwelchen verbotenen Büchern, die in staubigen Bibliotheken lagern. Aber, Bruder, manches Wissen sollte man nicht zu erlangen versuchen! Wissen ist Macht, und Macht korrumpiert. Unsere Aufgabe ist, zu verhindern, dass es je wieder das Licht des Tages erblickt, dass die Mauern seines Gefängnisses seiner Wut standhalten. Das ist alles an Wissen, was wir brauchen.“
„Amen“, kommentierte Jörg bissig und warf Jacques noch einen kurzen, misstrauischen Seitenblick zu. Wie er redete, wie er sich bewegte … Aber der Zeitpunkt, zu dem er den jungen Soldaten seinem Schicksal hätte überlassen können, war längst verstrichen. Der Widerstand der Untoten nahm mit jedem Meter, den sie sich ihrem Ziel näherten, weiter zu. Nur gemeinsam, Rücken and Rücken, hatten sie in diesem Kampf eine Chance. Er musste also an Jacques‘ Seite bleiben, ob er wollte oder nicht.
Jacques sah das Ziel klar vor Augen, obwohl es noch gute hundert Schritte entfernt zwischen klauenartig aufragenden Stalagmiten in der Dunkelheit verborgen lag. Ein ätherischer Lichtschimmer wies ihm den Weg, ein warmes, pulsierendes Leuchten, das ihm nicht nur zeigte, wohin er sich wenden musste, sondern ihn auch mit der Kraft und Zuversicht erfüllte, die er brauchte, um sich durch die Horden der Feinde zu kämpfen. Die Diener der Finsternis waren ihnen zahlenmäßig um ein Vielfaches überlegen, aber Innos selbst stand an ihrer Seite!
Ein Skelett schaffte es, mit seinem Speer eine Lücke in Jacques‘ Verteidigung zu finden und ihm die rostige Spitze in die Schulter zu rammen. Der Gambesson verhinderte jedoch, dass die Klinge allzu tief ins Fleisch drang, und Jacques schmetterte das Skelett ärgerlich mit seiner Hellebarde zur Seite. Seine Stelle wurde allerdings rasch von einem weiteren untoten Krieger eingenommen.
„Mist … ich glaube, es bekommt wirklich Angst!“, rief Jörg plötzlich und deutete auf einen Schatten, der sich zwischen den Tropfsteinen langsam auf sie zu bewegte. Die Kreatur überragte die anderen Skelette um mehr als das doppelte.
„Innos ist an unserer Seite, Bruder!“, verkündete Jacques, aber als das Ding in den Feuerschein ihrer Fackel trat, überkamen ihn erstmals, seit er das heilige Licht erblickt hatte, leise Zweifel.
Es war riesig – und es konnte nicht von dieser Welt sein!
Zuerst hatte Jacques geglaubt, es müsse sich um das Skelett eines Trolls oder einer vergleichbaren derartigen Kreatur handeln, aber was sich da aus der Dunkelheit schälte, hatte keine Ähnlichkeit mit irgendeinem Wesen, das ihm aus eigener Anschauung oder auch nur aus Erzählungen bekannt gewesen wäre.
Es war eindeutig untot – die bleichen Knochen waren zum Teil armdick und stellenweise von einem dunklen Pilzgeflecht überzogen. Aber wie diese Kreatur zu Lebzeiten ausgesehen haben mochte, blieb Jacques ein Rätsel.
Tatsächlich wirkte es mehr wie ein Konglomerat aus Skeletten, eine Konstrukt mit zu vielen Gliedmaßen mit zu vielen Gelenken und zu vielen Fingern, die in brutalen, dolchartigen Klauen endeten. Wie viele Arme hatte es? Sechs? Sieben? Aus der Ansammlung an Extremitäten starrte ein massiver Schädel hervor, der ebenfalls deformiert wirkte. In mindestens fünf asymmetrisch angeordneten Augenhöhlen loderte unheiliges Feuer, ein vertikaler, mit dreieckigen Reißzähnen gespickter Schlitz schien das Maul der Abscheulichkeit zu sein, die sich auf dicken, kurzen Beinen halb hüpfend, halb kriechend auf die beiden Krieger zubewegte…
Jacques bereitete sich auf den Angriff vor – keine Sekunde zu früh. Eine der Klauenhände, die am Ende eines Armes mit vier (oder fünf?) Gelenken saß, schoss auf ihn zu und es gelang ihm gerade noch, den Hieb, der ihm mühelos das Gesicht abgerissen hätte, mit seiner Hellebarde abzuwehren. Die gewaltige Kraft des Schlages ließ ihn jedoch taumeln und er hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren, wenn ihn Jörg nicht geistesgegenwärtig an der Schulter gepackt und stabilisiert hätte.
Jacques hatte keine Zeit, sich zu bedanken. Das Knochenmonster riss sein vertikales Maul auf, als wolle es seinen Gegnern eine Herausforderung entgegenbrüllen, und die befremdliche Tatsache, dass es dabei vollkommen stumm blieb, machte es nur noch um so furchteinflößender.
Dem nächsten Klauenhieb konnte Jacques ausweichen und es gelang ihm, einen eigenen Treffer zu landen. Ein oder zwei Knochen brachen unter dem kräftigen Schlag mit der Hellebarde, aber der monströse Untote schien es nicht einmal zu bemerken. Auch Jörg gelang es, mit einem gezielten Schwerthieb irgendetwas zu zerbrechen, aber auch dieser Erfolg zeigte keinerlei sichtbare Wirkung.
Das Monstrum wirbelte herum und zerschmetterte dabei eines der normalen Skelette. Es nahm keinerlei Rücksicht auf seine kleineren Verbündeten – wenn sie ihm im Weg standen, zögerte es keine Sekunde, sie mit brutalen Hieben beiseitezuwischen wie lästige Insekten. Für Jacques und Jörg war das jedoch nur ein schwacher Trost, denn auch so hatten sie alle Hände voll zu tun, auch nur am Leben zu bleiben.
Als Jacques einen weiteren Angriff abzuwehren versuchte, schlossen sich die Klauen des Monstrums um seine Hellebarde. Die Waffe wurde ihm aus der Hand gerissen und fortgeschleudert, irgendwo in der Dunkelheit prallte sie scheppernd gegen einen Stalagmiten.
Mit knapper Not gelang es Jacques, sich außerhalb der Reichweite des Monsters in Sicherheit zu bringen. Nach kurzer Überlegung zog er Miks Keule – das grobschlächtige Werkzeug schien ihm die sinnvollste Wahl zu sein im Kampf gegen die Skelette, hatte er doch bei Sunder beobachten können, wie effektiv diese Waffe mit morschen Knochen kurzen Prozess machte. Trotzdem war er im Umgang mit ihr lange nicht so geschickt wie mit seiner Hellebarde, und die deutlich geringere Reichweite war ein weiterer Nachteil, vor allem im Kampf gegen eine Kreatur, die viel größer war als man selbst.
„Verzieh dich!“, spie er einem Skelett entgegen, das auf ihn zugewankt kam, und zerschmetterte dem Untoten mit einem einzigen von oben geführten Schlag den Schädel. Das Skelett zerfiel in seine Einzelteile, wobei es auch einen aus schwarzem Holz gefertigten Rundschild fallen ließ. Obwohl der Schildbuckel von einer braunen Rostschicht überzogen war, wirkte der Schild noch robust – kurzentschlossen hob Jacques die Verteidigungswaffe auf und hielt sie vor sich. Er würde jetzt Schutz gebrauchen können …
Jacques beeilte sich, wieder an Jörgs Seite zu gelangen. Der Krieger hielt sich gut, war aber arg in die Defensive gedrängt. Das Monster schlug wieder und wieder zu, die Angriffe seiner zahlreichen Arme kamen von allen Seiten, so dass Jörg kaum etwas anderes zu tun blieb, als zu parieren und auszuweichen. Er war ein schneller, gewandter Kämpfer, aber die Chancen standen trotzdem gegen ihn – eine zu langsame Reaktion, ein falscher Schritt, und die Sichelklauen des Monsters würden ihn aufschlitzen und ausweiden wie einen Fisch.
Es gelang Jacques, einen Klauenhieb mit dem Schild abzufangen. Die Wucht des Aufpralls drängte ihn ein Stück zurück und eine Ecke des Schildes splitterte, aber er hielt ausreichend stand, um seinen Träger zu schützen – zudem hatte sich die Kralle des Monsters so weit in das Holz gebohrt, dass die Kreatur sie nicht wieder ohne weiteres daraus lösen konnte. Jacques ergriff die Gelegenheit und schlug mit seiner Keule auf die langgliedrige Hand der Kreatur. Die Knochen barsten unter dem schweren, eisenbeschlagenen Mordwerkzeug – ein kleiner Sieg, aber keiner, der das Monster ernsthaft schwächte …
„Wir … müssen etwas tun!“, keuchte Jörg, „Wir können es so nicht besiegen!“
Er hatte recht. Das Biest war zu groß, hatte zu viele Waffen und keinen offensichtlichen Schwachpunkt. Selbst wenn sie einen Treffer landeten, war der Schaden nur marginal. Sie konnten nicht darauf hoffen, das Ding kleinzukriegen – lange vorher würde es sie überwältigen.
„Aber was?“, rief Jacques zurück und hob seinen Schild (das, was davon noch übrig war) schützend über seinen Kopf.
„Dein verdammter Märtyrer!“, stieß Jörg hervor, während er sich unter einem Angriff hinwegduckte, „Keine Ahnung, was das alles bedeuten sollte, was du die ganze Zeit von dir gegeben hast, aber wenn es darum geht, irgendwelche Siegel zu schließen, oder… keine Ahnung … verdammt, tu es einfach! Ich beschäftige so lange dieses Mistvieh hier!“
„Bist du sicher …“
„JAAA! Und jetzt beweg deinen Arsch!“
Jacques nickte und rannte los. Jetzt war nicht die Zeit, zu diskutieren. Jörg hatte recht – das Siegel zu schließen, das war ihre Mission, und nichts anderes! Das war der Auftrag, für den Innos sie an diesen finsteren Ort gerufen hatte, und wenn sie ihr Leben dafür geben mussten, diesen Auftrag zu erfüllen, dann sollte es so sein!
Aus dem Augenwinkel sah Jacques, wie das Monstrum ihm nachsetzen wollte, aber Jörg sprang der Bestie todesmutig in den Weg und zwang sie mit einigen gezielten Schwerthieben, seine Aufmerksamkeit auf ihn zu richten.
Jacques rannte, sprintete. Er ließ den Schild fallen – der war ohnehin zur Hälfte zersplittert und somit nur noch eine Belastung. Seine Lunge brannte und das Blut rauschte in seinen Ohren im Rhythmus seines Herzschlags. Ein Skelett, dass sich ihm in den Weg stellen wollte, rannte er regelrecht über den Haufen, indem er seine Schulter senkte und es mit voller Wucht rammte. Den Schmerz, der ihm dabei aufgrund der Verletzung durch den Speertreffer zurvor durch den Arm schoss, blendete er vollkommen aus. Der Untote flog in hohem Bogen davon und landete irgendwo zwischen den Felsen, über die Jacques mit weiten Sprüngen hinübersetzte.
Dann endlich sah er es – das, von dem er gewusst hatte, dass es hier sein musste. Ein Lichtstrahl, der irgendwo im endlosen Nichts über ihm seinen Ursprung hatte, fiel auf die Selle, an der der Märtyrer sein Leben gegeben hatte, um das Böse einzusperren.
Ein Skelett kniete auf dem Boden. Aber es war kein Untoter – es regte sich nicht. Seine Knochen waren weiß wie Elfenbein und strahlten eine absolute Reinheit aus, sie wirkten beinahe ätherisch in dem himmlischen Licht, das Jacques den Weg wies.
Der Märtyrer war in die Reste einer schweren, antik anmutenden Plattenrüstung gekleidet, die mit filigranen Mustern verziert war. Sein Schild lag neben ihm auf dem Boden, es zeigte das mit Flammen umgebene allsehende Auge Innos‘. Die Hände des Toten ruhten auf dem Griff seines Schwertes, das er vor sich in den Boden gerammt hatte. Seine ganze Haltung strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus – als wäre er nur zum Gebet niedergekniet und müsste sich jeden Moment wieder erheben.
Jacques verlangsamte seine Schritte.
„Innos, dein Diener!“, murmelte er ehrfürchtig und näherte sich dem Märtyrer. In der Dunkelheit scharten sich die Skelette um ihn, aber sie wagten sich nicht, sich ihm zu nähern – wagten es nicht, oder konnten es nicht. Die Macht des Siegels war am Schwinden, aber sie war noch nicht gebrochen!
Das Siegel … Jacques sah es auf dem Boden. Ein endlos kompliziertes Muster aus Kreisen und Symbolen, die zu verstehen ihn wahrscheinlich Jahre oder Jahrzehnte kosten würde, war in Form eines Reliefs in die blankpolierte Bodenplatte aus weißem Marmor eingelassen. Die Linien hoben sich blutrot vom Untergrund ab. Aber sie waren nicht vollkommen … nicht mehr. Von allen Seiten näherten sich schleimige schwarze Fäden, die wie lebende Organismen auf widerliche Art pulsierten. Nacktschnecken gleich krochen sie langsam über die Konturen des Reliefs und verunreinigten das heilige Symbol, korrumpierten es, schwächten seine Kraft, indem sie zersetzen, was ihm seine Macht verlieh.
Das Blut des Märtyrers …
Jacques schloss für einen Moment die Augen, als er endgültig verstand, was von ihm verlangt wurde. Er spürte keine Furcht, keine Reue. Nur eiserne Entschlossenheit.
„Im Namen des Lichts, des Feuers und der Gerechtigkeit, Innos, dein Wille geschehe!“
Jacques entzündete eine Fackel und hielt sie in die Höhe, ein Gebet auf den Lippen. Das Feuer fauchte wie ein lebendes Wesen, es brannte hell und rein. Innos‘ Licht, um die Finsternis zu bannen. Ruhig und methodisch brannte Jacques die korrumpierenden Stränge weg, um das Siegel zu reinigen. Ihm war, als könnte er sie schreien hören, wenn das Feuer sie verzehrte.
„Jacques! Beeil dich!“ Der Ruf schien aus weiter Ferne zu kommen. Dennoch hoch Jacques den Kopf und sah, wie das Monstrum auf ihn zustürmte. Jörg taumelte ihm hinterher und hielt einen Arm an seine Seite gepresst, dunkles Blut tränkte seinen Waffenrock. Doch Jacques lächelte nur.
„Fürchte nicht, Bruder!“, rief er, „Es ist fast geschafft!“
Das Knochenmonstrum sprang auf ihn zu, doch es erreichte ihn nie, sondern prallte ab wie von einer unsichtbaren Barriere. Es schüttelte sich kurz, als wäre es verwirrt und überrascht, bevor es mit den Klauen nach Jacques schlug. Lichtblitze flammten auf, wo es ihm zu nahekam, und hielten es davon ab, ihm zu schaden. Aber mit jedem Hieb verringerte sich der Abstand unmerklich. Jacques wusste, er hatte nicht mehr viel Zeit. Aber die brauchte er auch nicht – es war fast getan, das Siegel war gesäubert. Die feinen Rillen, die er vom korrumpierenden Einfluss des Gefangenen befreit hatte, waren weiß und rein. Es fehlte nur noch ein Schritt, um das Ritual zu vollenden, das Siegel wieder zu schließen.
Jacques legte die Fackel vorsichtig ab und kniete vor dem Skelett des Märtyrers nieder. Seine Hände umfassten die Knochenhände des toten Streiters. Sie fühlten sich erstaunlich warm an, beinahe lebendig! Er wusste, was er zu tun hatte, denn er hatte es schon einmal getan …
Nein, der Paladin vor ihm hatte es getan! Aber machte das einen Unterschied? Sie waren Streiter Innos‘, Werkzeuge des Lichts. Sie waren eins!
Jacques schloss die Augen und hob das Schwert des Märtyrers an seinen eigenen Hals. Es war, als würde der Tote mit ihm gemeinsam die Waffe führen. Er spürte kaum, wie die selbst nach Jahrhunderten noch rasiermesserscharfe Erzklinge seine Haut aufschlitzte.
Erst als seine Hände von seinem eigenen heißen Blut besudelt wurden, öffnete Jacques die Augen. Er setzte das Schwert wieder mit der Spitze auf den Boden und neigte seinen Kopf. Seine Stirn berührte beinahe die des Toten, und so verharrte er, wie ins Gebet vertieft. Sein Blut tropfte auf den Griff des Schwertes, floss durch dessen Hohlkehle und berührte schließlich die schneeweise Marmorplatte, wo es, wie von eigenem Willen getrieben, in die Rillen des Sigels floss. Jacques spürte regelrecht, wie das brüchige Siegel wieder an Macht gewann, als sein Blut die Stellen, an denen die Korruption über Jahre und Jahrhunderte hinweg das Blut des alten Märtyrers zersetzt hatte, auffüllte.
Etwas brüllte. Etwas unmenschliches, ein uraltes Böses, das sich kurz vor dem Sieg, kurz vor dem endgültigen Wiedererlangen seiner Freiheit, darum betrogen sah. Es brüllte vor Wut und Frust und unendlichem Hass.
Jacques lächelte …
Dann wurde ihm schwarz vor Augen und er verlor das Bewusstsein.
Geändert von Jacques Percheval (16.09.2024 um 00:45 Uhr)
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Gerade war sie überzeugt gewesen, bereit nach der sagenumwobenen Frucht zu greifen, welche versprach zu erfüllen, was tief in ihrem Innersten verborgen lag. Der Wunsch nach mehr. Das Sehnen nach der Freiheit, die nur durch Macht erlangt werden konnte. Das Verlangen zu stehen, wo niemand vor ihr jemals stand, auf dem Gipfel der Schöpfung. Ihre Finger waren bereits gekrümmt gewesen, die schwarzen Sonnen in den Augenhöhlen des Skeletts aufgeflammt.
Ein Schrei, so fernab jeder Vorstellungskraft, durchdrang ihr Sein, spaltete den Willen in Fünf, den Willen, der sie geeint hatte. Einer Eruption gleich zerbarsten die magischen Augäpfel ihres Häschers, zerstoben in dunkle Fragmente, die mit der Finsternis verschmolzen. Langsam, als würde sich die Zeit durch ein waberndes Moor schlagen müssen, glitt der Schädel vom Hals des Untoten. Klappernd folgten die restlichen Knochen, die zusammen mit der zerbrochenen Klinge zu Boden fielen.
Heftig atmend senkte Chala ihre zur Klaue geformte Hand, presste die Augen zusammen und kämpfte gegen ein aufsteigendes Übelkeitsgefühl.
Ich war so nah…, war das Erste, was an klaren Gedanken an ihr Bewusstsein drang.
Ein Hauch von Bitterkeit füllte ihren Mund, doch ob hervorgerufen durch die in ihren Fingern zerronnene Freiheit oder die Galle, welche ihr die Kehle aufstieg, konnte sie nicht unterscheiden. Sie blickte sich suchend um, sah nichts in der sie umgebenden Finsternis, hörte nur dumpfe Geräusche von Metall auf Knochen und Stimmen, die so dumpf an ihre Ohren drangen, dass sie glaubte unter Wasser zu sein. Ihr Atem beschleunigte sich, im Einklang mit ihrem rapide schlagenden Herzen, welches sie erinnerte, dass sie nicht tot war, dass sie lebte und es eine weitere Chance geben würde.
Beim nächsten Mal…, schwor sie sich.
Ihre Hand fand das Heft ihres Schwertes. Ihre Finger schlossen sich zittrig darum, ehe sie sich aufrappelte. Wann war sie zu Boden gegangen? Wie war sie so weit von den anderen getrennt worden? Wieso hatte niemand bemerkt, wie sie immer weiter in die Enge getrieben worden war? Was war aus „den Rücken freihalten“ geworden? Wie immer musste sie feststellen, dass Worte nur hohl waren und Taten bestimmten, was ein Mensch fühlte.
Sie spuckte aus, verbannte die Galle aus ihrem Mund und mit ihr den ersten Schaum der Wut, die in ihr zu brodeln begann. Ihre Knöchel wurden weiß, während sie ihren Griff um das Schwert festigte und sich dazu zwang einen Ausweg zu suchen, statt darauf zu warten, dass man ihr die helfende Hand reichte – schon wieder.
Der Kommandant und seine Männer waren mitten in den Kampf geplatzt, den sie sich mit Draco geliefert hatten. Also musste es einen passierbaren Weg aus diesen Katakomben geben, den sie zu finden plante. Unter ihren Füßen knirschten die Knochen der Vergangenheit und für einen kurzen Augenblick fragte sie sich, ob der Kommandant es geschafft hatte Draco zur Vernunft zu bringen. Hatte sich der Assassine hingegeben, so wie sie es beinahe getan hätte?
Hatte, korrigierte sie sich selbst, denn es war nicht nur eine Möglichkeit gewesen, sondern ein festes Vorhaben.
Je weiter sie in die Richtung lief, aus der sie glaubte gekommen zu sein, desto lauter wurden die Stimmen, die mahnten achtsam zu sein und doch eine Freude enthielten, die nur dem Sieg geschuldet sein konnte.
„Euer Sieg, nicht meiner“, flüsterte die Aranisaani und entdeckte endlich, was sie zu finden gehofft hatte.
Es erforderte einige Kletterkünste, doch dank des Unterrichts bei Draco fand sie sich bald wieder in der großen Höhle, durch deren Boden sie in die Tiefe gestürzt war. Licht drang aus dem Eingang herein, denn der Tag war bereits angebrochen. Auch hier lagen vereinzelte Knochen bis hin zu ganzen Brustkörben, flankiert von Waffen alter Zeiten. Mochte es Schätze oder Reichtümer hier geben, so kümmerte es Chala nicht. Nichts anderes, als der Weg hinaus aus der Todesfalle, war ihr Begehr. Sie wusste jetzt, dass sie im Ernstfall nicht darauf zählen konnte geschützt zu werden, es gab nur sie selbst und ihre Fähigkeiten, die sie zum Überleben hatte. Und das bedeutete, dass es nur sie war, um die sie sich sorgen musste. Es war Zeit, dass sie sich darauf konzentrierte und der erste Schritt führte sie noch immer nach Stewark. Sie vermutete den Pass nahe der Silberseeburg ganz in der Nähe und auch, wenn die Erschöpfung sie peinigte, würde sie nicht ruhen, bis sie die glitzernde Oberfläche des Sees erblickte.
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Nachts, im Feldlager der Orks
Bald…
Jahrzehnte, Jahrhunderte waren vergangen.
Jahrhunderte, in denen er an den Mauern seines Gefängnisses gekratzt hatte, gekratzt und gebohrt und genagt. Es war, als versuchte er, sich mit bloßen Fingern durch eine Felswand zu graben. Die Nägel waren längst abgerissen und das rohe Fleisch von den Fingerkuppen gerieben, die Knochen darunter gesplittert. Der Schmerz war unerträglich, aber er hörte nicht auf zu graben und zu graben und zu graben.
Freiheit …
Der Gedanke an die Freiheit trieb ihn an, der Drang, sein enges Gefängnis endlich zu verlassen. Egal wie lange es brauchte, egal wie viel Schmerz und Mühsal es ihm bereitete, er würde die Freiheit wiedererlangen. Und dann würde er sich rächen! Sein Hass, eine Glut, die er über Jahrhunderte genährt hatte, würde heller auflodern als die Sonne und alles verzehren, was ihm im Weg stand. Alles. Diejenigen, die ihn einst eingekerkert hatten, waren längst vergangen – aber was immer nach ihnen gekommen war, war in seinen Augen ebenso schuldig. Er würde sich rächen, und dabei durch ein Meer aus Blut waten …
Nicht mehr lange. Nicht mehr lange! Die Wand war dünn, so dünn! Die verfluchte Magie, die ihn einsperrte, war brüchig geworden. Nicht mehr lange …
Doch …
Was war das? Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein!
Er heulte und tobte in seinem Gefängnis. So nah! Sooo naaaah! Ohnmächtig musste er mit ansehen, wie das Gewebe der Magie, an dem er gekratzt und genagt hatte, sich wieder festigte. Wie die haarfeinen Risse, die er mit unendlicher Geduld und unter Aufbietung gigantischer Willenskraft geschaffen hatte, sich wieder schlossen. Wie seine Hoffnung wie Sand zwischen seinen Fingern zerrann.
Es hatte nur eines einzigen naiven Idioten bedurft, der bereit war, sich zu opfern, um das Siegel zu erneuern. Wie groß war die Chance gewesen, dass so einer sich finden würde, gerade jetzt, so kurz vor dem Ziel?
Verflucht seist du!, brüllte er gegen die undurchdringliche Mauer seines Gefängnisses, Verflucht seist du und verflucht seien deine Nachkommen!
Er tobte und schrie, schlug um sich in unbändiger Wut, doch für nichts.
Rache, war sein einziger Gedanke, Rache, Rache, RACHE!
Ska’ri fuhr mit einem leisen Schrei aus dem Schlaf hoch. Ein sengender Schmerz bohrte sich in ihre linke Schulter. Als sie reflexartig danach griff, bekam sie ein kantiges Objekt zu fassen, das eine Hitze ausstrahlte wie glühendes Eisen. Panisch riss sie daran, merkte, wie eine Lederkordel riss, die sie um ihren Hals trug, und schleuderte das brennende Ding davon.
„Was zum …“, keuchte sie und presste die Hand auf ihre Schulter. Mit der anderen wischte sie sich die schweißnassen Haare aus dem Gesicht. Was zur Hölle war gerade passiert?
Sie sah sich um. Das kleine Marschlager lag ruhig da, hier und dort ertönte ein Schnarchen und auf den Felsklippen im Umkreis des Lagers konnte sie mit viel Mühe die Silhouetten der Wachposten gegen den nächtlichen Himmel ausmachen. Aber niemand war in ihrer Nähe, der ihr einen dämlichen Streich hätte spielen können.
Sie nahm die Hand von der Schulter und sog scharf die Luft ein, als sie die schmerzende Stelle betastete. Das fühlte sich nach einer üblen Verbrennung an! Aber wovon? Die Lederkordel, erinnerte sie sich. Sie hatte es um den Hals getragen! Die Snapperzähne waren noch da, ebenso der kleine Vogelschädel …
Das Bruchstück der Statue!
Das Götterbildnis, das sie an der Stelle gefunden hatte, an der Krul verschwunden war! Sie hatte das abgebrochene Horn der Maske aus schwarzem Gestein wie ein Amulett bei sich getragen, auch wenn sie es noch keinem Schamanen hatte zeigen können – da ihr immer noch der Ruf einer Satqua, einer Ehrlosen, anhaftete, ließ man sie nicht einmal auch nur in die Nähe eines der hochgeachteten Geisterseher.
Sie entdeckte das Bruchstück nach kurzem Suchen zwischen einigen losen Gesteinsbrocken. Vorsichtig stupste sie es mit dem Finger an. Die glatte, glasartige Oberfläche, in die filigrane Verzierungen eingeritzt waren, fühlte sich an, wie immer – so kühl, wie es angesichts der Umgebungstemperatur zu erwarten war. Die Lederschnur allerdings, an der Ska’ri das Bruchstück befestigt hatte, war schwarz und versengt – die plötzliche Hitze war also sicher keine Einbildung gewesen.
„Was, beim Schöpfer, ist passiert?“, murmelte sie zu sich selbst und hob das Bruchstück vorsichtig mit zwei Fingern auf, jederzeit bereit, es sofort wieder fallen zu lassen, falls es auch nur die geringsten Anstalten machen sollte, sich spontan selbst zu entzünden. Es war seltsam. Sie betrachtete das Bruchstück von allen Seiten, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken – dennoch hatte sie das Gefühl, es würde ihr etwas, nun, mitteilen wollen!
Oder ich fange langsam an, verrückt zu werden… Wie sollte ihr ein Stück Stein etwas mitteilen können? Auf der anderen Seite, wie konnte ein Stück Stein plötzlich glühend heiß werden?
Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Traum! Der Traum von Gefangenschaft, vom Wunsch nach Freiheit, von Hass und Rache – wann hatte sie zuletzt einen solch lebhaften Traum gehabt? So, als wäre es überhaupt kein Traum gewesen, sondern vielmehr ein kurzer Blick in eine fremde Gedankenwelt? Eine Vision, gesandt von einem Wesen, das viel älter und mächtiger war als alles, was sie kannte! Das aber trotz seiner gewaltigen Macht eingesperrt war, gefangen in einem magischen Käfig …
Aber warum ich? Warum hatte sie diese Vision empfangen? Es musste mit dem Bruchstück zusammenhängen. Irgendwie hatte es wohl als eine Art Fokus oder Empfänger gedient. Etwas war geschehen dort unten – sie hatte schemenhafte Bilder im Kopf, wie ein junger Morra-Krieger ein Ritual ausgeführt hatte, um ein erodierendes magisches Siegel wieder zu erneuern, und damit die Bemühungen des Gefangenen zunichtezumachen. Ob der Gefangene daraufhin gezielt nach Verbindungen zur Außenwelt gesucht und sie gefunden hatte? Oder war es einfach ein Nebenprodukt seiner gewaltigen Wut gewesen?
Nachdenklich drehte und wendete Ska’ri das Bruchstück zwischen ihren Fingern. Es war nach wie vor die einzige Spur zu Krul, die sie hatte. Bisher hatte ihr das nichts gebracht, aber jetzt? Hatte dieser … Gefangene vielleicht schon Kontakt zu ihrem Bruder aufgenommen? Immerhin war Krul als angehender Schamane für so etwas empfänglicher als sie! Was sollte sie jetzt tun? Sie war sich sicher, dass sie dem Ursprung der Vision nah sein musste. Irgendwo unter diesen Bergen befand sich das magische Siegel. Wenn sie also ihren Bruder finden wollte …
Ska’ri zögerte noch einen Augenblick, als der logische Teil in ihr sie dazu überreden wollte, nichts zu überstürzen, vielleicht doch noch zu versuchen, den Rat eines Schamanen einzuholen – aber eigentlich hatte sie sich längst entschieden. Die Schamanen hatten ihr in der Vergangenheit nicht geholfen und würden es sicherlich auch jetzt nicht tun. Sie war auf sich allein gestellt. Also … fast.
„Er’esh! Wach endlich auf, Fettklops!“
Ärgerlich boxte Ska’ri ihrem Stiefbruder in die beachtliche Wölbung seines Bauches. Sie hatte ihn bereits geschüttelt, gekniffen und ihm die Nase zugehalten, aber er schnarchte einfach weiter. Wie konnte jemand nur so unglaublich tief schlafen?
„Okay, du hast es so gewollt…“ Sie zog den Korken aus ihrem Wasserschlauch und schüttete etwas von dem kalten Nass in sein Gesicht. Und tatsächlich, endlich gab es eine Reaktion! Er’esh riss die Augen auf, schnaubte und wedelte unkoordiniert mit den Armen, als wollte er lästige Insekten verscheuchen. Beinahe hätte er Ska’ri dabei eine gelangt.
„W-was? Wo … was ist los?”, grunzte er.
„Psssst!“ Ska’ri drückte ihm den Finger auf die wulstigen Lippen. Er blinzelte und sah sie fragend an.
„Ska’ri?“
„Jaja, hör mir zu – wir müssen los!“
„Los?“ Verwirrung stand in Er’eshs Blick. „Wohin? Und … warum?“
Ska’ri schüttelte den Kopf. „Erklär ich dir später! Es geht um Krul. Ich glaube, ich habe eine Spur!“
„Eine … aber was ist mit den anderen? Diese neuen Orks, und …“
„Was soll mit denen sein?“, zischte Ska’ri ärgerlich, „Ich habe keine Ahnung, wer dieser Imperator-Borsch-Typ ist, wegen dem hier alle so aus dem Häuschen sind, aber was geht uns das an? Zu den Verhandlungen werden sie uns kaum einladen, oder? Also! Wir werden hier nicht gebraucht! Aber … Krul braucht uns!“
Er’esh setzte sich auf. Er zog die Stirn kraus, aber Ska’ri wusste, dass sie gewonnen hatte. Er kannte ihren Dickkopf, und er fühlte sich viel zu sehr für sie verantwortlich, um sie allein losziehen zu lassen.
„Also gut“, seufzte er schließlich, „Wo soll es denn hingehen?“
„Als erstes – unter die Erde. Und dann – wer weiß? Nicht trödeln, pack deinen Kram und dann lass uns verschwinden!“
„Vor dem Essen?“
„…“
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Unter dem Berg, beim Siegel des Märtyrers
„Hey! Junge! Wach auf!“
Die Stimme drang aus weiter Ferne zu ihm, dumpf und verwaschen, als würde er sich unter Wasser befinden. Jemand rüttelte ihn und presste irgendetwas an seinen Hals. Es fühlte sich warm und klebrig an.
„Komm schon, mach mir nicht schlapp hier! Na los! Mach die verdammten Augen auf!“
Eine klatschende Ohrfeige ließ seine Wange brennen, aber sie hatte die beabsichtigte Wirkung – Jacques schlug die Augen auf. Zumindest versuchte er es. Seine Augenlider waren schwer wie Blei und seine Sicht verschwommen. Er hustete und tastete fahrig nach dem Mann, der ihn am Kragen gepackt hielt.
„J-Jörg?“, nuschelte er.
„Ja, ja, ich bins! Jacques, bleib bei mir! Wie viele Finger siehst du?“
Jörg hielt ihm seine Hand vors Gesicht, aber Jacques konnte kaum etwas erkennen.
„… alle?“, riet er. Jörg lachte. Ein raues, gequältes, aber dennoch erleichtertes Lachen.
„Idiot! Scheiße … du hast ne Menge Blut verloren, Kumpel, aber dass du noch lebst – ein Fingerbreit tiefer, und du hättest deine Schlagader erwischt! Himmel, was hast du dir dabei gedacht?“
„Blut …“, krächzte Jacques, „Das Siegel. Mär … tyrer! Sein Blut …“
Jörg sah ihn ernst an. „Du … hättest dich umgebracht, was?“
Jacques nickte. Er versuchte, sich die Ereignisse der letzten Stunden ins Gedächtnis zu rufen, aber es wollte ihm kaum gelingen. Die Erinnerungen an das Geschehen entglitten ihm, als ob er versuchte, einen Traum festzuhalten. Da waren nur noch lose Bilder und Gefühle, verzerrt und unzusammenhängend. Nur eines wusste er noch genau: Er hätte sich geopfert.
Nein, das stimmte nicht – nicht ganz. Er hatte sich geopfert!
„Warum lebe ich noch?“, fragte er mit fast kindlicher Verwunderung. Jörgs Antwort bestand aus einem kurzen, trockenen Lachen.
„Weil ich ein bisschen was gelernt habt in meiner Zeit im Krieg, Kumpel! Zum Beispiel, wie man Wunden erstversorgt! Ich habe immer einige Kräuter dabei, die helfen, eine Blutung zu stoppen, und ein paar Bandagen. Und du, wie ich schon sagte, du hast Innos sei Dank deine Schlagader verfehlt. Sonst würdest du jetzt mit den Englein trällern. Auch wenn es mir gerade so vorkommt, als wäre es genau das, was du eigentlich vorhattest!“
„Ich habe nur …“, setzte Jacques an, aber Jörg schüttelte den Kopf.
„Halt den Mund. Hier, trink etwas, du brauchst Flüssigkeit! Versuch, zu dir zu kommen! Die Untoten scheinen zwar weg zu sein, aber wir haben trotzdem ein ganzes Stück Weg vor uns, wenn wir zurück zu den anderen wollen.“
Jacques nickte schwach und nahm gierig einige tiefe Schlucke aus der Feldflasche, die Jörg ihm an die Lippen setzte. Erst beim Trinken merkte er, wie durstig er tatsächlich war! Das klare, kalte Wasser kam ihm vor wie das Köstlichste, was er jemals zu sich genommen hatte, besser als der beste Wein oder der süßeste Honig!
Langsam kehrten seine Lebensgeister zurück. Der Schwindel ließ nach und er setzte sich auf. Er sah sich um, als würde er die Umgebung zum ersten Mal sehen – was in gewisser Weise auch stimmte.
„Wo sind wir?“, fragte er verwundert, „Wie sind wir hierhergekommen?“
„Was?“ Jörg lachte. „Junge, du bist schnurstracks hier hermarschiert, ohne nach links und nach rechts zu schauen! Ich bin dir nur hinterher, weil ich dachte, du rennst in deinen Tod… Also wenn jemand wissen sollte, wo wir sind, dann du!“
„Nein …“, murmelte Jacques. Sein Blick fiel auf das Skelett des Märtyrers. Er kniete noch immer in betender Haltung in der Mitte des blutroten Siegels, das Schwert mit der Spitze auf dem Boden abgestellt, die Knochenhände um den Griff verschränkt. „Er war es. Nicht ich.“
Jörg zog die Augenbrauen hoch, widersprach aber nicht. „Wer war er?“, fragte er stattdessen.
„Ich weiß nicht“, gab Jacques zu. Nachdenklich legte er seine Hand auf den Knauf des Schwertes, „Aber wer auch immer er war, er war ein Held! Und er beschützt diesen Ort noch immer.“
Plötzlich löste sich einer der Finger des Toten. Die kleinen Knochen fielen mit einem leisen Klicken zu Boden. Einem ersten Impuls folgenden wollte Jacques die Knochen aufheben, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Das Skelett des Märtyrers schien entgegen allen Naturgesetzen vollständig intakt zu sein, kein Knöchelchen fehlte, jedes war an der Stelle, an der es sein sollte. Und jetzt fiel plötzlich ein Finger herunter? Konnte das ein Zufall sein?
Nein! Es war ein Zeichen!
Kurzentschlossen nahm Jacques die Fingerglieder an sich. Die Knochen waren beinahe schneeweiß und fühlten sich wärmer an, als sie sein sollten, als wäre noch Leben in ihnen. Jacques atmete tief ein und senkte das Haupt in stummer Ehrerbietung.
„Ich danke dir“, murmelte er, „Und ich werde die Bürde auf mich nehmen.“
Einige Zeit später…
„Wen haben wir denn da? Wenn das mal nicht unsere beiden Küken sind!“, polterte Cenfar, als er ihnen im Tunnel entgegenkam.
„Wurde auch Zeit!“, entgegnete Jörg mit gespieltem Ärger. Sein, wenn auch schmerzverzerrtes, Lächeln strafte ihn Lügen.
„Wir haben seit Stunden alle scheiß Tunnel nach euch abgesucht!“, antwortete der Nordmann und legte sich Jörgs Arm über die Schulter, um ihn zu stützen. Jacques und Jörg hatten sich zuvor gegenseitig aufrecht gehalten – beide hatten viel Blut verloren, das Knochenmonstrum hatte Jörg die Seite aufgerissen. Die Verletzung war nicht lebensbedrohlich, aber er würde eine Weile brauchen, um wieder zu Kräften zu kommen.
„Wo sind die anderen?“, fragte Jacques, „Wie geht es ihnen?“
„Draconiz und diese Frau … wie hieß sie gleich? Karla oder so – sind verschwunden. Wir suchen noch nach ihnen, haben aber bisher keine Spur von den beiden finden können. Der Rest von uns ist okay. Höchstens ein paar Schrammen – wir hatten Glück, dass die verdammten Untoten auf einmal anfingen, von selbst in ihre Einzelteile zu zerfallen! Warum auch immer. Aber schaffen wir euch erstmal zu den anderen – wir haben ein provisorisches Lager aufgeschlagen, da können wir euch erst einmal wieder zusammenflicken und dann sehen wir weiter. Euch scheints ja ganz schön erwischt zu haben … Was bei Beliars haarigen Eiern habt ihr euch überhaupt dabei gedacht, allein in diesen scheiß Tunnel zu rennen? Bin mal gespannt, wie ihr das dem Kommandanten erklären wollt!“
Jörg grinste. „Tja, weißt du, Großer … ich glaube, unser Grünschnabel da drüben hat uns allen den Arsch gerettet.“
Cenfar warf Jacques einen misstrauischen Blick zu. „Ach ja?“, fragte er, „Was ist passiert?“
Jacques zuckte mit den Schultern und wandte den Blick ab, ein wenig beschämt ob der Anerkennung, die in Jörgs Stimme mitgeschwungen hatte.
„Ist ne lange Geschichte“, antwortete er ausweichend.
Cenfar schnaubte. „Pah, na dann leg dir am besten schonmal die Worte zurecht, Kleiner! Wenn wir das Lager erreicht haben, will ich die Geschichte nämlich hören … und ich wette, die anderen sind auch neugierig!“
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Die Sonne hing tief am Himmel, während Venom, Hailey und Colbart den steinigen Pfad hinaufstiegen. Der Weg ins Weißaugengebirge war steil und gefährlich, und jeder Schritt forderte ihre Konzentration. Venom spürte das vertraute Ziehen in den Waden, die Anspannung, die ihm verriet, dass dieser Aufstieg nichts für Schwache war. Doch körperliche Erschöpfung war nicht das Einzige, was ihm durch den Kopf ging.
Hailey ging ein paar Schritte vor ihm, wie immer mit ihrer ungestümen Art. Sie sprang beinahe leichtfüßig über lose Steine und riss lose Felsbrocken hinunter, als wäre sie in ihrem Element. Doch Venom sah die Schatten der Müdigkeit in ihren Bewegungen, die sie sonst zu verbergen wusste. Colbart, der hinter ihnen keuchte, hielt sich tapfer, obwohl seine Stirn von einem dünnen Schweißfilm glänzte. Der Dieb war nicht für körperliche Strapazen geschaffen, aber er hatte sich bislang wacker geschlagen.
„Denkst du, er könnte wirklich hier sein?“ Hailey brach die Stille, ohne sich umzudrehen. Ihre Stimme klang rau, doch Venom hörte den Zweifel, den sie seit dem Verlassen des Bluttals mit sich trug.
Venom blieb stehen, lehnte sich gegen einen Felsen und wischte sich den Staub von den Händen. Der Wind wehte kühl von den schneebedeckten Gipfeln des Gebirges herunter und trug den Duft von Fichten und kaltem Stein mit sich.
„Es ist möglich“, sagte er schließlich und ließ den Blick in die Ferne schweifen. „Aber genauso gut könnte es eine falsche Spur sein.“
Seit sie die Spuren im Wald gefunden hatten, die in Richtung des Gebirges führten, hatten sie sich fest an die Hoffnung geklammert, dass Draven hier zu finden wäre. Doch jetzt, mitten in der unbarmherzigen Wildnis, fühlte sich der Gedanke, ihn hier zu stellen, wie ein törichtes Unterfangen an. Was, wenn Draven längst woanders war? Was, wenn er sie nur in die Irre führte, sie absichtlich auf eine falsche Spur gelockt hatte?
Colbart kam keuchend zu ihnen und ließ sich mit einem dumpfen Geräusch auf einen Felsen fallen. „Ehrlich gesagt, ich wette mein letztes Stück Brot darauf, dass dieser Draven uns an der Nase herumführt“, schnaufte er, während er einen Lederbeutel aus seinem Gürtel zog und hastig an einem Wasserschlauch nippte. „Das hier riecht nach einer Falle, wenn du mich fragst.“
„Vielleicht“, murmelte Venom, unsicher, ob es wirklich eine Falle war oder ob ihre Verzweiflung sie blind machte.
Der Weg ins Gebirge war ein verzweifelter Versuch, die losen Enden zusammenzuführen, doch je weiter sie gingen, desto stärker nagte der Zweifel an ihm. Die schroffen Felsen um sie herum wirkten bedrohlich, und die Abgründe, die sich links und rechts des Pfades auftaten, erinnerten ihn daran, dass dies nicht nur eine Jagd war, sondern eine Suche am Rande des Scheiterns.
„Ich dachte, du bist der Anführer hier.“ Hailey wandte sich um, ihr mutwilliges Lächeln war verblasst. „Wenn du sagst, wir sollen umkehren, dann kehren wir um.“
Venom spürte die Last ihrer Blicke. Hailey, die ihm in all den Jahren nie direkt widersprochen hatte, vertraute auf sein Urteil. Aber er wusste, dass sie ihn nicht als jemanden ansah, der leicht aufgab. Noch weniger wollte er in ihren Augen als schwach dastehen, auch wenn er sich innerlich zerrissen fühlte. Die Jagd nach Draven hatte ihn bereits viel zu lange beschäftigt, und doch konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass dieser Kampf unausweichlich war.
„Nein, wir kehren nicht um“, sagte er fest und zwang sich, den Zweifel zu ersticken. „Wir haben den Pfad gewählt. Jetzt bringen wir es zu Ende.“
Colbart hob eine Augenbraue, während Hailey nickte und ohne weiteren Kommentar den Aufstieg fortsetzte. Venom beobachtete sie für einen Moment. Es war dieser Moment, in dem er ihre Energie und ihre Unnachgiebigkeit am meisten bewunderte. Sie war frei, lebendig, und so viel mehr als das, was sie in ihrem Leben durchgemacht hatte. Sie war alles, was er nicht sein konnte, und genau das machte sie für ihn so unerreichbar.
Der Wind heulte stärker, während sie weiterkletterten. Der Weg wurde schmaler, und bald zog der Himmel sich zu, und Wolken begannen, die schneebedeckten Spitzen des Gebirges zu verdecken.
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Der Wind heulte nun ungehindert um sie herum, je weiter sie ins Gebirge vordrangen. Die Bäume hatten sich längst in vereinzelte Sträucher und karge Felsen verwandelt, die wie steinerne Wachen über den schmalen Pfad ragten. Es gab kaum noch sicheren Halt, und jeder Schritt musste bedacht sein. Venom, Hailey und Colbart hatten seit Stunden kaum ein Wort gewechselt, der Aufstieg hatte ihnen allen Kraft abverlangt.
„Bleib dicht bei uns, Colbart“, rief Hailey zurück und sprang über einen losen Stein hinweg, der gefährlich ins Rollen geriet und über den Abgrund hinabkollerte.
„Als ob ich sonst etwas tun würde“, keuchte Colbart, der etwas zurückgefallen war und sich mit schweißnasser Stirn an einem Felsen abstützte.
Venom ging voraus, wie immer mit ruhigem, konzentriertem Blick. Sein schwarzes Kopftuch war nun das Einzige, was ihn vor dem aufziehenden Nebel schützte, der die Bergspitzen verhüllte. Sie waren bereits in beträchtlicher Höhe, und das Weißaugengebirge zeigte ihnen seine unbarmherzige Seite. Der Boden unter ihren Füßen war zunehmend instabil, und jeder Schritt musste vorsichtig gesetzt werden.
„Haltet die Augen offen“, sagte Venom, mehr zu sich selbst als zu den anderen. Etwas stimmte hier nicht. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich brüchig an, als ob die Felsen nur lose miteinander verbunden wären.
Hailey war ein Stück voraus, als sie plötzlich stehen blieb und auf den Boden vor sich deutete. „Sieh mal“, sagte sie. „Das hier sieht... eigenartig aus.“
Venom trat neben sie und betrachtete den Boden. Die Felsen schienen hier eine natürliche Spalte zu formen, doch die Schicht darüber war locker, als würde sie bei jedem Schritt nachgeben.
„Wir müssen vorsichtig sein“, warnte er. „Das sieht instabil aus.“
Colbart kam keuchend näher, blieb aber ein gutes Stück hinter ihnen, wohlweislich, dass seine Füße oft ungeschickter waren, als es in solch einem Gelände ratsam wäre.
Venom trat einen Schritt zurück, um die Lage besser einschätzen zu können, doch in diesem Moment spürte er, wie der Boden unter ihm nachgab. Ein lautes Knacken hallte durch die Stille, als der Boden unter seinem Gewicht plötzlich nachgab. Er sah Haileys Augen sich weiten, als sie sich zu ihm umdrehte, doch bevor er reagieren konnte, sackte der Felsen unter ihm weg.
„Venom!“ Haileys Stimme war voller Panik, doch ihre Schreie wurden von dem donnernden Geräusch der Felsbrocken übertönt, die mit ihm in die Tiefe stürzten.
Venom spürte, wie der Boden unter seinen Füßen verschwand. Er versuchte noch, nach einem Vorsprung zu greifen, doch der rutschige Fels entglitt seinen Fingern. Dann fiel er. Der Sturz schien unendlich, während er an Felswänden entlangschrammte, kleine Steine und Geröll prasselten auf ihn ein. Der Wind pfeifte in seinen Ohren, und alles um ihn herum drehte sich, bis er schließlich auf einem schmalen Vorsprung aufschlug und in völlige Dunkelheit gehüllt wurde.
Er öffnete die Augen, doch es war nutzlos. Sein Körper schmerzte, doch er schien sich nicht ernsthaft verletzt zu haben. Absolute Dunkelheit umgab ihn, dicht und erdrückend. Die Luft hier unten war kühl und roch nach feuchtem Stein. Venom tastete vorsichtig um sich, langsam, um keinen weiteren Felssturz auszulösen. Seine Finger berührten den Boden – rau und scharfkantig, eine Mischung aus losem Geröll und festem Gestein.
„Hailey? Colbart?“ rief er, doch seine Stimme verschluckte das Schwarz. Keine Antwort, nur sein eigener Atem und das entfernte Tropfen von Wasser, das irgendwo in der Dunkelheit hallte.
Venom blieb einen Moment regungslos, lauschte. Er konnte sie nicht hören. Vielleicht war er tiefer gefallen, als er vermutet hatte. So tief, dass ihre Stimmen nicht mehr zu ihm durchdrangen. Sie waren irgendwo weit über ihm, aber hier unten war er allein.
Er schloss die Augen und tastete vorsichtig nach seinen Waffen. Sein Bogen – den hatte er noch auf dem Rücken. Der Köcher mit den Pfeilen, der Gurt fühlte sich straff an. Aber wo war der Speer? Seine Finger wanderten über den Boden, und er ertastete schließlich den hölzernen Schaft, der etwas weiter von ihm entfernt lag. Venom zog ihn zu sich und atmete erleichtert auf.
Während er sich erhob, merkte er, dass der Raum um ihn herum größer war, als er zunächst angenommen hatte. Der enge Spalt, in den er gefallen war, schien sich zu öffnen. Hier unten war mehr Platz, mehr Raum, als er vermutet hatte. Doch in der Dunkelheit konnte er nichts sehen. Er nahm einen weiteren tiefen Atemzug und überlegte seine nächsten Schritte.
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Unterhalb des Gebirges
Er konnte hier nicht einfach sitzen bleiben. Die Felswände hatten vielleicht mehr zu bieten, und in dieser unbekannten Höhle würde er womöglich etwas finden, das ihm half. Seine Hand wanderte zu seinem Gürtel, wo ein Feuerstein und Zunder verstaut waren. Mit einer geübten Bewegung schlug er Funken, die in der Dunkelheit aufblitzten. Es dauerte ein paar Versuche, doch dann entzündete sich endlich eine kleine Flamme, die sich in seinem improvisierten Zunder verzehrte und ein winziges Stück seiner Umgebung erhellte.
Der flackernde Schein enthüllte den Raum um ihn herum. Die Felswände öffneten sich zu einer weitläufigeren Höhle, größer und tiefer, als er es erwartet hatte. Venom stand langsam auf, den Speer fest in der einen Hand, die kleine Flamme in der anderen.
Das ist mehr als nur eine Felsspalte, dachte er und ließ seinen Blick über die unebenen Wände gleiten, die in der Dunkelheit verschwanden. Der Boden unter ihm schien hier stabiler zu sein, festes Gestein, das schon seit Jahrhunderten unverändert lag.
Die Erkenntnis, dass er in einer Höhle gelandet war, stimmte ihn nicht gerade optimistischer. Diese Gegend war gefährlich, und die Höhlen des Weißaugengebirges waren berüchtigt für ihre Fallen und tödlichen Bewohner. Er konnte sich hier nicht lange aufhalten, aber er musste einen Ausweg finden.
Er nahm einen vorsichtigen Schritt vorwärts und lauschte dabei auf jede Bewegung, jedes Geräusch. Die Höhle war still, abgesehen von dem gelegentlichen Tropfen von Wasser. Doch die Dunkelheit war heimtückisch, sie konnte ihm alles verbergen.
Langsam tastete er sich voran, dem Gefühl nach ging es leicht bergauf, also hoffentlich zurück in Richtung Oberfläche. Nach einer Weile und gelegentlichen Abzweigungen fühlte der kalte Stein sich unter seinen Händen glitschig an, als ob er von einer unsichtbaren Substanz überzogen wäre. Er erinnerte sich daran, dass er einst von derartigen Schleimspuren gehört hatte, die man in tiefen Höhlen finden konnte – Spuren, die auf eine Besiedelung von Minecrawlern hinwiesen. Ein eisiger Schauer lief Venom über den Rücken, als er sich an diese Geschichten erinnerte. Die Kreaturen waren keine Gegner, denen er sich in dieser Lage stellen wollte.
Sein erster Gedanke war, sich weiter in Richtung Oberfläche zu bewegen, doch nach einigen Metern im Tunnel veränderte sich die Atmosphäre. Ein leises, fast unmerkliches Zischen drang an sein Ohr, und als er sich tiefer in den Tunnel wagte, stieß er auf noch mehr von diesem seltsamen Sekret, das die Wände bedeckte. Es schimmerte leicht im schwachen Licht seiner Fackel, die er nun entzündet hatte, und er wusste sofort, was das bedeutete: Die Minecrawler waren nicht weit.
Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er wusste, dass ein direkter Konfrontation Selbstmord wäre. Venom hatte Geschichten gehört, von Kriegern, die in tiefen Höhlen verschollen waren, nachdem sie auf Kolonien von Minecrawlern gestoßen waren. Diese Kreaturen waren zahlreich. Ein einzelner Mann hatte kaum eine Chance gegen sie, schon gar nicht in dieser Dunkelheit.
Er entschied sich für den Rückzug und kehrte um, den Weg entlang, von dem er gekommen war. Doch der Gedanke, in die entgegengesetzte Richtung – weiter in die Tiefe des Gebirges – zu gehen, gefiel ihm genauso wenig. Doch was blieb ihm anderes übrig? Der Weg nach oben war blockiert, zumindest für den Moment. Und so drängte er sich gegen seinen Instinkt weiter in die Dunkelheit hinein, weg von den Minecrawlern, tiefer in den Berg.
Der Boden unter seinen Füßen wurde unebener, und die Wände des Ganges schienen enger zusammenzurücken. Er musste sich bücken, um weiterzukommen, und das Schleimsekret an den Wänden wurde dünner, was ihm Hoffnung gab, dass er sich von den Crawlern entfernte. Doch die Enge des Tunnels machte ihm das Atmen schwer.
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Nach einer Weile weitete sich der Gang vor ihm. Es war keine große Höhle, aber der Raum war deutlich größer als der enge Tunnel, den er durchquert hatte. Venom blieb stehen, lauschte, hörte nichts außer seinem eigenen Atem, der in der Dunkelheit widerhallte. Er hob die Fackel höher und beleuchtete die Umgebung. Der Fels hier war glatter als zuvor und wirkte fast wie nicht von natürlichen Kräften geformt.
Venom stand reglos in der weiten Höhle, die Fackel in seiner Hand warf zuckende Schatten an die Wände. Das flackernde Licht schien die Dunkelheit nicht zu vertreiben, sondern nur noch tiefer zu machen, als ob es das Schwarz um ihn herum lebendig machte. Jeder seiner Schritte hallte unheilvoll durch die Gänge, und die Stille, die ihn umgab, fühlte sich erdrückend an.
Die Höhle hatte etwas an sich, das ihm Unbehagen bereitete. Der Wind, der in den schmalen Gängen zirkulierte, schien wie ein leises Flüstern durch die Luft zu huschen, als ob unsichtbare Stimmen miteinander tuschelten. Venom schluckte schwer und versuchte, das Unbehagen zu ignorieren. Er war schon oft in schwierigen Situationen gewesen, doch dieses Mal war es anders. Er fühlte sich beobachtet.
Seine Finger umklammerten den Bogen fester, seine Sinne geschärft, doch er wusste nicht, worauf er sich konzentrieren sollte. Jede Ecke der Höhle schien ihm etwas verheimlichen zu wollen, als ob der Fels selbst in der Dunkelheit lauere. Der Geruch von feuchtem Stein und etwas Unbestimmtem, Moderndem lag in der Luft. Etwas, das nicht in die natürlichen Höhlen gehörte.
Venom bewegte sich vorsichtig weiter, die Wände der Höhle mit den Augen absuchend. Seine Schritte wurden leiser, langsamer. Die Luft schien dichter zu werden, als er tiefer in die Höhle vordrang. Plötzlich fiel sein Blick auf den Boden. Das Schleimsekret, das in den engen Tunneln zuvor nur vereinzelt aufgetreten war, bedeckte nun die Wände der Höhle in dicken, glänzenden Schichten. Es glitzerte im flackernden Licht der Fackel und schien sich fast zu bewegen, als ob es lebendig wäre.
Er beugte sich näher, zögerte jedoch, bevor er den Schleim berühren konnte. Ein instinktiver Schauer lief ihm über den Rücken. Das ist kein Ort, an dem ich sein sollte, dachte er und richtete sich hastig auf. Alles an diesem Ort fühlte sich falsch an. Er wollte zurück – den Weg nehmen, den er gekommen war – doch seine Schritte führten ihn unwillkürlich in die entgegengesetzte Richtung.
Etwas in seinem Inneren schrie ihm zu, nicht zurückzugehen. Vielleicht war es das dichte Netz von Schleim, das die Wände bedeckte, oder die Art, wie sich die Höhle vor ihm ausdehnte, wie ein Schlund, der darauf wartete, ihn zu verschlingen. Er war sich sicher, dass es keine gute Idee war, den selben Weg zu nehmen.
Mit der Fackel in der Hand trat er tiefer in die Dunkelheit. Jeder Schritt fühlte sich schwer an, als ob er gegen einen unsichtbaren Widerstand ankämpfte. Der Tunnel, den er nun entlangging, war anders. Er war weniger natürlich, fast als wäre er von einer fremden Hand in den Stein geschlagen worden. Die Wände begannen sich zu verändern, der Fels wurde poröser, und der Geruch von Moder und Feuchtigkeit wurde stärker. Der Boden unter seinen Füßen war rutschiger, die Wände klebriger.
Venom hielt inne. Ein Geräusch, leise und fremd, hallte durch die Dunkelheit. Es war kein direkter Ton, sondern mehr ein Echo. Ein Hauch von etwas, das in der Ferne lauerte. Sein Instinkt sagte ihm, dass er tiefer ging, und das Gefühl der Bedrohung wuchs mit jedem Schritt. Doch was war die Alternative? Zurück in die Nähe des Schleims und möglicherweise auf das zu treffen, was diesen Ort bewohnte?
Er entschied sich, weiterzugehen.
Sein Herz pochte heftig, als er tiefer vordrang. Das Gefühl, dass er beobachtet wurde, nahm zu. Er konnte es nicht erklären, aber es war, als würden unsichtbare Augen in der Dunkelheit auf ihn lauern. Das Zischen, das er zuvor gehört hatte, war verschwunden, doch die Stille war ebenso bedrohlich. Jede seiner Bewegungen schien den Fels zum Flüstern zu bringen, als ob die Dunkelheit selbst ihm Ratschläge geben wollte.
Er bückte sich, um seine Ausrüstung zu überprüfen, die er im Sturz teilweise verloren hatte. Ein Pfeil rollte ihm unter die Hand und er griff ihn hastig auf, der Griff des Bogens beruhigend in seiner anderen Hand. Der vertraute Kontakt half ihm, die Nerven zu behalten. Doch als er sich umsah, konnte er den Ursprung des Tunnels nicht mehr sehen – der Eingang, durch den er gekommen war, war hinter einer Biegung verschwunden.
Die Dunkelheit schien lebendig zu sein. Kein normaler Fels konnte sich so dicht und erdrückend anfühlen. Und doch war es nicht nur das Fehlen von Licht, das die Atmosphäre so schwer machte. Es war, als ob die Dunkelheit in der Tiefe des Gebirges eine eigene Präsenz besaß, etwas, das er nicht greifen konnte.
Seine Schritte wurden schneller, seine Fackel vor sich haltend, als der Tunnel sich erneut ausweitete. Ein leises Summen, oder war es ein Zischen, hallte von den Wänden wider. Venom blieb stehen und lauschte. Nichts. Nur sein eigener Atem. Doch die Luft war dick, fast wie eine unsichtbare, schwere Decke, die ihn umgab und in die Felsen drückte.
Er wagte einen Blick auf die Wände. Überall war das klebrige Sekret. Es war hier dicker, glänzender. Und es kroch weiter den Fels hinauf.
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Nachdem DraconiZ in den Schatten verschwunden war, starrte Ulrich eine gefühlte Ewigkeit, ungläubig auf die Stelle, an der sein alter Kamerad unsichtbar wurde. Was war geschehen?, der Kommandant könnte es nicht in Worte fassen, es war alles so verwirrend, das musste er erst mal auf sich wirken lassen. Der Paladin versuchte die unwirklich erscheinenden Ereignisse, vor seinem geistigen Auge Revue passieren zulassen, um zu begreifen was zuvor geschah, was mehr schlecht als recht gelang. Sein Verstand konnte mit den wirren Bildern, die zusammenhangslos, in schneller Reihenfolge aufblitzen, nicht all zu viel anfangen, weil vieles unlogisch oder unmöglich erschien.
Oder war es doch möglich, das man an zwei Göttern glaubt und ihnen gleichzeitig dient?, das war es doch, auf was DraconiZ mit Inbrunst geschworen hatte, oder nicht? Es sei völlig abwegig gut und böse in sich zu vereinen, signalisierte der Verstand des Kommandanten, der Mühe hatte diese Gedankengänge nicht als absolute Meinung, als endgültiges Urteil, zuzulassen. Vielleicht war ja der Weg, den DraconiZ für sich gewählt hatte, tatsächlich gangbar und genau das Richtige für ihn, versuchte der Paladin sich vorzustellen. Schließlich wollte er einen alten Kameraden nicht für etwas verdammen, das er selbst nicht - noch nicht begreifen konnte, das wäre nicht gerecht. Auch wenn Ulrich schon viel Seltsames erlebt und dadurch gelernt hatte, allwissend war es deshalb noch lange nicht. Die Zeit heilte nicht nur Wunden, sie konnte auch zu Erkenntnissen verhelfen, weil man viele Dinge im nach hinein betrachtet, anderes bewertet, zu anderen Ergebnissen kommt, manches sogar völlig anders sieht oder Dinge erst dann begreift, sinnierte der Kommandant. DraconiZ war ohnehin verschwunden und vielleicht begegneten sich die beiden Kameraden tatsächlich eines Tages wieder, dann könne er immer noch ein abschließendes Urteil fällen, schloss der Paladin seine Überlegungen ab und wünschte DraconiZ in Gedanken alles Gute für die Zukunft.
Es war still um ihn herum geworden, stellte Ulrich erleichtert fest, nachdem er seine Augen wieder geöffnet hatte, der Kampf gegen Untote war vorüber. Seine innere Anspannung löste sich, als der Paladin zur Kenntnis nahm, das die Aura des Bösen, die dunkle Magie, die für dieses Chaos hier verantwortlich waren, nicht mehr präsent war. Der Spuk endete so wie er begann, von einem Augenblick auf den anderen, nun erfüllte Stille den Raum und ließ diesen Ort geradezu friedlich erscheinen. Nach und nach traten einige Männer des Kommandant ins Licht und versammelten sich um ihn, sie wirkten erschöpft, aber Niemand schien ernsthaft verletzt zu sein, eine gute Nachricht. Gerade wollte Ulrich fragen, ob Jemand weiß, wo sich der Rest der Mannschaft befindet, hörte man schlurfende Schritte und leises Gestöhne. Cenfar, Jörg und Jacques schleppten sich im wahrsten Sinne des Wortes voran, sie kamen langsam auf die Gruppe zu. „Siehst ziemlich übel aus“ bemerkte der Kommandant, nachdem der Jüngling im Schein einer Fackel sichtbar wurde, Jörg schien es nicht so schwer getroffen zu haben. „Lasst uns erst mal von hier verschwinden und draußen einen sicheren Lagerplatz suchen“ brummte der Kommandant, „dann sehen wir weiter“...
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Nur das fahle Mondlicht erleuchtete die Umgebung. Es war dunkelste Nacht geworden und hätte er nicht die Schattenmimik besessen, so hätte er viel Mühe gehabt überhaupt etwas zu erkennen. Eigentlich hätte der Streiter schon vor einiger Zeit rasten sollen. Seine Glieder schmerzten von der Reise und sein Körper verlangte nach einer Auszeit. Doch sein Gefühl hatte sich bestätigt: Jemand folgte ihm. Eine Gestalt ganz in schwarz gekleidet mit zwei Schwertern auf dem Rücken. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er denken es handelte sich dabei um einen anderen Assassinen. Doch die Gestalt hielt sich immer gerade so weit entfernt, dass er es nicht genauer bestimmen konnte. Es würde sich herausstellen, wer letztendlich Jäger und wer Beute war.
»Wenn du glaubst die Dunkelheit sei dein Verbündeter, so muss ich dich bitterlich enttäuschen«, meinte der Paladin an den Maskierten gewandt, als er sich aus dem Schatten schälte. Der Angesprochene drehte sich um und schaute ihn an. Er war weder zusammen gezuckt, noch machte er irgendwelche Anstalten hektisch zu handeln. Scheinbar hatte er damit gerechnet, dass das passieren würde. DraconiZ wurde argwöhnisch. Er hatte eine andere Reaktion erwartet. »Die Berichte sprachen eine klare Sprache, doch dich leibhaftig vor mir zu sehen ist tatsächlich etwas anderes«, meinte der Attentäter und demaskierte sich. »Ugrasal«, meinte der Weißhaarige fassungslos. Er war es. Daran bestand kein Zweifel. Die Art wie er dort stand, die beiden Klingen, das unverkennbare Gesicht. Natürlich war er älter geworden. Zwei weitere Narben und einige Furchen hatten sein Gesicht noch markanter gemacht. Die Aura die er ausstrahlte war immer noch gefährlich. Hier stand Jemand der sich auf das Töten verstand. Einige Momente standen sie nur da und begutachteten sich gegenseitig ohne ein Wort über die Lippen zu bringen. »Du hast nach der Niederlage das Knie gebeugt«, konstatierte der Paladin als er das Zeichen von Myrtana auf der Rüstung des einstiegen Waffengefährten ausmachte. In seiner Stimme lag kein Vorwurf. Es war eine bloße Feststellung.
»Was für dich nun von Vorteil ist«, gab er zurück. Er war scheibar immer noch kein Mann großer Worte. »Die Krone giert nach deinem Kopf«. Der Obskuromant nickte. »Dann bist du hier um einen zweiten Versuch zu starten?«, spottete er in Richtung des Mannes aus Isthar. Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Du sollst es mir gleich tun. Ich habe mich dafür eingesetzt. Uns verbindet ein Schwur«, platzte er direkt heraus. Niemals Geplänkel. Schnell und präzise. So wie er ihn in Erinnerung behalten hatte. »Gleich hier draußen? In den Ausläufern des Weißaugengebirges? Ich fürchte das wäre nicht sonderlich prestigeträchtig«, meinte der Paladin lachend. Ugrasal war wie erwartet für seine spitzen Bemerkungen nicht empfänglich. »Wenn du einwilligst, haben sie einige Aufgaben für dich vorbereitet, die du bestreiten sollst, damit du Vergebung erlangen kannst. Die Krone will Frieden in Varant. Vielen Assassinen wurde in Aussicht gestellt im neuen Reich einen Platz zu finden, doch nur wenige akzeptierten. Da du erst jetzt wieder auftauchst wird dir das gleiche Angebot gemacht. Doch nur einmal«. Die Klingenmeister taxierten sich erneut. »Und wenn ich mich weigere ziehst du deine Klingen und erfüllst deinen Auftrag?«, argwöhnte DraconiZ. »Nein. Ich band mein Schicksal an deines. Wenn ich dich nicht überzeugen kann brennen wir Beide«.
Der Paladin schaute erschrocken. »Warum tust du das?«, fragte der Weißhaarige wie heiser. »Der alte Bund steht für etwas und es gibt noch Hoffnung, dass er in anderer Form leben kann. Die Chance will ich nicht vergeben«. Ugrasal gönnte sich ein gewinnendes Lächeln. »Und im schlimmsten Falle nehme ich doch deinen Kopf und bete um Gnade«. Beide Lachten verhalten. »Gut. Erzähl mir alle Details«, meinte DraconiZ.
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Unter Tage...
„Woher weißt du, dass wir hier richtig sind?“
„Weiß ich nicht.“
„Aber … Hmm … Und woher kennst du diese Höhlen?“
„Ich bin hier geboren, Großer, schon vergessen?“ Ska’ri stieß Er’esh den Ellenbogen in die Seite und bereute es sofort. Sein Wanst war erstaunlich hart, als würde selbst seine Wampe nur aus armdicken Muskelsträngen bestehen. „Bevor dein Vater und der Rest vom Karrek-Stamm hier aufgetaucht sind, hatten wir unser Dorf beim Silbersee, auf der anderen Seite des Gebirges. Dieses Höhlensystem zieht sich quer durch den Berg, und wenn man den Weg kennt, kommt man am Ende am Silbersee raus.“
„Und du kennst den Weg?“
„Also …“
„Du kennst ihn nicht.“
„Ich war hier schonmal drin!“
„Wie alt warst du da?“
Ska’ri rollte mit den Augen. „Beim Schöpfer, Er’esh, wir wollen doch gar nicht zum Silbersee! Wir wollen den Ursprung finden von … von … naja, was auch immer da dieses Bruchstück zum Glühen gebracht hat! Eine Spur, um Krul zu finden! Und bevor du weiter fragst: Nein, ich weiß nicht, wonach wir eigentlich suchen! Wir müssen einfach die Augen offenhalten und hoffen, dass wir etwas entdecken, oder dass … dass wir vielleicht nochmal ein Zeichen bekommen.“
Sie legte eine Hand auf das Bruchstück der Statue, das sie wieder um den Hals trug, nachdem sie die verbrannte Kordel ersetzt hatte. Es lag glatt und kühl wie eh und je auf ihrer Haut, keine Spur von unnatürlicher Hitze, von Magie oder seltsamen Visionen. Es war einfach nur ein verziertes Stück Stein. Und das frustrierte Ska'ri bei jedem Schritt, der sie und Er’esh tiefer in die Eingeweide der Erde führte, mehr. Irgendwie hatte sie nicht nur gehofft, sondern war geradezu davon ausgegangen, dass das Artefakt ihr auf die eine oder andere Art den Weg weisen würde. Aber es blieb einfach stumm …
„Warte!“, zischte Er’esh plötzlich, packte Ska‘ri an der Schulter und riss sie zurück. Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren, was nur durch den Schraubstockartigen Griff ihres Stiefbruders verhindert wurde.
„Was? Was soll– hmmpfff!“, wollte sie protestieren, aber Er’esh presste ihr seine große Hand auf den Mund und hob den Zeigefinger der anderen.
„Horch mal!“, flüsterte er und ließ sie wieder los. Ska’ri runzelte die Stirn, leistete aber der Aufforderung Folge und lauschte. Und tatsächlich – da waren Geräusche!
„Schritte. Und Stimmen“, murmelte sie.
Er’esh nickte zustimmend: „Ja, und sie kommen näher! Welche von uns?“
„Nein, ich glaube nicht. Zu … leicht! Morras?“
„Was haben Morras hier unten zu suchen?“, knurrte Er’esh und griff schon nach seinem Kriegshammer, aber Ska’ri legte ihre Hand auf seinen Unterarm.
„Nicht! Wir wissen nicht, wie viele es sind, und wir sind auch nicht hier, um uns mit irgendwelchen Morras zu kloppen! Das sollen ruhig Tat’ank’Ka und die anderen erledigen, die großen Krieger. Wir … verstecken uns!“
„Verstecken?“ Er’esh hob fragend die wulstigen Augenbrauen. „Das ist aber nicht ehren-“
„Komm mir jetzt bloß nicht mit diesem Ehre-Schwachsinn!“, zischte Ska’ri ungehalten und schob ihren Bruder in Richtung eines abschüssigen Hohlraums, der hinter einigen riesigen Felsen versteckt lag. Die gewaltigen Trümmer sahen aus, als wären sie gerade gestern erst aus der Decke gebrochen, aber genauso gut konnte es sein, dass sie schon seit Millionen von Jahren hier lagen. Und sie würden hoffentlich groß genug sein, um Er’eshs Hintern ausreichend Deckung zu bieten.
„Mach dich, äh, klein! Und mach die Fackel aus! Bleib einfach ruhig, versuch dich nicht zu bewegen, versuch am besten nicht mal zu atmen … und, beim Schöpfer, lass bloß keinen fahren! Kapiert? Ich werd‘ mich dort vorn auf dem Geröllhaufen verstecken, von dort hab ich den Weg im Blick.“
Wenig später…
Ska’ri lag flach auf dem Bauch, verborgen zwischen scharfkantigem Geröll, und wartete. Es war nicht gerade eine bequeme Position, die Steine waren spitz und nass und kalt, und sie bereute es bald, ihrer Neugierde nachgegeben zu haben. Sie hätte sich auch einfach mit Er’esh gemeinsam in den kurzen Seitenstollen verziehen und abwarten können, bis die Neuankömmlinge vorbeimarschiert waren.
Jetzt war es allerdings zu spät, es sich noch einmal anders zu überlegen. Die Schritte waren inzwischen deutlich zu vernehmen und das flackernde Licht von Fackeln warf tanzende Schatten an die Felswände.
Und dann traten die ersten Gestalten hinter Felsen und Geröll hervor, so dass Ska’ri sie sehen konnte. Die Orkin hielt einen Moment den Atem an. Das war …
„Naga shutta kar marak agar!“, fluchte sie, „Das ist jetzt nicht dein scheiß Ernst?“
Konnte sie sich irren? Nein. Ausgeschlossen. Sie hatte ein gutes Gedächtnis für Personen – sogar für Morras, obwohl die alle fast gleich aussahen, so klein, weich und rosa –, und diese Personen waren ihr noch sehr gut in Erinnerung: Krieger mit ernsten, strengen Gesichtern, die sich zielstrebig über das unwegsame Gelände bewegten, als eine Einheit, so wie sie auch als Einheit kämpften, um selbst Monstren zu bezwingen, gegen die keiner von ihnen allein bestehen könnte. Monstren wie Chror …
Ska’ri duckte sich reflexartig noch tiefer in den Schatten. Sie erkannte den Anführer der Gruppe, auf seinem Rücken trug er den mächtigen Zweihänder, mit dem er Chror den Kopf von den Schultern geschlagen hatte. Sie erkannte auch den Krieger, der sie damals gefangen genommen und am liebsten hingerichtet hätte – er schien verletzt zu sein, jedenfalls presste er die Hand gegen den Unterleib und immer wieder verzog er schmerzvoll das Gesicht, wenn er einen größeren Satz machen musste. Trotzdem hielt er Schritt mit den anderen und wirkte keineswegs wehrlos.
Sich so dicht wie möglich auf den Boden pressend, beobachtete Ska’ri, wie der Kriegstrupp der Morras sich langsam ihrer Position näherte. Ihre Lippen bewegten sich in einem stummen Gebet an den Schöpfer, dass keiner von ihnen auf die Idee kam, auf ihren Geröllhaufen zu klettern, oder einen zu genauen Blick hinter die Felsen zu werfen, hinter denen sich Er’esh versteckt–
„Oh Scheiße!“ Sie hatte einen kurzen Blick hinter sich geworfen, zu Er’eshs Position, und natürlich schimmerte da ein Stück grau-grüne Haut zwischen den Felsen hervor. Sie konnte sie selbst in dem schwachen Restlicht der Fackeln erkennen, das von den nassen Felswänden reflektiert wurde. Die Morras hatten noch keine Sichtlinie zu den Felsen, aber sobald sie nur noch ein kleines Stückchen näher kamen…
Leise Flüche ausstoßend schob sich Ska’ri so schnell, wie es ihr möglich war, ohne dabei Steine loszutreten und einen Heidenlärm zu verursachen, rückwärts von ihrer Beobachterposition weg. Sie musste zu Er’esh, und zwar schnell! Leider war das leichter gesagt als getan, denn die Steine waren bedeckt von einer schlüpfrigen Lehmschicht und jeder Schritt trügerisch.
Und so kam es, wie es kommen musste …
Ska’ri rutschte aus, landete unsanft auf dem Bauch und löste dabei einige Steine. Der Lärm kam ihr ohrenbetäubend vor, als hätte der Trommler des Kriegstrupps sie in die Dunkelheit verfolgt und würde nun begeistert auf sein verfluchtes Instrument eindreschen, um auch ja alle Morra-Armeen in zehn Meilen Umkreis auf sie aufmerksam zu machen.
Und natürlich bemerkten es die Morras.
„Hey, was war das?“
„Kam von da vorn.“
„Sehen wir mal nach! Vorsichtig, Männer!“
Waffen wurden gezogen, mit knappen Gesten Befehle ausgetauscht. Die Morra-Krieger bewegten sich kampfbereit weiter, jetzt zielgenau auf Ska‘ris Position zu. Sie sah sich panisch nach Er’esh um. Nur noch wenige Schritte trennten sie von ihm. Aber wenn sie jetzt loslief, würden die Morras sie auf jeden Fall bemerkten. Allerdings, wenn sie versuchte, unbemerkt zu bleiben, würde sie zu langsam sein…
Ihr wurde klar, dass sie keine Wahl hatte. Ska’ri rappelte sich auf und rannte los. Die Morras stießen Warnrufe aus, Ska‘ri hörte das trockene Knacken einer Bogensehne und gleich darauf zersplitterte ein Pfeil an einem Felsen kaum eine Handbreit neben ihrem Bein. Knapp, viel zu knapp!
„Er’esh!“, keuchte sie und sah, wie ihr Bruder den Kopf über den Felsen hob, „Lauf! Nein, nicht zu mir, andere Richtung, du Idiot! In den Tunnel! Schnell!!“
Die letzten Meter legte sie mit weiten Sprüngen zurück und rammte Er’esh regelrecht. Genauso gut hätte sie versuchen können, einen der tonnenschweren Felsbrocken von der Stelle zu bewegen.
„Was ist denn los?“, fragte Er’esh, „Wegen den paar Morras?“ Er hielt seinen Kriegshammer bereits in seinen fleischigen Pranken. Ganz offensichtlich nahm er die Gefahr nicht ernst. Denselben Fehler hatte damals Chror gemacht, und es war sein letzter Fehler gewesen…
„Ja! Wegen den paar Morras!“, stieß sie wütend hervor und stemmte sich gegen ihren Bruder, um ihn in den Seitentunnel zu schieben.
„Aber warum …“
„Shutta Baka, Er’esh, jetzt ist wirklich keine Zeit dafür! Ich kenne diese Typen! Die haben Chror erledigt, die machen verflucht nochmal Hackfleisch aus uns, also beweg endlich deinen verdammten Arsch!“
Obwohl er noch immer nicht recht überzeugt zu sein schien, ließ sich Er’esh endlich dazu überreden, Ska’ris Drängen Folge zu leisten und zog den Kopf ein, um tiefer in den Stollen zu kriechen. Es war stockfinster und Ska’ri hatte nicht die geringste Ahnung, wo der Tunnel hinführen mochte, aber es war ihre einzige Chance. Sie hörte die Morras rasch näherkommen, viel zu rasch …
„Schneller, Er’esh, schneller! Sie sind fast da!“
„Ska’ri, es ist stockdunkel, ich sehe absolut gar ni– AAAAAH!“
Blind nach hinten greifend packte Er’esh Ska’ri am Arm und riss sie mit sich, als er plötzlich den Halt verlor und eine glitschige Schräge hinabrutschte. Es war eine schmerzhafte Rutschpartie über Huckel auf dem Boden und rasiermesserscharfes Gestein, das ihnen die Haut aufriss, in kompletter Finsternis. Wir sind tot, war alles, was Ska’ri noch denken konnte …
Bevor sie gegen Er’eshs Bauch prallte, nachdem ihr Bruder wiederum am Ende der Rutsche schmerzhaft mit einem Stalagmiten kollidiert war.
„Auuu…“, stöhnte Er’esh, und Ska’ri pflichtete ihm bei. Ihr tat alles weh – ihrem Gefühl nach gab es wahrscheinlich keine Stelle an ihrem Körper, die nicht aufgeschrammt oder mit blauen Flecken übersäht sein würde. Auf der positiven Seite allerdings, das bedeutete, dass sie noch lebte! Und darüber hinaus stellte sie fest, dass die Dunkelheit nicht mehr vollkommen war. Ein gespenstisches Leuchten ging von seltsam verästelten Adern an den Wänden aus und tauchte die Höhle in ein schummriges Licht. Nicht viel, aber es reichte, dass sie wenigstens Umrisse erkennen konnte.
„Ska’ri? Alles okay?“ Er’esh richtete sich ächzend auf und sah zu ihr herunter.
„Ja … alles … uh, au! Verdammt! Alles bestens!“ Sie ließ sich von ihm auf die Beine helfen und sah sich um.
„Glaubst du, wir haben sie abgehängt?“, fragte Er’esh plötzlich besorgt. Ska’ri hob überrascht die Augenbrauen und prustete los, auch wenn es ihr einen unangenehmen Stich im Brustkorb verursachte. Scheinbar hatte sie sich die eine oder andere Rippe angeknackst.
„Ob … haha … au! Pffff … ich … bin mir ziemlich sicher, ja!“
„Hm … und, was machen wir jetzt?“
„Erstmal Licht“, stellte Ska’ri fest und zog eine Fackel aus dem Gepäck, das zum Glück nicht während der Rutschpartie verloren gegangen war. Als das Feuer brannte, besah sie sich die Rampe, die sie so unverhofft in die Tiefe befördert hatte.
„Also, hoch geht’s nicht mehr…“ konstatierte sie trocken. Es war offensichtlich, dass der Schacht viel zu steil und rutschig war. „Bleibt also nur noch eine Richtung: Geradeaus!“
Mit etwas gezwungenem Enthusiasmus deutete Ska‘ri auf den Gang, der von der kleinen Halle, in der sie gelandet waren, weiterführte. Er’esh würde sich ein wenig ducken und aufpassen müssen, dass er sich nicht den Kopf anhaute, aber zumindest war der Gang breit genug, dass sie sich nicht hindurchquetschen mussten.
Nur eine Sache beunruhigte Ska’ri: Die phosphoreszierenden Adern an der Wand, die sich bei genauerer Betrachtung als ein klebriges Gespinst herausstellten, fast wie Spinnennetze.
Sie zog ihr Schwert, bevor sie weiterging: „Sei vorsichtig! Ich habe das blöde Gefühl, wir sind hier nicht allein …“
Geändert von Ska'ri (22.09.2024 um 11:10 Uhr)
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Venom blieb einen Moment lang reglos stehen, während er die Fackel fest in der Hand hielt. Sein Blick glitt über die Wände, die mit dem seltsamen, glänzenden Schleim bedeckt waren. Das Gefühl von Unbehagen wuchs in ihm, als er das klebrige Sekret betrachtete, das langsam über den Stein kroch, wie ein lebendiges Wesen, das auf Beute lauerte. Der Geruch von Moder und Verwesung hing schwer in der Luft, und ein leises, kaum wahrnehmbares Summen schien aus der Tiefe des Tunnels zu kommen.
Er schluckte hart, kämpfte gegen das bedrückende Gefühl der Panik an, das in seiner Brust wuchs. In dieser Finsternis, die so undurchdringlich war, dass selbst das Licht der Fackel kaum Linderung brachte, fühlte er sich wie ein Eindringling in einer Welt, die ihm nicht gehörte. Das ist nicht der richtige Ort, dachte er wieder, doch seine Füße weigerten sich, den Rückweg anzutreten. Etwas in der Art, wie sich die Dunkelheit vor ihm bewegte – oder vielleicht bewegte sich nur sein eigener Schatten – zog ihn weiter.
Das leise Summen schwoll an, wurde lauter, und er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Was auch immer das ist, es ist hier irgendwo. Er trat einen Schritt weiter und dann noch einen, die Fackel hoch erhoben, aber der Tunnel vor ihm blieb in tiefer Dunkelheit verborgen. Der Schleim an den Wänden begann sich in dickeren Schichten zu sammeln, und er merkte, dass er unwillkürlich seine Hand fester um den Griff seines Bogens schloss. Ein leiser Schauer lief ihm über den Rücken.
Plötzlich hörte er ein leises Knirschen unter seinem Stiefel. Er blickte nach unten und sah, dass er auf ein Stück Knochen getreten war, brüchig und fast zu Staub zerfallen. Nicht gut, dachte er, als er den Bogen vorsichtig von seiner Schulter nahm und sich tiefer in die Hocke begab.
Sein Instinkt riet ihm zur Vorsicht, aber es gab keinen Ort, an dem er sich zurückziehen konnte. Das Summen und Zischen um ihn herum wurde lauter, intensiver, fast als ob die Höhlenwände selbst zu sprechen begannen. Aber es war kein Zischen wie das, das von den Minecrawlern kam – das hier klang organischer, lebendiger, und es drang aus jeder Richtung zu ihm durch. War es wirklich da oder war es doch nur sein eigenes Blut, dass er durch seine Adern strömen hörte?
Venom zögerte, blickte sich um, doch die Dunkelheit blieb unnachgiebig. Ich muss hier raus, dachte er. Aber wohin? Zurück in den Tunnel, aus dem er gekommen war? Die klebrige, glänzende Substanz an den Wänden ließ darauf schließen, dass dieser Weg keine Option mehr war. Also blieb ihm nur noch die Richtung, in die er sich schon bewegt hatte: Tiefer in den Berg.
Er holte tief Luft und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Der Tunnel schien sich vor ihm weiter zu verengen, doch er konnte das Ende nicht sehen. Das Summen schwoll ab und zu an und wurde wieder leiser, fast wie ein Atemzug, der ihn umgab. Die Fackel in seiner Hand flackerte kurz, und für einen Moment ergriff ihn das Gefühl, dass er nicht allein war.
Mit einem weiteren Schritt setzte er seinen Weg fort, immer tiefer in die Ungewissheit, immer tiefer in die Dunkelheit.
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„Wie viele Fackeln haben wir noch?“, fragte Ska’ri, nachdem ihre mittlerweile vierte Lichtquelle bis aufs Letzte heruntergebrannt war.
Er’esh wühlte im Gepäck: „Fünf … nein, sechs.“ Er zog eine frische Fackel hervor und reichte sie Ska’ri.
„Hmm … also haben wir fast die Hälfte schon aufgebraucht, aber wir haben noch immer keine Ahnung, wo wir eigentlich sind! Schöne Scheiße!“ Frustriert schlug sie mit der flachen Hand gegen die Felswand und bereute es sofort – der Stein war mit dem klebrigen, leuchtenden Sekret beschmiert, das mittlerweile fast überall zu hängen schien. Angewidert wischte Ska‘ri die Hand an ihrer Hose ab und gab dabei Er’esh die Fackel zurück. „Wir heben die Fackeln auf. Dieses komische Zeug hier leuchtet ja auch. Das muss erst einmal reichen. Sonst stehen wir ziemlich dumm da, wenn wir jetzt alle Fackeln aufbrauchen und dann irgendwo hinkommen, wo es komplett finster ist …“
„Hast du eine Ahnung, was das ist?“, fragte Er’esh und fuhr mit dem Finger durch einen Batzen des Sekrets, um daran zu schnüffeln, „Riecht irgendwie nach, mh, Käfer!“
Ska’ri zog verdutzt die Augenbrauen hoch: „Woher um alles in der Welt weißt du, wie Käfer riechen?“
Er’esh zuckte nur mit den Schultern und Ska’ri beschloss, das Thema lieber nicht weiter zu vertiefen. Ihr Bruder hatte ein paar Eigenheiten, über die wollte sie gar nicht so genau Bescheid wissen – und außerdem hatten sie wirklich dringendere Probleme.
„Ich fürchte, ich habe tatsächlich eine Ahnung“, erklärte sie düster: „Gach Luk. Ich bin den Biestern schon einmal begegnet, auf einer von Kruls verrückten Expeditionen, wo wir sogar einen Oraka getroffen haben, der noch verrückter war als Krul! Glaubt man kaum, was? Naja, jedenfalls – war kein Spaß. Die Viecher hätten uns fast aufgefressen, wenn dieser Irre uns nicht zu Hilfe gekommen wäre. Dort gab es auch etwas von diesem Sekret und Gespinst-Zeug. Nur … viel weniger als hier! Also halt deinen Hammer bereit und die Augen offen! Und jetzt lass uns weitergehen, je schneller wir hier rauskommen, um so besser … jaja, ich weiß, war ne dumme Idee und so weiter und so fort, halt die Luft an und komm endlich!“
Ohne die Fackeln wurde es unmöglich, zu sagen, wie viel Zeit verging, während Ska’ri und Er’esh ziellos tiefer und tiefer in das endlose Höhlenlabyrinth vordrangen. Minuten? Stunden? Für die beiden Orks fühlte es sich bald an, als wären sie schon sein Tagen unterwegs.
Die Kletterei war anstrengend, immer wieder mussten sie sich durch Engstellen quetschen, Wände erklimmen oder am Rande von stockfinsteren Abgründen balancieren, die gut und gern hunderte Klafter tief sein konnten. Wenn sie dann und wann eine kurze Pause einlegten, kühlten sie in ihrer von Schweiß, Schlamm und dem überall von der Decke tropfenden Wasser durchnässten Kleidung so rasch aus, dass an eine längere, erholsame Rast nicht zu denken war. In Bewegung zu bleiben, war die einzige Option.
Immer wieder legte Ska’ri ihre Hand auf das Bruchstück der Statue, als ob sie es dadurch zum Sprechen auffordern könnte. Aber das Artefakt an seiner Lederkordel um ihren Hals blieb kalt und stumm. Nichts, nicht das kleinste Zeichen – es war einfach nur ein verdammter Stein!
Ska’ri schalt sich selbst für ihr unüberlegtes Handeln. Sie hätte doch versuchen sollen, an einen der Schamanen heranzukommen – ihr seltsamer, visionsartiger Traum in Verbindung mit dem Aufglühen des Bruchstücks hätten vielleicht ausgereicht, um das Interesse eines Geistersehers zu erwecken. Vielleicht sogar das von Proya? Immerhin hatte die Eiswölfin in Krul einen vielversprechenden Aspiranten gesehen.
Aber nein, stattdessen war sie mal wieder Hals über Kopf auf eigene Faust losgerannt, ohne überhaupt ein konkretes Ziel oder auch nur die Vorstellung eines Ziels vor Augen zu haben. Und Er’esh hatte sie auch noch in den Schlamassel hineingezogen…
„Fühlst du das auch?“, fragte Er’esh plötzlich. Ganz entgegen seiner Gewohnheit flüsterte er dabei.
„Was?“, fragte Ska’ri, konnte sich aber sehr gut vorstellen, worauf er hinauswollte.
Er’esh antwortete nicht sofort. Er holte tief Luft und suchte nach den richtigen Worten. „Es fühlt sich irgendwie an, als ob … es uns hier nicht haben wollte“, sagte er schließlich, „Wir gehören nicht hier hin!“
Ska’ri nickte. Genau das war es! Eine dumpfe Ahnung, ein schwer zu beschreibendes Gefühl, dass sie an einem Ort waren, den sie niemals hätten betreten sollen.
Das geisterhafte Schimmern des Sekrets an den Wänden spendete ihnen zwar etwas Licht, aber es schuf zugleich Schatten, die zu tief und zu schwarz zu sein schienen. Schatten, in denen alles lauern konnte. Schatten, bei denen Ska’ri sich vorstellte, dass sie jeden Moment zum Leben erwachen und die Eindringlinge in ihr unterirdisches Reich verschlingen würden …
Auch die Luft hatte sich verändert. Statt des konstanten, kühlen Luftzugs, der in den oberen Ebenen herrschte, schien die Luft inzwischen zu stehen, dick und muffig. Der Geruch von kühlem Fels und Nässe war unterlegt mit einem schweren, süßlichen Gestank, der sich in der Nase festsetzte und Bilder verwesender Körper heraufbeschwor. Tote, deren Gebeine vergessen und verlassen für alle Ewigkeit in der Finsternis unter dem Berg ruhten, während ihre Geister hilflos das endlose Labyrinth aus Gängen und Schächten durchwanderten auf der Suche nach dem Ausgang, den sie niemals finden würden. Wer hier unten starb, überkamen es Ska’ri, der blieb hier unten.
Und die Geräusche... Ein unterschwelliges Summen und Zischen, wie von einem ein Schwarm fliegen, der einen Kadaver umkreiste. Doch – war das wirklich real? Oder spielten ihre überreizten Sinne ihr einen Streich und sie glaubte aus dem konstanten Geräusch tropfenden Wassers ein Muster herauszuhören, das gar nicht existierte?
Aber da! War da nicht wieder ein leises Kratzen gewesen, gefolgt von etwas wie einem Zirpen? Dort drüben, in dieser Nische, die so vollkommen dunkel war? Erst, als Er’esh ihr beruhigend die Hand auf die Schulter legte, realisierte Ska’ri, dass sie mitten in der Bewegung erstarrt war. Sie hielt den Griff ihres Schwertes so fest umklammert, dass sie beinahe einen Krampf in der Hand bekam.
Mit zusammengekniffenen Augen fixierte sie die Felsspalte. Aber dort vorn war nichts. Nur ein enger, sich weiter in die Tiefe windender Gang. Mit den Tropfsteinen, die von seiner Decke hingen und vom Boden in die Höhe wuchsen, wirkte er wie der Schlund eines gewaltigen Monsters. Und sie hatten keine andere Wahl, als sich verschlingen zu lassen.
Ska’ri holte tief Luft und ging weiter.
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„Halt! Duck dich!“ Ska’ri bedeutete Er’esh, dass er hinter einem Felsen in Deckung gehen sollte. Er’esh presste seinen massiven Leib gehorsam gegen die Wand des Tunnels und verrenkte sich den Hals, um zu erkennen, was seine Schwester gesehen hatte.
„Was ist?“, zischte er ungeduldig.
„Licht!“, flüsterte Ska‘ri. Es gelang ihr kaum, die Aufregung in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Von einer Fackel! Da unten! Siehst du es?“
Sie deutete auf einen Tunnel, der am gegenüberliegenden Ende der Halle lag, die sie gerade betreten hatten. Der warme, flackernde Lichtschein von Feuer ließ darin die Schatten tanzen und nahm immer weiter zu. Jemand kam ihnen entgegen – das bedeutete, jemand musste den Weg zu einem Ausgang kennen! Ska’ri wurde beinahe schwindlig vor Erleichterung.
„Sieht aus, als müssten wir doch nicht für immer hier unten bleiben! Aber trotzdem, versteck dich! Und zwar besser als beim letzten Mal! Warten wir ab, wer das ist!“
Die beiden Orks verbargen sich in einer Nische im Fels. Es dauerte nicht lange, bis der Fackelträger die Halle betrat. Ska’ri boxte ihrem Bruder spielerisch gegen die Schulter – es war nur ein einzelner Morra! Keine Truppe von ausgewachsenen Elitesoldaten, nur ein Mann!
Allerdings ein vorsichtiger Mann. Ein bewaffneter Mann. Er hielt neben der Fackel auch einen Bogen in der Hand, ein Pfeil lag bereits locker auf der Sehne. Er müsste nur noch spannen und loslassen, eine Sache von Augenblicken, wenn er ein geübter Schütze war. Vorsichtig sprang er von Felsblock zu Felsblock, wählte jeden Schritt mit Bedacht und leuchtete seine Umgebung aus. Als er die Halle betrat, blieb er kurz stehen und sah sich um, überlegte, wohin er weitergehen sollte. Schließlich entschied er sich für einen Gang, der ein Stück unterhalb der Stelle lag, von der aus Ska’ri und Er’esh jeden seiner Schritte verfolgten, ohne dass er es ahnte.
Ska’ri suchte mit dem geübten Blick einer Kundschafterin die Umgebung ab. Es war zwar nur ein einzelner Morra, aber dass er einen schussbereiten Bogen bei sich trug, war ein Problem. Sie musste an ihn herankommen, ohne dass er sie bemerkte, sonst riskierte sie einen Pfeil im Bauch. Und das konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen!
Sie entdeckte einen Überhang an einer Stelle, an der der Mann vorbeikommen musste, und den sie mit etwas Geschick erreichen konnte, ohne dass er sie sah. Mit ein paar knappen Handzeichen gab sie Er’esh zu verstehen, dass er auf sie warten sollte, und huschte los.
Ska’ri bewegte sich geduckt durch die tiefen Schatten. Die Aussicht darauf, aus der Höhle entkommen zu können, ließ sie ihre Müdigkeit und Erschöpfung vergessen. Sie war ganz und gar konzentriert und auf ihr Ziel fixiert, ihre Bewegungen geschmeidig und fließend, jeder Schritt sicher und geplant, so dass sie keinen noch so kleinen Kiesel herunterfallen ließ.
Es kostete sie kaum eine Minute, um den Überhang zu erreichen. Einmal schien der Morra etwas zu bemerken, aber als er mit seiner Fackel in die Richtung leuchtete, war Ska’ri schon längst ganz woanders.
Wie ein Raubtier lag sie auf der Lauer. Sie zog ihren Dolch und wartete auf den richtigen Moment, sich auf ihre Beute zu stürzen …
Der Morra hatte keine Ahnung, wie ihm geschah, als Ska’ri plötzlich von dem Überhang gesprungen kam. Er riss seinen Bogen hoch, aber es war längst zu spät. Die Orkin landete hinter ihm und legte ihm im selben Augenblick den Arm um den Hals. Ein gezielter Tritt in seine Kniekehlen brachte den Morra aus dem Gleichgewicht und Ska’ri schleuderte ihn zu Boden. Ehe er es sich versah, fand sich der Morra unter Ska’ri liegend wieder, die auf seiner Hüfte saß und ihm die Klinge ihres Dolches gegen die Kehle presste.
„Hmm, meine Lieblingsposition …“, gurrte Ska’ri und grinste, „Aber ich fürchte, Kleiner, du hast nicht das nötige Kaliber. Also wirst du mich wohl anders zufriedenstellen müssen, wenn du nicht willst, dass ich dich zum Abendessen verspeise. Zum Beispiel, indem du mir sagst, wie du hier reingekommen bist!“ Sie verstärkte den Druck der Klinge ein wenig. „Nun?“
Geändert von Ska'ri (24.09.2024 um 01:27 Uhr)
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Venom setzte einen Fuß vor den anderen, die Fackel warf flackernde Schatten an die glatten Wände des Tunnels, der sich vor ihm immer weiter in die Tiefe des Berges bohrte. Das klebrige Sekret an den Wänden glänzte im schwachen Licht, und der Geruch von Feuchtigkeit und Verfall wurde intensiver. Er konnte nicht mehr genau sagen, wie lange er schon unterwegs war. Minuten, Stunden? Zeit schien hier unten keine Bedeutung zu haben, die Dunkelheit dehnte sie aus wie ein endloses Band.
Dann hörte er es. Ganz leise, kaum mehr als ein Hauch, fast wie ein Atemzug im Nacken. Ein Flüstern. Es war nicht das Zischen oder Summen, das er zuvor wahrgenommen hatte, sondern etwas anderes – etwas, das durch die Felsen zu ihm drang, als käme es von weit her, und doch so nah, dass er spüren konnte, wie es ihm ins Ohr kroch. Er hielt inne, drehte sich um, doch der Tunnel hinter ihm war leer. Dunkel. Tot.
Das Flüstern kam wieder, dieses Mal ein wenig klarer, aber immer noch unverständlich. Es war, als ob die Worte durch die Luft strichen und sich im Stein verloren, bevor er sie erfassen konnte. Doch das Gefühl, das sie bei ihm auslösten, war stark. Fast gegen seinen Willen fühlte er sich von dem Flüstern angezogen. Sein Herz schlug schneller, und er merkte, wie sich seine Finger fester um den Griff der Fackel schlossen.
„Was zum...“, murmelte er, während er sich zwang, weiterzugehen. Das Flüstern schien ihn zu rufen, zu locken. Er konnte nicht verstehen, was es sagte, aber der Klang kroch tief in seinen Geist. Er hätte den Rückweg antreten sollen, hätte sich umdrehen sollen, aber er konnte nicht anders. Die Stimme war zu verlockend, das Gefühl, dass sie ihm etwas verraten wollte, zu stark.
Venom ging weiter, tiefer in den Berg hinein, der Tunnel verengte sich, und die Fackel warf jetzt nur noch ein trügerisches, schwaches Licht. Der Boden unter seinen Füßen wurde weicher, und hier und da rutschte sein Stiefel auf glitschigem Felsen aus. Doch das Flüstern wurde lauter, klarer. Es war, als würde der Berg mit ihm sprechen. Die Wände schienen zu vibrieren, und das Gefühl, beobachtet zu werden, nahm zu.
Sein Kopf drehte sich, er fühlte sich benommen, als ob der Klang des Flüsterns sich in seinen Gedanken einnistete und ihn manipulierte. Er wusste nicht mehr, wie lange er schon ging oder wie tief er inzwischen in das Gestein vorgedrungen war, aber es fühlte sich an, als gäbe es keinen Weg zurück.
Das Flüstern wurde drängender. Jetzt konnte er fast die Silben erahnen, doch sie waren fremd, unaussprechlich. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er erneut innehielt. Was willst du von mir? Seine eigenen Gedanke hallte in der Dunkelheit wider, klangen verzerrt und verloren.
Es kam keine Antwort. Nur das Flüstern, das ihn tiefer zog, ihn weiter in die dunklen Eingeweide des Berges führte. Seine Beine waren schwer, als ob etwas an ihnen zog, aber er konnte sich nicht dagegen wehren. Er wollte wissen, woher das Flüstern kam, was es bedeutete. Es musste einen Grund geben, warum er hier war.
Schließlich öffnete sich der Tunnel vor ihm zu einem weiteren Raum. Dieser war größer als der vorherige, aber das Flüstern hallte hier noch intensiver wider, füllte jeden Winkel der Höhle, als ob es aus dem Fels selbst käme. Venom blieb stehen, atmete schwer. Die Fackel in seiner Hand flackerte erneut und warf groteske Schatten an die Wände. Das Gefühl, dass er etwas gefunden hatte – oder dass etwas ihn gefunden hatte – war erdrückend.
Und das Flüstern... es wurde immer lauter, immer dringlicher, doch noch immer konnte er die Worte nicht verstehen.
Venom spürte, wie sich seine Wahrnehmung verzerrte, als das Flüstern in seinem Kopf lauter und intensiver wurde. Es war wie ein Netz aus Stimmen, die sich um seinen Verstand schlangen und ihm die Klarheit raubten. Seine Schritte waren schwer, seine Bewegungen ungeschickt. Er wusste, dass etwas nicht stimmte, doch er konnte es nicht greifen – und dann kam der Schlag.
Die Orkin fiel auf ihn herab, als ob sie aus der Dunkelheit selbst gesprungen wäre. Ein Moment des Schreckens durchfuhr ihn, als er den massiven Körper spürte, der ihn zu Boden drückte. Seine Reflexe waren langsamer, seine Gedanken zu sehr in dem flüsternden Nebel verfangen, der seinen Verstand umklammerte. Er riss den Bogen hoch, aber der Pfeil blieb unausgespannt, seine Finger fanden nicht einmal die Sehne.
Mit einem tiefen Grollen und erstaunlicher Kraft landete die Orkin auf ihm, ihre groben Hände umschlossen seine Kehle. Der kalte Stahl eines Dolches drückte sich an seine Haut. Er konnte den Geruch ihres Atems spüren, das feuchte Leder ihrer Rüstung an seiner Brust.
„Hmm, meine Lieblingsposition … Aber ich fürchte, Kleiner, du hast nicht das nötige Kaliber.“ Ihre Stimme war tief und rau, aber da war auch ein verräterischer Hauch von Spott darin. „Also wirst du mich wohl anders zufriedenstellen müssen, wenn du nicht willst, dass ich dich zum Abendessen verspeise. Zum Beispiel, indem du mir sagst, wie du hier reingekommen bist! Nun?“
Venom rang nach Luft, das Gewicht der Orkin drückte ihn fest auf den harten Boden. Der Dolch an seiner Kehle war eine tödliche Drohung, doch er spürte keinen unmittelbaren Schmerz – zumindest noch nicht. Die Kälte des Metalls war eine stumme Mahnung, dass eine falsche Bewegung das Ende bedeuten konnte.
Und dann geschah etwas Seltsames. Das Flüstern in seinem Kopf, das ihn zuvor betäubt hatte, änderte sich. Es schien über diese Situation zu lachen, in froher Erwartung zu wogen. Es war, als ob die Dunkelheit selbst mit ihm sprach, erfreut über das Geschehen. Ein unheilvolles Lächeln stahl sich unwillkürlich auf Venoms Lippen. Ohne darüber nachzudenken, kamen Worte über seine Lippen, die nicht seine eigenen waren.
„Ich bin nicht hier, um dir zu schaden,“ sagte er, und seine Stimme klang fremd in seinen eigenen Ohren, beinahe zu sanft für die gefährliche Situation. „Bist du dir sicher, dass du einen Weg hier raus suchst? … was, wenn ich dir etwas Besseres zeigen kann? Etwas, das du wirklich suchst? Etwas, das dich in den Bann zieht?“
Die Orkin blinzelte, ihr Griff um den Dolch lockerte sich ein wenig, aber sie blieb aufmerksam. Ihr Blick schien zu überlegen, ihre Augen blitzten auf.
„Was redest du da, Morra? Spiel keine Spiele mit mir, sonst …“
„Ich spiele nie“, unterbrach Venom, und das Flüstern in seinem Kopf drängte ihn, weiterzusprechen. „Folge mir. Es gibt hier mehr als du suchst, mehr als du dir vorstellen kannst. Du wirst es sehen.“
Die Worte waren glatt, unheimlich, und er wusste nicht, warum er das sagte. Aber es fühlte sich richtig an. Venom spürte, dass das Flüstern ihn manipulierte, ihn anleitete, die Orkin weiter in die Tiefe zu locken. Ihr Gesichtsausdruck blieb hart, aber etwas in ihren Augen schien sich zu verändern. Neugier? Zweifel?
Sie ließ den Dolch noch nicht sinken, aber ihr Körpergewicht verlagerte sich, als ob sie bereit war, seine Worte abzuwägen.
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„Ich …“ Ska’ri stockte. Ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass ich den Ausgang finden will!, hatte sie sagen wollen, aber etwas ließ sie zögern.
Die Reaktion des Morras hatte sie völlig auf dem falschen Fuß erwischt. Sie hatte mit dem Üblichen gerechnet – Schock, Angst, vielleicht sogar Wut, Hass und Trotz – aber sicher nicht mit dieser völlig selbstverständlichen Seelenruhe! Der Morra machte keinerlei Anstalten, sich zur Wehr zu setzen, aber er zeigte auch keine Anzeichen von Furcht. Seine Stimme war ruhig und fest, und sein Blick suchte den ihren, als ob es für ihn das Normalste auf der Welt wäre, dass ihm eine Oraka einen Dolch an die Kehle hielt.
Allerdings war da noch mehr in seinen Augen, etwas, das Ska’ri nicht so recht einordnen konnte. Er wirkte zugleich aufmerksam und abwesend. So, als wäre er nicht ganz er selbst …
Statt unmittelbar zu antworten, zog Ska‘ri dem Morra das Tuch herunter, das sein Gesicht verbarg, und musterte ihn kritisch. Aber was auch immer sie erwartet hatte, da kam nur ein stinknormaler Morra zum Vorschein. Ein bisschen verbeult, zerschrammt und dreckig sah er aus, aber das traf auf sie selbst ja genauso zu.
„Was du wirklich suchst…“, murmelte der Morra plötzlich noch einmal. Seine Stimme war glatt und sanft und ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Lippen.
„Ach ja?“, knurrte Ska’ri. Sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber das seltsame Verhalten des Morras verunsicherte sie. „Und was suche ich deiner Meinung nach wirklich, hm?“
Sie beugte sich ein wenig vor und verstärkte den Druck der Klinge wieder. Der Morra antwortete nicht. Er sah sie nur an und … lächelte weiter sein sonderbares, verklärtes Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.
Plötzlich spürte sie eine leichte Wärme zwischen ihren Brüsten. Das Bruchstück! Sie zog den Anhänger hervor und wog ihn auf ihrer Handfläche. Der schwarze Stein strahlte tatsächlich eine leichte Wärme aus!
„Meinst du …“, begann sie, unterbrach sich aber. Es war sicher besser, wenn sie diesem verrückten Morra möglichst wenig über sich erzählte. Und so, wie er sie ansah, konnte man glauben, dass er ohnehin Bescheid wusste …
„Was sagt er?“, riss Er’esh sie plötzlich aus ihren Gedanken. Ska‘ri war so sehr auf den Morra konzentriert gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie ihr Bruder herangekommen war. Sie wusste nicht, wie viel von der Unterhaltung er mitbekommen hatte, aber da Er’esh im Gegensatz zu ihr die Sprache der Morras nicht beherrschte, konnte er so oder so nichts verstehen.
„Er behauptet, er kann uns … wo hinführen“, antwortete sie vorsichtig.
„Wo hinführen?“, grunzte Er’esh und kratzte sich am Hinterkopf, „Was soll das denn heißen? Kennt er nun einen Weg nach draußen, oder nicht?“
Ska’ri hob das Bruchstück. „Ich glaube, vielleicht kennt er einen Weg zu Krul. Deswegen sind wir doch hier, oder? Es hat uns also doch noch geführt … auf gewisse Art!“
Er’esh runzelte die Stirn. „Der da soll etwas mit Krul zu schaffen haben?“, schnaubte er verächtlich und deutete auf den Morra, „Das glaubst du doch wohl selbst nicht! Du weißt, was Krul von Morras hält.“
„Aber es hat reagiert!“, rief Ska’ri und ließ das Bruchstück an seiner Kordel hin- und herschwingen, „Woher soll ich wissen, wie das alles zusammenhängt? Seh‘ ich aus wie ‘ne Schamanin? Dieser komische kleine Morra steckt da irgendwie mit drin, und wenn wir rausfinden wollen, was mit Krul passiert ist …“
Er’esh stützte die Hände auf den Griff seines Kriegshammers und sah sie zweifelnd an.
„Ska’ri, wir sollten wirklich …“
„Bitte, Er’esh! Wir sind so weit gekommen, und das jetzt muss das Zeichen sein, auf das ich gewartet hatte! Ja, es ist nicht gerade das, was ich er-wartet hatte, aber verflucht nochmal, es ist eben Magie und es geht um Krul! Es ist die erste Spur seit Monaten … Wir können das jetzt nicht einfach ignorieren!“
Er’esh sah sie lange an. Schließlich hob er die gewaltigen Schultern und seufzte gedehnt. „Also gut. Sehen wir, was dein neuer Freund uns zu zeigen hat …“
„Baka, er ist nicht mein Freund!“, rief Ska’ri und warf einen kleinen Stein nach Er’esh, musste dabei allerdings grinsen vor Erleichterung.
„Also gut“, wandte sie sich wieder an den Morra, der die ganze Szene seelenruhig beobachtet hatte. Ihre Miene war wieder ernst. „Du behauptest, du kannst uns zeigen, was wir suchen? Dann hoffe ich für dich, dass das stimmt!“
Sie wartete noch ein paar Sekunden, bevor sie den Dolch endlich von der Kehle des Mannes nahm und von ihm herunterstieg.
„Geh voran. Aber ich warne dich, Kleiner … ich traue dir nicht! Denk nicht mal dran, was zu versuchen, sonst reiß ich dir die Eier ab und mein Bruder bricht dir einen Knochen nach dem anderen, und zwar ganz langsam! Verstanden?“
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Venom führte die Gruppe weiter, doch mit jedem Schritt, den sie in die Tiefe des Berges vordrangen, wuchs ein leises Unbehagen in ihm. Das Flüstern, das ihn bisher so sicher geleitet hatte, begann zu verblassen, und an dessen Stelle trat etwas anderes – eine wachsende Unruhe. Er spürte es in seinem Nacken, ein Kribbeln, das er nicht abschütteln konnte, und plötzlich schien die Dunkelheit um ihn herum weniger vertraut und mehr bedrohlich zu wirken.
Die Orkin schnaubte hinter ihm, als sie über einen glitschigen Stein trat, und Venom warf ihr einen kurzen Blick über die Schulter zu. Der große Ork, der mit etwas Abstand hinterherlief, ließ den Griff seines Kriegshammers auf den Boden krachen, die wuchtige Waffe schleifte über den Fels und erzeugte ein Geräusch, das durch die schmalen Wände des Tunnels widerhallte. Es war eine Mahnung: sie waren nicht allein in diesen Tiefen.
„Führ uns nicht in die Nähe der Biester“, knurrte die Orkin, ihre Augen schmal. „Ich kann sie riechen.“
Venom spürte, wie sich sein Herz beschleunigte. Sie hatte recht. Die Spuren der Minecrawler waren unübersehbar, und der Geruch, den sie hinterließen – eine Mischung aus Feuchtigkeit, Fäulnis und etwas Schärferem – lag schwer in der Luft. Er versuchte, die aufkommende Furcht zu unterdrücken, doch das Flüstern, das ihm bisher Sicherheit gegeben hatte, schien ihn in diesem Moment zu verlassen.
Er blieb stehen, die Fackel in seiner Hand brannte immer noch hell, doch das Licht reichte kaum aus, um die Dunkelheit zu vertreiben, die vor ihnen lag. „Wir müssen weiter“, sagte er leise, mehr zu sich selbst als zu den Orks.
„Wohin weiter?“ Die Orkin kniff die Augen zusammen. „Glaub mir, Kleiner, wenn du uns in ein Nest dieser Scheißviecher führst, dann reiß ich dir eigenhändig die Kehle auf. Wir sind hier nicht zum Spielen.“
Venom nickte langsam, doch seine Gedanken drifteten wieder ab. Er konnte sich nicht abwenden, nicht umkehren – das Flüstern hatte ihn so weit gebracht, und auch wenn es nun schwächer wurde, gab es keine andere Richtung mehr als vorwärts. Dennoch spürte er, wie die Kälte der Dunkelheit, die ihn umgab, plötzlich tiefer in seine Glieder drang. Die feuchten Wände um ihn herum glänzten nun fast durchgehend von dem zähen Schleim der Minecrawler, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auf eines dieser Wesen stießen.
Ein tiefer Atemzug, der nicht von ihm kam, ließ ihn zusammenzucken. Der große Ork hinter ihm blieb abrupt stehen und knurrte etwas auf Orkisch. Venom verstand die Worte nicht, aber der Tonfall war eindeutig – Warnung.
Er zwang sich, wieder vorwärts zu gehen. „Der Weg führt hier entlang“, sagte er und versuchte, seine Stimme ruhig zu halten, doch die Beunruhigung, die er fühlte, war nun unverkennbar. Der Tunnel begann sich erneut zu weiten, und Venom sah, wie sich der Boden vor ihnen veränderte. Es war nicht mehr nur der glatte Stein des Gebirges – hier und da tauchten Risse und kleine Löcher im Gestein auf, gefüllt mit demselben Schleim, der die Wände überzog.
„Wir kommen ihnen zu nah“, flüsterte er. Doch etwas tief in ihm zwang ihn weiter.
Die Orkin blieb dicht hinter ihm, die Augen wachsam, die Klinge ihres Dolches funkelte im schwachen Fackellicht. „Wenn du weißt, was gut für dich ist, machst du was ich gesagt habe“, fauchte sie, während ihr Bruder grunzte und sich umblickte, als erwartete er, dass jeden Moment etwas aus der Dunkelheit hervorschnellte.
Venom ging tiefer. Mit jedem Schritt schien das Flüstern in ihm wieder aufzuwachen, stärker zu werden, und auch wenn die Hinweise auf die Minecrawler dichter wurden, fühlte er sich wie von einer unsichtbaren Kraft geleitet. Doch diese Kraft hatte sich verändert – sie war nicht mehr so beruhigend wie zuvor, sondern trug nun etwas Bedrohliches in sich, als wollte sie ihn auf etwas zusteuern, das er nicht sehen konnte, das aber unweigerlich vor ihnen lag.
„Das hier ist kein sicherer Weg“, knurrte die Orkin erneut, doch Venom hörte sie kaum noch. Das Flüstern, das er jetzt wieder deutlich spürte, war lauter geworden, dringlicher, als wollte es ihm sagen, dass er kurz davor stand, das zu finden, was er suchte. Oder wollte das Flüstern ihn vor etwas warnen?
Venom presste die Lippen aufeinander, die Fackel fest in seiner Hand, und zwang sich, weiterzugehen.
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Die drei gingen weiter, und die bedrückende Stille des Tunnels schien sie zu verfolgen. Doch allmählich entfernte sich das Gefühl der unmittelbaren Bedrohung, das durch die Anwesenheit der Minecrawler verursacht worden war. Venom spürte, wie das Flüstern sich zurückzog, fast so, als sei es mit ihrem Abstand zu den Kreaturen weniger interessiert. Dennoch blieb die Unruhe in seiner Brust, auch wenn er versuchte, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren.
Die Orkin warf ihm hin und wieder misstrauische Blicke zu, ihre Augen noch immer wachsam. Der große Ork hinter ihnen grunzte und hielt seine Waffe fest, doch auch er wirkte etwas entspannter, als ob der Abstand zu den Minecrawlern die Gefahr etwas gemildert hätte. Sie schienen sicherer zu sein – zumindest für den Moment.
Dann bogen sie um eine weitere Ecke des Gangs, und Venom blieb plötzlich wie versteinert stehen.
Vor ihnen ragte eine gewaltige Gestalt aus dem Schatten hervor. Der Gang war an dieser Stelle breiter, und die Kreatur, die sich über die Wände zu lehnen schien, war beeindruckend. Ihr massiver Körper, die langen Beine und die gewaltigen Zangen ließen keinen Zweifel daran, dass sie auf einen Minecrawler-Krieger gestoßen waren.
„Verfluchter Mist“, murmelte die Orkin hinter ihm. Ihr Dolch blitzte im Fackellicht auf, bereit für einen Kampf.
Doch als Venom genauer hinsah, erkannte er, dass die Kreatur reglos war. Ihre starren Zangen hingen schlaff herab, und der Körper war von einem staubigen Grau überzogen, als ob die Zeit ihn bereits in ihren Griff genommen hätte.
„Er ist tot“, stellte Venom schließlich fest, sein Herzschlag beruhigte sich. Die Erleichterung überkam ihn, aber er wagte es noch nicht, die Fackel zu senken.
Die Orkin trat vor und musterte die riesige Kreatur, die vor ihnen lag. Sie beugte sich hinunter, berührte vorsichtig die knochige Hülle des Minecrawlers und schnaubte dann abfällig. „Verdammt nochmal, so 'ne Bestie hab ich noch nie gesehen. Aber ja, der hier ist schon lange hinüber.“
Der große Ork lachte leise, ein dumpfes, kehliges Geräusch, das durch den Gang hallte. Er sagte etwas auf Orkisch, das Venom nicht verstand. Er schien sich zu entspannen und stützte sich schwer auf seinen Kriegshammer.
Venom trat näher an den toten Minecrawler heran. Seine Augen glitten über die zerfallenen Platten des Panzers, die an manchen Stellen lose wirkten. Einige der Platten hatten sich bereits gelöst und lagen verstreut um den Körper des Kriegers. Eine Mischung aus Faszination und Neugier durchzog ihn. Der Panzer des Kriegers schien stark zu sein, selbst in diesem verwitterten Zustand.
Er beugte sich hinab und hob eine der losen Platten auf. Sie war überraschend leicht, aber dennoch hart und widerstandsfähig. Venom drehte sie in seinen Händen und schätzte ihr Potenzial ein. Sie schien robust genug zu sein, um Pfeile und vielleicht auch Klingen abzuhalten.
Die Orkin beobachtete ihn dabei, wie er eine weitere Platte einsammelte und sie mit einem zufriedenen Nicken in seine Tasche steckte. „Na, wenn du genug davon findest, kannst du dir 'ne Rüstung basteln, die dir die Eier schützt“, sagte sie grinsend und warf einen kleinen Stein gegen den toten Crawler, der hohl klapperte.
„Besser als die Haut auf deinem Rücken“, erwiderte Venom trocken und konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. Die angespannte Stimmung wich langsam, und selbst der große Ork schien zu schmunzeln, als er sich nach vorn lehnte und den toten Krieger mit einem stoßenden Tritt gegen die Zangen bewegte.
„Wenn es von denen hier noch mehr gibt sollten wir besonders aufpassen.“, murmelte Venom und richtete sich auf.
„Wenn sie uns hören, sind wir dran“, flüsterte die Orkin, ihre Miene wieder ernster.
Venom nickte, doch er spürte erneut das Flüstern in sich, das ihn weiter lockte, weiter in die Tiefe, jenseits der Minecrawler und des Gefühls der Gefahr. „Wir sollten weitergehen“, sagte er schließlich und ließ den toten Minecrawler hinter sich. „Wir sind noch nicht am Ende.“
Die Orks folgten ihm, und das leise Grollen des großen Orks hinter ihnen schien fast ein zustimmendes Nicken zu ersetzen. Der Weg führte sie weiter, tiefer in den Berg, und Venom spürte, dass das Flüstern wieder lauter wurde. Es war, als würde es ihm zuflüstern, dass sie auf dem richtigen Weg waren – doch welcher Weg das war, blieb immer noch ein Rätsel.
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