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    Provinzheld Majonese's Avatar
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    Jun 2020
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    1 - Eine helfende Hand
    2186 - Omega, Solar Distrikt, Sarrià

    "Habt ihr noch irgendwelche Fragen?"
    Niemand antwortete Jax, was den Ex-Allianz-Soldaten seufzen ließ. "Also gut...dann war es das erstmal..." Er schaltete den Fernseher ab, auf dem er seiner Crew einer Reihe von Lageplänen gezeigt hatte. Es handelte sich um die Grundrisse einer heruntergekommenen Industrieanlage im Void Distrikt, die seit einiger Zeit von einem Rudel brutaler Vorcha besetzt wurde, aber wenn man mal von Wish absah, hatte sich kaum einer der Anwesenden allzu viel Mühe gemacht, die Pläne zu studieren. "Ich schick euch allen noch die Dateien zu", kündigte Jax in einem strengen Tonfall an. "Seht zu, dass ihr euch den Grundriss einprägt!"
    Wieder bekam er sehr verhaltene Reaktionen. Matt gab ein schnippisches "Machen wir!" von sich, was aber sarkastisch gemeint war, denn er würde wie üblich den Komplex ohnehin nicht selbst betreten, sondern stattdessen mit seinem Skycar in der Nähe warten.
    "Bleib ma' locker!", schnaubte Saskia unterdessen, während sie sich halb sitzend, halb liegend auf dem Sofa räkelte und dabei mit einer ihrer Pistolen herumspielte. "Wir sin' ja nich' blöd..."
    Auch Salih sah keinen Grund, sich wegen der Sache großartig Stress zu machen. Ihr Job war wirklich nicht kompliziert; sie würden die Anlage stürmen und alle Vorcha im Inneren über den Haufen schießen. Und das Gebäude war auch nicht gerade ein Labyrinth. Verlaufen würden sie sich dort mit Sicherheit nicht. Der Mann ließ sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Sofa nach hinten gleiten. "Ja, Digga, wir kriegen das schon hin, mach dir da ma' keine Sorgen! Un' außerdem...wenn wir ma' nich' weiter wissen, fragen wir einfach Wish..." Breit grinsend gab Salih der Asiatin, die neben ihm saß, einen leichten Stoß mit dem Ellbogen. "Die kennt die Karte doch jetz' schon in und auswendig!"
    Ganz so zuversichtlich schien Wish nicht und sie lächelte nervös. "Ähm...jaah..."
    "Zur Not könn' wir au' einfach die Vorcha frag'n", meinte Saskia trocken, woraufhin sie einige Lacher erntete.
    Jax sagte nichts mehr dazu, sondern schüttelte nur tadelnd den Kopf, ehe er sich an Echo wandte. "Du weißt, was du zu tun hast?"
    Der Vietnamese nickte wortlos, ehe er sich zum Gehen wandte. Während sie alle noch zwei Tage Zeit hatten, um sich auf den Angriff vorzubereiten, würde Echo sich die Location schonmal aus der Nähe anschauen und dabei nach Fallen oder Gelegenheiten für einen Hinterhalt Ausschau halten. Praktisch nach allem, was ihnen einen Vorteil verschaffen würde. Es war kein ungefährlicher Job, doch Echo beschwerte sich für gewöhnlich nicht und hatte kein Problem damit, sich ganz allein in die Gefahrenzone zu begeben. Er selbst behauptete ohnehin immer, dass er so am besten arbeiten konnte, also machten sie sich auch keine großen Sorgen um den Kerl.
    Trotz Jaxs Versuchen, seine Truppe mit einer gewissen Ernsthaftigkeit auf ihren Job vorzubereiten, war die Stimmung in der Boom-Box recht entspannt und sorglos. Noch bevor Echo überhaupt den Raum verlassen hatte, setzten Fix, Matt und Casandra ihr Kartenspiel fort, während Saskia aufsprang und sich am Kühlschrank ein Bier besorgte. Selbst Wish packte schließlich ihre Sachen weg und zog ihr Smartpad hervor. Im ersten Moment sah es aus, als ob sie wie so oft irgendetwas für ihren Job recherchieren wollte, aber dann öffnete sie bloß ihre Unitube-App und schaute sich Videoclips aus dem Extranet an. Gloria hingegen hatte die Boom-Box längst verlassen; fast schon fluchtartig war sie mit dem Ende von Jaxs Briefing aufgesprungen und nach draußen gestürmt, aber das überraschte hier niemanden.
    Eigentlich hätte Salih auch nicht viel länger hierbleiben wollen, aber er blieb dennoch sitzen. Warum genau wusste er selbst nicht. Ihm fehlte im Augenblick einfach jeder Antrieb. Und es war ja nicht so, als ob zuhause irgendjemand auf ihn warten würde. Nicht mehr. Ihm entfuhr ein leises Seufzen und er wandte seine Aufmerksamkeit den Videos auf Wishs Smartpad zu, damit er zumindest irgendetwas hatte, um sich abzulenken.
    Unterdessen kam Cobra auf Fix zu. "Ey...hast du 'n bisschen Hallex für mich?"
    Der Dealer zuckte mit den Schultern, ohne von seinen Karten aufzublicken. "Wenn de Creds hast, hab ich alles für dich", meinte er.
    "Äh...hör ma'...wär' es cool für dich, wenn ich dir das Geld später gebe? Ich hab gerade nich' so viel..."
    Mit einem unzufriedenen Schnaufen blickte Fix nun doch zu ihm auf. "Soll das 'n Witz sein?"
    "Ey, wir werden doch übermorgen eh bezahlt, dann geb ich dir die Creds gleich zurück...!", beteuerte Cobra sofort.
    Einen Moment musterte der Dealer ihn abschätzig, seine Augen verengten sich zu Schlitzen und er verzog den Mund, so als ob er abwog, ob er sich darauf einlassen sollte. Und überraschenderweise nickte er dann. "Fuck it! Meinetwegen." Fix griff in seine Jackentasche und zog einige kleine Ampullen hervor, aus denen er schließlich eine bestimmte hervorholte und sie Cobra reichte. "Aber ich seh die Creds dann, kapiert? Versuch bloß nich' mich abzufucken...!"
    "Nein, Mann, kannst mir vertrauen..."
    Fast hätte Salih laut geschnaubt und er spürte, dass er nicht der Einzige war, der Cobras Bemerkung nicht ganz ernst nehmen konnte. Der junge Mann war nicht unbedingt die zuverlässigste Person in ihrer Crew und würde wahrscheinlich morgen schon vergessen haben, wie viel Geld er Fix eigentlich schuldete.
    Saskia kehrte zu der Sofagruppe zurück und nickte im Vorbeigehen Fix zu. "Yo, wo wir g'rad' dabei sin', ich brauch noch Neurokiller von dir."
    Ohne großes Interesse wandte sich der Angesprochene wieder dem Kartenspiel zu. "Hast 'e au' Geld dabei?", fragte er sie.
    "Ne, im Moment nich'. Aber ich geb dir den Shit, sobald Jax uns bezahlt hat."
    "Vergiss 's! Kein Geld, keine Meds."
    "WAS?" Als hätte jemand einen Schalter umgelegt verwandelte sich Saskia von einer Sekunde auf die nächste in eine blutrünstige Bestie, deren mörderischer Blick sich auf Fix legte, als wolle sie sich jeden Moment auf ihn stürzen. Sie machte einen drohenden Schritt auf ihn zu und gestikulierte ungestüm in Cobras Richtung. "Willst du mich veraschen, du Fickfresse? Ihm gibst 'e das Zeuch doch au' im Voraus!"
    Der Dealer ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. "Ja un'? Er is' halt au' nich' so 'ne dumme Nutte wie du..."
    Mit einem wütenden Schrei sprang Saskia ohne jede Rücksicht auf den niedrigen Tisch und baute sich direkt vor Fix auf. "WAS SOLL 'NN DAS HEIß'N, HUH?"
    Ungerührt erwiderte er ihren Blick. "Soll heiß'n, du kriegst nichts von mir, bis du das Geld hast. 'nem Haufen Scheiße wie dir würd' ich keine fünf Creds leihen..."
    "WIE WÄR 'S, WENN ICH DIR INS GESICHT TRETE, DU BLÖDER WICHSER?", brüllte sie aufgebracht. Ihre Reaktion mochte übertrieben wirken, aber jeder hier wusste, dass Fix sie absichtlich provozierte. "UN' COBRA IS' VERTRAUENSWÜRDIG, O'ER WAS? DER IDIOT GEHT ÜBERMORGEN HUN'ERTPRO DRAUF UN' DANN SIEHST DU KEINEN EINZIGEN CRED MEHR VON IHM!"
    "Heh!", beschwerte sich Cobra, der gerade die Dose mit Hallex in seiner Jackentasche verschwinden ließ. "Lass mich da ra-"
    "SCHNAUZE!"
    "Un' außerdem...", erhob Fix wieder seine Stimme und grinste die kleine Frau süffisant an. "Hab ich im Moment eh keine Neurokiller dabei. Kannst dir also dein Gejammer spar'n." Ihm war anzusehen, wie viel Genugtuung es ihm bereitete, Saskia zur Weißglut zu treiben. Zugegebenermaßen; es war auch wirklich nicht schwer, und der Dealer hatte dieses Handwerk mittlerweile perfektioniert.
    Schon wollte Saskia etwas erwidern, als Casandra sich einmischte. "Runter vom Tisch!", knurrte sie ihre Mitstreiterin an. Ihr Tonfall war ruhig, aber der Ausdruck ihrer braunen Augen gefährlich. Kein Wunder; Saskia hatte das Kartenspiel durcheinandergebracht und angesichts des hohen Geldbetrags, um den gespielt wurde, hatte Casandra guten Grund für weiteren Ärger.
    Für einen Moment schien die wütende Bestie ihren Aufstand fortsetzen zu wollen, doch dann schien sie einzusehen, dass sie damit nicht weit kommen würde. Also fletschte sie die Zähne und stieß einen frustrierten Schrei aus. "Hier! Fickt euch!", rief Saskia aufgebracht und reckte Fix noch den Mittelfinger entgegen, ehe sie sich ansatzlos auf das nächstbeste Sofa warf. Überraschenderweise schaffte sie das, ohne dabei etwas von ihrem Bier zu verschütten. "Ihr könnt mich alle ma'..."
    Langsam verebbte der Aufruhr wieder und Salih lachte leise in sich hinein, während Fix, Matt und Casandra ihr Kartenspiel wieder aufnahmen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie lange er eigentlich nicht mehr richtig Zeit mit seinen Mitstreitern verbracht hatte. Klar, er traf sie immer mal wieder, sei es für ihre Besprechungen, die Vorbereitungen und natürlich die Jobs, die sie für Jax erledigten. Aber das war eben immer Arbeit. So wie jetzt ganz entspannt in der Boom-Box sitzen und chillen, das war für Salih mittlerweile total ungewohnt geworden. Und irgendwie gefiel es ihm. Obwohl Fix ein Arschloch war und Saskia mit ihrem Gebaren ziemlich nerven konnte, fühlte es sich gut an. Normal. Fast wie früher, auch wenn sich im Laufe der Jahre einige der Gesichter geändert hatten.
    Dennoch war etwas anders. Seit knapp einer Woche hatte er dauerhaft dieses unerträgliche Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. Fast so, als ob er etwas Wichtiges vergessen hätte und sich nun nicht so recht daran erinnern konnte, was es war. Es ließ ihm keine Ruhe und tatsächlich spürte Salih nach einer Weile, in welcher er einigermaßen entspannt auf dem Sofa herumlungerte, diese Unruhe erneut in sich anschwellen. Sie befiel ihn schleichend, wurde stärker, präsenter und schließlich versetzte sie ihm einen unangenehmen Stich in der Magengegend. Von einem Moment auf dem nächsten fragte er sich, was er eigentlich hier machte. Er saß hier rum und schaukelte sich die Eier, dabei sollte er doch längst woanders sein und...irgendwas tun. Richtig?
    Ohne konkreten Anlass stand Salih auf und zog sich seine Jacke über. Es war, als hätte jemand anderes für ihn entschieden, dass er nun gehen wollte.
    "Ey, Salih!" Saskia rief lautstark durch den ganzen Raum, sodass jeder hören konnte, was sie zu sagen hatte. Ob man nun wollte oder nicht. "Wie sieht's 'n eigentlich aus? Wir wollt'n nachher ins Overdrive. Kommst 'e mit?"
    Fast reflexartig wollte Salih schon verneinen, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. Er öffnete schon den Mund, hielt dann aber plötzlich inne. Warum eigentlich? Warum wollte er ablehnen? Hatte er keine Lust? Keine Zeit...? "Wer kommt denn mit?", fragte er um seine Antwort hinauszuzögern.
    "Bis jetz' Matt, der Lappen da drüb'n..." Sie deutete dabei auf Cobra. "...un' ich."
    Irgendwie klang der Gedanke verlockend. Das Overdrive war eigentlich ein wirklich cooler Club drüben im Void Distrikt. Nicht so runtergekommen wie andere Läden in dem Bezirk aber auch mit einer gewissen Rohheit, die ihm ein ganz eigenes Feeling gab. Mit einem Anflug von Verwegenheit wollte Salih schon zustimmen, aber etwas hielt ihn zurück. "Ach...ich weiß nich'", seufzte er. "Ich hab gerade nich' so Bock..."
    Saskia rollte mit den Augen und schnaubte verächtlich. "Boah, sach' jetz' nich', du bist immer noch am Rumheul'n wegen deiner Bitch!" Mit der Bierflasche in der Hand fuchtelte sie wild herum, während sie sich in einer furchtbaren Babystimme über ihn lustig machte. "Uuuuhuu, meine Alte hat 'nem an'er'n Typ'n den Schwanz gelutscht un' jetz' bin ich ganz traurig, uuuhuuuu..." Ihre Augen fixierten Salih und sie wirkte fast schon empört über seine Absage. "Alter, sei ma' nich' so whack! Das is' jetz' 'ne Woche her, du willst doch nich' ewig weiter darüber rumjammern!"
    Salih entfuhr ein müdes Schnaufen. Fast bereute er es, Saskia überhaupt von der Sache mit Noura erzählt zu haben. Und doch war er irgendwie froh, dass sie ihn nicht bemitleidete und so tat, als ob die Sache ein Riesendrama sei. In ihrer Welt war vom eigenen Partner betrogen zu werden wahrscheinlich keine allzu große Sache. Und sie hatte Recht. Es hätte wirklich keinen Sinn, sich deswegen in einer Ecke zu verkriechen und sich zu beklagen, dass alles schlimm war. Auch wenn es sich für ihn so anfühlte.
    Und trotzdem wollte Salih sich nicht entscheiden. "Ich denk mal drüber nach!", wich er einer konkreten Zusage aus. "Ich lass euch wissen, falls ich dabei bin..." Mit einem Wink verabschiedete er sich von seinen Freunden und verließ die Boom-Box.


    "Salih?"
    Der Angesprochene schaute auf, als die kratzige Stimme von Idris aus der hinteren Ecke der Werkstatt auf einmal ertönte, kaum dass er die Treppe von der Boom-Box runtergekommen war.
    Noch mit einem Schleifwerkzeug in der Hand trat der Turianer auf Salih zu. Wie von seiner Art zu erwarten war sein Gesicht mit den blauen Clanmarkierungen ziemlich ausdruckslos. "Hast du einen Moment Zeit?", wollte er wissen.
    "Klar doch. Hau raus, Mann, was is' los?"
    "Hast du nochmal mit Lorenzo gesprochen?"
    Für einen kurzen Moment stutzte Salih und wusste nicht, wovon der Hoverbike-Mechaniker sprach. Dann regte sich etwas in seinem Hinterkopf und er wunderte sich, wie er das hatte vergessen können. "Oh! Stimmt, gut dass du das erwähnst. Ich war vorgestern bei ihm, aber er is' noch nicht wieder auf den Beinen. Liegt noch im Gozu Central. Er hat gemeint, er wird Ende der Woche entlassen."
    Nun verdüsterte sich der Gesichtsausdruck von Idris merklich. "Und das Geld?"
    Salih zuckte entschuldigend mit den Schultern. "Das wird schwierig. Du weißt ja, das Gozu Central is' nicht billig. Die Ärzte haben wahrscheinlich sein Gehalt für die nächsten Wochen in die Taschen gesteckt. Un' es wird wohl noch etwas dauern, bis Lorenzo wieder richtig arbeiten kann."
    "Das ist...bedauerlich."
    Selbst bei dem eigentlich so zurückhaltenden Idris war der Frust in den Worten deutlich anzuhören. Und Salih konnte ihm wirklich keine Vorwürfe machen. Das 'Bits & Bikes' war so ziemlich die einzige Werkstatt im ganzen Solar Distrikt, die sich auf Hoverbikes spezialisierte und Idris war darüber hinaus auch ziemlich gut in dem, was er tat. Trotzdem gab es leider noch so einige Leute, die aus ihrer Abneigung gegen Turianer keinen Hehl machten und es passierte viel zu oft, dass ihn Kunden versuchten über den Tisch zu ziehen und etwa mit gefälschten Credit-Chips bezahlten oder irgendwie anders versuchten, sich um ihre Rechnungen zu drücken.
    Lorenzo war einer von diesen Leuten. Zum Glück des Turianers handelte es sich um einen Bekannten von Salih, der im selben Block wie der Marokkaner wohnte. Entsprechend konnte Salih ihm in dieser Angelegenheit unter die Arme greifen und dafür sorgen, dass er seine Credits noch bekam. "Ey, pass ma' auf, Digga!", meinte Salih und legte Idris eine Hand auf die Schulter. "Ich halt mal 'nen Auge auf Lorenzo und...erinnere ihn ab und zu an das Geld, okay? Ich lass dich dann wissen, wann er wieder zahlen kann."
    Die Mandibeln des Turianers zuckten kurz, auch wenn sich sein Gesichtsausdruck nicht veränderte. "Danke", meinte er dann mit einem knappen Nicken. Begeisterung sah anders aus, aber etwas anderes als sich auf den Menschen zu verlassen blieb ihm in der Situation auch nicht.
    "Alles klar!", lachte Salih und klopfte ihm auf den Rücken, ehe er sich zum Gehen wandte. "Wir sehen uns, Bruder!"
    Wortlos hob Idris seine Hand zum Gruß und setzte seine Arbeit fort.
    Als Salih die Werkstatt verließ und nach draußen auf die Straße trat, entfuhr ihm ein Seufzen. Er hatte noch keine Ahnung, wie genau er die Sache mit Lorenzo lösen sollte. Zwar hatte sich der Kerl nicht gerade beliebt damit gemacht, nachdem er Idris für die Reparatur seines Hoverbikes mit einem gefaketen Credit-Chip bezahlt hatte, aber trotzdem wollte Salih ihn auch nicht bis auf den letzten Credit ausquetschen. Lorenzo hatte nach seinem Unfall in den Docks vor einer Woche schon genug Probleme am Hals und er würde sicherlich noch etwas Zeit brauchen, um genug Geld für Idris aufzutreiben. Aber vielleicht reichte ja schon die ein oder andere freundliche Erinnerung, dass Lorenzo seine Schulden bei dem turianischen Mechaniker beglich. Salih war zuversichtlich, dass es nicht allzu viel Überredungsarbeit seinerseits brauchen würde und sich die Sache schon noch früh genug erledigen würde. Zuversichtlich machte er sich auf den Heimweg.
    Während Salih durch die einigermaßen sauberen Straßen von Sarrià lief, fiel ihm auf, wie ruhig es eigentlich war. Für gewöhnlich war hier deutlich mehr los, aber im Augenblick begegneten Salih nicht mehr als ein paar vereinzelte Seelen, die sich nicht großartig um den hochgewachsenen Marokkaner scherten und ihren eigenen Angelegenheiten nachgingen. Abgesehen von dem gelegentlichen Surren eines Skycars, das über die Dächer der Wohnhäuser hinwegfegte und entferntem Stimmgewirr, das durch die Straßen hallte, blieb es ziemlich still. Den Geräuschen in der Ferne nach zu urteilen, schien zwei Blocks weiter eine Party zu steigen, während aus einer anderen Richtung das wutentbrannte Gebrüll eines Mannes herüberwehte.
    In all diesem üblichen Rauschen des Distriktes bemerkte Salih aber plötzlich etwas Ungewöhnliches.
    Das 'Bits & Bikes' lag keine zwei Blocks hinter ihm und er hatte noch einen ordentlichen Heimweg vor sich, dennoch blieb er stehen und lauschte aufmerksam. Es klang wie ein Husten. Was genau ihn daran so aufhorchen ließ, konnte er sich im ersten Moment selbst nicht erklären. Trotzdem setzte er sich langsam in Bewegung und folgte den Lauten. Sie führten ihn eine Treppe in einen düsteren Tunnel herunter, welcher zu einem Knotenpunkt der Sektorwartung führte. Hier gab es Zugänge in die unteren Wartungssysteme, sowie Arbeitsstationen und Ausrüstungsschränke für Notfallequipment. Im Augenblick war der Bereich aber verwaist und niemand schien hier zu arbeiten.
    Mit gerunzelter Stirn ging Salih tiefer durch den Tunnel, bis er an eine Abzweigung kam. Zu seiner Linken befand sich eine dunkle Nische, in der sich ein Haufen Müll und Gerümpel tummelten, der wohl von der Sektorwartung achtlos hier abgestellt worden war. Sie war mehrere Meter tief und das Licht aus dem Tunnel reichte kaum aus, um sie richtig auszuleuchten. Dennoch erkannte Salih im Halbdunkel eine ihm bekannte Gestalt.
    "Gloria?", entfuhr es ihm verblüfft.
    Die junge Frau hockte auf allen Vieren inmitten des Unrats und anstatt etwas zu erwidern, hustete und würgte lediglich lautstark. Sie war vornübergebeugt, sodass ihr Gesicht nicht zu sehen war, aber ihre rot gefärbten Haare und ihre gelbe Jacke verrieten Salih sofort, dass es sich um die Biotikerin der Enigma-Crew handelte.
    Milde überrascht trat er auf sie zu. Als ihm klar wurde, dass sich die Frau gerade heillos übergeben musste, war sein erster Gedanke, ihr dabei zu helfen, sich nicht selbst vollzukotzen, doch dafür war es offenbar schon zu spät. Die übelriechende Flüssigkeit hatte eine große Pfütze zwischen ihren Händen gebildet und Salih erkannte, wie Schlieren des Erbrochenen an ihrem linken Arm herabliefen.
    "Hey, Gloria!", versuchte er es noch einmal. "Hörst du mich?"
    Anstatt eine Antwort zu geben, stöhnte die junge Frau laut, ehe ein Ruck durch ihren Körper lief und sie sich röchelnd nach vorne beugte. Der Würgereiz trieb sie so weit Richtung Boden, dass ihre Haarspitzen bereits ihre Magenflüssigkeit erreichten, doch allem Anschein nach hatte sie bereits alles ausgespien, was ihr Körper hergeben konnte, denn mehr als Speichel kam nicht mehr aus ihr heraus.
    Es war ein Anblick, der zwar nicht sonderlich schön war, aber auch nicht wirklich überraschend kam. Schon während der gesamten Besprechung in der Boom-Box hatte Gloria einen miserablen Anblick gegeben. Wie viel sie von Jaxs Plänen mitbekommen hatte, war schwer zu sagen, aber vermutlich war sie die ganze Zeit über völlig drauf gewesen. Zumindest war sie das die letzten Wochen immer gewesen, wenn sie sich mal beim Rest der Crew hatte blicken lassen. Was sie ansonsten trieb, wusste niemand von ihnen, denn sie hielt sich meist von ihren Mitstreitern fern. Selbst Saskia, welche die Biotikerin schon seit ihrer Kindheit kannte, hatte oft keine Ahnung, wo sich Gloria herumtrieb. Aber vermutlich lag die Frau oftmals so wie jetzt in irgendwelchen dunklen Ecken des Distriktes und ertränkte sich in ihren Substanzen. Oder spie sie wieder aus.
    "Alles okay? Brauchst du Hilfe?" Eigentlich brauchte Salih die Frage gar nicht stellen, denn die Antwort lag auf der Hand. Allerdings erhoffte er sich zumindest irgendeine Reaktion von ihr.
    Und tatsächlich schaute Gloria endlich zu ihm auf, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Ihre Augenlider flatterten, als sich ihr Blick auf den Marokkaner richtete und schon eine Sekunde später stöhnte sie auf und schien mit der nächsten Übelkeitswelle zu kämpfen. Dann kippte sie einfach zur Seite um, wobei sie um ein Haar in der widerlichen Pfütze landete. Es war ein trauriger Anblick. Ihr Gesicht war leichenblass und eingefallen, die einzige Farbe kam von ihren rot gefärbten Haaren und der rostbraunen Verfärbung um ihr linkes Auge, welche sich wie ein Geschwür unter ihrer Haut ausgebreitet hatte. Die Spuren ihres übermäßigen Konsums von Rotem Sand. Selbst ihr Augapfel hatte eine dezente Rötung angenommen. "Hau ab...!", stieß sie schwer atmend hervor.
    Genau das hätte Salih auch getan, wenn er irgendeinen x-beliebigen Junkie vor sich gehabt hätte. Aber Gloria gehörte nun mal zu seiner Crew. "Komm her...!" Ohne zu zögern hockte er sich neben sie, packte sie an der Hüfte und zog sie mit einem Ruck wieder nach oben, damit sie zumindest knien konnte. Kotzen im Liegen war nicht gerade angenehm. Es war auch nicht sonderlich schwer, denn die Biotikerin wog noch weniger als Saskia, obwohl die nicht größer als eine Zwölfjährige war. "Digga...du musst echt aufhören, diese Scheiße zu nehmen!", seufzte Salih, auch wenn ihm klar war, dass er genausogut auch mit dem Erbrochenen hätte reden können.
    Von Gloria kam nur ein langgezogenes Ächzen. Sie zuckte ein wenig, so als ob sie halbherzig versuchte, sich gegen ihn zu wehren, ohne aber irgendetwas zu erreichen. Noch einmal würgte sie kurz, wobei ihr lediglich etwas Speichel aus dem Mund lief, ehe sie sich zurücksinken ließ. Dabei drohte sie aber sofort wieder seitlich umzukippen, also griff Salih die Frau kurzerhand an den Schultern, drehte sie weg von der stinkenden Pfütze und lehnte sie gegen eine Wand, damit sie einigermaßen aufrecht sitzen und wieder zu Atem kommen konnte. Und tatsächlich kehrte ein wenig Ruhe ein. Noch immer ging Glorias Atem schwer, aber sie schien wieder ein wenig mehr Kontrolle über ihren Körper zu bekommen.
    "Was willst du...?", schnaufte sie und ließ ihren Kopf nach hinten gegen das Metall fallen, um zu ihm aufschauen zu können.
    "Ich will dir helfen!" Salih schnaubte laut. "Du bist völlig am Arsch."
    "Nich' d-dein Problem...", murmelte Gloria und schloss erschöpft die Augen.
    Fast hätte Salih aufgelacht. "Alter, Gloria, was denkst du denn, was passiert, wenn dich jemand so findet? Die werden dir nicht bloß die Taschen leeren, das kann ich dir garantieren. Du hättest noch Glück, wenn sie dir direkt die Kehle durchschneiden..."
    Nun blitzte für einen Moment so etwas wie Trotz in ihrem Blick auf. "I-ich kann...auf m-mich selbst aufpassen!", behauptete sie und schon leuchteten violette Schlieren in der Luft um sie herum auf.
    Salih spürte die pulsierende Energie, welche die Luft um sie herum erfüllte. Es schien beeindruckend, dass sie trotz ihres Zustandes ohne Probleme ihre Biotik derart einfach entfesseln konnte. Vielleicht musste sie sich tatsächlich nicht so schnell Sorgen darum machen, irgendwelchem Abschaum oder Vorcha zum Opfer zu fallen. Trotzdem gab er sich nicht zufrieden damit. Er nickte in Richtung ihrer Hände, an denen sich noch Reste des Erbrochenen befanden. "Schau dich doch ma' an, Alter! Diese scheiß Drogen zerficken dich einfach! Du liegst in deiner eigenen Kotze und kannst nich' mal mehr richtig stehen. Und dein Auge...siehst du damit überhaupt noch was?"
    Glorias Züge verhärteten sich. Sie vermied es, in seine Richtung zu schauen.
    Erneut seufzte Salih und schüttelte den Kopf. "Ich verstehe es halt echt nicht, wieso ein so hübsches Mädel wie du sich so ihr Leben kaputt macht. Mit deiner Biotik könntest du bestimmt im Alleingang den ganzen Distrikt erobern un' wie eine Königin herrschen", versuchte er es mit einem Scherz. "Aber stattdessen hockst du hier und kotzt dir die Seele aus 'm Leib. Warum? Was soll das?"
    Seine Worte zeigten Wirkung. Was genau in ihrem Kopf vor sich ging, wusste Salih nicht, aber Gloria senkte fast schon beschämt den Blick und ihr entfuhr ein fast schon verzweifeltes Stöhnen. "I-ich brauch das...!", keuchte sie und starrte mit leerem Blick geradeaus. Dann wiederholte sie erneut, dieses Mal etwas leiser: "Ich brauch das..."
    Salih wollte sich damit nicht zufrieden geben. "Aber warum denn? Sag mir nich', du fühlst dich damit besser! Weil es dir mit Sicherheit beschissen geht."
    Die Frau schüttelte langsam den Kopf. "Du hast keine Ahnung...ich habe solche Schmerzen..." Nun richtete sich ihr Blick direkt auf ihn und sie sah dabei unheimlich erbärmlich aus. "Ich weiß nich', was ich sonst machen soll!", raunte sie mit zittriger Stimme. "Es is' das einzige, was hilft..."
    Sonderlich viel konnte Salih hier auch nicht machen. Er wusste um die Anfälle, die Gloria schon seit ihrer Kindheit hatte und die sie selbst jetzt noch gelegentlich heimsuchten. Nach allem, was er über die Beschwerden mit ihrem L2-Implantat wusste, beneidete er sie nicht um ihre Situation. Und leider konnte er ihr auch nicht damit helfen. "Es findet sich bestimmt noch was, das dir mit diesen Anfällen hilft", versuchte er es mit ein wenig Optimismus. "Damit du nicht immer diese Scheiße nehmen musst."
    Wenig überraschend halfen seine Worte nicht dabei, Gloria aufzumuntern. Sie schüttelte nur unwirsch den Kopf und stöhnte erneut, ehe ein weiterer Würgereiz ihr die Tränen in die Augen trieb.
    Etwas anderes hätte ihn aber auch gewundert. Salih wusste sehr wohl, dass ein wenig gut zureden hier nichts mehr brachte. Dafür war Gloria schon viel zu sehr im Griff ihrer Substanzen. "Du solltest dich vielleicht lieber ein wenig ausruhen! Damit du übermorgen fit bist. Sonst kriegst du noch Probleme mit Jax", beschloss Salih, weil er dieses Elend nicht länger mitansehen konnte. Ohne auf ihre Zustimmung zu warten, griff er ihr erneut unter die Arme und zog sie auf die Beine. Im ersten Moment reagierte sie gar nicht und es dauerte einige Sekunden, bis sie ihre Muskeln anspannte und ihre Füße auf dem Boden platzierte. Sie wankte heftig und Salih musste sie zunächst stützen, damit sie nicht direkt wieder umkippte. "Ich bring dich sicherheitshalber mal nachhause, bevor noch was passiert. Klar, du kannst dich mit deiner Biotik wehren, aber was, wenn du stolperst und eine Treppe runterfällst, so high wie du bist? Oder dich verläufst?" Er grinste ihr schelmisch zu und klopfte ihr sanft auf den Rücken.
    Und zumindest für einen winzigen Moment blitzte ein gequältes Lächeln auf ihrem Gesicht auf.
    Majonese is offline Last edited by Majonese; 03.09.2024 at 21:15.

  2. #2 Reply With Quote
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    2 - Der freundliche Nachbar

    Es war ein gehöriger Umweg für Salih, die Biotikerin den ganzen Weg zu ihrer Unterkunft in Pyro zu begleiten. Die Gegend, in der sie lebte, machte einen besonderes heruntergekommenen Eindruck, der irgendwie zu Glorias Situation passte. Dennoch war er erleichtert, dass sie zumindest seine Hilfe annahm und schließlich einigermaßen sicher zuhause ankam. Auch wenn das Gebäude, an dem Salih die Frau verließ, einen ziemlich verwahrlosten Eindruck machte. Er wunderte sich, ob Gloria überhaupt eine eigene Wohnung dort hatte, oder ob sie in irgendeiner Abstellkammer lebte.
    Aber zumindest lag sie nun nicht mehr in ihrem eigenen Erbrochenem in einem verlassenen Wartungstunnel.
    Und im Endeffekt störte sich Salih nicht wirklich daran, ein wenig mehr Zeit unterwegs zu verbringen. Er hatte es nicht eilig, nachhause zurückzukehren. Warum auch? Der einzige Grund, weshalb er die letzten Jahre dort so viel Zeit verbracht hatte, war nicht mehr Teil seines Lebens. Also konnte er genauso gut auch ein wenig durch die Straßen von Solar schlendern, um einem Junkie wie Gloria helfen.
    Deutlich später als gedacht aber nicht unzufrieden darüber erreichte Salih schließlich seinen Block in Sarrià.
    Wie für den Bezirk von Solar üblich waren die Gebäude hier keine willkürlich übereinandergestapelten Wohncontainer, sondern stabile Wohnkomplexe mit meist mehreren Stockwerken, die sich zu großen Häuserblocks zusammenfügten. Das hier waren nicht heruntergekommenen Elendsviertel, die man in Void oder den Unterdocks fand, und die von vielen Fremden mit Omega in Verbindung gebracht wurden. Weder türmten sich hier Berge von Müll, noch lauerten Vorcha oder bewaffnete Gangster hinter jeder Ecke, um sich auf ihr nächstes Opfer zu stürzen. Solange man aufpasste, mit wem man sich abgab, hatte man hier wenig zu befürchten. Es war nicht gerade ein luxuriöses Leben, aber Salih war in einer ganz ähnlichen Gegend von Marrakesch auf der Erde aufgewachsen. Außerdem hatte er dieses Viertel in Sarrià schon lange in sein Herz geschlossen.
    Die Wohngebäude formten ein Quadrat mit einem ausladenden Hof in der Mitte, welcher durch eine breite Gasse erreichbar war. Noch bevor Salih überhaupt den Durchgang betreten konnte, bemerkte er die aufgeregten Kinderstimmen, die aus dem Zwischenhof zu ihm herüberwehten und zu seiner Überraschung sprang plötzlich ein Ball aus der Gasse heraus, direkt auf ihn zu.
    Der Mann reagierte instinktiv und machte einen raschen Ausfallschritt, um den Ball mit einem Fuß zu stoppen. Aufmerksam blickte er in Richtung der Gasse, wo er zwei Gestalten erkannte, die eilig dem Ball hinterhergejagt kamen.
    Es waren zwei Jungs, beide um die zehn Jahre alt, und als sie Salih erblickten, hellten sich ihre Gesichter auf. "Yo, Salih!", rief einer von ihnen, ein dunkelhäutiger und recht schlaksiger Junge namens Butho, während er zum Gruß seine Hand hob. "Spiel ma' rüber!"
    Mit einem Grinsen nahm Salih den Ball auf den Fuß, lupfte ihn nach oben, um ihn dann mit einem dosierten Volleyschuss zu seinem Besitzer zurückzubefördern.
    "Woah!", entfuhr es Butho begeistert und er schien so eingenommen von Salihs Trick zu sein, dass er es fast verpasste, den Ball auch aufzufangen, bevor er ihn im Gesicht traf. "Das war cool!"
    Bei der Bemerkung musste der Marokkaner auflachen. "Das war doch gar nichts", spielte er den Move herunter, schließlich war es wirklich nichts Besonderes gewesen. Aber es war immer schön zu sehen, wenn jemand seine Ballkünste zu schätzen wusste.
    Butho biss sich auf die Unterlippe und er schaute zu Salih auf. "Hey, hast vielleicht du Lust, mitzuspielen?"
    "Vergiss es!", schnaubte sein Begleiter und wandte sich bereits wieder zum Gehen, ohne auf eine Antwort von Salih zu warten. "Der hat doch nie Zeit..."
    Im ersten Moment erschien Mateos Kommentar irgendwie unfair, doch Salih musste sich eingestehen, dass der Junge recht hatte. Wie oft hatte er die Kinder mittlerweile abgewiesen, wenn sie mit ihm Fußball spielen wollten? Seit Ewigkeiten schon redete er sich immer wieder heraus, dass er beschäftigt war und keine Zeit hatte. Entsprechend war Mateos Erwartung verständlicherweise recht pessimistisch.
    Auch Butho schien rasch einzusehen, dass er sich keine große Hoffnung machen brauchte. "Jaah, wahrscheinlich..." Er hob noch die Hand zum Gruß in Salihs Richtung, ehe er Mateo folgte.
    Irgendwie versetzte ihm die Reaktion der beiden einen Stich in der Magengegend und Salih verspürte das Verlangen, mit ihnen zu gehen, und so wie früher ein wenig den Ball herumzukicken. Aber das ging nicht, dafür hatte er keine...Zeit? Oder etwa doch? Salih blinzelte ein paar Mal, als ihn eine Erkenntnis mit Wucht überkam. Es war dieselbe Erkenntnis, die er seit einigen Tagen immer wieder hatte und die sich jedes Mal wie eine gewaltige Offenbarung anfühlte. Er hatte Zeit. Viel Zeit sogar. Mehr als genug, um ein wenig mit den Kindern aus seinem Block Fußball zu spielen. Schließlich gab es nun niemanden mehr, der zuhause auf ihn wartete und seine Zeit in Anspruch nahm.
    Es beflügelte ihn regelrecht. Mit einigen schnellen Schritten holte er die beiden Jungs ein, die gerade durch den Durchgang in den Innenhof gehen wollten, und schnappte Butho im Vorbeigehen den Ball aus den Händen, um ihn sich unter den Arm zu klemmen. Als er den überraschten Blick der Kinder bemerkte, lachte Salih auf. "Wer sagt denn, dass ich nich' mit dabei bin? So wie ich euch kenne, braucht ihr eh noch jemanden in eurem Team, der was taugt."
    Eine Mischung aus Unglauben und Begeisterung zeigte sich auf den Gesichtern der Jungs. "Heh!", beschwerte sich Mateo mit gespielter Entrüstung über den Kommentar. "Ich bin schon viel besser als letztes Mal!"
    Butho nickte zustimmend, grinste aber ebenfalls breit. "Ja, Alter, wir machen dich locker fertig!"
    Mit nichts anderem hatte Salih gerechnet und er lachte in sich hinein. "Also das will ich sehen!" Er bedeutete ihnen mit einem Wink, ihm zu folgen, was aber gar nicht nötig war, denn die beiden Jungs rannten aufgeregt vor und kündigten mit lauten Rufen an, wen sie im Schlepptau hatten, kaum dass sie den Hof betraten.
    "Ey, Leute, schaut ma'! Salih macht mit!"
    "Ja, jetzt können wir auch gleiche Teams machen."
    Es war ein seltsames Gefühl, diesen Hinterhof zwischen den Wohnhäusern zu betreten. Eigentlich tat Salih das jeden Tag, aber so wie jetzt auf die Kinder zuzugehen, anstatt sich mit seinen üblichen Ausreden an ihnen vorbeizustehlen, fühlte sich fast schon ungewohnt an. Dabei hatte er früher so viel Zeit mit ihnen verbracht.
    Knapp über ein Dutzend Kinder waren über den Hof versammelt. Die ältesten waren etwa dreizehn, die jüngsten gerade mal fünf oder sechs Jahre alt. So etwas wie eine Schule gab es hier nicht und so lungerten die Kinder die meiste Zeit entweder in ihren Wohnungen herum oder kamen im Hinterhof ihres Blocks zusammen. Sie spielten Karten, Fangen oder Fußball, alberten herum, zankten sich und verbrachten ihre Zeit so wie die meisten Gleichaltrigen in der Galaxie. Es gab nicht sehr viele Orte auf Omega, in denen Kinder sich so sorglos bewegen konnten wie diese Gegend in Sarrià, doch die Bewohner hatten eine stillschweigende Übereinkunft gefunden, dass sie die Jüngsten in ihrer Nachbarschaft beschützten und gleichzeitig auf das Leben Omegas vorbereiteten. Salih kannte jeden einzelnen von ihnen, viele sogar schon seit ihrer Geburt, und er hatte sie in den vierzehn Jahren, die er nun hier lebte, aufwachsen sehen.
    Ein Mädchen fiel ihm aber direkt ins Auge. Carla war gerade einmal acht Jahre alt und hatte ihre langen, schwarzen Haare zu zwei langen Zöpfen gebunden, die wild auf ihrem Rücken umherhüpften, als sie über den Hof rannte. Ihre Kleidung machte einen recht abgetragenen und zerschlissenen Eindruck. Als Salih sah, wie sie recht sorglos zwischen den anderen Kindern umhersprang, spürte er einen leichten Stich in der Magengegend. Sie war Lorenzos Tochter. Sie hatte keine Ahnung, dass ihr Vater in Schwierigkeiten mit Idris steckte und ihm noch eine ordentliche Summe Geld schuldete. Vermutlich machte sie sich ohnehin schon genug Sorgen über ihren Vater nach seinem Unfall in den Docks. Salih nahm sich im Stillen vor, Lorenzo noch ein wenig länger Zeit zu geben, bevor er ihn an die Schulden beim Turianer erinnern würde.
    Allzu viel Zeit, an Idris und Lorenzo zu denken, hatte Salih aber ohnehin nicht, denn kaum betrat er den Hof, stürmten die Kinder sogleich auf ihn zu und umringten ihn. Sie alle bombardierten ihn mit Fragen darüber, warum er plötzlich mit ihnen spielen wollte und was er denn sonst machte, dass er nie Zeit hatte. Und bevor er überhaupt eine Antwort hätte geben können, gingen sie dazu über, ihm ihre Fußballtricks zu zeigen, die sie in den letzten Jahren nach seinem Vorbild geübt hatten. Dann sollte er selbst seine besten Tricks vorführen, was er sich natürlich nicht zweimal sagen ließ.
    Unter dem Staunen der Kinder jonglierte Salih mit dem Ball auf seinem Fuß und ähnlich wie Butho schon zuvor waren sie ganz begeistert über seine Tricks. Seine Fähigkeiten im Fußball, die er sich schon seit seiner frühen Kindheit auf der Erde antrainiert hatte, waren auf Omega eigentlich nicht allzu viel wert, wenn es darum ging, sich finanziell über Wasser zu halten oder den harten Begebenheiten der Straße zu trotzen. Aber die Station hatte eben auch eine andere Seite. Eine Seite, welche Außenstehende meist gar nicht erst bemerkten oder bemerken wollten, und auf der ein wenig Fußballtalent eine Menge wert war. Der ganze Block war Salih dankbar, dass er den Sport von der Erde mitgebracht hatte.
    Die Aktivität war für die Kinder nicht nur ein toller Zeitvertreib, sondern brachte ihnen auch alles bei, was sie für ihr Leben auf Omega brauchten. Sie lernten, sich selbst zu organisieren, sie lernten zusammenzuarbeiten und sie lernten auch zu kämpfen. Und das in einem Spiel, für welches sie nicht viel brauchten. Ihr Ball war ein angelaufener Lederball, der auch schon bessere Tage gesehen hatte und als Tor diente eine Garagentür. Der Eigentümer der Garage, der mürrische Joaquin, der im Erdgeschoss einer der Wohnhäuser lebte, hatte sich zwar früher noch lautstark darüber beschwert, wenn die Kinder mit dem Ball gegen seine Einfahrt kickten, aber Salih und einige andere Nachbarn hatten sich zusammengetan, um den Kerl 'freundlich' davon zu überzeugen, dass er die Kleinen doch weiterspielen lassen sollte.
    Nach dem anfänglichen Rumgeplänkel teilten die Kinder sich schließlich in Teams ein, um richtig gegeneinander zu spielen. Natürlich wollten sie alle Salih auf ihrer Seite haben und damit es nicht allzu unfair wurde, kündigte der Marokkaner an, gelegentlich zwischen den Teams zu wechseln.
    Und dann ging es auch schon los.
    Einer der älteren Jungs stellte sich in das Tor, während beide Teams versuchten, an ihm vorbeizukommen. Wer den Ball ins Tor spielte, bekam für sein Team einen Punkt. Einfache Regeln für einfache Verhältnisse. Salih hielt sich beim Spiel ein wenig zurück, sonst hätte er vermutlich allein gegen alle Kinder spielen können und käme dennoch nicht ins Schwitzen. Stattdessen versuchte er, möglichst oft den Ball an sein Team abzuspielen und ging mit seiner körperlichen Überlegenheit auch nicht sonderlich stark in die Zweikämpfe. Manchmal ließ er sich den Ball auch absichtlich abnehmen, wenn sein Gegner sich besonders gut anstellte, oder aber er verschoss absichtlich gute Chancen, wenn sein aktuelles Team einen zu großen Torvorsprung aufgebaut hatte. Auf diese Weise manipulierte er ganz dezent das Spiel, damit es spannend blieb. Ob die Kinder es bemerkten oder nicht, konnte er selbst nicht sagen, aber sie schienen sich so oder so nicht daran zu stören.
    Obwohl die Kinder nur zum Spaß spielten, ging es teilweise recht hart zu. Vor allem einige der Jungs waren besonders verbissen und spielten auf Sieg, als würden sie sich davon eine gehörige Belohnung erhoffen. Dabei ignorierten sie oft ihre Teammitglieder, die sie als schwächer wahrnahmen und versuchten im Zweifel, das Spiel im Alleingang zu gewinnen.
    "Mateo!", wies Salih den Jungen zurecht, nachdem er allein versucht hatte, den Ball zu verwandeln und ihn dabei an das gegnerische Team verloren hatte. "Spiel doch ab! Carla war völlig frei auf der anderen Seite!"
    "Die hab ich nich' gesehen..."
    "Dann mach ma' die Augen auf, Digga! Du bist hier nich' allein auf 'm Feld!"
    Natürlich gab es auch immer wieder zu Streitigkeiten, bei denen er ein Machtwort sprechen musste.
    "Ich hab den Ball zuletzt berührt!", beschwerte sich Butho lautstark, als das gegnerische Team ein Tor erzielte. "Ich hab den abgefälscht!"
    Der Schütze, ein grobschlächtiger Junge namens Héctor, sah das anders."Bullshit! Du hast den vielleicht gestreift, mehr nich'!", rief er aufgebracht.
    "Der wär' niemals reingegangen, wenn ich den nich' abgelenkt hätte!"
    "Es zählt aber immer noch Schusskraft", beendete Salih die Diskussion und sammelte den Ball auf, um das Spiel fortsetzen zu können. "Also geht das Tor an Héctor."
    Butho und sein Team waren natürlich enttäuscht darüber, aber der Ärger hielt nicht lange an, als sie weiterspielten. Obwohl Salih schon ewig nicht mehr mit den Kindern Fußball gespielt hatte, wurde er direkt wieder als der Tongeber akzeptiert, also galt sein Wort und sie alle akzeptierten das auch, wenn auch manchmal ein wenig mürrisch.
    Sie hatten genug Platz, um das Spiel ein wenig zu entzerren, sodass man nach hinten auch ein wenig laufen konnte. Die Wände der Gebäude grenzten das Spielfeld dabei sehr schön ein, sodass man sich keine Sorgen machen musste, dass der Ball über eine Mauer oder auf einem Dach landete.
    Es war ein tolles Gefühl, mit den Kindern über den Hof zu hetzen. Salihs Herz pochte heftig in seiner Brust, weil er immer am Laufen war, doch es störte ihn nicht im Geringsten. Das hier war genau die Art der Beschäftigung, die einen Großteil seiner Jugend ausgemacht hatte und er konnte kaum glauben, dass er sich schon seit Jahren nicht mehr zum Spielen mit den Kindern herabgelassen hatte. Salih hatte sich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt, wie in diesem Moment.
    Und obwohl er wirklich darum bemüht war, die Kleinen mit seinen Fähigkeiten nicht allzu sehr zu überschatten und sie auch ein wenig selbst spielen zu lassen, konnte er es sich manchmal einfach nicht nehmen lassen, ein wenig seine Ballkünste zur Show zu stellen. Mal dribbelte er problemlos durch drei Gegenspieler, mal spielte er einen perfekten Pass genau in Buthos Laufweg, damit dieser ein Tor schießen konnte oder aber er verwandelte gleich selbst aus unmöglichen Winkeln.
    Leider fand der Spaß dann doch ein jähes Ende, als er sich ein wenig zu sehr gehen ließ.
    Salih fand sich auf der anderen Seite des Hofes wieder, weit weg vom Tor und er hatte gerade in Mateos Team gewechselt, die im Augenblick drei Tore zurücklagen. Und er dachte sich, dass es Zeit war, den Rückstand ein wenig auszugleichen. Und anstatt es auf einen Angriff ankommen zu lassen, probierte er es mit einem saftigen Distanzschuss. Mit einem Fuß chippte er den Ball in die Luft und nahm ihn dann Volley. Er traf die Kugel genau richtig und sandte sie mit Wucht über den Hof genau auf das Tor zur. Dummerweise war die Kurve des Balls nicht ganz so hoch, wie er sich erhofft hatte und er flog mitten in den Pulk der Kinder, die sich bei dieser Art des Spielens immer vor dem Tor tummelten.
    Wie in Zeitlupe schaute Salih dem Ball hinterher und sah das Unheil kommen, lange bevor es geschah. Einer Kanonenkugel gleich schmetterte der Ball gegen Carla, die nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte, genau in ihr Gesicht. Es gab einen dumpfen Schlag und das Mädchen quiekte erschrocken, ehe sie stolpernd zu Boden stürzte.
    "Ach, fuck...", seufzte Salih und spürte, wie sich seine Eingeweide zusammenzogen. Das hatte übel ausgesehen.
    Als das kleine Mädchen sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Stirn hielt und lauthals in Tränen ausbrach, standen die anderen Kinder ein wenig unentschlossen um sie herum, während sie erwartungsvolle Blicke in Salihs Richtung warfen und abwarteten, was er nun tun würde. So wirklich wusste keiner von ihnen damit umzugehen, als die Achtjährige heulend vor ihnen am Boden lag.
    Mit einem schlechten Gewissen eilte Salih auf sie zu. "Hey, Kleine! Komm, lass mich ma' sehen!" Er kniete sich vor sie und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter, während er mit der anderen sanft aber bestimmt ihre eigenen Hände vom Gesicht zog, damit er schauen konnte, wie es aussah. "Is' doch nicht weiter schlimm!", stellte er erleichtert fest, als er bemerkte, dass ihre rechte Gesichtshälfte lediglich stark gerötet war.
    "Auuuaa!", weinte Carla jedoch weiter.
    "Na komm, das wird schon wieder!", meinte Salih aufmunternd und packte sie unter den den Schultern, um sie wieder auf die Beine zu stellen. Um sie herum setzten einige der Kinder halbherzig ihr Spiel fort, aber ein Großteil der Aufmerksamkeit lag weiter auf dem Mädchen. "Ey, ohne Mist...das tut mir wirklich leid, Carla! Ich hätte nich' gedacht, dass der Schuss so hart war. Sorry!"
    Die Kleine antwortete nicht, sondern presste sich eine Hand an die Schläfe, während sie weiterhin weinte. Zumindest beruhigte sie sich allerdings bereits wieder und ihr lautes Heulen wurde zu einem erstickten Schluchzen.
    Salih entfuhr ein schweres Seufzen und er legte ihr einen Arm um die Schultern. "Ich weiß, es tut ziemlich weh, aber das hört gleich wieder auf. Glaub mir, ich hab früher auf dem Bolzplatz auch immer ma' den Ball an den Kopf bekommen, so wild is' das nich'."
    Noch immer schwieg das Mädchen und schniefte laut.
    "Du bist mir aber jetz' nich' böse deswegen, oder?", fragte er sie mit gespielter Sorge in der Stimme. Wobei so richtig gespielt war es gar nicht.
    Nun schüttelte Carla den Kopf. "Nein...!", hauchte sie heiser.
    "Puh, da bin ich aber beruhigt!", lachte Salih auf und klopfte ihr nochmal leicht auf den Rücken. "Ich pass in Zukunft besser auf, versprochen! Also...geht 's wieder?"
    Jetzt nickte sie langsam.
    Erst als die Schluchzer nachließen und das Mädchen sich nicht mehr die Hände auf ihr tränenüberströmtes Gesicht presste, atmete er ein wenig auf. Das Letzte, was er wollte, war es, den Kindern wehzutun. Das Leben hier war für sie schon schwer genug und es würde in Zukunft auch nicht leichter für sie werden. Er wollte ihnen Zeit geben, in denen sie sich wohl fühlen und Spaß haben konnten und nicht Momente von Angst oder Schmerz.
    "Salih?"
    Die unerwartete Stimme in seinem Rücken ließ den Mann herumfahren. "Hmm? Ja?"
    Salih hatte gar nicht gemerkt, wie sich eine ältere Frau ihm von hinten genähert hatte. "Hast du zufällig gerade einen Moment Zeit?", fragte sie ihn mit ihrer krächzenden Stimme.
    "Ähm..." Sein Blick ging von der Frau, zu Carla und dann zu den Kindern, die mit einer gewissen Neugier zwischen den beiden Erwachsenen hin und her schauten. Eigentlich hätte er gerne weiter mit den Kleinen gespielt, aber nach dem kleinen Unglück, das er verschuldet hatte, war es vielleicht erstmal besser, die Kinder allein weiterkicken zu lassen. Er erhob sich wieder und zog auch das Mädchen wieder auf die Beine. "Du kannst jetz' bestimmt wieder weiterspielen, nich'?", fragte er sie, was sie mit einem zögerlichen Nicken beantwortete. "Sehr gut. Dann los! Weiter geht's!" Er gab ihr einen sanften Stoß und das Mädchen eilte wieder zurück zu den anderen Kindern, die nun ihr Spiel wieder aufnahmen.
    Salih wandte sich um und ging auf die alte Frau zu, die ein wenig abseits von den Kindern wartete, damit sie sich ungestört unterhalten konnten, während die Kleinen weiterspielten.
    "Du solltest dich nicht entschuldigen!", empfing sie ihn mit tadelndem Tonfall.
    "Uhh...was?"
    "Ich habe gesehen, was passiert ist. Carla hat nicht richtig aufgepasst, deshalb hat sie der Ball getroffen. Es war allein ihre Schuld und das weißt du auch. Du solltest nicht so tun, als ob sie nichts falsch gemacht hätte."
    "Ach, komm! Ich hätte gar nicht erst so hart schießen dürfen!", hielt Salih dagegen. "Für die Kinder is' das einfach zu heftig. Un' Carla ist gerade mal acht..."
    Die Frau hob eine Augenbraue. "Und dir ist klar, dass Omega sie deshalb nicht schonen wird. Sie muss lernen, auf sich selbst aufzupassen, und du solltest ihren Leichtsinn nicht auch noch entschuldigen."
    Es war schwer, irgendetwas dagegen einzuwenden und Salih ballte frustriert die Fäuste, als ihm nichts übrigblieb, als die Wahrheit ihrer Worte anzuerkennen. Wie so oft hatte sie recht, auch wenn er das nur ungern einsah.
    Felicitas war eine ziemlich außergewöhnliche Person. Allein schon ihr Äußeres erregte Aufmerksamkeit, denn eine so alte Frau war auf Omega ein ziemlich seltener Anblick. Wie alt sie tatsächlich war, behielt sie beharrlich für sich, aber sie war sicherlich schon um die achtzig. Ihre Schulterlangen Haare waren schlohweiß und ihr Gesicht war von zahlreichen Falten und Furchen durchzogen. Altersflecken zierten ihre leicht dunkle Haut und sie lief ein wenig vornübergebeugt. Es war nicht immer ganz einfach, sie zu verstehen, denn nicht nur sprach sie mit einem heftigen spanischen Akzent, ihre Stimme war auch ziemlich heiser. Vermutlich das Ergebnis von jahrzehntelangem Rauchen.
    Gebrechlich wirkte Felicitas aber keineswegs. Ihr war das Alter zwar anzusehen, doch in ihren Bewegungen steckte noch immer ein gewisser Elan und vor allem ihre braunen Augen steckten voller Leben.
    Tatsächlich machte die Frau einen fast schon bedrohlichen Eindruck. Ihr Blick schien die Menschen um sie herum zu durchbohren und strahlte ein Level an Gefahr aus, das nicht so recht zu ihrem Alter passen wollte. Hinzu kamen noch ihre Tätowierungen an den Händen, Armen und dem Hals. Es waren zweifellos Gang-Tattoos, die sie schon vor ihrer Zeit auf Omega bekommen hatte. Gepaart mit ihrer schwarzen Stoffjacke, der grauen Jogginghose und den bequemen Hausschuhen gab sich ein sehr eigenartiges Bild, was irgendwo zwischen Gangster und freundlicher Oma aus der Nachbarschaft lag. Und so weit hergeholt war der Eindruck gar nicht. Über ihre Vergangenheit auf der Erde wusste kaum jemand etwas, allerdings kannte jeder in der Gegend die alte Dame, die schon seit über fünfundzwanzig Jahren hier im Block lebte. Sie kannte Omega besser als die meisten, die erst in jüngerer Vergangenheit hierhergekommen waren, und teilte ihre Erfahrungen über das Leben auf der Straße sehr bereitwillig mit ihren Mitmenschen.
    Salih wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit ihr über seinen Umgang mit Carla zu streiten. "Was ist los?", seufzte er. "Was wolltest du von mir?"
    "Ach, weißt du...mein Geschirrspüler macht wieder Schwierigkeiten...", meinte sie mit einem entschuldigenden Lächeln. "Ich hatte gehofft, dass du dir das vielleicht mal anschauen kannst..."
    Sofort entfuhr Salih ein weiteres Seufzen. Eigentlich hatte er gehofft, dass die Sache mittlerweile erledigt war, nachdem er vor zwei Wochen den Ablaufschlauch notdürftig abgedichtet hatte. Allem Anschein nach hatte er sich damit geirrt. "Also gut, ich schau mir das mal an..."
    Felicitas nickte zufrieden. "Danke dir!"
    "Yo, Salih! Wo bleibst du denn?", rief Mateo ihm mit einem Anflug von Ungeduld zu. "Wir verlieren ohne dich noch!"
    "Sorry, ihr müsst ohne mich weiterspielen", winkte der Marokkaner ab, auch wenn es ihm nicht leicht fiel. Am liebsten hätte er noch ein wenig mit den Kindern gekickt, aber er hatte eben auch noch andere Verpflichtungen.
    Genau wie Mateo war auch Butho nicht glücklich darüber. "Was! Ach, komm, das ist lame! Wir haben doch gerade erst angefangen...!"
    Jetzt musste Salih auflachen, denn so ganz stimmte das nicht. In Wirklichkeit hatten sie schon über eine halbe Stunde gespielt. Aber er verstand sehr wohl, dass die Kinder ihn gerne noch länger dabei gehabt hätten. "Ich sag euch was; ich habe die nächsten Tage noch zu tun, aber danach kann ich bestimmt wieder häufiger mit euch spielen. Und dann zeig ich euch mal, wie man richtig kickt, nicht einfach nur dieses Rumgebolze!"
    "Oh, cool!", freute sich Butho über die Aussicht, etwas von dem erfahrenen Fußballer lernen zu können.
    Mateo beäugte ihn misstrauisch. "Un' du verarscht uns nicht bloß?"
    Salih entfuhr ein Schnauben, denn er konnte dem Jungen seine Skepsis nicht einmal übelnehmen. Zu häufig hatte er ihnen in der Vergangenheit schon zu viel versprochen. Aber er meinte es dieses mal ernst. "Is' versprochen, Digga!" Die Jungs winkten ihm zum Abschied, ehe sie ihr Spiel fortzsetzten, während Salih sich Felicitas zuwandte. "Was ist los?", fragte er mit einer bösen Vorahnung, als er ihren Blick bemerkte.
    "Ach nichts...", winkte sie ab, nur um sich dann eine Sekunde später doch zu erklären: "Ich frage mich nur, ob du ihnen nicht lieber beibringen solltest, wie man mit einer Waffe umgeht, anstatt mit ihnen Ball zu spielen."
    Fast hätte Salih mit den Augen gerollt. Überraschen tat ihn ihr Kommentar kein bisschen. "Es ist gut für die Kinder, wenn sie zum Spielen zusammenkommen", hielt er entschieden dagegen. "Dann sind sie beschäftigt und treiben sich nicht allein irgendwo in den Straßen rum. Und sie lernen, wie wichtig es ist, Freunde zu haben..."
    "Und was machen sie, wenn ihnen ein Vorcha gegenübersteht, hm?" Felicitas sprach ruhig, aber der Blick ihrer braunen Augen war lauernd. "Schießen sie ihm einen Ball an den Kopf, oder was?"
    Schon wieder merkte Salih mit wachsender Frustration, dass er ihren Argumenten nicht wahnsinnig viel entgegenzusetzen hatte. "Manchen Kindern sollte man vielleicht besser keine Pistole in die Hand drücken!", brummte er missmutig.
    "Ach, wirklich?", schnaubte Felicitas.
    "Willst du mir noch weiter wegen dem Fußball das Ohr abkauen, oder soll ich dir mit deinem Geschirrspüler helfen?"
    Die alte Frau lachte auf und machte sich dann ohne weitere Umschweife auf den Weg.
    Salih folgte ihr durch die Haustür in eines der Wohngebäude und von dort aus ging es mehrere Treppen nach oben. Wie die meisten Apartmentkomplexe in Sarrià war auch dieses Haus vergleichsweise sauber und in gutem Zustand. Zwar konnte man an den fehlenden Metallverkleidungen einiger Wände und der stehenden Luft erkennen, dass die Qualität der Konstruktion fernab von hochwertig war, dennoch konnte man hier gut leben. Oder zumindest besser als in manch anderem Teil von Omega.
    Trotz ihres Alters und ihrer Raucherlunge hatte Felicitas kaum Schwierigkeiten dabei, die vielen Stufen in den vierten Stock zu laufen und Salih musste sein Tempo kaum an die Frau anpassen. Sie erreichten ihre Wohnung und die Eigentümerin gab den Sicherheitscode ein, um die Wohnungstür zu öffnen. Es war ungewöhnlich still im Inneren der Stube, also ging Salih davon aus, dass die restlichen Bewohner zurzeit unterwegs waren. Denn eigentlich lebte Felicitas hier noch mit ihrem Sohn, dessen Frau und ihrem Enkel hier, allerdings waren die drei alle ein wenig schwierig und tatsächlich war Salih froh, dass sie im Augenblick nicht zugange waren.
    "Was genau ist denn eigentlich passiert?", wollte er wissen, als er hinter ihr eintrat.
    Felicitas zuckte mit den Schultern. "Nichts Besonderes. Ich schätze mal, die Dichtung ist aufgerissen. Ich habe es erst nach einer Weile überhaupt bemerkt."
    "Naja, ich schau es mir mal an..." Sich als behelfsmäßiger Handwerker um defekte Spülmaschinen zu kümmern war nun wirklich keine Tätigkeit, auf die der Marokkaner sonderlich scharf war, aber es gehörte nun mal zum Leben in seinem Block dazu, dass man sich gegenseitig unter die Arme griff. Und im Augenblick war er doch froh über jede Beschäftigung, die er finden konnte. Also trat er ohne Umschweife in die ihm bekannte Küche der Frau.
    Dabei hörte er noch, wie Felicitas ihn zu warnen versuchte. "Oh, übrigens; pass auf, der Boden ist nass...!"
    Aber noch bevor er ihre Worte verarbeitet hatte, rutschte Salih schon aus. Er bemerkte gar nicht, was passierte, da befand er sich bereits auf dem Weg in Richtung Fußboden und knallte mit dem Becken gegen die Anrichte. Instinktiv klammerte er sich an die Spüle, während seine Beine sich schon in der Waagerechten befanden. Wie ein Idiot versuchte er sich in dieser merkwürdig verdrehten Haltung nach oben zu kämpfen, bis er schließlich aufgab und sich klatschend in die Wasserpfütze sinken ließ, die sich über den Boden ausgebreitet hatte. "Ahhh...fuck..."
    "Guck doch, wo du hintrittst!", gackerte Felicitas hämisch und blickte mit verschränkten Armen zu ihm herab. "Oder ist das einfach wieder so eine Handwerker-Nummer, die ich bloß nicht verstehe, hm?"
    Obwohl er sich hart am Ellbogen gestoßen hatte und schmerzhaft mit dem Fuß umgeknickt war, musste Salih bei dem beißenden Spott in ihren Worten auflachen. "Danke für die Warnung."
    "Gern geschehen!", gluckste sie augenzwinkernd und nickte dann zu ihrem defekten Haushaltsgerät. "Also...denkst du, du kriegst das hin?"
    "Tjaah...gute Frage..." Salih besah sich das Schlachtfeld ein wenig genauer. Wenig überraschend hatte sich die Wasserpfütze vor dem Geschirrspüler ausgebreitet und wie zu erwarten offenbarte ein Blick hinter die Kulissen, dass der Ablaufschlauch das Problem war. Wobei Problem noch eine Untertreibung war, denn er hatte sich komplett gelöst, sodass das Abwasser ungehindert aus dem Kasten herauslaufen und sich in der Küche ausbreiten konnte. Nachdem er sich die Sache vor zwei Wochen schon einmal angeschaut hatte, wusste Salih auch, warum der Schlauch Probleme machte; er war schlicht von minderer Qualität und hatte nach etlichen Jahren Nutzung kaum noch Halt an seinem Anschluss, sodass schon ein bisschen Wasserdruck ausreichte, um ihn abzureißen. Da hatte Salihs notdürftige Reparatur leider auch nicht allzu viel gebracht.
    "Sieht schlecht aus", murmelte er, während er auf dem Rücken liegend halb unter die Anrichte gekrochen war, um mit einer Taschenlampe die Rückseite der Spülmaschine zu begutachten. "Der Anschluss ist komplett abgerissen."
    Felicitas nahm die Nachricht ohne Überraschung auf. "Lässt sich da noch was machen?"
    "Hmm...mal schauen..." Das einzige, was hier noch helfen würde, wäre eine weitere provisorische Maßnahme, um den Schlauch zu fixieren. Sie musste nur besser sein, als die, welche Salih vor zwei Wochen probiert hatte. Dummerweise war er auch kein Experte in der Hinsicht und allzu viele Ideen, um den Schlauch so zu befestigen, dass er der Feuchtigkeit und dem Druck dauerhaft standhalten würde, hatte er auch nicht mehr. Einen neuen Schlauch für das Gerät aufzutreiben, würde kaum möglich sein, denn der Hersteller lieferte schon seit Jahren nicht mehr nach Omega. Andere Ersatzschläuche passten nicht an den Abfluss, dessen Maße nicht genormt waren, also wäre eine neue Maschine die einzige Alternative. Um der Familie diese Kosten zu ersparen, versuchte Salih auf die Schnelle mit dem, was er gerade da hatte, eine brauchbare Reparatur hinzubekommen.
    Trotz seiner ersten pessimistischen Prognose machte Felicitas einen recht entspannten Eindruck. Sie wischte die Pfütze in der Küche auf, bot Salih zwischendurch etwas zu Trinken an und schaute ihm ansonsten mit einer recht eigenartigen Neugier zu. Eigenartig deshalb, weil sie schien nicht allzu viel Interesse daran zu haben, was der Mann eigentlich an ihrer Spülmaschine machte.
    Es dauerte auch gar nicht allzu lange, bis Salih den Grund dafür erfuhr. "Weißt du, mir ist aufgefallen...", begann Felicitas wie beiläufig. "Ich habe Noura schon eine Weile nicht mehr hier gesehen..."
    Eigentlich brauchte er sich nicht darüber zu wundern, dass Felicitas etwas bemerkt hatte, denn der Frau entging für gewöhnlich nichts, was hier im Block passierte. Dennoch waren ihre Worte wie ein Schlag in die Magengrube und ließen Salih einen Moment innehalten. Der Ablaufschlauch wurde schnell unwichtig, als seine Gedanken sich rasend schnell diesem unliebsamen Thema zuwandten. Am liebsten hätte er gar nichts gesagt, schließlich ging es niemanden etwas an. Und trotzdem kamen ihm die Worte wie von allein über die Lippen. "Sie hat 'nen anderen", murmelte er mit einem Seufzen. Allein es auszusprechen war eine Qual und er spürte ein Brennen in seiner Brust.
    "Ach, wirklich...?" Felicitas wirkte milde überrascht und legte den Kopf leicht schief. "Was genau ist denn passiert?"
    Salih mahlte mit den Zähnen. "Nicht viel. Noura hat schon seit einer Weile mit so 'nem Typen aus Overlook rumgemacht. Ich hab 's rausgekriegt und sie zur Rede gestellt. Naja...wir haben uns gestritten und ich habe sie dann rausgeworfen. Hab sie seitdem auch nicht mehr gesehen. Keine Ahnung, wo sie jetz' ist..."
    "Hmmm...und wie geht es dir?"
    Jetzt schaute Salih zu der älteren Frau auf und verzog das Gesicht. Ihre Neugier verwunderte ihn nicht sonderlich, aber der besorgte Blick, mit dem sie ihn bedachte, war unerwartet. "Is' halt scheiße...", stieß er hervor. "Ich meine...wir waren fünf Jahre zusammen, Alter! Un' dann fickt sie plötzlich 'nen anderen!"
    "Das beantwortet meine Frage aber nicht", stellte Felicitas amüsiert fest. "Glaub mir, mein Lieber, man merkt sehr genau, dass du nicht du selbst bist."
    Was genau sie damit meinte, wusste Salih nicht. Es war schließlich nicht so, dass er wegen der Sache die ganze Zeit ein langes Gesicht machte oder immer am Rumjammern war. Im Gegenteil; Salih hatte die letzten Tage wieder mehr Zeit mit Freunden verbracht, sodass er kaum an Noura denken musste und es tat ihm wirklich gut. Er hatte keine Ahnung, was Felicitas glaubte zu spüren, aber er war sich ziemlich sicher, sie irrte sich.
    Die ältere Frau verschränkte die Arme. "Was hast du jetzt vor?"
    "Wie? Was hab ich vor?", wiederholte Salih die Frage mit gerunzelter Stirn und schnaubte verächtlich. "Keine Ahnung. Ich schätze ma', ich mache halt ohne sie weiter..."
    "Kannst du das wirklich? Sie loslassen, meine ich?"
    Die Frage wirkte so unscheinbar und schnitt dennoch unangenehm tief. "Krieg ich schon irgendwie hin...", behauptete er und kam sich dabei prompt wie ein Lügner vor. Schon jetzt hatte er keine Lust, weiter über das Thema zu reden und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Spülmaschine zu. Trotzdem spukte auf einmal wieder das Gesicht seiner Ex-Freundin durch seinen Kopf und es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Er versuchte, den Ablaufschlauch mit roher Kraft über die Halterung zu ziehen, obwohl ihm selbst klar war, dass er so nicht lange halten würde.
    Felicitas lachte spöttisch auf. "Verarsch mich nicht! Jeder Blinde merkt, dass dir das keine Ruhe lässt. Du hast sie wirklich geliebt, das hast du mir selbst immer wieder beteuert..."
    Salih brauchte nur einmal probeweise am Schlauch zu rütteln und schon löste er sich bereits wieder. Mit wachsendem Frust probierte er es mit noch mehr Gewalt und drehte das Platik in die Überreste der zerrissenen Dichtung hinein in der vagen Hoffnung, dass es dort noch irgendeinen Halt finden konnte.
    "Es tut mir wirklich leid, dass das so für dich ausgegangen ist...", fuhr die alte Frau fort und zum ersten Mal schlich sich so etwas wie Mitgefühl in ihre krächzende Stimme. "Ich kenne dich jetzt schon lange genug. Glaub mir, es bereitet mir echt keine Freude, zu sehen, wie dich das fertig macht."
    Obwohl ihm klar war, dass es nichts bringen würde, schlug Salih mit dem Knauf der Taschenlampe gegen den Anschluss, so als ob er ihn damit zwingen könnte, den Ablaufschlauch endlich wieder festzuhalten. Aber natürlich brachte auch das nichts.
    "Du bist ein wirklich anständiger Kerl, Salih. Es wäre wirklich schade, wenn dich das jetzt aus der Bahn werfen würde!"
    Mit einem leisen Fluch kam er unter der Anrichte hervor und schnaufte frustriert. "Aus der Bahn werfen?", wiederholte er und mit gerunzelter Stirn. "Was soll das denn heißen?"
    Noch immer war ihre Miene ernst, als Felicitas antwortete: "Ich mache mir Sorgen, mein Lieber. Du glaubst gar nicht wie oft ich schon Leute in deiner Situation erlebt habe. Jung, voller Leidenschaft, hoffnungslos verliebt...nur um dann von ihrem Partner betrogen zu werden. Du wärst bei weitem nicht der Erste, der daran zugrunde geht und das würde ich nur ungern erleben."
    "Alter, ich komm schon klar!", brummte Salih und zuckte mit den Schultern. "Es ist halt kaum 'ne Woche her. Ich schätze ma', ich brauche einfach noch 'n bisschen Zeit, dann wird das schon wieder." Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem verdammten Ablaufschlauch zu, doch er hatte auf einmal das Gefühl, als ob er seine Gedanken aussprechen konnte, die ihm seit diesem verhängnisvollen Tag im Kopf herumspukten. "Schau ma'...ich hab mir schon überlegt...vielleicht rede ich nochma' mit Noura. Ich meine...ich war so wütend gewesen, ich hab sie direkt rausgejagt...aber vielleicht können wir uns ja einmal richtig aussprechen. Un' dann schauen wir mal, wie es weitergeht." Noch während er die Worte aussprach, brandete in seiner Brust dieses Gefühl von Hoffnung auf. Hoffnung, dass diese Beziehung mit Noura vielleicht noch zu retten war. Und obwohl jeder Teil seines Verstandes sofort dagegenschoss und darauf bestand, dass sie für ihn gestorben war, konnte er diesen Funken in seinem Herz einfach nicht zum Erlöschen bringen. Irgendwie wollte er es auch nicht.
    Felicitas kommentierte das zunächst nicht weiter. Stattdessen brachte sie das Thema zurück zu ihrem eigenen Problem. "Sieht fast so aus, als wär die Spülmaschine nicht mehr zu retten..."
    Instinktiv hielt Salih dagegen. "Ach was, das geht schon irgendwie!", behauptete er sofort, obwohl er noch keinen Schritt weiter war, den Schlauch wieder an den Anschluss anzubringen. "Wär doch gelacht, wenn wir das Ding nicht wieder drankriegen!" Woher seine plötzliche Zuversicht stammte, konnte er sich selbst nicht so recht erklären. Aber er hatte nicht vor, so schnell aufzugeben und besah sich den Schlauch, den Abfluss und die Dichtung genauer, während er über weitere Lösung nachgrübelte.
    Aus irgendeinem Grund war Felicitas jedoch überhaupt nicht glücklich damit und strafte ihn mit einem finsteren Blick. Salih hingegen verstand ihren Unmut nicht so recht, immerhin versuchte er, ihr einen teuren Ersatz zu ersparen. Also probierte er weiter. Hatte er das Problem erstmal behoben, änderte die alte Frau ihre Meinung schon noch. Und früher oder später würde sie schon sehen, dass er auch für die Sache mit Noura irgendwie eine Lösung finden würde.
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    3 - Schlechte Einflüsse

    Wenn es eine Sache gab, die Salih verabscheute, dann war es, Dinge unvollendet zu lassen. Aber genau das musste er tun, nachdem er eine weitere halbe Stunde erfolglos am Abfluss der Spülmaschine herumhantiert hatte und sich der Zustand des Plastikschlauchs nicht verändert hatte. Er musste einsehen, dass er das Gerät nicht ohne Weiteres repariert bekam. Zumindest nicht hier und jetzt.Felicitas schien das Ding schon aufgeben zu wollen. "Mach dir mal nicht so einen Stress deswegen!", winkte sie ab. "Wir können unser Zeug auch per Hand abspülen."
    "Bullshit, Digga, die Maschine funktioniert doch noch problemlos! Es ist nur der Ablaufschlauch, das kriegen wir schon irgendwie hin", bestand Salih auf seine Reparatur. "Ich lass mir da noch irgendwas einfallen."
    Allerdings war klar, dass er etwas Zeit brauchen würde, die notwendigen Teile und entsprechendes Werkzeug aufzutreiben, bevor er es nochmal auf einen Reperaturversuch ankommen lassen konnte. Und da er mit seiner Crew in zwei Tagen die Anlage der Vorcha stürmen würde, musste er Felicitas auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten, um sich um ihr Problem mit dem Geschirrspüler kümmern zu können. Er selbst ärgerte sich darüber aber mehr als die Frau, denn sie zuckte nur mit den Schultern und nahm die Verzögerung kommentarlos zur Kenntnis. Es war offensichtlich, dass ihr die Sache mit der Spülmaschine nicht allzu wichtig war.
    Dafür aber etwas anderes. "Hey, Salih!", hielt Felicitas ihn zurück, als er sich schon verabschieden wollte. "Kannst du mir etwas versprechen?"
    Ihn beschlich bereits ein schlechtes Gefühl, aber er hielt dennoch inne. "Hmm?"
    "Sieh zu, dass du diese Sache mit Noura hinter dir lässt! Warte bitte nicht, bis dich das von innen heraus auffrisst!"
    "Ach was, ich komm schon klar!", winkte er gereizt ab, als sie das Thema schon wieder ansprach. "Tu mal nicht so, als wäre ich am Durchdrehen! Ich brauche...einfach ein bisschen Zeit, um mir zu überlegen, was ich als nächstes mache, das ist alles."
    Ein Anflug von Entrüstung schlich sich in ihre Stimme. "Salih! Ich bin vielleicht alt und gebrechlich, aber du kannst mir glauben, dass ich weiß, wovon ich rede."
    Für gewöhnlich tat Salih das auch. Felicitas steckte voller Weisheiten, das wusste jeder hier in der Gegend. Aber das musste deswegen noch lange nicht bedeuten, dass sie immer Recht hatte. Und in dieser Sache wollte er lieber auf sein eigenes Herz hören. Er würde nichts überstürzen. Er wollte sich ganz sicher sein, dass wenn er Noura wirklich endgültig aufgab, es auch die richtige Entscheidung sein würde.


    Als Salih in seine Wohnung nur zwei Häuser weiter zurückkehrte, ärgerte er sich über Felicitas. Warum auch hatte sie Noura noch einmal erwähnen müssen? Für einen Moment hatte der defekte Geschirrspüler seine Gedanken bestimmt und jetzt musste er schon wieder an seine Ex denken. Und das war mit Sicherheit nicht das, was er in diesem Moment in seinem Kopf haben wollte. Er brauchte mehr Zeit. Also verbrachte er die nächsten zwei Stunden auf seinem Sofa und starrte seinen Fernsehbildschirm an, in der Hoffnung, sich damit irgendwie abzulenken.
    Er schaute einen Action-Film, wobei er selbst nicht genau wusste, was der Titel war. Es war irgendein Klassiker von vor über fünfzig Jahren, in dem muskelbepackte Typen mit dicken Knarren gegen allerhand Aliens kämpften. Ironischerweise war der Film noch aus einer Zeit, bevor die Menschen auf echte Außerirdische getroffen waren. Kompliziert war der Film nicht. Die Aliens waren böse, die Menschen gut, während ein mächtiger Konzern im Hintergrund seinen dubiosen Machenschaften nachging. Und Anspruch sah auch anders aus. Es wurde viel geballert, viel rumgebrüllt und man wusste schon von Anfang an, wer am Ende gewinnen würde. Salih mochte diese Sorte Film; man musste nicht sonderlich viel nachdenken und bekam dafür etwas fürs Auge und für die Ohren. Tatsächlich hatte er so etwas schon seit etlichen Jahren nicht mehr geschaut, denn Noura hatte diese Filme nie gemocht...
    Salih seufzte und ließ sich tiefer in das Polster seines alten Sofas sinken, als sein Verstand ihn ein weiteres Mal hinterging und die Erinnerung an Noura heraufbeschwor. Wie oft sie auf diesem Sofa zusammengesessen hatten, während sie irgendwelche Filme oder Serien geschaut hatten. Manchmal war seine Freundin dabei eingeschlafen. Manchmal hatten sie beide den Fernseher gepflegt ignoriert und sich lieber mit sich selbst beschäftigt. Noch immer bildete sich Salih ein, ihre Wärme spüren zu können. Er erwartete schon fast, dass sie jeden Moment aus dem Nebenraum kommen und sich wie sonst auch zu ihm setzen würde. Stattdessen blieb er allein in dieser ungewöhnlich stillen Wohnung. Selbst nach einer Woche hatte er sich noch immer nicht an dieses Gefühl der Einsamkeit gewöhnt. Zu viel erinnerte ihn noch an die Frau, mit der er so viele Erinnerungen geteilt hatte.
    Dabei hatte er sogar schon all ihre Sachen, die sie bei ihrer überstürzten Abreise vor knapp einer Woche nicht mitgenommen hatte, in Kartons und Tüten gepackt. Nur brachte Salih es nicht über sich, sie wegzuschmeißen. Es war ihm irgendwie zu endgültig. Also standen sie in seinem Flur und erinnerten ihn jedes Mal daran, dass Noura nicht mehr hier war, wann immer er an ihnen vorüberging.
    Es war eigenartig, dass er ausgerechnet an seine Ex denken musste während einer Szene, in der die Helden des Films gegen ein besonders großes Alien kämpfen mussten, das unerklärlicherweise viel mächtiger und gefährlicher als alle anderen Außerirdischen Monster war, die bislang vorgekommen waren. Wollte ihm sein Unterbewusstsein irgendetwas mitteilen oder war es bloß Zufall? Immerhin sahen die Spezialeffekte immer noch klasse aus...
    Zwischendurch vibrierte sein Smartpad mehrmals, als er Nachrichten bekam, doch Salih widerstand der Versuchung, sie zu lesen. Zu groß war jedes Mal die Hoffnung, dass Noura ihm schrieb. Er wusste nicht einmal, was er sich davon erhoffte. Eine Entschuldigung? Vielleicht eine Rechtfertigung? Vielleicht wollte er einfach die Gewissheit, dass da noch eine Möglichkeit zwischen ihnen war, miteinander zu sprechen. Irgendwas zu retten. Oder vielleicht auch einfach nur einen Abschluss zu finden. Aber Salih konnte sich einfach nicht dazu durchringen, ihr irgendetwas zu schreiben. Zu tief saß der Schmerz über ihren Verrat.
    Also saß er einfach nur weiter vor seinem Fernseher und schaute weiter den Film, ohne aber großartig irgendetwas von der Handlung aufzunehmen. Da waren laute Geräusche und spektakuläre Bilder, aber Salih hätte schon zehn Minuten später kaum sagen können, was eigentlich geschehen war.
    Der finale Kampf des Filmes begann mit der Offenbarung, dass nicht die Aliens die wahren Schurken waren, sondern der nebulöse und unsympathische Riesenkonzern, der in Wirklichkeit hinter allem steckte und mithilfe der DNA der Außerirdischen willenlose Supersoldaten heranzüchten wollte. In Wirklichkeit wehrten sich die Aliens nur gegen die fiesen Machenschaften und waren in Wirklichkeit die Opfer von größenwahnsinnigen Geschäftsleuten. Der Plottwist hatte sich schon vor über einer Stunde so offensichtlich angekündigt, dass die Offenbarung wenig mehr als ein Schulterzucken wert wahr.
    Eine Sache fiel Salih allerdings auf, als sich der Showdown des Filmes vor seinen Augen abspielte. In solchen Geschichten wurde der Protagonist am Ende immer vor eine Wahl gestellt. Er musste eine Entscheidung treffen. Doch das eigenartige war, dass diese Entscheidungen immer total einfach waren. In diesem Film stellte der Schurke, nachdem er seinen finsteren Plan erklärt hatte, den Helden vor die Wahl, sich ihm und seiner geplanten Weltherrschaft anzuschließen, oder sich ihm in den Weg zu stellen und dafür zu sterben. Und niemand, absolut niemand, würde auch nur für eine Sekunde glauben, dass der Held der Geschichte die falsche Wahl treffen würde. Wie auch? Er musste sich entscheiden zwischen dem skrupellosen, unmenschlichen und machtgierigen Megakonzern und den falsch verstandenen, bedrohten Außerirdischen, die nur für ihre Freiheit kämpfen wollten und eigentlich auch recht nett sein konnten. Es gab eine so offensichtlich richtige und eine eindeutig falsche Entscheidung.
    Und natürlich zog der Held seine Waffe, ließ einen One-Liner los und eröffnete das Feuer auf den Schurken, der in einem gepanzerten Mech saß, damit der Kampf auch nicht zu leicht für die Guten sein würde. Schon entbrannte ein erbittertes Gefecht, in welchem der Held mit seinen Freunden und den nun verbündeten Aliens gegen die bösen Kapitalisten und ihre Schergen antrat.
    Salih wunderte sich, warum es in diesen Filmen immer so einfach war, eine Entscheidung zu treffen. Denn seiner Erfahrung nach hatte das mit der Realität rein gar nichts zu tun. Auf ihn wirkte jeder Pfad, den er selbst einschlagen konnte, wie eine Falle. Jede Wahl hatte ihre Tücken und Salih wusste nie, ob er sich nun korrekt entschied oder nicht. Also wartete er. Auf ein Zeichen, auf eine Eingebung, irgendein Signal, welches ihm verriet, was denn nun die richtige Entscheidung war. Er wollte lieber sichergehen und nichts überstürzen.
    Das Klingeln an seiner Haustür riss Salih aus seinem Film. Nicht, dass er dem Streifen allzu viel Beachtung geschenkt hatte, aber das Geräusch klang fast, als würde es aus seiner fremden Welt kommen und brachte ihn voll und ganz zurück in seine Wohnung. Mit einem Seufzen überlegte er, ob er wirklich aufmachen sollte. Als es erneut klingelte, schwang er sich von seinem Sofa und lief durch den Flur nach vorne. Ohne große Erwartung öffnete er die Tür. Und hatte das Gefühl, eine Treppenstufe verpasst zu haben.
    Sein Herz machte einen Hüpfer. In seinen Gedanken hatte er sich die letzten Tage immer wieder ausgemalt, dieses Gesicht noch einmal zu sehen. In diese atemberaubenden Augen zu blicken, die ihm unter geschwungenen Brauen entgegenschauten. Diese eleganten Züge, die sowohl forsch und hart sein konnten, aber auch süß und verspielt. Ihre gelockten schwarzen Haare, die braunen Augen und die dunklen Lippen bildeten einen deutlichen Kontrast zu ihrer Haut, obwohl sie eigentlich einen ähnlich düsteren Teint wie Salih hatte. In nur einer Sekunde schlug alles an ihr den Marokkaner sofort in den Bann. "Noura...?", entfuhr es ihm überrascht. "W-was machst du hier...?"
    "Hey!", machte die Frau und erwiderte vorsichtig seinen Blick. "Ich...ich wollte nur meine Sachen mitnehmen, das ist alles..."
    Erst jetzt bemerkte Salih, dass hinter ihr noch jemand war. Mit etwas Abstand zu ihr und verschränkten Armen blickte Salih ein dunkelhäutiger Kerl mit dichtem Bart und langen Dreadlocks entgegen, die er zu einem dicken Zopf gebunden hatte. Er machte einen recht gelangweilten Eindruck.
    Salih hingegen glaubte, ein weiteres Mal eine Treppe herabzustolpern. Es waren nur Sekundenbruchteile, in denen er eine Reihe von Empfindungen durchlief. Völlige Überraschung, gefolgt von Enttäuschung, Bitterkeit und dann Hoffnung. Nun schlug es in blanken Hass um. "DU...!", grollte er und ballte unwillkürlich die Fäuste. Er machte einen bedrohlichen Schritt nach vorne und wusste im ersten Moment nicht einmal, wem von beiden er seinen Zorn spüren lassen wollte.
    Hatte sie für einen Moment noch versucht, entschlossen zu wirken, blitzte auf Nouras Gesicht Sorge auf. "Beruhige dich! Ich will nicht schon wieder streiten..."
    Anklagend reckte er einen Finger in Richtung ihres Mackers und spie ihr entgegen: "DAS HÄTTEST DU DIR VORHER ÜBERLEGEN SOLLEN, BEVOR DU DIESEN ELENDEN PISSER HIERHERGEBRACHT HAST!"
    "Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen!", verteidigte sich Noura, wich aber vor ihm zurück. "Du machst mir Angst, Salih..."
    "Was? Is' er jetzt dein Bodyguard?", fauchte er. "Glaubst du etwa, ich würde dich sonst umbringen, oder was?"
    Die Frau verzog wütend den Mund. "Genau wie letztes Mal! Du schreist einfach nur noch rum! D-du...bist einfach nicht mehr du selbst!"
    "Und du glaubst wirklich, ich würde dir wehtun? Hast du etwa schon vergessen, dass du alles für mich warst...?" Nicht eine Sekunde dachte Salih darüber nach, was er sagte. Die Worte sprudelten ihm aus dem Mund, als wollten sie sich auf Noura stürzen. "Und jetzt tust du so, als ob ich dir etwas getan hätte? Hab ich dich etwa verraten? Hab ich etwa 'ne andere gefickt, während du hier allein rumgehockt und auf mich gewartet hast? Huh?" Es tat unheimlich gut, ihr diese Worte an den Kopf zu werfen, sie daran zu erinnern, was sie getan hatte. Und noch besser tat es, zu sehen, wie sie den Kopf senkte und seinem Blick auswich.
    "Ich...will nicht mit dir reden, wenn du...wenn du so bist!", murmelte sie.
    "REDEN?", brüllte er fassungslos. "ES GIBT DOCH SOWIESO NICHTS MEHR ZWISCHEN UNS ZU BEREDEN! Du hast mir schon längstens gezeigt, was du wirklich denkst! Da brauch ich deine Ausreden und deine scheiß Lügen auch nicht mehr...!"
    "Salih...bitte...!"
    Der flehentliche Ton ihrer Stimme brannte in seiner Brust. "Du willst deinen Scheiß wiederhaben?", stieß er außer sich hervor. Mit zwei schnellen Schritten lief er zurück in den Flur, packte die Kiste mit ihrem Kram und warf sie ihr entgegen. "HIER!" Auch wenn er nicht direkt auf sie gezielt hatte, sprang Noura mit einem überraschten Schrei einen Schritt zurück, als der Behälter laut polternd an ihr vorbeiflog. "Und diesen Müll kannst du auch gleich mitnehmen!" Er griff die beiden Plastiksäcke, in die er ihre Kleidung gestopft hatte und warf sie der Kiste hinterher. Dabei zerriss das dünne Material von einer der Tüten und eine willkürliche Sammlung von Nouras Hosen, Oberteilen und Unterwäsche flog durch den Hausflur und verteilte sich über den Boden. "Und jetzt mach, dass du hier wegkommst! Ich will dich hier nicht nochmal sehen!" Hasserfüllt schaute Salih zu dem Kerl hinter seiner Ex, der noch immer recht unbeeindruckt dastand. "Und deinen beschissenen Freund erst recht nicht!"
    Ohne auf eine Antwort zu warten, packte Salih die Tür und warf sie mit so einem Schwung zu, dass sie mit einem ohrenbetäubenden Krachen zuschnappte, nur um dann wieder aus der Verankerung zu springen und einige Zentimeter aufzufahren. Er hatte sich aber schon wutentbrannt umgedreht und war einige Schritte zurück in seine Wohnung getaumelt. Noch verstand er gar nicht, was gerade eigentlich passiert war. Sein Zorn ließ ihn handeln, doch sein Verstand kam gar nicht hinterher. Zu aufgewühlt und verletzt war er.
    Durch den Spalt in der Tür erklang auf einmal die Stimme des Mannes. "Das lief ja super", schnaubte er amüsiert.
    "Sei still!", fuhr Noura ihn an und es klang so, als würde sie ihre Sachen vom Boden aufklauben und versuchen, irgendwie in die zerrissene Tüte zu stecken. "Willst du nur blöd rumstehen und mir zuschauen, oder hilfst du mir vielleicht auch mal?"
    "Hey, was auch immer für Stress du mit deinem Kerl da hast, das ist nicht mein Problem...!"
    "Danke für gar nichts!", fauchte Noura.
    Schon juckte es Salih in den Fingern, die Tür aufzureißen und seinem Hass weiter freien Lauf zu lassen. Ihre Stimmen trieben ihn jetzt schon in den Wahnsinn. Er fuhr herum, spurtete zurück zum Eingang...und knallte die Tür mit Schwung zu. Dieses Mal achtete er darauf, dass sie nicht wieder aufglitt und verschlossen blieb. Nun konnte er zumindest Noura und den dreckigen Pisser nicht mehr hören.
    Schwer atmend und mit einem Anflug von Schwindel kehrte Salih in sein Wohnzimmer zurück, welches er sich bis vor Kurzem noch mit Noura geteilt hatte. Er hatte keine Ahnung, was er sich erhofft hatte, sollten er und sie sich noch einmal treffen. Doch als sein Adrenalin allmählich abflaute, wurde ihm klar, dass es mit Sicherheit nicht das war, was sich gerade abgespielt hatte. Er hatte keine Ahnung, warum er so reagierte, aber er konnte einfach nicht anders. Seit er von ihrer Untreue erfahren hatte, hatte er nun zweimal mit ihr gesprochen. Und beide Male war es darin geendet, dass er sie angeschrien und rausgeworfen hatte. Dieses Mal nach nicht einmal einer Minute. Und die wenigen Text- und Sprachnachrichten, die sie sich seitdem geschickt hatten, sahen nicht besser aus. Auch dort wich Noura seinen Vorwürfen vehement aus, während Salih sie mit jedem Wort seine Verachtung spüren ließ. War das alles, was er ihr gegenüber noch zeigen konnte? Hatte er nach über fünf glücklichen Jahren mit dieser Frau nichts anderes mehr als Hass für sie übrig?
    Ihm entfuhr ein wütender Schrei, als er sich zurück auf sein Sofa fallen ließ und auf den Bildschirm seines Fernsehers starrte, ohne aber irgendetwas zu sehen. Warum konnten die Dinge nicht so einfach wie in diesen beschissenen Filmen sein? Wann bekam er endlich diese Eingebung, die ihm dabei helfen würde, all diese Scheiße endlich hinter sich zu bringen. Die ihm sagte, wie er sich entscheiden musste, damit das alles endlich aufhören würde und er sein Leben zurückbekam. Ein Leben, in dem Noura ihn nicht die ganze Zeit über in seinen Gedanken heimsuchte. Und sogar in seiner Wohnung.
    In dem verzweifelten Versuch sich abzulenken, griff er nach seinem Smartpad, doch im ersten Moment hatte es den gegenteiligen Effekt. Denn nun bemerkte er, dass die Nachrichten, die er vorhin bekommen hatte, von Noura gekommen waren.
    [17:43] - 'ich komme gleich vorbei um meine Sachen abzuholen'
    [17:43] - 'wehe du hast die weggeworfen'
    [17:44] - 'und tu nicht so als wärst du nicht da
    [17:44] - 'ich weiß dass du zuhause bist'
    Wütend auf sich selbst schlug Salih das Gerät auf das weiche Sofapolster. Wenn er ihre Nachrichten nur gelesen hätte. Dann wäre ihr plötzliches Auftauchen vor seiner Tür nicht so unerwartet gewesen. Vielleicht hätte er dann anders reagiert. Besonnener. Ruhiger. Vielleicht hätten sie ja miteinander reden können. Stattdessen hatte er lieber diesen blöden Film geschaut und Noura ignoriert. Wieso konnte er mit einem Mal nichts mehr richtig machen, wenn es um diese Frau ging?
    Zum Glück waren in seinem Messenger auch noch andere Nachrichten, mit denen er sich tatsächlich ein wenig auf andere Gedanken bringen konnte. Denn Saskia hatte ihn angeschrieben und fragte, ob er zusammen mit ihr, Matt und Cobra feiern gehen wollte.
    Es war eigenartig. Die letzten Stunden war ihre Einladung von zuvor immer mal wieder in seinem Kopf herumgespukt und er war unentschlossen gewesen, ob er nun zusagen wollte oder nicht. Aber jetzt war es nicht einmal mehr eine Entscheidung. Nicht für eine Sekunde musste Salih nachdenken, was er ihr antwortete, als seine Finger wie von selbst eine Nachricht tippten und abschickten.


    "Wohin genau geh'n wir eigentlich?"
    Saskia warf Salih für die Frage einen spöttischen Blick zu. "Na, ins Overdrive! Das hab' ich dir doch vorhin schon gesagt, du Idiot!"
    "Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen!", grinste der Marokkaner, aber tatsächlich hatte er völlig vergessen, dass sie den Namen ihres Zielortes ja schon verraten hatte. Am Ende war es ihm allerdings recht egal, wohin sie gingen. Hauptsache, er war nicht allein. Und Hauptsache, er hatte etwas, um sich von Noura abzulenken. "Kiki! Gib mal die Flasche rüber!"
    "Hehe...!" Die kleine Frau nahm selbst noch einen Schluck, ehe sie den Wodka an Salih weitergab.
    Es war ziemlich billiges Zeug und schmeckte nach nichts, fast so, als würden sie reinen Alkohol trinken und brannte ziemlich unangenehm im Rachen. Aber natürlich tranken sie den Schnaps nicht für den Geschmack. Vor allem Salih hatte im Augenblick keine Hemmungen, sich voll und ganz im Alkohol zu ertränken. Für gewöhnlich hielt er sich lieber ein wenig mit Drogen zurück, immerhin hatte er in seiner Jugend genug schlechte Erfahrungen damit gemacht. Nun jedoch wollte er nichts weiter als seine Sorgen mit diesem Wodka herunterspülen und dann hoffentlich an gar nichts mehr denken müssen. Dieser jugendliche Leichtsinn beflügelte ihn regelrecht.
    "Yo, Matt! Bist du eigentlich heute wieder auf der Jagd?", wollte er wissen und reichte dem Mann neben sich die Flasche weiter. "Im Overdrive sin' eigentlich immer ein paar hübsche Mädels unterwegs..."
    Bei dem Kommentar gluckste Matt und nahm den Alkohol entgegen. "Mal schauen", gab er vage zurück, das durchtriebene Grinsen auf seinem Gesicht verriet aber, dass Salih ihn wohl ziemlich gut durchschaut hatte. Allzu schwer war es auch nicht, Matt machte daraus ja auch keinen großen Hehl. "Ich will einfach nur ein wenig Spaß haben, das is' alles..."
    "Seh' ich da etwa schon 'ne Beule in deiner Hose?", lachte Saskia mit einem ungenierten Blick in seinen Schritt.
    Gut gelaunt ging die kleine Truppe die Gran Muro herunter, während sie die Wodka-Flasche hin und her wandern ließen. Dabei gaben sie ein recht merkwürdiges Bild. Matt und Salih waren recht hochgewachsen und vor allem der Marokkaner hatte mit seiner breiten Statur eine ziemliche Präsenz, sodass ihm andere Leute auf der Straße von allein schon Platz machten. Cobra hingegen, der mit in den Taschen versenkten Händen und geducktem Kopf hinter ihnen lief, war mit seinem eher kürzeren Wuchs praktisch unsichtbar. Die Männer trugen Lederjacken und generell dunkle und robuste Kleidung. Auf der anderen Seite stach Saskia mit ihrem grellorangenen Oberteil und ihren hellen Haaren allein schon farblich völlig absurd hervor, doch es war vor allem ihre energetische Art, in der sie wie ein kleines Kind vor Matt und Salih hin und her sprang, mit der sie einiges an Aufmerksamkeit erregte. Und das, obwohl sie eigentlich in einer Gegend waren, an dem man nicht unbedingt die Blicke anderer auf sich lenken sollte.
    Die Gran Muro war die Grenze zwischen dem Solar Distrikt und dem benachbarten Void Distrikt. Während Solar noch ein halbwegs sauberer und gesitteter Boden war, präsentierte Void die wahrscheinlich hässlichsten Seiten von Omega. Allein der Abstieg in die Straßen von Void war wie eine Reise in die Unterwelt. Der Distrikt lag in einer gewaltigen Schlucht, über der ein leicht grünlicher Schimmer in der Luft lag, welcher wie ein böses Omen wirkte. Der Name der Gran Muro kam nicht von ungefähr; es war eine steile Klippe, welche rund hundert Meter in die Tiefe reichte und den Übergang der beiden Distrikte markierte. Eine Straße schlängelte sich entlang der Felswand nach unten, sodass man bei seinem Abstieg jederzeit die düsteren Straßenzüge von Void unter sich sehen konnte.
    In dieser Gegend Omegas wollte man sich nicht unbedingt länger als nötig aufhalten und es war ratsam, immer eine Waffe mit sich zu führen, was auch sehr viele Leute hier taten. Manche zeigten ihre Pistolen sehr offen an Hüftgurten oder Beinholstern, andere hielten sie im Verborgenen, um im Zweifel jemanden damit überraschen zu können. Und allein sollte man sich hier auch nicht herabwagen, sofern man nicht wusste, was man tat. Seinen zweifelhaften Ruf hatte der Distrikt aber nicht von ungefähr; nicht nur konnten hier Vorcha überall frei herumlaufen, es gab vor allem auch keinen richtigen Herrscher, sodass der Bezirk im Chaos von Bandenkriegen zu versinken drohte. Lediglich der ominöse Rattenkönig sorgte für so etwas wie Ordnung, wobei diese Ordnung nicht unbedingt für die Sicherheit der gewöhnlichen Bewohner auf den Straßen war, als vielmehr für das Syndikat des Verbrecherfürsten.
    Void war schmutzig, heruntergekommen und desolat. Bereits auf der Straße der Gran Muro sah man getrocknete Lachen von Erbrochenem, Urin und gelegentlich sogar Blut. Überall lag Müll herum, von Glassplittern und leeren Plastikverpackungen, bis hin zu Essensresten und Elektroschrott. Die Bewohner, von denen ein großer Teil Menschen waren, gingen ihrem Alltag nach, ohne sich groß um andere Leute zu scheren. Hier in Void spürte man viel eher als in anderen Distrikten eine Jeder-gegen-Jeden-Mentalität, bei der die Bewohner einzig und allein um ihr eigenes Wohlbefinden besorgt waren. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl, so wie Salih es aus seinem Block kannte, suchte man hier vergeblich.
    Und obwohl der Bezirk eine Vielzahl von Gefahren und Widrigkeiten bereithielt, ließen sich Salih und seine Begleiter davon nicht abschrecken. Ihr Ziel, das Overdrive, war ein Club, der genau die richtige Mischung aus Rohheit und einem akzeptablen Standard mit sich brachte. Es hatte etwas Verwegenes, dort feiern zu gehen, aber gleichzeitig musste man nicht Angst haben, dass man Vorcha-Pisse serviert oder ein Messer zwischen die Rippen bekam. Für die Verhältnisse von Void war das Overdrive sogar richtiger Luxus und trotzdem immer noch günstig.
    Also lief die Gruppe recht unbekümmert die Straße der Gran Muro hinunter und sie verspürten bereits eine gewisse Vorfreude, die durch den Alkohol nur weiter angefacht wurde.
    Irgendwann meldete sich Cobra zu Wort. "Hey, Kiki! Was sollte eigentlich die Scheiße mit deinem Kommentar vorhin? Von wegen, ich würde bei der Sache übermorgen eh draufgehen..."
    Die Frau stutzte einen Moment, dann lachte sie laut auf. "Wieso? Hast 'e 'n Problem damit?"
    Seinem mürrischen Gesichtsausdruck nach hatte er das tatsächlich. "Denkst du etwa, ich bin schwach?"
    "Nö, das nich'", kicherte Saskia und zwinkerte ihm zu. "Aber du bist scheiße dämlich! Also wenn bei der Nummer wer draufgeht, dann du! Wahrscheinlich hälst 'e zwischendurch deine Waffe falschrum un' schießt dir selbst ins Gesicht..." Von Matt erklang ein leises Glucksen.
    "Fick dich!", brauste Cobra auf und funkelte sie zornig an. "Tu mal nich' so, als könnte ich nich' kämpfen!"
    "Tut mir leid, dass ich dich beleidigt habe, o großer Krieger!", spottete Saskia und blickte ihn neugierig an. "Okay...also was denkst 'nn du, wer übermorgen draufgeht?"
    Etwas überrascht über die Frage zuckte der Mann nur mit den Schultern. "Keine Ahnung...aber am wahrscheinlichsten is' doch Wish, oder? Ich weiß ehrlich gesagt nich', warum Jax die überhaupt mitnimmt. Die hat echt nich' das Zeug dazu..."
    Weder Matt, Saskia, noch Salih konnten dagegen etwas erwidern, denn sie alle wussten sofort, dass Cobra recht hatte. Wish war weder sonderlich hart im Nehmen noch eine allzu gute Schützin mit der Pistole. Sollte es hart auf hart kommen, war sie der Situation mit Sicherheit nicht gewachsen. Und trotzdem wollten sie die Aussage nicht unkommentiert stehen lassen. Ihnen gefiel der Gedanke überhaupt nicht, dass der jungen Frau irgendetwas zustoßen würde.
    "Bullshit, Wish geht nich' drauf!", murrte Saskia.
    Auch Matt stimmte ihr nickend zu. "Ja, Mann! Vergiss es!"
    "Du hast gefragt!", verteidigte Cobra seine Aussage. "Das is' meine Antwort."
    "Das sagst du nur, weil du ansonsten der Nummer-Eins-Kandidat wärst, draufzugehen", lachte Saskia.
    "Moment mal! Du bist doch kein bisschen besser als Cobra!", ging Salih fairerweise dazwischen. "Du gerätst genauso oft in richtig dumme Situationen, wo du fast abkratzt."
    "Was? Fuck off, 'n Scheiß tu ich!"
    Aber Cobra wollte nicht locker lassen. "Ja, genau! Erinnert ihr euch an die Nummer in dem Kinderpuff? Wo Kiki uns alle hat auffliegen lassen, weil sie einfach diesen Typen umgeschossen hat? Oder als wir das Warenhaus von Parasec gestürmt haben und Saskia am Ende mitten in drei Vorcha gelandet ist..."
    "Hey, das war nich' meine Schuld!", verteidigte sich die kleine Frau lautstark. "Ihr habt mich da einfach versauern lass'n, was hätt' ich 'nn da machen soll'n?"
    Während sie weiter die Straße der Gran Muro hinabliefen, stritten sie munter darüber, wer von ihnen bei ihrem anstehenden Job am ehesten sterben würde. Am realistischsten wären wahrscheinlich wirklich Wish, Cobra, Saskia oder Fix, da Vorcha gerne den Nahkampf suchten und die beiden Männer und Frauen nicht unbedingt wahnsinnig groß oder stark waren, um sich in einer solchen Situation wehren zu können. Wenig überraschend bestanden Cobra und Saskia vehement darauf, dass sie auf keinen Fall draufgehen würden, doch ihnen war durchaus klar, dass das eine sehr reale Möglichkeit war. Und das nicht nur für sie. Auch Salih wusste, er war nicht unverwundbar und ein direkter Angriff auf ein Nest von Vorcha würde definitiv nicht ungefährlich sein.
    Aber allzu viele Sorgen machten sie sich letztlich nicht. Die Crew war gut vorbereitet und Jax hatte in der Vergangenheit schon unzählige Male bewiesen, dass er sehr genau wusste, wie er seine Leute zum Erfolg führen konnte. Es passierte nicht sonderlich häufig, dass jemand aus ihren Reihen den Tod fand; Hanas und Kyokos Ableben lag schon gut ein halbes Jahr zurück. Seitdem hatten sie noch jeden Job einigermaßen unbeschadet überstanden. Und zumindest Salih konnte sich mit der Gewissheit trösten, deutlich bessere Chancen als Cobra oder Saskia zu haben, die sich beide bei solchen Aufträgen gerne mal in brenzlige Situationen brachten.
    Am Ende aber war diese Unterhaltung keine, welche ihnen die Stimmung verdarb, denn der Tod gehörte für sie nun mal zum Leben auf Omega dazu. Im Gegenteil; es hatte etwas merkwürdig kathartisches, so offen über ihr potentielles Ableben zu sprechen. Und die Möglichkeit eines baldigen Todes fachte ihre Feierlaune nur noch mehr an. Wenn sie bald schon sterben konnten, warum dann nicht noch einmal richtig Spaß haben? Munter liefen sie weiter und kamen ihrem Ziel immer näher, während sich der Wodka leerte und ihre Gemüter aufheizte. Zum Glück lag das Overdrive direkt am Ende der Straße, welche von der Gran Muro in die Tiefe führte, sodass sie nicht allzu tief in den Void Distrikt hinabmussten.
    Als ihr Ziel allerdings in der Ferne allmählich sichtbar wurde, bot sich ihnen eine Überraschung.
    "Oh, nein...!", entfuhr es Matt auf einmal.
    Sein enttäuschter Tonfall ließ Salih aufschauen und er versuchte dem Blick seines Begleiters zu folgen. Was genau aber Matt so störte, konnte er auf Anhieb nicht erkennen. "Was ist los?"
    "Guck doch!", meinte der Mann verdrossen und deutete in Richtung des Overdrive.
    Nun fiel Salih tatsächlich etwas auf. Er kannte das Overdrive sehr gut, immerhin war er schon häufiger hier gewesen. Aber schon auf die Entfernung sah er nun recht grelle Neonfarben, welche die Fassade des Clubs schmückte und welche er bisher noch nie dort gesehen hatte. Vor allem giftgrüne, pinke und cyanblaue Formen leuchteten an der Außenwand des Gebäudes, auch wenn er auf die Entfernung nicht sofort sagen konnte, was genau die Farben darstellten.
    Neben ihm wurde nun auch Saskia auf den ungewöhnlichen Anblick aufmerksam. "Moment ma'...!" Sie legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen, um mehr zu sehen. "Sin' das etwa...?"
    "Fucking Animals!", fluchte Matt ungehalten und zeigte fast anklagend in Richtung des Clubs. "Das sind diese verkackten Animals! Im Overdrive ist heute ein Neon-Pit!" An Saskia gewandt beschwerte er sich: "Warum hast du uns nichts davon gesagt?"
    Die kleine Frau aber wirkte im ersten Moment völlig überrascht und ihre Augen weiteten sich. "Woah! Scheiße...! Das wusst' ich gar nich'...!"
    Salih hingegen hatte keine Ahnung, wovon Matt überhaupt redete. Und er war nicht der einzige.
    "Neon-Pit? Was soll das sein?", wunderte sich Cobra.
    Matt fuchtelte gestikulierend zu den Leuten, welche sich am Eingang des Overdrive tummelten. Nun, wo sie näher an den Club herangekommen waren, konnten sie auch mehr erkennen und es schien ganz so, als ob sich die grellen Neonfarben nicht nur am Gebäude wiederfanden, sondern auch an den Besuchern des Clubs. Manch einer hatte grün gefärbte Haare, jemand anderes trug dunkle Kleidung mit neonblauen Akzenten, wieder jemand anderes präsentierte grelle, rote Tätowierungen an den nackten Armen. "Das sind Animals!", erklärte Matt ungehalten. "Das sind diese irren Spinner, die sich auf ihren Raves so lange mit Drogen vollschießen, bis sie tot umfallen oder alles vollkotzen. Die sind wie Heuschrecken, die ziehen immer von einem Club zum nächsten..." Er gestikulierte verdrossen zu den neonfarbenen Symbolen an der Hauswand, welche offenbar Graffitis waren. "Und heute sind die anscheinend hier im Overdrive."
    "Oh...", machte Cobra und wirkte angesichts von Matts Reaktion ein wenig verunsichert. "Und was machen wir jetzt? Gehen wir trotzdem rein?"
    Matt schüttelte den Kopf. "Lieber nich'! Die Typen sind völlig verrückt, sag ich dir. Das hat nichts mehr mit Feiern zu tun, das ist einfach nur...irre. Total irre! Wollen wir lieber woan-...?"
    "Vergiss es!", rief Saskia plötzlich so laut, dass Salih neben ihr zusammenzuckte, und sprang fast schon überstürzt nach vorne. Ihr entfuhr ein entrücktes Lachen, so als ob heute der schönste Tag ihres Lebens war, als sie sich zu ihren Begleitern umwandte. "Du glaubst doch nich', dass ich mir sowas entgeh'n lass'!" Blitzschnell schnappte sie Cobra die Wodka-Flasche aus der Hand, setzte sie an ihre Lippen und kippte den letzten Rest des Schnapps runter, ehe sie die leere Flasche achtlos zur Seite warf. Obwohl sie klirrend auf dem Boden aufkam, blieb das Glas wie durch ein Wunder heil. Saskia unterdessen lief bereits rückwärts weiter, während sie den drei Männern energisch zuwinkte. "Na los, ihr Fickfressen! Kommt mit!"
    Der Kontrast zwischen ihrer und Matts Reaktion über die Anwesenheit dieser Animals war durchaus amüsant, aber Salih hatte noch immer keine Ahnung, was genau das bedeutete. Für gewöhnlich würde er lieber Matts Einschätzung vertrauen und der war der Ansicht, die Animals waren ein Haufen Spinner. Und tatsächlich, als sie auf das Overdrive zuliefen, sahen sie einige der Clubgänger mit dem Neonlook und man erkannte sofort, was Matt meinte. Gerade diejenigen, welche den Club verließen, schienen völlig durch zu sein. Salih sah einen Mann, der mehrere blutige Kratzer im Gesicht und an den Armen hatte und gleichzeitig so zugedröhnt war, dass er das nicht einmal zu bemerken schien, als er mit leerem Blick an ihnen vorbeitorkelte. An anderer Stelle musste eine Frau von zwei anderen Frauen weggeschleift werden, weil sie entweder zu sehr im Rausch oder gleich ohnmächtig war. Auf der anderen Seite der Straße übergab sich ein Mann lautstark, während ein anderer Kerl stöhnend beim Eingang stand und mit schmerzverzerrtem Gesicht beide Hände an den Kopf gepresst hatte. Sonderlich einladend war dieses Empfangskomitee nicht, doch davon ließ sich Saskia nicht beirren und eilte voraus.
    "Ach, fuck...!", schnaufte Matt und folgte ihr sehr halbherzig.
    Salih war sich nicht sicher, was er von dem Gehörten halten sollte, aber auch er setzte sich in Bewegung. Eigentlich war Saskia die letzte Person, der man ins Ungewisse folgen sollte, allerdings wollte Salih auch keinen Rückzieher machen. Wenn sie schonmal hier waren, konnten sie sich genauso gut auch ins Getümmel stürzen. Wie schlimm konnten diese Animals schon sein? Und außerdem hatte ihn nach seiner Begegnung mit Noura eine gewisse Waghalsigkeit gepackt.
    Als die Gruppe den Club betrat, konnten sie nun die leuchtenden Neonmalereien genauer erkennen. Einiges davon waren abstrakte Formen, die offenbar keinen tieferen Sinn hatten. Ein Symbol, welches jedoch immer wieder auftauchte, war ein Auge, welches mit den Buchstaben L und R eingerahmt wurde. Die meisten Motive aber waren offenbar Tiere. Oder besser gesagt; grotesk anmutende Darstellungen von tierähnlichen Mischwesen. Eine Art riesiger, cyanblauer Affe mit Elefantenohren blickte den Besuchern direkt am Eingang entgegen. Pinke Blitze umrahmten das Bild. Daneben prangte ein Wolfskopf, aus dem zwei unterschiedliche Flügel sprossen; ein gefiederter Flügel und einer, der ein wenig an einen Schmetterling erinnerte. Sonderlich filigran waren die Malereien nicht, vielmehr hatten sie alle einen sehr simplen und gleichzeitig recht lebendigen Stil, als hätte sie jemand im Vorbeigehen an die Wand geschmiert. Doch gleichzeitig schien die Wahl und Anordnung der Motive zu gezielt, um tatsächlich das Produkt willkürlichen Vandalismus zu sein.
    Im düsteren Eingangsbereich des Overdrive stachen die grellen Neonfarben besonders hervor und hatten zusammen mit dem groben Pinselstrich eine fast pulsierende Energie. Für gewöhnlich dominierten hier warme Rot- und Orangetöne das Bild, nun aber hatte sich die Farbpalette völlig verändert. Und selbst das Dröhnen des Basses aus dem Hauptraum, welches sie bereits sehr deutlich hören konnten, klang nicht nach der üblichen Club-Musik, die hier sonst gespielt wurde. Man merkte an jeder Ecke, dass im Overdrive heute etwas Ungewöhnliches vor sich ging.
    "Ich chill mich erstmal nach oben", brummte Matt lustlos und wandte sich bereits in Richtung Treppe, wo es hoch in einen abgesonderten Bereich ging, in dem sich keine Tanzfläche befand, sondern lediglich eine Bar und einige Separées für diejenigen, die sich lieber eine etwas ruhigere Zeit machen wollten.
    Saskia war nicht sonderlich beeindruckt von seiner Entscheidung. "Mann, willst 'e etwa den ganzen Abend da rumhock'n un' verschimmeln, o'er was?", schnaubte sie verächtlich. "Hier unt'n geht die Party!"
    "Ne, danke...!"
    Die kleine Frau streckte ihm die Zunge raus und ihr Urteil lautete: "Lappen!" Dann wandte sie sich an Cobra und Salih. "Un' was is' mit euch?"
    "Ich geh auch erstmal hoch", wich Cobra aus und machte Anstalten, Matt zu folgen.
    Salih entfuhr ein Glucksen, als er den Unmut darüber auf Saskias Gesicht bemerkte. "Keine Angst, ich geh mit dir", versicherte er ihr amüsiert. "Wobei ich ehrlich noch immer gesagt keine Ahnung habe, was diese Animal-Geschichte jetzt eigentlich sein soll." Er zeigte auf die vollgeschmierten Wände. "Was genau ist das? Wer hat das gemacht?"
    Allerdings blieb Saskia ihm eine Antwort schuldig. Stattdessen reckte sie ihre Fäuste triumphierend nach oben, während sie unruhig auf und ab hüpfte. "Hah! Wenigstens einer, der mich nich' im Stich lässt! Warte...! Ich hab noch was... Endlich kann ich die ma' benutz'n..." Sie fischte etwas Kleines aus ihrer Jackentasche und hielt es in ihrer Hand, ehe sie die Jacke mit einer raschen Bewegung abstreifte und mitsamt der innen angebrachten Pistolen Matt entgegenschleuderte. "Pass solang auf meinen Scheiß auf!", beschwor sie ihn, was er mit einem Schulterzucken quittierte. Dann wandte sie sich Salih zu, packte ihn an der Hand und zog ihn mit sich. "Los jetz'!"
    Etwas überfordert ließ der Marokkaner sich mitziehen, während Matt und Cobra die Treppe nach oben stiegen. Worauf er sich gerade einließ, wusste er selbst nicht. Saskias eigenartiges Verhalten, Matts Missmut über die Anwesenheit der Animals, die bizarren Symbole und Motive und nicht zuletzt die vielen völlig abgewrackten Leute, die ihnen bereits entgegengekommen waren; all das hätte eigentlich Grund genug sein sollen, schleunigst umzukehren und sich einen anderen Ort zum Feiern zu suchen. Doch obwohl sich sein Herzschlag bereits beschleunigte und eine gewisse Aufregung nach ihm Griff, folgte Salih der kleinen Frau ins Ungewisse.
    Die aufgepeitschte Musik zog sie wie einen Köder an und wies ihnen den Weg.
    Von dem Eingangsbereich ging es einen komplett schwarzen Korridor entlang, der über und über mit den leuchtenden Neonbildern vollgeschmiert war. Fast wäre Salih dabei über einen Körper gestolpert, der regungslos zu seinen Füßen lag. An anderer Stelle lehnte ein Mann an der Wand, während sein Kopf hin und her schwankte und sein Blick orientierungslos umherfegte. Weiter hinten hatte sich eine zähe Flüssigkeit über den Boden ausgebreitet, welche verdächtig nach Kotze aussah. Davon ließ sich Saskia aber nicht beirren, sondern hüpfte beschwingt darüber hinweg, während Salih ihr mit mulmigem Gefühl folgte.
    Worauf genau ließ er sich hier eigentlich gerade ein?
    Als sie an der Tür ankamen, fuhr Saskia plötzlich zu ihm herum und starrte ihn voller ungezügelter Begeisterung an. "Bist 'e bereit, wie ein Animal zu feiern?", fragte sie ihn aufgeregt.
    Verständnislos schaute er sie an. "Was...?"
    Eine Antwort bekam er nicht. Stattdessen stieß sie die schwere Tür auf und zog den Mann mit sich.
    Und schon fand sich Salih in einem völlig überwältigenden Chaos wieder, das ihn brutal packte und wie eine wilde Bestie verschlang. Sofort war er umgeben von etlichen Leibern, die sich zu der wilden, ohrenbetäubenden Elektromusik bewegten, doch 'Tanzen' man konnte das kaum nennen. Vielmehr wirkte es, als ob jemand die Menschen in eine Box gesteckt hatte und sie nun heftig durchschüttelte. Und Salih war mitten unter ihnen. Man konnte keinen Meter laufen, ohne gegen jemanden zu stoßen. Ständig prallten Hände, Ellbogen oder Knie gegen ihn und selbst mit seiner bulligen Statur hatte der Marokkaner Mühe, sich seinen Weg durch die Menge zu bahnen. Es war so dunkel, dass er kaum etwas Genaues erkennen konnte. Dafür stachen überall die im Dunkeln leuchtenden Neonfarben von Kleidungen, Haaren und Tätowierungen hervor und erzeugten ein Meer aus unnatürlichen, pulsierenden Farben, das ihm schnell die Orientierung raubte. Verzweifelt versuchte er, sich an Saskias hellem Haarschopf zu heften.
    Sie führte ihn zum Tresen, der mit einem pink wabernden Energiefeld abgeschirmt war. Salih erkannte, wie Saskia einem der Barkeeper zwei Finger zeigte und offenbar Getränke bestellte, ehe sie sich kniend auf einen Barhocker platzierte. Dann sah er plötzlich, wie sich aus der Menge zwei Hände nach ihrem Hintern ausstreckten und kräftig zupackten. Zwar fuhr Saskia herum, doch sie machte keinen aufgebrachten Eindruck. Stattdessen flammte ein Ausdruck von Verwegenheit in ihren Augen auf, als sie dem Unbekannten hinterherschaute.
    Stolpernd erreichte Salih den Tresen, wo er sich auf den Hocker neben seine Begleiterin schwang.
    In diesem Moment wurden von der Bedienung bereits zwei Drinks vor Saskias Nase abgestellt und die kleine Frau schob direkt eines davon zu Salih. Dann zeigte sie ihm ihre Hand und er erkannte, dass sie dort zwei kleine Kapseln hielt.
    "Was ist das?", brüllte er gegen den tosenden Lärm an.
    Doch er bekam erneut keine Antwort, sondern nur ein fast schon unheimliches Lächeln von Saskia, ehe sie die Kapseln aufbrach und den Inhalt, ein gräulich glitzerndes Pulver, in die Getränke streute. Sie schnappte sich eines der Gläser und hielt es Salih hin.
    Die Tatsache, dass sie ihm nicht sagte, was sie ihm da gab, ließ ihn zögern. Doch dann ließ er sich von der aufgepeitschten Stimmung in einem Anflug von Waghalsigkeit mitreißen, griff nach dem Drink, setzte an und kippte ihn in einem großen Zug runter.
    Sofort bereute er es. Als auf einmal ein reißendes Brennen seinen Mund ausfüllte, keuchte Salih auf und verschluckte sich beinahe. "W-was...?" Er schlug das Glas zurück auf den Tresen und widerstand nur mit Mühe dem Drang, nach seinem Hals zu greifen. Sein Mund und sein Rachen fühlten sich an, als würden tausende kleine Messer in sein Fleisch schneiden. Der Schmerz trieb das Adrenalin in sein Blut und ließ sein Herz rasen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Saskia an.
    Die schien seine Reaktion erwartet zu haben und kicherte amüsiert. Dann schob sie ihm das zweite Glas hin, bevor sie sich zu ihm beugte. Erwartungsvoll und mit herausgestreckter Zunge öffnete sie den Mund weit und legte den Kopf in den Nacken.
    Trotz der Schmerzen musste Salih grinsen, als er verstand, was sie von ihm wollte. Er griff nach dem Glas und hielt es an ihre geöffneten Lippen. Es war denkbar eigenartig, doch in diesem Augenblick war alles eigenartig und Salih überraschte Saskias Verhalten nicht unbedingt. Bedächtig ließ er die angereicherte Flüssigkeit in ihren Rachen laufen und stellte mit einem Anflug von Genugtuung und Erleichterung fest, dass auch die kleine Frau offenbar Schmerzen erlitt. Zumindest das schien also normal zu sein. Auch wenn Saskia ein wenig zusammenzuckte, brach sie nicht den Blickkontakt, bis er ihr den Drink komplett eingeflößt hatte. Als er das leere Glass zurückstellte, loderte ein irres Funkeln in Saskias grünen Augen auf und sie leckte sich genüsslich über die Lippen. Salih spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug.
    Eigentlich hatte er Saskia nie sonderlich attraktiv gefunden. Mit ihren beiden Zöpfen, der kurzen Hose und dem farbenfrohen Top sah sie für ihn immer ein wenig zu kindlich aus. Doch trotz ihrer mickrigen Statur wirkte sie in diesem Moment so sehr wie eine erwachsene Frau wie noch nie. Eine sehr scharfe Frau, die eine unheimliche und doch verführerische Energie versprühte. Es war, als wäre sie von etwas besessen. "Pass auf!", kreischte sie mit heiserer Stimme gegen das Dröhnen des Basses und grinste hinterhältig. "Das Zeug wirkt schnell...!"
    Noch immer wusste Salih nicht, was sie ihm da gerade gegeben hatte. Nicht, dass er an diesem Punkt noch irgendeine Erklärung ihrerseits erwartete; stattdessen sprang Saskia förmlich auf ihn zu, packte ihn an den Armen und riss ihn vom Barhocker, um ihn zurück in das überwältigende Getöse der Masse zu zerren.
    Salih wehrte sich nicht, er ließ es einfach passieren, ließ sich zurück in das Meer aus Leibern ziehen, in welchem er sogleich versank. Vielmehr als die leuchtenden Neonfarben, die ein wildes Flackern in seinen Augen erzeugten, konnte Salih kaum erkennen. Eigentlich kannte er das Overdrive sehr gut, aber in diesem Augenblick hatte er keine Ahnung, wohin Saskia ihn eigentlich führte. Er taumelte mehr als dass er lief durch die Menge und er bekam schnell das Gefühl, dass es nicht nur ihm so ging. Die Leute um ihn herum waren wie in einer Raserei, sie sprangen wild übereinander, sie prallten gegeneinander und es war schwer zu sagen, ob sie tatsächlich tanzten oder bloß herumstolperten.
    Überall war nackte Haut, Leute lagen am Boden oder wurden niedergetrampelt, Kleidung wurde zerrissen, Getränke verschüttet, Flaschen zerbrochen, es wurde geschrien, gesungen, gelacht und doch war kaum etwas davon zu hören über die allgegenwärtige Musik, welche wie ein dichter Nebel jeden freien Zentimeter im Club ausfüllte, der noch nicht von den menschlichen Leibern beansprucht wurde.
    Mit jeder Sekunde in diesem Chaos spürte Salih eine sehr primitive Anspannung in sich anschwellen. Die Sinneseindrücke drohten ihn zu überwältigen. Da waren die Schmerzen in seinem Mund und seinem Rachen, die völlige Orientierungslosigkeit durch die tanzenden Lichter, das ohrenbetäubende Dröhnen der Musik in der Luft, welches Vibrationen durch seinen Körper sandte. Es gab so viele Reize, die seine Urinstinkte anfachten. Tatsächlich glaubte er immer mehr, er würde jeden Moment in Panik ausbrechen. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Saskia folgen? Einfach hier stehenbleiben und in der Masse versinken? Oder weglaufen? Aber wohin? Wo war er überhaupt?
    Sein einziger Anhaltspunkt in dieser Hölle war Saskias Arm, den er zwischen den Leibern immer wieder bemerkte, als sie ihn weiter hinter sich her schleifte. Erst jetzt fiel ihm dabei auf, dass auch auf ihren Oberarmen diese neonblauen Tätowierungen leuchteten. Am liebsten hätte er sie danach gefragt, aber er hätte in diesem Trubel niemals ein Gespräch anfangen können. Das einzige, was er hatte, war dieses stetige Gefühl, voranzukommen.
    Und dann verschwand dieses Gefühl.
    Von einem Moment auf den nächsten glaubte Salih, stehenzubleiben. Obwohl er sich sicher war, dass er noch immer weiterlief. Dann schien er sich rückwärts zu bewegen. Dabei setzte er noch immer einen Fuß vor den anderen. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Was passierte hier? Anstatt näherzukommen, bewegte sich die Welt immer weiter von ihm davon, während Salih immer schneller zurückfiel. Er stürzte! Rückwärts. Er fiel rücklings in einen endlosen Tunnel, während die flackernden Lichter vor ihm immer kleiner wurden. Verzweifelt versuchte er sich irgendwo festzuhalten, doch da war nichts, woran er sich hätte klammern können. Lediglich Saskias Finger hielten weiterhin sein Handgelenk umschlossen, nur war die Frau ebenfalls so weit weg, dass er sie kaum noch ausmachen konnte.
    Salihs Atem beschleunigte sich, als sich Panik wie ein Feuer durch seinen Körper fraß. Wo war er hier? Er konnte in dieser allgegenwärtigen Dunkelheit nichts mehr erkennen und spürte nichts als das wilde Pochen seines Herzens in der Brust. Die Schwärze war undurchdringlich. Selbst Geräusche erreichten ihn nicht mehr. Salih war blind, taub und selbst als er versuchte, seine Stimme zu erheben, kam kein einziger Laut über seine Lippen. Eine seltsame Erkenntnis traf ihn. Er war nicht mehr in seinem Körper. Etwas hatte ihn herausgerissen, ihn in die Dunkelheit verschleppt, wo er nun völlig allein zurückblieb.
    Doch war er wirklich allein?
    Denn plötzlich bemerkte er etwas. Da war noch etwas mit ihm in dieser Schwärze. Nur waren es keine Menschen. Es waren Tiere! Die Tiere, die er zuvor an den Wänden des Clubs gesehen hatte. Sofort erkannte er den Affen mit den gewaltigen Ohren wieder und den Wolf, dessen hungriger Blick sich auf ihn legte. Die leuchtenden Neonfarben brannten in Salihs Augen und füllten die Dunkelheit aus, ohne irgendetwas um ihn herum auszuleuchten. Die Tierfratzen starrten auf ihn herab, als würden sie lauern und nur auf den richtigen Moment zum Zuschlagen warten. Sie flackerten unruhig, wie ein Bild auf einer wabernden Wasseroberfläche, mal verschwommen sie auch und formten ein komplett neues Bild, mal verschwanden sie völlig in der endlosen Schwärze, nur um an anderer Stelle wieder aufzutauchen.
    Wenn er gekonnt hätte, wäre Salih umgekehrt und gerannt. Aber wie sollte er das ohne Körper tun? Wie sollte er sich überhaupt bewegen? Keuchend schaute er sich um, doch er sah keinen Ausweg. Seine Angst trieb ihn an, doch er wusste nicht wohin. Was sollte er bloß tun?
    Dann erkannte er Saskias Gesicht vor sich. Es kam näher. Salih wollte ihr etwas zurufen, aber er war weiterhin stumm. Dafür sagte sie etwas. Er verstand es nicht, hörte keines ihrer Worte. Aber er konnte sehr gut sehen, wie sich ihre Lippen bewegten. Ihre Augen waren weit aufgerissen und auf ihrem Gesicht stand ein grausiges Lächeln. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Bislang war sie sein einziger Halt in diesem Chaos gewesen, doch nun befeuerte sie seine wachsende Panik. Noch immer hielt sie seinen Arm umklammert und Salih versuchte sich von ihr loszureißen. Schwer atmend erwiderte er ihren Blick. Saskia entblößte ihre Zähne, die vor seinen Augen länger wurden und spitz zuliefen. Dann stieß sie einen wilden Schrei aus, bei dem sich seine Nackenhaare aufstellten.
    Wie auf Kommando stürzten sich die wilden Tiere auf ihn. Sie packten Salih, gruben ihre Zähne in sein Fleisch und rissen ganze Brocken aus ihm heraus. Selbst in seinem entrückten Zustand spürte Salih sehr deutlich, wie er rücksichtslos herumgestoßen wurde, als die Monster ihn bei lebendigem Leib in Stücke rissen. Er spürte, wie immer mehr von seinem Körper verschwand, wie sich Löcher in ihm auftaten und er im Nichts zu verschwinden drohte. Die giftgrünen, hellblauen und grellpinken Fratzen blitzten immer wieder vor ihm auf, als wollten sie ihn verhöhnen, während sie ihn zerfetzten. Wann immer er versuchte, sie von sich zu stoßen, blitzte ein neues Tier auf und vergrub seine Fänge in ihm, wann immer er sich zur Flucht wandte, warteten sie bereits hinter ihm. Die Farben und Lichter waren überall, tanzten um ihn herum und erzeugten einen Wirbelsturm, in dessen Mitte sich der Mann wiederfand.
    Salih wusste nicht, was er tun sollte. Sein Instinkt verlangte von ihm, dass er entweder um sein Leben rannte oder diesen Monstern die Stirn bot und kämpfte. Er musste sich entscheiden, bevor sie ihn endgültig verschlangen. Doch er tat weder das eine noch das andere.
    Stattdessen lachte er.
    Majonese is offline

  4. #4 Reply With Quote
    Provinzheld Majonese's Avatar
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    4 - Ein gutes Gefühl

    Post im Spoiler-Tag aufgrund von (leicht) expliziten Inhalten

    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    Die vielen Lichter an der Decke erinnerten Salih ein wenig an Sterne. Auf Omega sah man so etwas wie einen Nachthimmel eigentlich nie, Salih kannte diesen Anblick allerdings noch von seiner Jugend auf der Erde. Es lag schon über fünfzehn Jahre zurück und dennoch erinnerte er sich sehr gut daran. Eine Weile beobachtete er das Lichtspiel, welches in der Dunkelheit besonders gut zur Geltung kam, und zwischendurch fragte er sich, ob er tatsächlich nicht doch wieder in Marokko gelandet war, nur um sich einen Moment später wieder daran zu erinnern, dass er sich in einem Nachtclub auf Omega befand. Dennoch fesselte ihn die Aussicht.
    Es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, dass sein Nacken unangenehm schmerzte, weil er die ganze Zeit über seinen Kopf nach hinten gelegt hatte. Als Salih den Blick wieder senkte, stellte er fest, dass er noch immer an einem der Tische im hintersten Teil des Overdrive saß. Direkt vor ihm standen etliche Gläser und Flaschen, wobei viele davon leer waren oder zerbrochen. Andere lagen auf der Seite und hatten ihren alkoholischen Inhalt über den Boden und die Sitzpolster vergossen. Salih hatte offenbar Glück mit seinem Sitzplatz gehabt, denn seine Hose schien noch völlig trocken zu sein. Zwischen den Gläsern lagen noch etliche andere Dinge wie Tücher, Zigaretten und deren Verpackungen, sowie ein Haufen Plastikdosen, Filterpapier und andere Drogenutensilien, aber in der Dunkelheit konnte man kaum Details ausmachen und am Ende hatte Salih im Augenblick kein Bedürfnis danach, sich irgendetwas von dem Zeug einzuwerfen.
    Als er sich umschaute bemerkte er einen Mann, der neben ihm auf dem Boden saß und den Kopf gegen die Wand gelehnt hatte. Unter seiner Nase hatte sich eine ordentliche Menge Blut gesammelt, die über seinen Mund und sein Kinn hinabgelaufen war, das schien den Kerl allerdings nicht zu stören, denn er starrte ähnlich wie der Marokkaner zuvor mit weit aufgerissenen Augen an die Decke. Auf seinem Gesicht stand ein verträumtes Grinsen und er zeigte mit einer Hand und verklärtem Blick auf etwas über ihm, das wohl nur er sehen konnte, während er sich leicht hin und her wiegte.
    Verwundert schaute Salih in die andere Richtung und bemerkte dabei Saskia am Nachbartisch. Ihr Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt, so als ob sie Schmerzen hatte. Eine dunkle Flüssigkeit bedeckte ihren Mund und ihr Kinn. Ihre Hände lagen vor ihr und klammerten sich verkrampft an die Kante des Tisches. Irgendetwas stimmte nicht. Instinktiv wollte Salih schon aufstehen, um ihr zu helfen, doch als er genauer hinschaute, wurde erst ihm klar, was dort vor ihm eigentlich passierte.
    Saskia lag flach über den Tisch ausgestreckt, während hinter ihr ein Kerl stand, sie fest an der Hüfte gepackt hielt und gnadenlos durchfickte. Die Brüste der Frau und ihre langen Zöpfe wippten im Takt der harten Stöße wild vor und zurück. In ihrer Ekstase keuchte und schrie die Frau ihre Lust ungezügelt heraus, allerdings gingen ihre Laute im Chaos des Clubs unter. Es war so ein surrealer Anblick, Salih musste mehrmals blinzelte, um sich zu vergewissern, dass er es sich nicht einbildete. Viel mehr als seine Silhouette ließ sich von dem Kerl hinter Saskia in der Dunkelheit kaum ausmachen, aber auf seinem nackten Oberkörper prangten grell orange leuchtende Tätowierungen. Und auch auf Saskias Brust und ihren Oberarmen waren nun neonblaue Tattoos sichtbar, welche so gut zu den anderen Körperverzierungen passten, welche man hier überall sehen konnte. In diesem Moment wurde Salih zum ersten Mal richtig bewusst, dass die Frau hierher gehörte. Das hier war ihre Welt.
    Salih wollte seinen Blick von seiner Begleiterin abwenden, als er auf einmal etwas glaubte zu sehen. Die leuchtenden Tätowierungen malten mit ihren schnellen Bewegungen Schlieren in seinen Augen, sodass seine Sicht ein wenig verschwamm und er Schwierigkeiten hatte, klar zu sehen. Und für einen kurzen Moment wirkte es so, als würde er nicht Saskia dort auf diesem Tisch sehen. Sondern Noura. Im selben Augenblick schien trotz der Dunkelheit das Gesicht des Mannes für eine Sekunde aufzuleuchten und Salih erkannte ihn sofort als den Typen wieder, mit dem sie ihn betrogen hatte. Den Kerl mit dem er seine Ex vorhin noch vor seiner Wohnung gesehen hatte...
    Augenblicklich ballten sich seine Fäuste und er biss die Zähne zusammen. Ihm war klar, dass sein benebelter Verstand ihm einen Streich spielte und trotzdem konnte er den Anblick nicht ertragen. Selbst als er seinen Blick abwandte, glaubte er noch immer, Nouras Nähe zu spüren. Wie sie da lag und sich von diesem Kerl ficken ließ, während ihr Freund von über fünf Jahren ahnungslos allein herumsaß... Fluchtartig sprang Salih auf und setzte sich in Bewegung. Er konnte nicht länger hier bleiben.
    Obwohl ihn ein heftiger Schwindel erfasste und er schon nach wenigen Schritten wieder die Orientierung verlor, stürzte er sich förmlich in die gesichtslose Menge und ließ Saskia und den Mann bei ihrem rabiaten Liebesspiel allein. Eine konkrete Richtung hatte Salih nicht, stattdessen trieb ihn die Erinnerung an Noura vorwärts, so als würde sie ihn durch den Club verfolgen. Die Monster um ihn herum drohten wieder nach ihm zu greifen und Salih konnte sich nur mit Mühe gegen die Dunkelheit wehren, welche ihn erneut verschlingen wollte. Doch dieses Mal schaffte er es, sich dem Ansturm zu erwehren, als er sich mühsam Schritt für Schritt durch die chaotische Menge kämpfte. Wohin er ging, wusste er selbst nicht, aber nach einer Weile erreichte er plötzlich eine Tür.
    Ohne zu zögern riss Salih sie auf und stolperte vorwärts. Und fand sich im Eingangsbereich des Overdrive wieder. Die reißende Meute blieb hinter ihm zurück und er war mit einem Mal wieder allein. Leicht schwankend lief er weiter und verließ den Club schließlich.
    Im ersten Moment fühlte er sich merkwürdig, fast nackt, als all diese Reize um ihn herum mit einem Mal ausblieben. Der Druck auf seinen Ohren wich dem sanften Rauschen des Void Distriktes, die grellen Farben in seinen Augen wurden durch die düstere Lichtstimmung der Straße ersetzt und die zahlreichen Berührungen an seinem Körper hatten aufgehört. Salih hatte das Gefühl, in einer völlig neuen Realität angekommen zu sein. Es war fast schon beängstigend. Er brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, dass das hier nicht schlimm war. Das hier war normal.
    Schwer atmend stand er eine Weile vor dem Eingang und starrte in die Straßen, ohne wirklich etwas zu sehen. Dann schüttelte er den Kopf und lachte in sich hinein. Er hatte überlebt. Er hatte dem Sturm getrotzt, hatte sich mitten ins Getümmel gestürzt und war unversehrt daraus hervorgekommen. Es war ein berauschendes Gefühl. Schon beschleunigte sich sein Herzschlag wieder, nur war es dieses Mal keine Angst, sondern Euphorie, die ihn anpeitschte.
    "Oh, hey! Da bist du ja!"
    Als er plötzlich von der Seite angesprochen wurde, blickte Salih überrascht auf.
    Matt wirkte auf ihn im ersten Augenblick eigenartig. Fast wie ein Alien. Weder hatte er leuchtende Tätowierungen, noch trug er grelle Neonfarben an seinem Körper. Er sah merkwürdig...blass aus, wie er fast regungslos in der Nähe des Eingangs stand und gemütlich eine Zigarette rauchte. Er hatte sich Saskias Jacke locker über die Schulter geworfen. "Und wie findest du es? Die Party mit den Animals?", wollte er von Salih wissen.
    Der Marokkaner wusste im ersten Moment nicht, was er sagen sollte. "Äh...", entfuhr es ihm und er gestikulierte in Richtung des Overdrive, öffnete den Mund und bekam doch nichts heraus. Dann lachte er auf und schüttelte den Kopf. "Es is'...Digga...ohne Scheiß...ich..." So viele Gedanken strömten auf einmal in seinen Kopf und drängelten sich nach vorne, um Teil seiner Antwort zu werden, dass er kaum ein zusammenhängendes Wort herausbekam. Wie sollte er denn beschreiben, was dort in diesem Club vor sich ging? Aufregend? Gefährlich? Atemberaubend? Wahnsinnig? Also zuckte er nur mit den Schultern und grinste breit. "Alter...du hast keine Ahnung..."
    "Hmm...wenn du meinst..." Matts Blick legte sich auf den Marokkaner und er musterte ihn aufmerksam. "Sag ma'...geht es dir gut? Du bist irgendwie 'n bisschen komisch drauf..."
    Salih entfuhr ein Glucksen. "Jaah...ich hab so ein komisches Zeug genommen...das war echt..." Wieder fiel ihm kein gutes Wort ein, mit dem er seine Erfahrung beschreiben sollte. "...krass...!", lachte er, weil ihm nichts besseres in den Sinn kam.
    "Ähh...okay..." Für einen Moment schien Matt noch mehr zu diesem 'komischen Zeug' fragen zu wollen, zuckte dann aber nur mit den Schultern und nahm einen weiteren Zug von seiner Kippe. "Und läuft es sonst so? Ich meine...nach der Sache mit deiner Freundin, und so..."
    Überrascht blickte Salih zu ihm. "Woher...?"
    "Saskia hat mir vorhin in der Boom-Box davon erzählt. Nachdem du weg warst..."
    "Natürlich hat sie das...", schmunzelte er.
    "Also, sag schon! Wie geht 's dir?"
    Seit der Trennung versuchte Salih dieses Thema eigentlich so gut es ging zu vermeiden. Saskia und Felicitas waren bislang die einzigen gewesen, denen er überhaupt davon erzählt hatte. Wobei das nicht mal so recht stimmte; die beiden Frauen schienen viel eher einen sechsten Sinn für solche Sachen zu haben und hatten ihn direkt darauf angesprochen. So als ob sie gerochen hätten, dass ihn etwas beschäftigte.
    Aber aus irgendeinem Grund fiel es ihm in diesem Augenblick nicht schwer, sein Empfinden zum Ausdruck zu bringen. Tatsächlich sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus, so als hätten sie seit einer Woche unter der Oberfläche auf eine passende Gelegenheit gewartet. "Ich mir so sicher gewesen, dass sie es is'!", seufzte er, als Noura wieder in seinem Verstand aufblitzte. "Ich weiß nich', ob du das auch schonmal gespürt hast, aber es ist einfach...du denkst an eine Person und du weißt einfach, sie ist die Eine. Es gibt niemanden sonst wie sie. Weißt du was ich meine?" Salih wartete nicht auf eine Antwort. Als er in sich ging und seinen Gedanken über Noura lauschte, musste er einfach aussprechen, was er fand. "Ich war mir immer so sicher gewesen, dass wir immer zusammen bleiben, egal was kommt. Dass wir zusammen alt werden. Nich' für eine Sekunde habe ich daran gedacht, dass sie mich jemals so hintergehen würde." Ein freudloses Lachen entfuhr ihm und er schüttelte verzagt den Kopf. "Tjaah...und dann stellt sich raus, dass sie 'nen anderen hat. Sieht so aus, als wäre ich ein absoluter Idiot gewesen..."
    Es war ein unglaublich befreiendes Gefühl, diese Worte laut auszusprechen. Seit der Trennung hatten sie sich durch sein Inneres gefressen, doch nun konnte Salih sie endlich loswerden, ohne, dass es ihn fertigmachte. Und ihm wurde auch klar, warum. Es waren die Drogen. Die berauschende Wirkung des Alkohols und dieses Zeugs, das Saskia ihm gegeben hatte. Es wirkte wahre Wunder. Gleich einem Sicherheitsnetz bewahrte es ihn mit seiner Wirkung davor, von der Erinnerung an Noura übermannt zu werden. Er konnte an sie denken und sogar über sie reden und am Ende verhinderte der wohlige Rauschzustand, dass er vor Kummer durchdrehte. Noch immer fühlte er sich aufgedreht, euphorisch und einfach nur...gut. Und das obwohl die Erinnerung an Noura weiterhin schmerzte.
    Matt klopfte ihm aufmunternd an die Schulter. "Tut mir echt leid, Alter! Aber du findest bestimmt noch die Richtige für dich. Lass dich von dieser Bitch nicht unterkriegen!"
    Eigentlich hatte der Kerl Recht, Salih durfte sich tatsächlich nicht davon fertigmachen lassen. Nur übersah Matt eine wichtige Sache: Noura war die Richtige für ihn gewesen. Es gab keine andere wie sie. Wie sollte er denn ohne sie weitermachen? Vor allem, wenn sie noch immer irgendwo da draußen war...
    Am Ende fühlte sich Salih aber gut. Zumindest in diesem Augenblick. Sein Körper schien in seinem Rausch diese düsteren Gedanken nicht länger als nötig zulassen zu wollen und schon nach einem kurzen Moment des Schweigens, drang dieses Gefühl von Zufriedenheit zurück. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. "Willkommen auf Omega, nich'?", gluckste er.
    Matt nickte zustimmend.
    "Was machst du denn eigentlich allein hier draußen, Mann?", wechselte Salih das Thema und zeigte über seine Schulter. "Da drinnen geht doch die Party...!"
    "Ey du, ganz ehrlich, ich verzieh mich lieber wieder. Diese Animals sind echt nichts für mich. Wir können meinetwegen wann anders wieder hierherkommen, wenn diese Spinner nicht hier sind."
    "Was? Ach komm, wir sind doch gerade erst angekommen! Entspann dich mal...!"
    Matt hob eine Augenbraue. "Alter, Salih, ihr seit schon seit über einer Stunde da drin!"
    Nun klappte Salih tatsächlich der Mund auf. "W-wie...? Eine...eine Stunde...?" Waren es nicht nur fünf Minuten gewesen...?
    Sein Gegenüber nickte bestätigend. "Sogar fast zwei. Und ich hab keine Lust mehr darauf, mir oben an der Bar die Eier platt zu sitzen..."
    "Was denn, sind dort keine Mädels für dich dabei?", feixte Salih.
    "Nee, heute leider nicht", grinste Matt, ehe sich sein Gesichtsausdruck wieder verdüsterte. "Das liegt an diesen Animals. Die Chicks hier sind heute alle völlig geistesgestört. Die fressen dich auf, noch bevor du ein Wort gesagt hast, sag ich dir. Das ist echt nich' mein Ding."
    "Tjaah..." Salih dachte an das, was er selbst da drin gesehen hatte und es fiel ihm nicht schwer, Matts Worten Glauben zu schenken. "Wo ist denn eigentlich Cobra?", wollte er wissen.
    Matt schnaubte leise. "Der wollte auch mal unten in den Hauptraum. Schauen, was da so abgeht." Er zog sein Smartpad hervor und runzelte die Stirn. "Er is' eigentlich schon vor zehn Minuten rein...frag mich, was er da macht..." Plötzlich ging sein Blick an Salih vorbei und er gluckste leise. "Ach, wenn man vom Teufel spricht...!"
    Als Salih sich umdrehte, kam just in diesem Moment Cobra aus dem Haupteingang nach draußen, bemerkte die beiden Männer aus seiner Crew und lief direkt zu ihnen. Schon auf den ersten Blick war ihm anzusehen, was er von dem Erlebten hielt. "Was is' das für eine kranke Scheiße?", beschwerte er sich, kaum dass er in Hörweite war. Er wirkte ein wenig blass und auf seinem Gesicht stand ein Ausdruck purer Abscheu. Mit einem Anflug von Fassungslosigkeit zeigte er auf den Club hinter sich. "Alter...da drin so ein Typ, der hat so lange seinen Kopf gegen die Wand geschlagen, bis er sich selbst ausgeknockt hat! Und dann...da war so 'ne Alte, die hat sich einfach eingeschissen! Einfach so, beim Tanzen...die Scheiße is' ihr an den Beinen runtergelaufen, aber die hat einfach weitergemacht..."
    Instinktiv schaute Salih an sich herab, stellte aber erleichtert fest, dass er nirgendwo Blut oder andere Flüssigkeiten sehen konnte. Und auch seine Hose fühlte sich recht normal an.
    Cobra besah sich seine Fußsohle genauer und schüttelte aufgebracht den Kopf. "Schaut euch das an!" Er deutete auf die Unterseite seines Schuhs und sie konnten sehr deutlich die rote Farbe erkennen, die sich dort gesammelt hatte. Nun fiel auch auf, dass er auf seinem Weg nach draußen ganz dezente, rote Fußabdrücke hinterlassen hatte. "Das is' fucking Blut! Ich hab locker zwei oder drei Blutlachen gesehen. Da sind bestimmt Leute abgekratzt un' es merkt keiner, weil die alle völlig durch sind..."
    "Ich hab euch ja gesagt, diese Animals sind richtig abgefuckt", meinte Matt und schien sich in seinem Urteil nur bestätigt zu sehen. "Deswegen will ich mich auch verziehen. Kommst du mit?"
    Cobra nickte sofort. "Keinen Bock auf diese Scheiße! Wo gehen wir hin? Boom-Box?"
    "Meinetwegen. Hab eh keine Lust mehr, groß irgendwo unterwegs zu sein..." Er wandte sich zu dem Marokkaner um. "Und wie sieht 's bei dir aus? Bist du dabei oder bleibst du noch ein bisschen hier? Scheinst dich ja ganz gut amüsiert zu haben..."
    Tatsächlich stimmte das irgendwie. Noch immer fühlte sich Salih großartig, dass er sich durch diesen reißenden Sturm gekämpft hatte und lebendig daraus hervorgekommen war. Fast war es, als hätte er eine Art Prüfung bestanden. Aber gleichzeitig war er sich nicht sicher, ob er noch einmal dort eintauchen wollte. "Nee, lass ma'...ich glaub, ich habe auch genug für heute...", stieß er hervor, auch wenn er sich nicht einmal sicher mit seiner Entscheidung war. Eigentlich war es auch keine eigene Entscheidung, er hing sich vielmehr an Matt und Cobra, damit er sich nicht selbst festlegen musste. Und wenn die beiden gingen, dann würde er einfach mitgehen.
    "Cool, dann lass' abhauen!", meinte Matt, warf seine Zigarette zu Boden und trat sie aus.
    "Warte!", bemerkte Salih auf einmal. "Was is' denn mit Saskia?"
    "Was soll mit ihr sein? Sie wollte doch unbedingt hierher und sie fühlt sich ja offenbar wohl mit diesen Animals."
    "Jaah, schon...aber sollten wir ihr nicht wenigstens sagen, wo wir sind? Vielleicht will sie ja mit..." Noch während er sprach, wunderte sich Salih, ob die Frau das überhaupt mitbekommen würde, wenn er, Matt und Cobra gingen. Oder ob es sie kümmern würde. Sie war ja offenbar anderweitig beschäftigt. Trotzdem erschien es ihm recht uncool, sich einfach so davonzumachen, ohne zumindest zu fragen, ob sie nicht mitkommen wollte.
    Matt stieß ein leises Seufzen aus. "Meinetwegen. Dann geh nochmal rein und frag sie. Übrigens..." Er klopfte auf Saskias Jacke, die er noch immer über seiner Schulter hielt. "Falls sie wissen will, wo ihr Zeug is', sag ihr, ich nehm das mit."
    "Okay! Bin gleich wieder da..." Salih wandte sich ab und lief zurück in den Club. Als er wieder an der Tür zum Hauptraum stand, musste er sich einmal kurz sammeln, doch zumindest wusste er dieses Mal, was ihn erwartete und der dröhnende Lärm und das völlig überbordernde Chaos erwischten ihn nicht ganz so kalt, wie noch beim ersten Mal. Dennoch wurde er sofort von der Masse mitgerissen, kaum, dass er einen Fuß in den Raum gesetzt hatte.
    Schon blitzten die leuchtenden Bestien um ihn herum wieder auf und begaben sich in Lauerstellung. Sie warteten nur darauf, sich auf ihn zu stürzen. Salih versuchte jedoch, ihnen keine Beachtung zu schenken und kämpfte sich mühsam weiter voran. Eigentlich wusste er genau, in welcher Ecke er Saskia zuletzt gesehen hatte, nur verlor er schon nach wenigen Sekunden wieder völlig die Orientierung und irrte zunehmend verzweifelt durch die tosende Menschenmenge. Und damit nicht genug; sein benebelter Verstand wurde von der völligen Reizüberflutung wie magisch angezogen. Fast schon wollte er einfach stehenbleiben und sich in den Malstrom stürzen. Verbissen kämpfte Salih gegen das Verlangen an und stolperte mehr als dass er lief durch die Meute. Bis er sich ohne Vorwarnung plötzlich an einer Sofaecke mit mehreren Tischen wiederfand.
    Er brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass er hier vorhin noch selbst gesessen hatte und sofort schaute er sich nach der kleinen Frau um. Lange musste er nicht nach ihr suchen. Er fand sie dort, wo er sie eben noch zuletzt gesehen hatte.
    Noch immer lag Saskia auf dem Tisch, dieses Mal auf dem Rücken. Ihre Beine, an denen noch ihre heruntergezogene kurze Hose und ihr Slip hingen, baumelten über die Kante und sie hatte ihre Arme weit von sich gestreckt. Der Kerl, der sie eben noch gefickt hatte, war nirgendwo mehr zu sehen und die Frau lag reglos da, den starren Blick an die Decke gerichtet. Selbst in der Dunkelheit war die helle Flüssigkeit zu erkennen, die ihr aus der Scheide lief, und auf ihrem Gesicht stand ein Anflug von einem seligen Grinsen. Doch dann bemerkte Salih etwas, das ihm Sorge bereitete.
    Gelbliche Schlieren liefen ihr aus dem Mund und als er genauer hinschaute, erkannte Salih, wie ihre linke Schulter und der komplette Arm mit Erbrochenem bedeckt war. Es sammelte sich neben ihrem Körper in einer beachtlichen Pfütze. "Saskia!", rief er und trat neben sie. Er bekam keine Reaktion. Nun brüllte er. "SASKIA! HÖRST DU MICH?" Sie rührte sich nicht.
    Inmitten von all dem Chaos, dem ohrenbetäubenden Lärm und dem verwirrenden Flackern der bunten Farben und Lichter, stieg Sorge in ihm hervor. Er packte an ihre Schulter und rüttelte sie heftig, aber die Frau war wie eine Puppe, ihr Kopf und ihre Glieder wackelten schlaff hin und her, ohne dass sie irgendein Anzeichen von Leben zeigte. "HEY!", schrie er sie an, rüttelte noch einmal an ihr und beugte sich direkt über ihr Gesicht. Ihre grünen Augen mit unnatürlich geweiteten Pupillen starrten durch ihn durch.
    Doch dann, ganz plötzlich, fixierten die Augen ihn und eine Regung huschte über ihr Gesicht. Im ersten Moment war sich Salih nicht sicher, ob er es sich eingebildet hatte, weil es nur einen kurzen Moment anhielt. Dann wiederholte es sich einen Moment später allerdings und er bemerkte, wie ihre Finger leicht zuckten. Und dann wurde das Grinsen auf ihrem Gesicht breiter. Entrückter. Unheimlicher.
    Salih wich einen Schritt zurück und betrachtete seine Mitstreiterin mit gerunzelter Stirn. Erst jetzt aus der Nähe bemerkte er ihre Tätowierungen. Die abstrakten, neonblauen Motive, welche in der Dunkelheit leuchteten, kannte er bereits. Doch nun fielen ihm zum ersten Mal die grell-violetten und stark stilisierten Worte auf, welche auf den anderen Tattoos darüberlagen. Jeweils eines davon befand sich auf ihrem linken Oberarm, ihrem rechten Oberarm und ihrer Brust. Zusammen ergaben sie 'Dirty Little Animal'.
    Ein wenig hilflos stand Salih da und wunderte sich für einen Moment, warum er überhaupt hier war. Die Frau machte nicht unbedingt den Eindruck, als wolle sie von hier fort. Aber fragen konnte er sie ja in diesem Zustand auch nicht und er hatte keine Ahnung, wie es ihr wirklich ging. Angesichts des Anblicks ihres Mageninhalts sagte sein Instinkt ihm jedoch, dass Saskia Hilfe brauchte. Also griff er unter ihre Knie und warf sich ihren sauberen Arm über die Schulter, um sie von dem Tisch hochzuheben. Weder wehrte sie sich, noch zeigte sie irgendeine Reaktion auf sein Handeln. Zurück blieb von ihr nur die Lache von Erbrochenem. Von ihrem Top fehlte jede Spur, also würde er sie nackt heraustragen müssen, aber das war im Augenblick Salihs geringste Sorge.
    Es schien unmöglich, mit Saskias Gewicht in den Armen einen Weg nach draußen zu finden. Allein war es schon schwer genug, sich durch die Menge zu bewegen, mit ihr in den Armen schien es aber ein Ding der Unmöglichkeit. Doch Salih biss die Zähne zusammen und lief los. Dieses Mal versuchte er, sich an der Wand entlang zu bewegen. Es gab ihm zumindest irgendeine Form der Orientierung. Mehr als einmal stolperte er über einen reglosen Körper, der am Boden lag oder kauerte und er kam nur quälend langsam voran. Wenigstens wog Saskia kaum etwas, sodass er tatsächlich irgendwann vor der Eingangstür landete und sie mit seiner Schulter aufstieß, um sich endlich nach draußen zu retten.
    Schwer atmend warf er einen Blick auf die kleine Frau in seinen Armen, die aber noch völlig unverändert wirkte. Also lief er weiter, raus aus dem Overdrive und zurück zu Matt und Cobra, welche noch immer an der Straße auf ihn warteten.
    Und offenbar schon recht ungeduldig waren. "Alter, wo warst du so lange?", wunderte sich Matt, der bereits eine weitere Zigarette im Mund hatte. "Du warst 'ne Viertelstunde weg!"
    "Oh...", entfuhr es Salih überrascht und er warf einen Blick über seine Schulter zurück zum Club. Fast schien es, als ob die Zeit dort drin anders verlaufen würde, als hier draußen... "Sorry...ich musste eine Weile suchen."
    "Was ist denn mit der los?", wunderte sich Cobra und nickte zu Saskia, die nach wie vor reglos in Salihs Armen hing.
    Der Marokkaner verzog das Gesicht. "Keine Ahnung, Alter. Ich glaub, irgendwas stimmt nich' mit ihr. Die lag in 'ner Ecke und hat sich nicht mehr bewegt..."
    Die Männer brauchten nicht lange, um die verschiedenen Flüssigkeiten an und in ihrem Körper zu bemerken und konnten sich sofort zusammenreimen, was die Frau getrieben hatte, ohne, dass Salih es ihnen im Detail schildern musste. Eine Sache erregte dann aber doch ihre Aufmerksamkeit.
    "Scheiße, ist das etwa Blut?", stieß Cobra angewidert hervor und starrte auf Saskias Mund.
    Tatsächlich; erst jetzt bemerkte Salih, dass die dunklen Spuren um ihre Lippen einen markanten Rotton hatten.
    "Ach, das ist halb so wild...", wollte Matt abwinken und grinste dreckig. "Saskia lässt sich beim Sex manchmal ein wenig gehen. Sie ist ein Beißer. Ich hatte auch so ein paar Abdrücke an meiner Schulter..."
    Cobra jedoch war nach der Erklärung nicht weniger verstört. "Alter, guck doch, wie viel das ist! Das ist nicht nur ein bisschen Rumbeißen beim Ficken, das sieht aus, als ob die jemanden die Kehle rausgerissen hätte...!"
    Vielleicht übertrieb er ein wenig mit seiner Schilderung, doch Salih musste ihm insgeheim zustimmen. Nicht nur Saskias Lippen waren blutverschmiert, auch an ihren Zähnen waren noch Reste der roten Flüssigkeit zu sehen und es musste so viel gewesen sein, dass sogar einige Schlieren ihr Kinn hinabgelaufen waren. Fast erinnerte die Frau an einen wilden Hund, der seine Schnauze in den blutigen Fetzen seiner Beute vergraben hatte. Dass auf ihrem Gesicht noch immer dieses gruselige Grinsen stand, während ihr Blick dabei weiterhin völlig leer blieb, machte die Sache nicht besser. Und angesichts der ekstatischen Raserei, welche die Leute im Club gepackt hatte, malten sie sich schon das Schlimmste aus.
    Stillschweigend kamen die drei Männer überein, das Thema nicht weiter anzureißen. Vielleicht war es auch besser, wenn sie nicht so genau wussten, was in den Wänden des Overdrive passiert war.
    "Und was machen wir jetzt mit ihr?", wollte Salih wissen. "Vielleicht hat sie 'ne Überdosis oder so..."
    Matt nickte zustimmend. "Am besten, wir bringen sie in die Boom-Box."
    "Nicht zu 'nem Arzt?", wunderte sich Cobra.
    "Ne, Alter! Das kostet nur ein Schweinegeld un' am Ende macht der auch nich' mehr, als ihr ein wenig Wasser ins Gesicht zu schütten. Wir schauen erstmal, was wir machen können un' ob sie wirklich Hilfe braucht..."
    Cobra zuckte mit den Schultern. "Wenn du meinst..."
    Da sie nicht mit der Frau in den Armen den ganzen Weg zurücklaufen wollten, riefen sie kurzerhand ein Taxi, welches wenig später vorm Overdrive eintraf. Allzu viel Würde gab es bei Saskia eigentlich nicht mehr zu retten, dennoch zogen sie ihr wenigstens die Hose wieder nach oben und bedeckten ihren Oberkörper mit ihrer Jacke, was den günstigen Nebeneffekt hatte, dass der Taxifahrer das Erbrochene nicht bemerkte, welches von ihrem Arm in den Fußraum des Fahrzeugs tropfte. Der Fahrer, ein mürrischer Turianer, war ohnehin schon alles andere als begeistert, dass er hier runter in den Void Distrikt fliegen musste und rechnete ihnen dafür sogar eine extra Gebühr ab.
    Dafür erreichten sie innerhalb weniger Minuten ihren Zielort in Sarrià. Nachdem sie ausgestiegen waren und den Fahrer bezahlt hatten, betraten sie die geschlossene Werkstatt von Idris. Der Turianer schlief offenbar gerade oder war unterwegs, sodass sie ganz ohne peinliche Nachfragen die Treppe nach oben in die Boom-Box gehen konnten.
    Der Unterschlupf der Enigma-Crew war nicht verlassen. In der Sofaecke sahen sie sofort die Gestalten von Fix und Wish, welche nebeninander auf einem der Sitzgelegenheiten hockten und sich mit einem kleinen, bunten Zauberwürfel beschäftigten, welchen der Dealer in der Hand hielt. Während er ein wenig überfordert mit den Farben und den vielen Drehungen zu sein schien, die er machen musste, versuchte Wish ihm die ganze Zeit zu erklären, was er tun musste.
    "Nein, warte! Du musste die Seite zweimal zurückdrehen...!"
    Fix gluckste vergnügt und runzelte die Stirn. "Häh? Aber dann mach' doch alles wieder kaputt, Alter..."
    "Das macht nichts, dafür hast du dann die Farbe hier an der richtigen Stelle", kicherte Wish und griff ihm dezent an die Finger, damit er die richtigen Drehungen am Würfel machte. "Genau, und jetzt das noch einmal auf die blaue Seite drehen. Siehst du? Jetzt hast du schon die zweite Seite fertig..."
    Verständnislos starrte der Dealer auf seinen Erfolg. "Was? Fuck...ich raff' die Wichse überhaupt nich'..."
    "Ach, was, das ist echt nicht so schwer, wenn man erstmal durchgeblickt hat, wie das geht..." Wish blickte auf, als sie die Neuankömmlinge bemerkte und winkte ihnen lächelnd zu. "Oh, hey Leute!"
    "Hey!", erwiderte Matt und trat auf die beiden zu. "Yo, Fix, gut, dass du hier bist. Du bist doch ein Experte, werf doch mal 'nen Blick auf Kiki. Nicht, dass die uns noch abkratzt..."
    Wish hatte unterdessen bemerkt, wie Salih eine nach wie vor regungslos Saskia hineintrug und auf einem der Sofas ablegte. Sofort erschien ein Ausdruck von Sorge auf ihrem Gesicht und sie sprang auf, um zu der kleinen Frau rüberzueilen. "Oh nein! Was ist denn passiert?"
    Auch Fix stand auf, wirkte aber mehr genervt als besorgt. Er schaute zu den drei Männern, welche Saskia hereingebracht hatten und schien ebenfalls die gleiche Frage zu haben.
    "Kiki und Salih waren im Overdrive. Da waren heute die Animals und Saskia wollte unbedingt rein", erklärte Matt, während er seine Jacke achtlos auf eines der Sofas warf, ehe er zum Kühlschrank ging und sich ein Bier herausfischte. "Tja, un' jetzt ist sie ungefähr so nützlich wie ein Stück Gemüse. Die hat sich auch schon vollgekotzt un' wir haben keine Ahnung, was mit ihr is'."
    "Ich seh keinen groß'n Un'erschied zu vorher", schnaubte Fix verächtlich und verschränkte die Arme. "Und was soll ich da machen?"
    "Nachschauen, was ihr fehlt. Die hat sich irgendwelche Drogen reingeballert. Wär kacke, wenn sie noch an 'ner Überdosis draufgeht, oder so..."
    Während die Männer redeten, hockte sich Wish neben die kleine Frau und legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Hey, Saskia! Kiki! Hörst du mich...?"
    "Brauchst du gar nich' erst versuchen, die is' weg!", murrte Cobra verdrossen und lehnte sich gegen die Rückseite des Sofas.
    "Aber wieso denn? Was hat sie denn genommen?"
    Sofort merkte Salih, wie zuerst Matts und Cobras Augen zu ihm wanderten und dann, einen Moment später auch die Blicke von Wish und Fix. "Äh...keine Ahnung!", antwortete er ehrlich und zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Das war irgendsoein Pulver, das hat die in unsere Drinks gekippt..." Recht schwerfällig ließ er sich auf eines der freien Sofas fallen und versuchte sich zurückzuerinnern. Aber allzu viel war da nicht. Er wusste noch, wie er diese furchtbaren Metallsplitter in seinem Rachen gespürt hatte. Und wie Saskia ihn noch gewarnt hatte, dass das Zeug schnell wirkte. Nur einen Namen hatte sie nicht gesagt. Oder doch? Eigentlich war er sich sicher, noch alles genauestens zu wissen und trotzdem wollten sich diese Erinnerungen einfach nicht mehr so recht abrufen lassen.
    "Solang ich nich' weiß, was die Hure genomm'n hat, kann ich au' nix mach'n", knurrte Fix lustlos und machte keine Anstalten, sich mehr für die kleine Frau einzusetzen.
    Wish hingegen war bereits losgeeilt und holte einige Tücher, mit denen sie anfing, Saskia zuerst das Erbrochene vom Arm und dann das Blut vom Mund zu wischen. Auch wenn es ihr sichtlich unangenehm war, war die Asiatin umsichtig genug, keine genaueren Fragen zu dem Ursprung der roten Flüssigkeit zu stellen. Darüber hinaus schaute sie sogar in Saskias Rachen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht an ihrem Mageninhalt ersticken konnte und fühlte mehrfach nach ihrem Puls. Unterdessen schauten die vier Männer schweigend bei ihrem Tun zu und rührten keinen Finger.
    "Hmm...die hatte dieses Zeug aus ihrer Jacke geholt!", erinnerte sich Matt auf einmal mit Blick auf Saskias Oberkörper, wo das Kleidungsstück noch immer ihre Blöße bedeckte.
    Sofort kramte Wish in Saskias Jackentaschen und zog tatsächlich eine kleine Plastiktüte hervor, die sie einen Moment skeptisch beäugte, ehe sie sie an Fix weiterreichte. "Hier! Kannst du was damit anfangen?"
    "Pfff...!", machte der Dealer missgelaunt, nahm die Tüte dann aber entgegen und schaute sich den Inhalt genauer an.
    Auch Salih warf einen verstohlenen Blick in die Richtung und erkannte sofort drei von den kleinen Kapseln wieder. Es gab keinen Zweifel, dass es sich dabei um das Zeug handelte, was Saskia ihm gegeben hatte. "Was ist das?", wollte er neugierig wissen.
    "Blutkristalle!", meinte Fix sofort.
    "Häh? Was?"
    "Bist 'e taub, Alter? Blutkristalle! Das sin' kleine Kristalle, die du dir in 'n Drink mischt un' dann runterkippst. Die bohr'n sich dann durch deine Schleimhäute ins Blut un' setzen da dann den Stoff frei."
    "Klingt irgendwie entspannter, als sich das mit 'ner Nadel spritzen zu müssen", merkte Matt schmunzelnd an.
    Aber Fix schüttelte abfällig den Kopf. "Ja, un' 's zerwichst dir die Schleimhäute! Steck dir lieber 'ne Spritze in den Arm, is' besser!"
    Salih lachte leise in sich hinein. Das erklärte natürlich, warum dieses Pulver so unheimlich geschmerzt hatte. Und irgendwie wunderte es ihn nicht, dass Saskia ihn nicht über die Wirkung vorgewarnt hatte. Seine überraschte Reaktion hatte ihr sichtlich Freude bereitet.
    "Moment...aber wenn diese Blutkristalle nur das Zeug ins Blut geben, was genau ist denn dann da drin?", wollte Wish wissen.
    "Hmmm..." Fix zog eine der Kapseln aus der Tüte hervor und besah sie sich genauer. Seine Augen verengten sich leicht, so als ob er etwas auf der Kapsel gefunden hatte, was ihm beim Identifizieren der Substanz half. "Alter...", entfuhr es ihm leise, dann erschien ein Ausdruck von Zorn auf seinem Gesicht. "Willst du mich verarschen!" Fast herausfordernd fuhr Fix zu seinen Mitstreitern herum und hielt ihnen die kleine Kapsel entgegen. "Woher hat diese Drecksnutte das?", rief er in den Raum hinein. Natürlich bekam er keine Antwort, weil sie alle keine Ahnung hatten, wovon er sprach. "Wie zum Fick kommt die an sowas?"
    "Was denn?", brummte Cobra sichtlich genervt.
    "Das is' fucking X-Pike!"
    "Un' was soll das sein?"
    Fix wirkte höchst ungehalten, dass seine Mitstreiter seine knappen Erklärungen zu der Droge nicht direkt verstanden, und begann zu erklären: "Das Zeug heißt X-Likalalphalin! Is' 'ne Hardcore-Droge, nich' so 'n Lappen-Shit wie Hallex oder Gras. Das is' noch super neu un' sau schwer zu kriegen. Wie kann 's sein, dass diese dumme Nutte das in die Finger kriegt? Huh? Un' dann au' noch so viel davon?"
    "Woher sollen wir das denn wissen?", lachte Matt spöttisch, während er sich aus der Küchenecke aus einem Schrank eine Tüte Kartoffelchips holte. "Sie hat 's halt irgendwo herbekommen, is' doch egal. Oder bist du einfach nur pissig, weil sie es nicht schweineteuer von dir gekauft hat?"
    "Fuck off!" Wütend steckte Fix die Kapsel zurück in die Tüte und knallte sie mit Schwung auf Saskias reglosen Körper. Abstreiten tat er den Vorwurf aber nicht. Dann wandte er sich anklagend an Salih. "Un' du! Bist 'e eigentlich völlig kernbehindert? Warum nimmst 'e irgend'n Zeug, was dir diese Nutte gibt, wenn du nich' weißt, was das is'?"
    "Jetz' komm mal wieder runter", schnaubte Salih glucksend und erwiderte den wütenden Blick des Drogendealers. "Mir geht es doch gut!" Mehr als gut sogar. Das Hoch hatte noch immer nicht nachgelassen und allmählich wunderte er sich, ob es wirklich an diesem X-Likalalphalin lag. Hatte er etwa noch mehr Drogen genommen, an die er sich jetzt nicht mehr erinnern konnte? Vielleicht lag ja bei diesen Animals im Club sogar irgendwas in der Luft, was einen aufputschte. Wundern würde es ihn nach dem, was er gesehen hatte, nicht mehr...
    In diesem Moment kehrte zum ersten Mal so etwas wie Leben in Saskia. Ihr entfuhr ein langgezogenes "Huuuuuhh...!" und ihr Kopf kippte zur Seite. Dann fixierten ihre Augen Fix und sie gluckste leise. "Ffffkk...chhhhhhh...", nuschelte sie, weiterhin entrückt grinsend.
    Wish wirkte nicht weniger besorgt als vorher. "Aber...wenn Salih das Zeug auch genommen hat, warum reagiert denn Saskia so stark darauf und Salih ist noch ganz normal?" Sie warf einen Blick in Richtung des Marokkaners, wie um sich zu vergewissern, dass er im Vergleich zu der kleinen Frau noch recht fit war.
    "Was weiß ich!", fauchte Fix unwirsch. "Guck dir die Nutte doch ma' an! Die is' so mickrig, für die wirkt das Zeug wahrscheinlich wie die doppelte o'er dreifache Menge, Alter! Außerdem...die hat sich wahrscheinlich noch zehn an'ere Sach'n reingeballert, so blöd, wie die is'..."
    "Äh...was denn zum Beispiel?"
    "Woher soll ich das wiss'n? Hallex, Koks, Heroin, roter Sand, kann alles Mögliche gewes'n sein. Vielleicht hat sie au' einfach radioaktives Sperma getrunken! Dieser Kacknutte würd' ich alles zutrau'n..."
    "Okay...und was machen wir jetzt?"
    "Wir?", echote Fix verächtlich. "Gar nix! Die Hure wird schon wieder zu sich komm'n. Un' wenn nich'...tja, Pech gehabt!"
    "Jetzt mach ma' halblang!", fuhr Matt mit spürbarem Unmut dazwischen. "Kiki gehört immer noch zu uns, also sieh gefälligst zu, dass es ihr besser geht!"
    Es schien ihm körperliche Schmerzen zu bereiten, doch nachdem er einen Moment herumgedruckst hatte, schnaubte der Dealer und zuckte mit den Schultern. "Wir könnt'n ihr zur Not Naloxon geben. Is' hinten im Nebenraum. Aber ich würd' erstma' abwarten. Ich weiß nich', was dieser Hauf'n Scheiße noch genommen hat, also is' 's besser, zu warten, wie 's sich entwickelt. Wenn s'e am Abkratz'n is', könn' wir ihr immer noch was einflöß'n."
    "Gut zu hören", nickte Matt zufrieden und warf sich mit seiner Chipstüte auf das Sofa neben Saskia, ehe er knuspernd und krümelnd seinen Snack verzehrte.
    Wish unterdessen blieb ebenfalls bei der kleinen Frau und säuberte sie weiter mit den Tüchern. "Alles gut, Kiki! Wir sind bei dir...", redete sie ihr aufmunternd zu, schien aber selbst nicht so recht zu wissen, was sie tat. Oder ob ihre Worte überhaupt ankamen.
    Wieder nuschelte Saskia irgendwas Unverständliches und grinste breit, während ihr leerer Blick an die Decke ging. "Shhuuuuu...shuuuuhuuu...", machte sie leise und gluckste dann erneut.
    Angesichts von Fixs Ärger und Wishs Sorge, während Saskia so völlig ohne jede Scham und ohne jede Rücksicht ihren Rausch genoss, konnte Salih nicht anders, als aufzulachen. Es war ein so herrlich schräger Moment. Er hatte keine Ahnung, was er sich von diesem Ausflug erhofft hatte, aber irgendwie war er in dieser Sekunde einfach nur rundum zufrieden. Und das, obwohl er noch vor ein paar Stunden nach seiner Begegnung mit Noura geglaubt hatte, er würde einen Nervenzusammenbruch haben. Die Rauschmittel machten wirklich alles erträglicher. Kein Wunder, dass Gloria sich dauerhaft solche Sachen einwarf.
    Auch seine Mitstreiter schienen die Sache nicht sonderlich eng zu sehen. "Nächstes Mal, wenn wir irgendwo hingehen, checken wir vorher, ob diese fucking Animals da sind!", beschwor Matt seine Kollegen und knusperte auf seinen Chips herum.
    "Wenn es nach Saskias ginge, würden wir dann wahrscheinlich erst recht hingehen", schnaubte Cobra mürrisch und warf der kleinen Frau einen abschätzigen Blick zu.
    Grinsend zuckte Matt mit den Schultern. "Tjaah...dann dürfen wir sie in Zukunft halt nicht entscheiden lassen, wo wir feiern gehen. Stimmt 's, Kiki?" Natürlich bekam er keine richtige Antwort. "Hey, willst du eigentlich auch was haben?", fragte er sie und hielt der zugedröhnten Frau die Chipstüte hin, woraufhin sie ebenfalls nicht reagierte. Trotzdem tat er so, als hätte sie die Frage bejaht. "Hier, für dich...!" Er nahm einen besonders großen Kartoffelchip und steckte ihn ihr in den Mund.
    Salih lachte in sich hinein und schloss die Augen. Wie sehr hatte er es vermisst, mit seinen Freunden abzuhängen. Vielleicht war es ja doch besser, Single zu sein, überlegte er. Dann hätte er mehr Zeit für Leute, die ihn nicht betrogen und hintergangen. Vielleicht war jetzt aber auch nicht der richtige Augenblick, um das zu entscheiden. Denn jetzt fühlte er sich einfach nur...gut.
    Majonese is offline

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    5 - Qual der Wahl

    Als Salih aufwachte und auf seine Uhr neben dem Bett schielte, fühlte er sich beschissen.
    Ein ganzer Tag war mehr als genug zum Ausnüchtern gewesen und um die Rauschmittel aus seinem System zu bekommen. Dennoch hatte er diese Nacht ungewöhnlich schlecht geschlafen. Nun war es offenbar schon so weit, dass Noura ihn in seinen Träumen heimsuchte. An Details konnte er sich nicht erinnern, nur, dass er immer wieder ihr Gesicht gesehen hatte.
    Doch sein Morgen sollte nicht besser werden.
    Als er aus Gewohnheit sein Smartpad vom Nachttisch griff und anschaltete, sah er sofort, dass er mehrere Nachrichten bekommen hatte. Und natürlich hatte ihm seine Ex geschrieben.
    [11:12] - 'du hast noch das Ladegerät von meiner Zahnbürste'
    [11:12] - 'und meine Tabletten'
    [11:12] - 'die sind im Badezimmerschrank oben links'
    [11:13] - 'schreib mir wann du da bist damit ich die abholen kann'
    [11:13] - 'und behandle mich bitte nicht wieder wie einen Einbrecher!'
    [11:13] - 'ich will einfach nur mein Zeug wiederhaben du musst also nicht die ganze Zeit rumschreien'
    [11:16] - 'ich komme auch allein'
    [11:16] - 'ist das okay?'
    Salih ließ sich zurück in sein Kissen sinken, schloss die Augen und seufzte schwer. Er war noch nicht einmal aufgestanden und schon wog die Schwere dieser Trennung wieder wie ein Stein auf seinem Gemüt. Was hätte er in diesem Moment nicht gegeben, um wieder dieses wohlige Rauschgefühl zu haben, welches Saskia ihm mit ihrem Stoff besorgt hatte. Wie hieß das Zeug noch? X-Likala-irgendwas. Eigentlich spielte es keine Rolle, hauptsache, er hatte mehr davon. Mehr von diesem Zeug, welches diese ganze Sache so viel erträglicher gemacht hatte, solange es in seinem Blut gewesen war.
    Ihm war sehr wohl bewusst, wie gefährlich diese Gedanken waren. Sein Gespräch mit Gloria vor zwei Tagen hatte ihm sehr deutlich gezeigt, was mit jemandem passierte, der sich den Drogen zuwandte, um seinen Problemen zu entfliehen. Aber Salih konnte nicht anders, er sehnte sich nach dieser wohlige Euphorie im Overdrive zurück, bei der er sich so rundum zufrieden gefühlt hatte, dass selbst seine Trennung mit Noura ihm nicht seine Laune hatte verderben können. Wie gerne er dieses Gefühl zurückbekommen würde...
    Mit einem missmutigen Brummen wühlte er sich auf seinem Bett und richtete sich auf. Eine Weile starrte er auf Nouras Nachrichten und überlegte, was er ihr antworten sollte. Es juckte ihm in den Fingern, ihr wieder Vorwürfe zu machen, sie anzufeinden, sie zu beleidigen. Sie spüren zu lassen, wie sehr er sie hasste. Aber das konnte er nicht. Er konnte nicht weiter so tun, als würde er sie hassen, denn es war eine Lüge. Eine Lüge, die ihn nur noch anstrengte. Salih fühlte sich unheimlich müde und ausgelaugt und das, obwohl er gerade fast zehn Stunden geschlafen hatte.
    Noura wollte noch ein paar Sachen abholen kommen. Ob ihr Zeug noch in seiner Wohnung war, wusste Salih auf Anhieb nicht einmal, doch Noura wollte noch einmal hierherkommen. Es würde vielleicht das letzte Mal sein, dass er sie jemals sah, und bei dem Gedanken daran zogen sich seine Eingeweide schmerzhaft zusammen. Er fragte sich ernshaft, ob er wenigstens dieses Mal es schaffen würde, sie nicht direkt anzuschreien. Und zumindest versprach sie, ihren Macker nicht mitzubringen. Vielleicht konnten sie noch einmal normal miteinander reden. Vielleicht einen Abschluss finden. Sich aussprechen. Salih hatte noch immer so viele Fragen an sie und wollte ihr so vieles sagen, wovon längst nicht alles Anfeindungen waren. Und dann...dann war da noch etwas; ein schwacher Hoffnungsschimmer, kaum spürbar und doch present. Er hasste sich dafür, diesen Gedanken überhaupt zu haben und wagte es kaum, ihm zu erlauben, in seinem Kopf Form annehmen zu lassen. Aber er war da und nistete sich in seine Brust, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.
    Entgegen jeder Vernunft wollte er noch einmal mit ihr sprechen, wollte sie sehen, wollte ihr noch eine Chance geben. Alles in ihm sollte sich eigentlich dagegen sträuben, aber da war noch immer ein Teil von ihm, der Noura nicht aufgeben konnte. Es war der Teil, welcher sich immer wieder wohlig an die letzten fünf Jahre mit ihr zurückerinnerte und diese Zukunft, die er sich mit dieser Frau ausgemalt hatte, nicht aufgeben wollte. Salih wusste nicht, was er tun sollte. Doch zum Glück musste er sich noch nicht entscheiden. Noch konnte er es aufschieben, denn er hatte zu tun.
    Hastig tippte er seine Antwort und schickte sie ab.
    'Ich bin heute unterwegs, ich schreibe dir morgen nochmal, wann du kommen kannst'
    Dann endlich warf der Marokkaner seine Bettdecke zurück und stand auf. Nachdem er sich angezogen hatte, setzte er sich an seinen Küchentisch und verzehrte ein mageres Frühstück, während seine Gedanken sich allmählich von Noura fortbewegten. In wenigen Stunden würde er zusammen mit seiner Crew im Void Distrikt das Vorcha-Nest stürmen und er wollte einen klaren Kopf dafür haben. Wie immer vor solchen Aktionen stieg eine gewisse Anspannung in ihm an und setzte ihn unter Strom. Es würde gefährlich werden, blutig, laut und unangenehm. Nach so vielen Jahren auf den Straßen Omegas war es für Salih längst keine unbekannte Empfindung mehr und er machte sich keine allzu großen Sorgen. Es war ganz normal. In gewisser Weise mochte er diese Anspannung sogar; dank ihr fühlte er sich so unvergleichlich lebendig.
    Nach seinem Frühstück machte er sich an seine Ausrüstung und bereitete alles vor, was er benötigen würde. Sein wichtigstes Stück war natürlich sein Schildgürtel. Der kinetische Schutz war ein Witz im Vergleich zu leistungsfähigen Schildgeneratoren, welche vom Militär oder den besonders wohlhabenden Söldnern auf Omega benutzt wurde, aber er reichte allemal, um eine Handvoll Kugeln zu schlucken, ehe man in Deckung musste. Und es war am Ende noch immer sehr viel besser als nichts.
    Seine Bewaffnung war eine einfache, halbautomatische Pistole. Es war ein etwas älteres Modell, welches viel von dem modernen Schnickschnack, den neuere Waffen hatte, nicht besaß. Aber Salih war völlig zufrieden mit seiner Knarre; sie war leicht, gut zu handhaben, recht genau, und immer noch mehr als ausreichend, um einem Vorcha ein zusätzliches Loch in den Schädel zu bohren. Vierzehn Schuss pro Magazin war allerdings nicht viel, also warf er sich noch einen zusätzlichen Gurt um, wo er zahlreiche Zusatzmagazine drin verstaute. So flink und zäh wie Vorcha waren, brauchte es nämlich meist mehr Kugeln, als bei anderen Feinden.
    Wie bei so vielen Leuten auf Omega war das so ziemlich das gesamte Ausmaß seiner Ausrüstung. Taktische Visiere, kugelsichere Panzerung, Tarnfelder oder Jetpacks sah man hier so gut wie nie. Wie auch? Das Zeug kostete nicht nur ein Vermögen, die Hersteller dieser High-Tech-Waren hatten auch kein großes Interesse daran, einen unzuverlässigen und zahlungsschwachen Markt wie die Straßen Omegas anzuziehen. Also kämpfte man hier eben ohne die technischen Spielereien der Reichen und Mächtigen der Galaxie. Aber Salih konnte sich damit abfinden, schließlich hatten seine Feinde ja kein besseres Equipment als er.
    Nachdem er seine Ausrüstung überprüft und vorbereitet hatte, zog sich Salih seine Jacke über und verließ seine Wohnung. Und nicht nur seine Wohnung; es war, als würde er seine auch Gedanken an Noura zurücklassen. Fast so, als wäre sie noch immer dort und wartete nur darauf, dass er später wieder zurückkehrte. Es fühlte sich gut an, fast als würde er ein unangenehmes Gewicht ablegen. Beflügelt von dieser Erkenntnis und der wachsenden Anspannung machte sich Salih auf den Weg.
    Mit Elan stieg die Treppen nach unten, trat durch die Haustür nach draußen in den Hinterhof...und prallte beinahe mit Felicitas zusammen.
    "Huch!", machte die ältere Frau, als er sie fast umlief, und wich erschrocken einen Schritt zurück. "Da hat es aber jemand eilig!"
    "Sorry, wusste nicht, dass du gerade hier um die Ecke auf mich wartest!", gluckste Salih.
    Felicitas lachte krächzend. "Ach, ihr Jungspunde immer! Ihr habt es immer eilig und keine Rücksicht für die alten Leute..." In ihren Augen blitzte der Schalk, als sie ihn musterte. Und natürlich bemerkte sie die Ausrüstung, die der Marokkaner an sich trug. Ihr Blick blieb an dem Gurt mit den Munitionstaschen hängen. "Du hast wohl viel vor heute", meinte sie und legte den Kopf schief. "Lohnt es sich zu fragen oder ist das mal wieder ein Geheimnis von dir und deiner Crew?"
    Salih zuckte mit den Schultern. "Wie immer. Ist geheim."
    "Vorcha, nehme ich an?"
    Im ersten Moment stutzte er überrascht, als die Frau ihren Scharfsinn unter Beweis stellte. "Woher...?"
    "Wozu sonst brauchst du so viel Munition?", schnaubte sie wissend.
    Beeindruckt nickte Salih. "Dir entgeht auch echt nichts."
    "Tjaah...alles eine Frage des Alters. Irgendwann achtet man einfach auf solche Dinge." Das Grinsen auf ihrem furchigen Gesicht verblasste und sie musterte ihn aufmerksam. "Hast du eigentlich mal darüber nachgedacht, worüber wir neulich geredet haben?"
    Salih brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, worauf sie hinauswollte. "Ohh, achso! Ja, hab ich. Pass auf, ich hab mir überlegt, dass ich eine Art Adapter für den Schlauch bauen könnte. Den würde ich dann unten an den Ablauf von der Spülmaschine dranhängen und..."
    "Vergiss doch mal diesen blöden Geschirrspüler! Davon rede ich nicht!", unterbrach sie ihn ungeduldig. "Ich meine Noura! Bist du endlich über sie hinweg?"
    Er bekam nicht einmal drei Minuten, in denen er nicht an seine Ex denken musste. Selbst wenn sein eigener Verstand ihm endlich mal einen Moment Ruhe gönnte, mussten andere Leute sich einmischen und Nouras Namen in ihren Mund nehmen. Heiß flutete Zorn seinen Körper und er ballte die Fäuste. "Was soll das denn jetzt?", knurrte er ungehalten. "Ich habe dir doch gesagt, ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken...!"
    "Ja, und das war vor zwei Tagen. Also was hast du in den zwei Tagen erreicht? Hm?"
    Die Wahrheit war wenig schmeichelhaft, denn er hatte die letzten zwei Tage überhaupt nichts erreicht. Erst hatte er sich mit Drogen zugedröhnt, dann hatte er sich ausgenüchtert. Zwar hatte er währenddessen ständig an Noura gedacht, doch er war keinen Schritt näher an eine Entscheidung gekommen, was er nun wegen ihr tun sollte. Also tat er das einzige, was ihm blieb; er wich aus. "Was geht dich das eigentlich an? Hast du keine anderen Probleme, um die du dich kümmern musst?"
    Felicitas schüttelte tadelnd den Kopf. "Glaubst du, ich frage dich das bloß, weil mir langweilig ist? Versuch nicht, von dir abzulenken!"
    Grummelnd wandte Salih sich von ihr ab. Ein Teil von ihm wollte sie einfach ignorieren, einfach weitergehen und nicht weiter mit ihr darüber sprechen. Allerdings war er auch kein Arschloch und es war ja nicht so, dass Felicitas ihm etwas Böses wollte. Also blieb er hier und erlaubte es ihr, ihm zu sagen, was sie zu sagen hatte.
    Gleichzeitig schien Felicitas jedoch einzusehen, dass sie mit ihrem bisherigen Vorgehen nicht weiterkam und versuchte etwas anderes. "Habe ich dir jemals erzählt, woher ich die hier habe?", wollte die Frau von ihm wissen und deutete auf ihre Tätowierungen an den Armen.
    Die Frage traf Salih so unerwartet, dass er völlig vergaß, sauer auf sie zu sein. "Ähh...nein...", stammelte er schließlich mit einem Stirnrunzeln, allerdings konnte er nicht bestreiten, eine gewisse Neugier zu verspüren.
    Mit einem gezwungenen Lächeln seufzte Felicitas. "Ist keine schöne Geschichte. Ich bin in São Paulo großgeworden, in Brasilien, in einer richtig miesen Gegend. Meine Mutter war eine Säuferin. Schon seit ich ganz klein gewesen war. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals nüchtern erlebt zu haben. Als ich gerade sechzehn war, hatte mein Vater die Schnauze voll von ihr. Er hatte angekündigt, er würde sie verlassen, und mich dann vor die Wahl gestellt, entweder mit ihm zu gehen oder bei meiner Mutter zu bleiben." Sie gluckste leise. "Weißt du...ich war damals nicht sonderlich gut auf meinen Vater zu sprechen. Er war immer ziemlich streng gewesen und ich war in dem Alter, wo ich mir nichts mehr von ihm sagen lassen wollte... Auf jeden Fall war das keine leichte Entscheidung für mich. Jemand musste sich schließlich um meine Mutter kümmern, sie war krank, und das nicht nur vom Alkohol. Aber gleichzeitig wollte ich weg von dort. Weg von Mama, weg aus diesem Drecksloch, in dem ich großgeworden bin...ich habe ewig hin und her überlegt und dann..." Nun zuckte sie mit den Schultern und schüttelte den Kopf. "Dann ist mein Vater abgehauen. Mitten in der Nacht. Und ich bin mit Mama allein zurückgeblieben." Wieder tippte sie sich an die Arme, wo die düsteren Tattoos prangten. "Sie konnte nicht arbeiten, also musste ich irgendwie Geld auftreiben. Und irgendwie bin ich dann bei einer Straßengang hängengeblieben, 'Os guaxinins'." Nun musste Felicitas auflachen. "War keine schöne Zeit, kann ich dir sagen. Aber die waren die einzige Familie, die ich noch hatte. Die Tattoos haben mich immer daran erinnert, wie ich dort gelandet bin. Meine Mutter ist schon ein paar Jahre später gestorben und meinen Vater habe ich nie wieder gesehen."
    Salih war schockiert über das, was er hörte. Denn es klang erschreckend ähnlich wie seine eigene Jugend. Der größte Unterschied zwischen ihm und Felicitas war wohl, dass seine Mutter ihm nie eine Wahl gelassen hatte; sie war einfach abgehauen und hatte ihn und seinen Vater zurückgelassen.
    Die alte Frau schaute ihn nun direkt an. "Und weißt du, was das Schlimmste an all dem war? Dass ich mich nie entschieden hatte. Ich bin nicht bei meiner Mutter geblieben, weil ich es so wollte. Ich bin bei ihr geblieben, weil mir die Entscheidung genommen wurde. Ich habe ewig lange hin und her überlegt, ob ich mit meinem Vater mitgehen sollte oder nicht. Und dann irgendwann...war die Chance vorbei. Er war ohne mich abgehauen und ich blieb zurück. Plötzlich hatte ich keine Kontrolle mehr über irgendwas in meinem Leben. Ich bin dann einfach von einer Sache in die nächste hineingerutscht. Die Gang, Drogen, Gewalt...ich saß auch eine Weile im Knast... Du kannst dir nicht vorstellen, wie unerträglich sich das anfühlt. Und ich habe mir das nie verzeihen können."
    Schon ahnte Salih, wieso Felicitas ihm diese Geschichte erzählte und er wandte sich mit einem Seufzen ab. Mit einer Hand fuhr er sich über den Kopf und lehnte sich an das Treppengeländer, während er über den fast leeren Hinterhof schaute. Lediglich in einer Ecke lungerten einige Kinder herum, kümmerten sich aber nicht um die beiden Erwachsenen. Eine Weile beobachtete Salih sie, während er über die Worte der Frau nachdachte, bis ihm schließlich ein Schnauben entfuhr. "Was, wenn du dich falsch entschieden hättest?" Er warf einen Blick über die Schulter in ihre Richtung. "Wenn du mit deinem Dad gegangen wärst und es hinterher bereut hättest?"
    Felicitas verschränkte die Arme vor der Brust. "Dann hätte ich damit leben müssen. Aber zumindest hätte ich mich entschieden, Salih! Ich hätte nicht unentschlossen herumgesessen, bis es zu spät war. Vielleicht hätte ich einen Fehler gemacht, nur ist das immer noch besser, als gar nichts zu tun."
    Es ärgerte Salih maßlos, dass er nichts darauf erwidern konnte. Zumindest fiel ihm nichts Sinnvolles ein. Klar, er hätte einfach so tun können, als würde er ihren Rat nicht ernst nehmen. Aber das wäre gelogen, denn Felicitas war keine Jugendliche ohne irgendeine Lebenserfahrung, die anderen Leuten versuchte tiefgründige Weisheiten zu verkaufen. Sie wusste, wovon sie sprach. Es hatte keinen Zweck, ihr ausweichen zu wollen. Mit einem verdrossenen Brummen schüttelte er den Kopf und gab sich geschlagen. "Was glaubst du...was soll ich tun?"
    Die alte Frau antwortete wie aus der Pistole geschossen. "Du meintest, Noura hat dich betrogen, richtig? Sie hat mit einem anderen Kerl rumgemacht? Dann würde ich sagen; zum Teufel mit ihr! Du hast etwas Besseres verdient, mein Lieber." Als sie seine Reaktion auf die Worte bemerkte, bedachte sie ihn mit einem amüsierten Blick und senkte ihre Stimme. "Aber ich habe das Gefühl, dass du sie nicht fallenlassen möchtest, nicht?"
    Mit dem, was sie über Salih wusste, war es keine Überraschung, dass sie genau ins Schwarze traf. Also brummte er nur mürrisch.
    Felicitas trat auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Wenn du ihr noch eine Chance geben willst, dann tu das! Ich halte es für eine schlechte Idee, aber wenn du das möchtest, dann tu es! Aber entscheide dich endlich! Und wenn du dich schlecht entscheidest...dann ist das halt so. Du kannst später immer noch versuchen, deine Fehler geradezubiegen. Nur wenn du dich gar nicht entscheidest...dann endest du noch wie ich...", scherzte sie augenzwinkernd.
    "Was soll das heißen?", schnaubte Salih.
    "Na...als eine verbitterte alte Frau, die nichts Besseres zu tun hat, als ihre Nase in die Angelegenheiten anderer zu stecken", meinte sie schnippisch, wurde dann aber wieder ernst. "Also Salih; tu endlich etwas wegen Noura! Bevor es zu spät ist. Okay?"
    Salih stieß ein Seufzen aus. "Ich werde es versuchen..." Auch wenn er noch keine Ahnung hatte, wie genau er das anstellen sollte.
    "Das freut mich zu hören", lächelte sie und klopfte ihm auf die Schulter, ehe sie sich zum Gehen wandte. "Dann wünsche ich dir noch viel Glück bei deiner streng geheimen Mission!"


    Der Treffpunkt der Crew lag in einer abgelegenen Höhle im Void Distrikt. Während sich der Großteil des Bezirks in einer weitläufigen Schlucht befand, gab es auch einige kleinere Schächte und Tunnel, welche wie Äste von einem Baum abzweigten und tiefer in den Asteroiden führten. Die Bereiche waren zu einem großen Teil desolat, heruntergekommen und nicht selten auch komplett verlassen.
    So auch die Industrieanlagen in dieser ausladenden Kaverne, welche wie Geschwüre an und in die Wände gebaut worden waren. Recht willkürlich hatten die einstigen Nutzer dieses Komplexes Lagerhäuser, Produktionseinrichtungen, Verladeplätze und Verwaltungsgebäude an- und übereinandergestapelt. Hier war einst Bergbauequipment hergestellt, gelagert und gewartet worden, doch nun, wo auf Omega kaum noch durch Gestein gegraben wurde, waren die meisten dieser Einrichtungen völlig nutzlos geworden und von ihren ursprünglichen Besitzern verlassen worden. Ein, zwei Lagerhäuser wurden noch verwendet und eine der Fabriken war umgebaut worden und stellte nun verschiedene Textilwaren von minderer Qualität her. Der Rest stand entweder leer oder diente ungebetenem Abschaum als Versteck.
    So auch das große Gebäude am anderen Ende der Höhle, welches zu einem großen Teil in den Felsgebaut worden war, sodass nur ein bunkerähnlicher Eingangsbereich sichtbar blieb. Diese Bauart hatte für die Enigma-Crew einen klaren Vorteil; es gab nur einen einzigen Eingang in die Anlage. Man wusste also sehr genau, wer das Gebäude betrat oder verließ. Und es war ein Leichtes, diesen Durchgang zu blockieren und jemanden im Inneren einzusperren. Zum Beispiel eine Rotte Vorcha, die sich hier vor einigen Wochen eingenistet hatte. Am leichtesten wäre es wohl gewesen, die Anlage komplett in die Luft zu sprengen, oder sie einfach mit so viel Nervengas vollzupumpen, dass selbst die Vorcha tot umfallen würden. Allerdings wollte ihr Auftraggeber den Gebäudekomplex für seine eigenen Zwecke in Anspruch nehmen, sodass er sich nicht mit schwelenden Ruinen oder giftigen Katakomben zufrieden geben würde. Also mussten sie ganz altmodisch den Bereich mit roher Waffengewalt von dem Ungeziefer säubern.
    Noch vor zehn Jahren waren in dieser Fabrik Lasercutter für die Bearbeitung von Stein hergestellt worden, nun waren die Hallen ungenutzt. Es gab mehrere kleinere Lagerräume, wo Materialien aufbewahrt oder fertige Produkte zwischengelagert worden waren, mehrere Büro- und Personalräume, sowie natürlich die eigentliche Produktionshalle, welche tiefer im Inneren der Felswände lag. Laut den Gebäudeplänen, welche die Crew im Voraus studiert hatte, war die Anlage recht weitläufig und bot für die derzeitigen Bewohner viel Raum für Hinterhalte und Fallen. Es war also Vorsicht geboten, wenn sie sich in den Fabrikkomplex begeben würden.
    Als Salih am Treffpunkt ankam, war er wie erwartet einer der Ersten. Jax, Echo und Casandra hatten sich bereits in der dunklen Ecke zwischen zwei Lagerhallen eingefunden und besprachen noch einmal ihr Vorgehen, während sie auf einem Datapad den Gebäudeplan ihres Zielortes betrachteten. Der Marokkaner hatte wenig Lust, sich an dem Gespräch zu beteiligen, und grüßte sie lediglich im Vorbeigehen mit einem Wink, ehe er ein Stück weiter in die Schatten lief, um sich auf einen Stapel Kisten zu setzen, damit er nicht die ganze Zeit über stehen musste. Dabei bemerkte er jedoch, dass es sich dort schon jemand bequem gemacht hatte.
    Gloria saß mit angezogenen Beinen auf einer der Container und starrte mit leerem Blick geradeaus. Schon auf den ersten Blick war deutlich zu sehen, dass es ihr sehr viel besser ging, als bei ihrem letzten Aufeinandertreffen. Ihr Gesicht hatte etwas mehr Farbe, ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig, ihre Körperhaltung war weniger verkrampft und angestrengt und darüber hinaus war sie auch nicht dabei, sich die Seele aus dem Leib zu kotzen. Wahnsinnig gesund sah sie natürlich immer noch nicht aus, aber es war definitiv eine Verbesserung.
    "Na, alles klar?", fragte Salih die Biotikerin und lehnte sich lässig an eine Kiste auf der anderen Seite der Gasse und grinste ihr entgegen. "Du siehst gut aus!"
    Ein müdes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und sie rollte mit den Augen. "Danke!", grinste sie und offenbarte dabei ihre leicht rötlich angelaufenen Zähne.
    "Und? Geht 's dir besser?"
    Schon schwand der Ausdruck wieder und Gloria schaute zu Boden, um seinem Blick auszuweichen. Eine Antwort blieb sie ihm schuldig.
    Salih war klar, dass er von ihr nicht viel mehr erwarten konnte, aber es war trotzdem traurig anzusehen, was für ein Haufen Elend sie mittlerweile war. "Hey, ich hab mich gefragt; warum kommst du eigentlich nicht mal mit uns zum Feiern?" Die Ironie hinter seiner Frage war ihm natürlich bewusst; bis zu seiner Trennung von Noura hatte er seinen Freunden selbst meistens abgesagt. Aber vielleicht konnte er ja jetzt mehr Zeit mit ihnen verbringen. "Ich glaube, du könntest ruhig mal ein wenig Spaß vertragen. Oder will dich Saskia etwa nicht dabeihaben?"
    Sie schlang die Arme um ihre Schienbeine. "Doch, schon...aber...ich weiß nich'..."
    Das war alles, was er von ihr bekam. "Ihr beide kennt euch doch schon seit etlichen Jahren, nich'?", versuchte Salih es weiter. "Weißt du, was es mit diesen Animals auf sich hat? Diese Leute mit den...den komischen Neon-Tattoos, die immer richtig hart Party machen? Wusstest du, dass Saskia auch zu denen gehört...?"
    Der Laut, der Gloria entfuhr hätte alles sein können. Zustimmung, Ablehnung, Gleichgültigkeit, vielleicht hatte sie auch Bauchschmerzen. Aber es war definitiv nicht genug, um ein Gespräch zu führen. Schließlich gab Salih es auf und die beiden verfielen in ein unangenehmes Schweigen. Es war in dieser Stille, dass seine Gedanken wieder zu wandern anfingen.
    Gloria war ein gutes Beispiel für jemanden, der seine Probleme nicht länger im Griff hatte. Ob es überhaupt Sinn machte, sich mit ihr abzugeben und zu versuchen, ihr zu helfen, wusste Salih nicht. Aber ihm behagte die Vorstellung nicht, dass es für sie keinen Weg mehr zurück gab. Denn natürlich dachte er auch an sein eigenes Leben, als er den Junkie vor sich anschaute.
    Sich den Drogen zuzuwenden, war mitunter ein sehr verlockender Gedanke. Der Rave im Overdrive vor zwei Tagen war ein sehr willkommenes Hoch gewesen in seinem ansonsten so missmutigen Alltag, in dem er seit der Trennung vor sich hin vegetierte. Und Saskias kleine Wunderdroge war ihm dabei noch immer in sehr guter Erinnerung. Vielleicht war das auch der Anfang, überlegte Salih. Man nahm das Zeug als Partydroge, einfach um beim Feiern lockerer zu sein und sich ein wenig gehen zu lassen. Dann nahm man den Stoff auch mal so für zwischendurch, einfach weil es sich gut anfühlte. Und ehe man sich versah, wollte man immer mehr und konnte ohne den Fix gar nicht mehr richtig funktionieren. Dann endete man wie Gloria.
    Salih konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er auch zum Junkie werden würde. Er musste es nur verkraften, von seiner Partnerin betrogen worden zu sein. So hart ihn das auch getroffen hatte, er würde schon nicht daran zugrunde gehen. Oder...? Schon musste er sich an die Geschichte denken, die Felicitas ihm erzählt hatte. Genau wie er jetzt hatte auch die alte Frau in ihrer Vergangenheit vor einer unmöglichen Entscheidung gestanden. Und vielleicht sollte er ihre Erfahrungen ernst nehmen, schließlich hatte sie von ihren Fehlern erzählt, damit er sie nicht wiederholte. Im Stillen fragte er sich, ob er irgendwann als verbitterter, alter Mann an diesen Moment zurückdenken und lamentieren würde, sich nicht rechtzeitig für einen Pfad entschieden zu haben.
    Sein Dilemma war simpel; sollte er Noura noch eine Chance geben oder nicht? Bloß war die Antwort darauf alles andere als simpel...
    Salih schüttelte unwirsch den Kopf und ärgerte sich über sich selbst. Er sollte sich eigentlich auf den bevorstehenden Job vorbereiten und sich nicht von diesen Gedanken ablenken lassen. Wenn die Vorcha sich auf ihn stürzten, sollte er lieber einen klaren Verstand haben.
    Nach und nach fanden sich auch die restlichen Mitglieder der Crew hier ein. Wish und Fix tauchten zusammen auf, während Matt kurz darauf mit Cobra im Schlepptau ankam. Wenig überraschend war Saskia die Letzte, die am Treffpunkt eintraf, allerdings war sie ausnahmsweise mal keine fünf Minuten zu spät. Kaum hatte die kleine Frau die dunkle Gasse betreten, ging ihr Blick suchend über die Anwesenden und blieb an Salih hängen. Zielstrebig kam sie auf ihn zu und schaute zu ihm auf. "Un', alles klar bei dir? Nach der Sache im Overdrive neulich?", begrüßte sie ihn grinsend. "Alles gut verkraftet?"
    Salih erwiderte ihren Blick mit erhobener Augenbraue und musste auflachen. "Im Ernst? Du fragst mich, ob es mir gut geht?"
    "Klar doch", meinte Saskia und schien daran nichts eigenartig zu finden. "'s war immerhin dein erster Neon-Pit. Ich wollt' nur sichergeh'n, dass dich das nich' fertiggemacht hat o'er so..."
    "Kiki...hast du schon vergessen, dass du diejenige warst, die für eine halbe Stunde völlig gelähmt war? Eigentlich sollte ich dich fragen, ob bei dir alles in Ordnung is'...!"
    "Häh? Mir geht 's super, sieht man doch!", grinste sie und breitete demonstrativ die Arme aus. Tatsächlich schien auch für sie ein Tag zum Ausnüchtern völlig ausgereicht zu haben und ihr war nichts mehr von ihrem Rausch anzumerken. Sie sah so lebendig und aufgedreht aus wie immer. Wobei sie nun ein anderes Oberteil trug. "Sowas is' doch völlig normal bei den Animals. Manchmal nimmt man halt Sach'n, die man nich' so gut verträgt..."
    "Normal...", gluckste Salih. "Ich weiß nich', ob irgendwas daran normal ist. Hast du denn keine Angst, dass irgendwann mal was passiert, wenn du bei diesen Leuten bist?" Selbst für ihn war diese tollwütige und völlig zugedröhnte Menge recht beängstigend gewesen und Saskia war im Vergleich zu ihm winzig und wog kaum die Hälfte von seinem Gewicht. Es war ihm ein Rätsel, wie sie es schaffte, in dieser Raserei nicht von den anderen totgetrampelt oder zerquetscht zu werden.
    Die kleine Frau lachte auf und machte eine wegwerfende Geste. "Ach, was! Ich mach das schon seit ich fünfzehn bin."
    Fassungslos starrte Salih sie an und schüttelte den Kopf. "Wie hast du eigentlich so lange hier überlebt?"
    Zur Antwort streckte sie ihm lediglich die Zunge entgegen.
    Es war eigenartig. Salih kannte sie nun schon seit etwa drei Jahren und sie steckte noch immer voller Überraschungen.
    "Du hast meine Frage noch nich' beantwortet!", stellte Saskia fest und klopfte mit dem Handrücken gegen seinen Arm. "Alles gut?"
    "Äh...jaja, alles super!", gab halbherzig zurück.
    Saskia gluckste leise. "Gut zu hör'n. Ich war mir ja erst nich' sicher gewes'n, ob du d's Zeug au' verträgst! Du warst erst echt 'n wenig komisch drauf gewesen...hast zwischendurch immer nur rumgestand'n un' dich nich' mehr bewegt un' dabei nur stumpf geradeaus geguckt..."
    "Jaah...es war wohl alles ein wenig überwältigend gewesen..." Das Schlimme war, dass Salih keine Ahnung hatte, wovon sie eigentlich sprach. Es war nicht so, dass er einen kompletten Filmriss hatte. Auf eine gewisse Weise glaubte er, sich noch an das meiste erinnern zu können, was geschehen war. Allerdings waren diese Erinnerungen so verzerrt und absurd, dass schwer zu sagen war, was davon tatsächlich geschehen war und was er sich bloß eingebildet hatte. Im Nachhinein war er sich ziemlich sicher, dass diese neonfarbenen Tiere nicht wirklich existierten und sie ihn auch nicht zerfleischt hatten. Auch wenn es sich so echt angefühlt hatte...
    "Das is' ganz normal beim ersten Ma'", fuhr Saskia augenzinkwernd fort. "Un' du hast dich ja irgendwann dran gewöhnt, nich'? Bist ganz gut abgegang'n..." Grinsend legte sie den Kopf schief. "Is' 'n geiles Gefühl, nich'?", raunte sie und sie warf ihm einen abschätzigen Blick zu. "Sich ma' so richtig geh'n zu lassen! Nich' immer dieses Gefühl zu hab'n, du müsstest aufpass'n was du sagst un' was du tust un' mit wem du redest un' so 'ne Scheiße. Du musst au' keine Angst vor irgen'was or irgen'wem haben, sondern kannst einfach nur...alles rauslass'n! Einfach nur du sein. Weißt 'e, was ich mein'?"
    Tatsächlich wusste er das nun sehr genau und nickte unbewusst. "Wie ein wildes Tier...", murmelte er.
    Das Grinsen wurde breiter. "Wie 'n wildes Tier...", wiederholte sie und lachte in sich hinein. "Un' ich muss echt sag'n; du bist echt gut darin! Im 'sich geh'n lassen', mein' ich. Dafür, dass 's dein erstes Ma' war, hast 'e dich echt gut geschlag'n! 's hat echt Spaß mit dir gemacht!"
    Irgendwie war es erstaunlich, dass Saskia sich noch so genau an alles erinnern konnte. Oder vielleicht konnte sie sich gar nicht erinnern, sondern ging einfach nach den selben vagen Eindrücken, die auch ihm geblieben waren. Trotzdem hoffte Salih, dass sie ihm zumindest in einer Hinsicht eine konkrete Auskunft geben konnte. "Und...haben wir...du weißt schon. Haben wir...?"
    "Gefickt?" Saskia wusste sofort, worauf er hinauswollte und tippte sich nachdenklich ans Kinn. "Nee, das wüsst' ich!", behauptete sie leichthin. Wie zuverlässig ihre Erinnerung aber war, ließ sich nur schwer sagen. "Ich hab, glaub' ich, nur mit einem Typen rumgemacht..."
    "Puuh...immerhin..." Auch wenn eine gewisse Unsicherheit blieb, atmete Salih erleichtert auf. Er wusste nicht einmal wieso, aber der Gedanke, mit einer Frau Sex gehabt zu haben, ohne sich im Nachhinein daran erinnern zu können, behagte ihm überhaupt nicht. Schon gar nicht, wenn Noura ihm noch immer so häufig im Kopf herumspukte. Und vor allem, wenn er sich noch immer Hoffnungen machte...
    Saskia fiel seine Reaktion auf und sie runzelte die Stirn. "Du klingst ja fast so, als wär' Sex mit mir 'n Albtraum für dich", gluckste sie. Dann setzte sie auf einmal einen Hundewelpenblick auf und zog einen Schmollmund, während sie mit einem ihrer Zöpfe herumspielte. Mit einer künstlich schüchternen Stimme fragte sie: "Was is' los? Find'st 'e mich etwa nich' hübsch?"
    Auch wenn sie sich über ihn lustig machte, musste Salih auflachen und konnte es ihr nicht übelnehmen. "Du bist ganz bezaubernd!", behauptete er grinsend. "Aber nicht unbedingt mein Typ..." Nein, sein Typ wäre eine hochgewachsene Frau mit lockigen, schwarzen Haaren und einem schmalen Gesicht. Mit diesen geschwungenen Lippen und dem faszinierenden Funkeln in ihren braunen Augen, wann immer sie ihn anschaute... Und schon wieder war Noura hier bei ihm und ließ Salih keine Ruhe. Er seufzte gereizt und rieb sich die Schläfe, so als könne er sie damit aus seinen Gedanken vertreiben.
    Eigentlich wollte Salih noch so einige Fragen an Saskia stellen. Etwa, was genau für eine Droge sie ihm im Overdrive gegeben hatte. Oder woher sie das Zeug bekommen hatte, wenn selbst Fix Schwierigkeiten hatte, etwas davon in die Finger zu bekommen. Und dann war da noch diese Sache mit dem Blut. Eine morbide Neugier hatte ihn gepackt und er hätte nur zu gerne gewusst, ob sie wirklich versucht hatte, jemanden zu zerfleischen.
    Aber in diesem Moment ertönte Jaxs durchdringende Stimme, als er seine Crew zusammentrommelte. "Also gut, Leute! Alle Mann hergehört!"
    Das Gespräch mit Saskia würde Salih auf später verschieben müssen, denn nun wurde es ernst.
    Der ehemalige Soldat trat zwischen seine versammelte Truppe und warf einen Blick in die Runde, als sie nach und nach ihre Aufmerksamkeit zu ihm wandten. Anders als fast alle anderen Mitglieder der Crew trug Jax als Einziger eine richtige Kampfrüstung und hatte sogar einen Helm mit verschließbarem Visor. Lediglich Echo trug ebenfalls taktische Ausrüstung, alle anderen würden in ihren gewöhnlichen Straßenklamotten ins Gefecht ziehen und sich lediglich mit einem Schildgürtel schützen können. "Ihr wisst alle, was zu tun ist? Ihr wisst, in welchem Team ihr seid?", wollte der Mann von seinen Leuten wissen. Verhaltenes Gemurmel ertönte. "Seid ihr bereit? Habt ihr eure Ausrüstung gecheckt? Waffen durchgeladen? Schildgürtel aktiviert?" Wieder gemurmelte Zustimmung. Der Hüne verschränkte die Arme vor der breiten Brust und nickte zufrieden. "Gut. Also denkt an den Plan. Wenn wir drinnen sind, teilen wir uns auf. Cassie; du und deine Gruppe, ihr kümmert euch um die Büros und die Produktionshallen." Die Angesprochene nickte grimmig zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. "Denkt daran; ihr müsst die Vorcha nicht unbedingt alle umbringen. Scheucht sie auf, jagt sie davon, aber lasst euch nicht in eine Falle locken! Ich bleibe mit dem Rest unten an den Zugängen und fange alles ab, was versucht abzuhauen." Er deutete in Richtung des Fahrers, der lässig an seinem Skycar lehnte. "Matt wird solange hier draußen warten, falls irgendwas passiert."
    "Wie immer!", brummte Cobra missgelaunt.
    Auch Fix stieß ein spöttisches Schnauben aus. "Ja, wir riskier'n da drin unser'n Hals, während der Typ hier drauß'n steht un' sich die Eier krault un' am Ende kriegt er genauso viele Creds wie der Rest von uns..."
    Mit einem Anflug von Ungeduld wandte sich Jax an die beiden Männer. "Und ihr solltet froh darüber sein. Wenn irgendwas passieren sollte und wir jemanden schnell ins Krankenhaus bringen müssen, wollen wir sicher sein, dass Matt hier draußen sofort mit seinem Wagen bereit steht, und nicht drinnen auch am Verbluten ist."
    Matt schien sich seinem Privileg, sich nicht direkt in die Schusslinie bringen zu müssen, sehr wohl bewusst zu sein. "Ja, genau!", pflichtete er dem Anführer der Truppe bei und feixte an Cobra und Fix gewandt: "Also immer schön nett zu mir sein! Nicht, dass ich mich noch aus Versehen verfliege, wenn ihr auf meiner Rückbank am Abkratzen seid..."
    Cobra warf ihm einen genervten Blick zu. "Sehr witzig..."
    "Schön, dass wir das jetzt auch geklärt haben", meinte Jax in einem Anflug von Sarkasmus, ehe er ernster fortfuhr. "Ihr wisst also, was zu tun ist? Dann denkt immer daran..." Sie alle wussten schon, was kommen würde, als Jax seinen Blick erneut über seine Truppe schweifen ließ. "Haltet euch gegenseitig den Rücken frei. Passt aufeinander auf. Und lasst niemanden zurück! Verstanden?"
    Mit einer ruckartigen Bewegung nahm Saskia eine übertrieben steife Haltung ein, schlug sich mit der Hand an die Schläfe und rief in einem starren Tonfall: "Jawohl, Herr General!"
    Jax schaute mit erhobener Augenbraue zu ihr, ehe er ein leises Schnauben ausstieß. "Zuerst mal salutiert man mit der rechten Hand. Außerdem hält man dabei keine Pistole in den Fingern. Man salutiert auch nicht, wenn man einen Befehl erhält. Dann heißt es nicht 'Herr General', sondern man nimmt den Rang seines Gegenüber. Das wäre bei mir Gunnery Sergeant oder nur Sergeant. Und einem NCO salutiert man sowieso nicht."
    Von Saskia ertönte ein Glucksen und sie rollte mit den Augen. "Oh, tut mir leid, dass ich deine heilige Allianz-Tradition falsch gemacht habe..."
    "Wenn du dich schon über mich lustig machen willst, mach es wenigstens richtig", gab der ehemalige Soldat trocken zurück, ehe er ein weiteres Mal seine Stimme hob. "Also gut, Leute! Macht euch bereit, es geht los!"
    Majonese is offline Last edited by Majonese; 03.09.2024 at 21:19.

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