Die vielen Lichter an der Decke erinnerten Salih ein wenig an Sterne. Auf Omega sah man so etwas wie einen Nachthimmel eigentlich nie, Salih kannte diesen Anblick allerdings noch von seiner Jugend auf der Erde. Es lag schon über fünfzehn Jahre zurück und dennoch erinnerte er sich sehr gut daran. Eine Weile beobachtete er das Lichtspiel, welches in der Dunkelheit besonders gut zur Geltung kam, und zwischendurch fragte er sich, ob er tatsächlich nicht doch wieder in Marokko gelandet war, nur um sich einen Moment später wieder daran zu erinnern, dass er sich in einem Nachtclub auf Omega befand. Dennoch fesselte ihn die Aussicht.
Es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, dass sein Nacken unangenehm schmerzte, weil er die ganze Zeit über seinen Kopf nach hinten gelegt hatte. Als Salih den Blick wieder senkte, stellte er fest, dass er noch immer an einem der Tische im hintersten Teil des Overdrive saß. Direkt vor ihm standen etliche Gläser und Flaschen, wobei viele davon leer waren oder zerbrochen. Andere lagen auf der Seite und hatten ihren alkoholischen Inhalt über den Boden und die Sitzpolster vergossen. Salih hatte offenbar Glück mit seinem Sitzplatz gehabt, denn seine Hose schien noch völlig trocken zu sein. Zwischen den Gläsern lagen noch etliche andere Dinge wie Tücher, Zigaretten und deren Verpackungen, sowie ein Haufen Plastikdosen, Filterpapier und andere Drogenutensilien, aber in der Dunkelheit konnte man kaum Details ausmachen und am Ende hatte Salih im Augenblick kein Bedürfnis danach, sich irgendetwas von dem Zeug einzuwerfen.
Als er sich umschaute bemerkte er einen Mann, der neben ihm auf dem Boden saß und den Kopf gegen die Wand gelehnt hatte. Unter seiner Nase hatte sich eine ordentliche Menge Blut gesammelt, die über seinen Mund und sein Kinn hinabgelaufen war, das schien den Kerl allerdings nicht zu stören, denn er starrte ähnlich wie der Marokkaner zuvor mit weit aufgerissenen Augen an die Decke. Auf seinem Gesicht stand ein verträumtes Grinsen und er zeigte mit einer Hand und verklärtem Blick auf etwas über ihm, das wohl nur er sehen konnte, während er sich leicht hin und her wiegte.
Verwundert schaute Salih in die andere Richtung und bemerkte dabei Saskia am Nachbartisch. Ihr Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt, so als ob sie Schmerzen hatte. Eine dunkle Flüssigkeit bedeckte ihren Mund und ihr Kinn. Ihre Hände lagen vor ihr und klammerten sich verkrampft an die Kante des Tisches. Irgendetwas stimmte nicht. Instinktiv wollte Salih schon aufstehen, um ihr zu helfen, doch als er genauer hinschaute, wurde erst ihm klar, was dort vor ihm eigentlich passierte.
Saskia lag flach über den Tisch ausgestreckt, während hinter ihr ein Kerl stand, sie fest an der Hüfte gepackt hielt und gnadenlos durchfickte. Die Brüste der Frau und ihre langen Zöpfe wippten im Takt der harten Stöße wild vor und zurück. In ihrer Ekstase keuchte und schrie die Frau ihre Lust ungezügelt heraus, allerdings gingen ihre Laute im Chaos des Clubs unter. Es war so ein surrealer Anblick, Salih musste mehrmals blinzelte, um sich zu vergewissern, dass er es sich nicht einbildete. Viel mehr als seine Silhouette ließ sich von dem Kerl hinter Saskia in der Dunkelheit kaum ausmachen, aber auf seinem nackten Oberkörper prangten grell orange leuchtende Tätowierungen. Und auch auf Saskias Brust und ihren Oberarmen waren nun neonblaue Tattoos sichtbar, welche so gut zu den anderen Körperverzierungen passten, welche man hier überall sehen konnte. In diesem Moment wurde Salih zum ersten Mal richtig bewusst, dass die Frau hierher gehörte. Das hier war ihre Welt.
Salih wollte seinen Blick von seiner Begleiterin abwenden, als er auf einmal etwas glaubte zu sehen. Die leuchtenden Tätowierungen malten mit ihren schnellen Bewegungen Schlieren in seinen Augen, sodass seine Sicht ein wenig verschwamm und er Schwierigkeiten hatte, klar zu sehen. Und für einen kurzen Moment wirkte es so, als würde er nicht Saskia dort auf diesem Tisch sehen. Sondern Noura. Im selben Augenblick schien trotz der Dunkelheit das Gesicht des Mannes für eine Sekunde aufzuleuchten und Salih erkannte ihn sofort als den Typen wieder, mit dem sie ihn betrogen hatte. Den Kerl mit dem er seine Ex vorhin noch vor seiner Wohnung gesehen hatte...
Augenblicklich ballten sich seine Fäuste und er biss die Zähne zusammen. Ihm war klar, dass sein benebelter Verstand ihm einen Streich spielte und trotzdem konnte er den Anblick nicht ertragen. Selbst als er seinen Blick abwandte, glaubte er noch immer, Nouras Nähe zu spüren. Wie sie da lag und sich von diesem Kerl ficken ließ, während ihr Freund von über fünf Jahren ahnungslos allein herumsaß... Fluchtartig sprang Salih auf und setzte sich in Bewegung. Er konnte nicht länger hier bleiben.
Obwohl ihn ein heftiger Schwindel erfasste und er schon nach wenigen Schritten wieder die Orientierung verlor, stürzte er sich förmlich in die gesichtslose Menge und ließ Saskia und den Mann bei ihrem rabiaten Liebesspiel allein. Eine konkrete Richtung hatte Salih nicht, stattdessen trieb ihn die Erinnerung an Noura vorwärts, so als würde sie ihn durch den Club verfolgen. Die Monster um ihn herum drohten wieder nach ihm zu greifen und Salih konnte sich nur mit Mühe gegen die Dunkelheit wehren, welche ihn erneut verschlingen wollte. Doch dieses Mal schaffte er es, sich dem Ansturm zu erwehren, als er sich mühsam Schritt für Schritt durch die chaotische Menge kämpfte. Wohin er ging, wusste er selbst nicht, aber nach einer Weile erreichte er plötzlich eine Tür.
Ohne zu zögern riss Salih sie auf und stolperte vorwärts. Und fand sich im Eingangsbereich des Overdrive wieder. Die reißende Meute blieb hinter ihm zurück und er war mit einem Mal wieder allein. Leicht schwankend lief er weiter und verließ den Club schließlich.
Im ersten Moment fühlte er sich merkwürdig, fast nackt, als all diese Reize um ihn herum mit einem Mal ausblieben. Der Druck auf seinen Ohren wich dem sanften Rauschen des Void Distriktes, die grellen Farben in seinen Augen wurden durch die düstere Lichtstimmung der Straße ersetzt und die zahlreichen Berührungen an seinem Körper hatten aufgehört. Salih hatte das Gefühl, in einer völlig neuen Realität angekommen zu sein. Es war fast schon beängstigend. Er brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, dass das hier nicht schlimm war. Das hier war normal.
Schwer atmend stand er eine Weile vor dem Eingang und starrte in die Straßen, ohne wirklich etwas zu sehen. Dann schüttelte er den Kopf und lachte in sich hinein. Er hatte überlebt. Er hatte dem Sturm getrotzt, hatte sich mitten ins Getümmel gestürzt und war unversehrt daraus hervorgekommen. Es war ein berauschendes Gefühl. Schon beschleunigte sich sein Herzschlag wieder, nur war es dieses Mal keine Angst, sondern Euphorie, die ihn anpeitschte.
"Oh, hey! Da bist du ja!"
Als er plötzlich von der Seite angesprochen wurde, blickte Salih überrascht auf.
Matt wirkte auf ihn im ersten Augenblick eigenartig. Fast wie ein Alien. Weder hatte er leuchtende Tätowierungen, noch trug er grelle Neonfarben an seinem Körper. Er sah merkwürdig...blass aus, wie er fast regungslos in der Nähe des Eingangs stand und gemütlich eine Zigarette rauchte. Er hatte sich Saskias Jacke locker über die Schulter geworfen. "Und wie findest du es? Die Party mit den Animals?", wollte er von Salih wissen.
Der Marokkaner wusste im ersten Moment nicht, was er sagen sollte. "Äh...", entfuhr es ihm und er gestikulierte in Richtung des Overdrive, öffnete den Mund und bekam doch nichts heraus. Dann lachte er auf und schüttelte den Kopf. "Es is'...Digga...ohne Scheiß...ich..." So viele Gedanken strömten auf einmal in seinen Kopf und drängelten sich nach vorne, um Teil seiner Antwort zu werden, dass er kaum ein zusammenhängendes Wort herausbekam. Wie sollte er denn beschreiben, was dort in diesem Club vor sich ging? Aufregend? Gefährlich? Atemberaubend? Wahnsinnig? Also zuckte er nur mit den Schultern und grinste breit. "Alter...du hast keine Ahnung..."
"Hmm...wenn du meinst..." Matts Blick legte sich auf den Marokkaner und er musterte ihn aufmerksam. "Sag ma'...geht es dir gut? Du bist irgendwie 'n bisschen komisch drauf..."
Salih entfuhr ein Glucksen. "Jaah...ich hab so ein komisches Zeug genommen...das war echt..." Wieder fiel ihm kein gutes Wort ein, mit dem er seine Erfahrung beschreiben sollte. "...krass...!", lachte er, weil ihm nichts besseres in den Sinn kam.
"Ähh...okay..." Für einen Moment schien Matt noch mehr zu diesem 'komischen Zeug' fragen zu wollen, zuckte dann aber nur mit den Schultern und nahm einen weiteren Zug von seiner Kippe. "Und läuft es sonst so? Ich meine...nach der Sache mit deiner Freundin, und so..."
Überrascht blickte Salih zu ihm. "Woher...?"
"Saskia hat mir vorhin in der Boom-Box davon erzählt. Nachdem du weg warst..."
"Natürlich hat sie das...", schmunzelte er.
"Also, sag schon! Wie geht 's dir?"
Seit der Trennung versuchte Salih dieses Thema eigentlich so gut es ging zu vermeiden. Saskia und Felicitas waren bislang die einzigen gewesen, denen er überhaupt davon erzählt hatte. Wobei das nicht mal so recht stimmte; die beiden Frauen schienen viel eher einen sechsten Sinn für solche Sachen zu haben und hatten ihn direkt darauf angesprochen. So als ob sie gerochen hätten, dass ihn etwas beschäftigte.
Aber aus irgendeinem Grund fiel es ihm in diesem Augenblick nicht schwer, sein Empfinden zum Ausdruck zu bringen. Tatsächlich sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus, so als hätten sie seit einer Woche unter der Oberfläche auf eine passende Gelegenheit gewartet. "Ich mir so sicher gewesen, dass sie es is'!", seufzte er, als Noura wieder in seinem Verstand aufblitzte. "Ich weiß nich', ob du das auch schonmal gespürt hast, aber es ist einfach...du denkst an eine Person und du weißt einfach, sie ist die Eine. Es gibt niemanden sonst wie sie. Weißt du was ich meine?" Salih wartete nicht auf eine Antwort. Als er in sich ging und seinen Gedanken über Noura lauschte, musste er einfach aussprechen, was er fand. "Ich war mir immer so sicher gewesen, dass wir immer zusammen bleiben, egal was kommt. Dass wir zusammen alt werden. Nich' für eine Sekunde habe ich daran gedacht, dass sie mich jemals so hintergehen würde." Ein freudloses Lachen entfuhr ihm und er schüttelte verzagt den Kopf. "Tjaah...und dann stellt sich raus, dass sie 'nen anderen hat. Sieht so aus, als wäre ich ein absoluter Idiot gewesen..."
Es war ein unglaublich befreiendes Gefühl, diese Worte laut auszusprechen. Seit der Trennung hatten sie sich durch sein Inneres gefressen, doch nun konnte Salih sie endlich loswerden, ohne, dass es ihn fertigmachte. Und ihm wurde auch klar, warum. Es waren die Drogen. Die berauschende Wirkung des Alkohols und dieses Zeugs, das Saskia ihm gegeben hatte. Es wirkte wahre Wunder. Gleich einem Sicherheitsnetz bewahrte es ihn mit seiner Wirkung davor, von der Erinnerung an Noura übermannt zu werden. Er konnte an sie denken und sogar über sie reden und am Ende verhinderte der wohlige Rauschzustand, dass er vor Kummer durchdrehte. Noch immer fühlte er sich aufgedreht, euphorisch und einfach nur...gut. Und das obwohl die Erinnerung an Noura weiterhin schmerzte.
Matt klopfte ihm aufmunternd an die Schulter. "Tut mir echt leid, Alter! Aber du findest bestimmt noch die Richtige für dich. Lass dich von dieser Bitch nicht unterkriegen!"
Eigentlich hatte der Kerl Recht, Salih durfte sich tatsächlich nicht davon fertigmachen lassen. Nur übersah Matt eine wichtige Sache: Noura war die Richtige für ihn gewesen. Es gab keine andere wie sie. Wie sollte er denn ohne sie weitermachen? Vor allem, wenn sie noch immer irgendwo da draußen war...
Am Ende fühlte sich Salih aber gut. Zumindest in diesem Augenblick. Sein Körper schien in seinem Rausch diese düsteren Gedanken nicht länger als nötig zulassen zu wollen und schon nach einem kurzen Moment des Schweigens, drang dieses Gefühl von Zufriedenheit zurück. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. "Willkommen auf Omega, nich'?", gluckste er.
Matt nickte zustimmend.
"Was machst du denn eigentlich allein hier draußen, Mann?", wechselte Salih das Thema und zeigte über seine Schulter. "Da drinnen geht doch die Party...!"
"Ey du, ganz ehrlich, ich verzieh mich lieber wieder. Diese Animals sind echt nichts für mich. Wir können meinetwegen wann anders wieder hierherkommen, wenn diese Spinner nicht hier sind."
"Was? Ach komm, wir sind doch gerade erst angekommen! Entspann dich mal...!"
Matt hob eine Augenbraue. "Alter, Salih, ihr seit schon seit über einer Stunde da drin!"
Nun klappte Salih tatsächlich der Mund auf. "W-wie...? Eine...eine Stunde...?" Waren es nicht nur fünf Minuten gewesen...?
Sein Gegenüber nickte bestätigend. "Sogar fast zwei. Und ich hab keine Lust mehr darauf, mir oben an der Bar die Eier platt zu sitzen..."
"Was denn, sind dort keine Mädels für dich dabei?", feixte Salih.
"Nee, heute leider nicht", grinste Matt, ehe sich sein Gesichtsausdruck wieder verdüsterte. "Das liegt an diesen Animals. Die Chicks hier sind heute alle völlig geistesgestört. Die fressen dich auf, noch bevor du ein Wort gesagt hast, sag ich dir. Das ist echt nich' mein Ding."
"Tjaah..." Salih dachte an das, was er selbst da drin gesehen hatte und es fiel ihm nicht schwer, Matts Worten Glauben zu schenken. "Wo ist denn eigentlich Cobra?", wollte er wissen.
Matt schnaubte leise. "Der wollte auch mal unten in den Hauptraum. Schauen, was da so abgeht." Er zog sein Smartpad hervor und runzelte die Stirn. "Er is' eigentlich schon vor zehn Minuten rein...frag mich, was er da macht..." Plötzlich ging sein Blick an Salih vorbei und er gluckste leise. "Ach, wenn man vom Teufel spricht...!"
Als Salih sich umdrehte, kam just in diesem Moment Cobra aus dem Haupteingang nach draußen, bemerkte die beiden Männer aus seiner Crew und lief direkt zu ihnen. Schon auf den ersten Blick war ihm anzusehen, was er von dem Erlebten hielt. "Was is' das für eine kranke Scheiße?", beschwerte er sich, kaum dass er in Hörweite war. Er wirkte ein wenig blass und auf seinem Gesicht stand ein Ausdruck purer Abscheu. Mit einem Anflug von Fassungslosigkeit zeigte er auf den Club hinter sich. "Alter...da drin so ein Typ, der hat so lange seinen Kopf gegen die Wand geschlagen, bis er sich selbst ausgeknockt hat! Und dann...da war so 'ne Alte, die hat sich einfach eingeschissen! Einfach so, beim Tanzen...die Scheiße is' ihr an den Beinen runtergelaufen, aber die hat einfach weitergemacht..."
Instinktiv schaute Salih an sich herab, stellte aber erleichtert fest, dass er nirgendwo Blut oder andere Flüssigkeiten sehen konnte. Und auch seine Hose fühlte sich recht normal an.
Cobra besah sich seine Fußsohle genauer und schüttelte aufgebracht den Kopf. "Schaut euch das an!" Er deutete auf die Unterseite seines Schuhs und sie konnten sehr deutlich die rote Farbe erkennen, die sich dort gesammelt hatte. Nun fiel auch auf, dass er auf seinem Weg nach draußen ganz dezente, rote Fußabdrücke hinterlassen hatte. "Das is' fucking Blut! Ich hab locker zwei oder drei Blutlachen gesehen. Da sind bestimmt Leute abgekratzt un' es merkt keiner, weil die alle völlig durch sind..."
"Ich hab euch ja gesagt, diese Animals sind richtig abgefuckt", meinte Matt und schien sich in seinem Urteil nur bestätigt zu sehen. "Deswegen will ich mich auch verziehen. Kommst du mit?"
Cobra nickte sofort. "Keinen Bock auf diese Scheiße! Wo gehen wir hin? Boom-Box?"
"Meinetwegen. Hab eh keine Lust mehr, groß irgendwo unterwegs zu sein..." Er wandte sich zu dem Marokkaner um. "Und wie sieht 's bei dir aus? Bist du dabei oder bleibst du noch ein bisschen hier? Scheinst dich ja ganz gut amüsiert zu haben..."
Tatsächlich stimmte das irgendwie. Noch immer fühlte sich Salih großartig, dass er sich durch diesen reißenden Sturm gekämpft hatte und lebendig daraus hervorgekommen war. Fast war es, als hätte er eine Art Prüfung bestanden. Aber gleichzeitig war er sich nicht sicher, ob er noch einmal dort eintauchen wollte. "Nee, lass ma'...ich glaub, ich habe auch genug für heute...", stieß er hervor, auch wenn er sich nicht einmal sicher mit seiner Entscheidung war. Eigentlich war es auch keine eigene Entscheidung, er hing sich vielmehr an Matt und Cobra, damit er sich nicht selbst festlegen musste. Und wenn die beiden gingen, dann würde er einfach mitgehen.
"Cool, dann lass' abhauen!", meinte Matt, warf seine Zigarette zu Boden und trat sie aus.
"Warte!", bemerkte Salih auf einmal. "Was is' denn mit Saskia?"
"Was soll mit ihr sein? Sie wollte doch unbedingt hierher und sie fühlt sich ja offenbar wohl mit diesen Animals."
"Jaah, schon...aber sollten wir ihr nicht wenigstens sagen, wo wir sind? Vielleicht will sie ja mit..." Noch während er sprach, wunderte sich Salih, ob die Frau das überhaupt mitbekommen würde, wenn er, Matt und Cobra gingen. Oder ob es sie kümmern würde. Sie war ja offenbar anderweitig beschäftigt. Trotzdem erschien es ihm recht uncool, sich einfach so davonzumachen, ohne zumindest zu fragen, ob sie nicht mitkommen wollte.
Matt stieß ein leises Seufzen aus. "Meinetwegen. Dann geh nochmal rein und frag sie. Übrigens..." Er klopfte auf Saskias Jacke, die er noch immer über seiner Schulter hielt. "Falls sie wissen will, wo ihr Zeug is', sag ihr, ich nehm das mit."
"Okay! Bin gleich wieder da..." Salih wandte sich ab und lief zurück in den Club. Als er wieder an der Tür zum Hauptraum stand, musste er sich einmal kurz sammeln, doch zumindest wusste er dieses Mal, was ihn erwartete und der dröhnende Lärm und das völlig überbordernde Chaos erwischten ihn nicht ganz so kalt, wie noch beim ersten Mal. Dennoch wurde er sofort von der Masse mitgerissen, kaum, dass er einen Fuß in den Raum gesetzt hatte.
Schon blitzten die leuchtenden Bestien um ihn herum wieder auf und begaben sich in Lauerstellung. Sie warteten nur darauf, sich auf ihn zu stürzen. Salih versuchte jedoch, ihnen keine Beachtung zu schenken und kämpfte sich mühsam weiter voran. Eigentlich wusste er genau, in welcher Ecke er Saskia zuletzt gesehen hatte, nur verlor er schon nach wenigen Sekunden wieder völlig die Orientierung und irrte zunehmend verzweifelt durch die tosende Menschenmenge. Und damit nicht genug; sein benebelter Verstand wurde von der völligen Reizüberflutung wie magisch angezogen. Fast schon wollte er einfach stehenbleiben und sich in den Malstrom stürzen. Verbissen kämpfte Salih gegen das Verlangen an und stolperte mehr als dass er lief durch die Meute. Bis er sich ohne Vorwarnung plötzlich an einer Sofaecke mit mehreren Tischen wiederfand.
Er brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass er hier vorhin noch selbst gesessen hatte und sofort schaute er sich nach der kleinen Frau um. Lange musste er nicht nach ihr suchen. Er fand sie dort, wo er sie eben noch zuletzt gesehen hatte.
Noch immer lag Saskia auf dem Tisch, dieses Mal auf dem Rücken. Ihre Beine, an denen noch ihre heruntergezogene kurze Hose und ihr Slip hingen, baumelten über die Kante und sie hatte ihre Arme weit von sich gestreckt. Der Kerl, der sie eben noch gefickt hatte, war nirgendwo mehr zu sehen und die Frau lag reglos da, den starren Blick an die Decke gerichtet. Selbst in der Dunkelheit war die helle Flüssigkeit zu erkennen, die ihr aus der Scheide lief, und auf ihrem Gesicht stand ein Anflug von einem seligen Grinsen. Doch dann bemerkte Salih etwas, das ihm Sorge bereitete.
Gelbliche Schlieren liefen ihr aus dem Mund und als er genauer hinschaute, erkannte Salih, wie ihre linke Schulter und der komplette Arm mit Erbrochenem bedeckt war. Es sammelte sich neben ihrem Körper in einer beachtlichen Pfütze. "Saskia!", rief er und trat neben sie. Er bekam keine Reaktion. Nun brüllte er. "SASKIA! HÖRST DU MICH?" Sie rührte sich nicht.
Inmitten von all dem Chaos, dem ohrenbetäubenden Lärm und dem verwirrenden Flackern der bunten Farben und Lichter, stieg Sorge in ihm hervor. Er packte an ihre Schulter und rüttelte sie heftig, aber die Frau war wie eine Puppe, ihr Kopf und ihre Glieder wackelten schlaff hin und her, ohne dass sie irgendein Anzeichen von Leben zeigte. "HEY!", schrie er sie an, rüttelte noch einmal an ihr und beugte sich direkt über ihr Gesicht. Ihre grünen Augen mit unnatürlich geweiteten Pupillen starrten durch ihn durch.
Doch dann, ganz plötzlich, fixierten die Augen ihn und eine Regung huschte über ihr Gesicht. Im ersten Moment war sich Salih nicht sicher, ob er es sich eingebildet hatte, weil es nur einen kurzen Moment anhielt. Dann wiederholte es sich einen Moment später allerdings und er bemerkte, wie ihre Finger leicht zuckten. Und dann wurde das Grinsen auf ihrem Gesicht breiter. Entrückter. Unheimlicher.
Salih wich einen Schritt zurück und betrachtete seine Mitstreiterin mit gerunzelter Stirn. Erst jetzt aus der Nähe bemerkte er ihre Tätowierungen. Die abstrakten, neonblauen Motive, welche in der Dunkelheit leuchteten, kannte er bereits. Doch nun fielen ihm zum ersten Mal die grell-violetten und stark stilisierten Worte auf, welche auf den anderen Tattoos darüberlagen. Jeweils eines davon befand sich auf ihrem linken Oberarm, ihrem rechten Oberarm und ihrer Brust. Zusammen ergaben sie 'Dirty Little Animal'.
Ein wenig hilflos stand Salih da und wunderte sich für einen Moment, warum er überhaupt hier war. Die Frau machte nicht unbedingt den Eindruck, als wolle sie von hier fort. Aber fragen konnte er sie ja in diesem Zustand auch nicht und er hatte keine Ahnung, wie es ihr wirklich ging. Angesichts des Anblicks ihres Mageninhalts sagte sein Instinkt ihm jedoch, dass Saskia Hilfe brauchte. Also griff er unter ihre Knie und warf sich ihren sauberen Arm über die Schulter, um sie von dem Tisch hochzuheben. Weder wehrte sie sich, noch zeigte sie irgendeine Reaktion auf sein Handeln. Zurück blieb von ihr nur die Lache von Erbrochenem. Von ihrem Top fehlte jede Spur, also würde er sie nackt heraustragen müssen, aber das war im Augenblick Salihs geringste Sorge.
Es schien unmöglich, mit Saskias Gewicht in den Armen einen Weg nach draußen zu finden. Allein war es schon schwer genug, sich durch die Menge zu bewegen, mit ihr in den Armen schien es aber ein Ding der Unmöglichkeit. Doch Salih biss die Zähne zusammen und lief los. Dieses Mal versuchte er, sich an der Wand entlang zu bewegen. Es gab ihm zumindest irgendeine Form der Orientierung. Mehr als einmal stolperte er über einen reglosen Körper, der am Boden lag oder kauerte und er kam nur quälend langsam voran. Wenigstens wog Saskia kaum etwas, sodass er tatsächlich irgendwann vor der Eingangstür landete und sie mit seiner Schulter aufstieß, um sich endlich nach draußen zu retten.
Schwer atmend warf er einen Blick auf die kleine Frau in seinen Armen, die aber noch völlig unverändert wirkte. Also lief er weiter, raus aus dem Overdrive und zurück zu Matt und Cobra, welche noch immer an der Straße auf ihn warteten.
Und offenbar schon recht ungeduldig waren. "Alter, wo warst du so lange?", wunderte sich Matt, der bereits eine weitere Zigarette im Mund hatte. "Du warst 'ne Viertelstunde weg!"
"Oh...", entfuhr es Salih überrascht und er warf einen Blick über seine Schulter zurück zum Club. Fast schien es, als ob die Zeit dort drin anders verlaufen würde, als hier draußen... "Sorry...ich musste eine Weile suchen."
"Was ist denn mit der los?", wunderte sich Cobra und nickte zu Saskia, die nach wie vor reglos in Salihs Armen hing.
Der Marokkaner verzog das Gesicht. "Keine Ahnung, Alter. Ich glaub, irgendwas stimmt nich' mit ihr. Die lag in 'ner Ecke und hat sich nicht mehr bewegt..."
Die Männer brauchten nicht lange, um die verschiedenen Flüssigkeiten an und in ihrem Körper zu bemerken und konnten sich sofort zusammenreimen, was die Frau getrieben hatte, ohne, dass Salih es ihnen im Detail schildern musste. Eine Sache erregte dann aber doch ihre Aufmerksamkeit.
"Scheiße, ist das etwa Blut?", stieß Cobra angewidert hervor und starrte auf Saskias Mund.
Tatsächlich; erst jetzt bemerkte Salih, dass die dunklen Spuren um ihre Lippen einen markanten Rotton hatten.
"Ach, das ist halb so wild...", wollte Matt abwinken und grinste dreckig. "Saskia lässt sich beim Sex manchmal ein wenig gehen. Sie ist ein Beißer. Ich hatte auch so ein paar Abdrücke an meiner Schulter..."
Cobra jedoch war nach der Erklärung nicht weniger verstört. "Alter, guck doch, wie viel das ist! Das ist nicht nur ein bisschen Rumbeißen beim Ficken, das sieht aus, als ob die jemanden die Kehle rausgerissen hätte...!"
Vielleicht übertrieb er ein wenig mit seiner Schilderung, doch Salih musste ihm insgeheim zustimmen. Nicht nur Saskias Lippen waren blutverschmiert, auch an ihren Zähnen waren noch Reste der roten Flüssigkeit zu sehen und es musste so viel gewesen sein, dass sogar einige Schlieren ihr Kinn hinabgelaufen waren. Fast erinnerte die Frau an einen wilden Hund, der seine Schnauze in den blutigen Fetzen seiner Beute vergraben hatte. Dass auf ihrem Gesicht noch immer dieses gruselige Grinsen stand, während ihr Blick dabei weiterhin völlig leer blieb, machte die Sache nicht besser. Und angesichts der ekstatischen Raserei, welche die Leute im Club gepackt hatte, malten sie sich schon das Schlimmste aus.
Stillschweigend kamen die drei Männer überein, das Thema nicht weiter anzureißen. Vielleicht war es auch besser, wenn sie nicht so genau wussten, was in den Wänden des Overdrive passiert war.
"Und was machen wir jetzt mit ihr?", wollte Salih wissen. "Vielleicht hat sie 'ne Überdosis oder so..."
Matt nickte zustimmend. "Am besten, wir bringen sie in die Boom-Box."
"Nicht zu 'nem Arzt?", wunderte sich Cobra.
"Ne, Alter! Das kostet nur ein Schweinegeld un' am Ende macht der auch nich' mehr, als ihr ein wenig Wasser ins Gesicht zu schütten. Wir schauen erstmal, was wir machen können un' ob sie wirklich Hilfe braucht..."
Cobra zuckte mit den Schultern. "Wenn du meinst..."
Da sie nicht mit der Frau in den Armen den ganzen Weg zurücklaufen wollten, riefen sie kurzerhand ein Taxi, welches wenig später vorm Overdrive eintraf. Allzu viel Würde gab es bei Saskia eigentlich nicht mehr zu retten, dennoch zogen sie ihr wenigstens die Hose wieder nach oben und bedeckten ihren Oberkörper mit ihrer Jacke, was den günstigen Nebeneffekt hatte, dass der Taxifahrer das Erbrochene nicht bemerkte, welches von ihrem Arm in den Fußraum des Fahrzeugs tropfte. Der Fahrer, ein mürrischer Turianer, war ohnehin schon alles andere als begeistert, dass er hier runter in den Void Distrikt fliegen musste und rechnete ihnen dafür sogar eine extra Gebühr ab.
Dafür erreichten sie innerhalb weniger Minuten ihren Zielort in Sarrià. Nachdem sie ausgestiegen waren und den Fahrer bezahlt hatten, betraten sie die geschlossene Werkstatt von Idris. Der Turianer schlief offenbar gerade oder war unterwegs, sodass sie ganz ohne peinliche Nachfragen die Treppe nach oben in die Boom-Box gehen konnten.
Der Unterschlupf der Enigma-Crew war nicht verlassen. In der Sofaecke sahen sie sofort die Gestalten von Fix und Wish, welche nebeninander auf einem der Sitzgelegenheiten hockten und sich mit einem kleinen, bunten Zauberwürfel beschäftigten, welchen der Dealer in der Hand hielt. Während er ein wenig überfordert mit den Farben und den vielen Drehungen zu sein schien, die er machen musste, versuchte Wish ihm die ganze Zeit zu erklären, was er tun musste.
"Nein, warte! Du musste die Seite zweimal zurückdrehen...!"
Fix gluckste vergnügt und runzelte die Stirn. "Häh? Aber dann mach' doch alles wieder kaputt, Alter..."
"Das macht nichts, dafür hast du dann die Farbe hier an der richtigen Stelle", kicherte Wish und griff ihm dezent an die Finger, damit er die richtigen Drehungen am Würfel machte. "Genau, und jetzt das noch einmal auf die blaue Seite drehen. Siehst du? Jetzt hast du schon die zweite Seite fertig..."
Verständnislos starrte der Dealer auf seinen Erfolg. "Was? Fuck...ich raff' die Wichse überhaupt nich'..."
"Ach, was, das ist echt nicht so schwer, wenn man erstmal durchgeblickt hat, wie das geht..." Wish blickte auf, als sie die Neuankömmlinge bemerkte und winkte ihnen lächelnd zu. "Oh, hey Leute!"
"Hey!", erwiderte Matt und trat auf die beiden zu. "Yo, Fix, gut, dass du hier bist. Du bist doch ein Experte, werf doch mal 'nen Blick auf Kiki. Nicht, dass die uns noch abkratzt..."
Wish hatte unterdessen bemerkt, wie Salih eine nach wie vor regungslos Saskia hineintrug und auf einem der Sofas ablegte. Sofort erschien ein Ausdruck von Sorge auf ihrem Gesicht und sie sprang auf, um zu der kleinen Frau rüberzueilen. "Oh nein! Was ist denn passiert?"
Auch Fix stand auf, wirkte aber mehr genervt als besorgt. Er schaute zu den drei Männern, welche Saskia hereingebracht hatten und schien ebenfalls die gleiche Frage zu haben.
"Kiki und Salih waren im Overdrive. Da waren heute die Animals und Saskia wollte unbedingt rein", erklärte Matt, während er seine Jacke achtlos auf eines der Sofas warf, ehe er zum Kühlschrank ging und sich ein Bier herausfischte. "Tja, un' jetzt ist sie ungefähr so nützlich wie ein Stück Gemüse. Die hat sich auch schon vollgekotzt un' wir haben keine Ahnung, was mit ihr is'."
"Ich seh keinen groß'n Un'erschied zu vorher", schnaubte Fix verächtlich und verschränkte die Arme. "Und was soll ich da machen?"
"Nachschauen, was ihr fehlt. Die hat sich irgendwelche Drogen reingeballert. Wär kacke, wenn sie noch an 'ner Überdosis draufgeht, oder so..."
Während die Männer redeten, hockte sich Wish neben die kleine Frau und legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Hey, Saskia! Kiki! Hörst du mich...?"
"Brauchst du gar nich' erst versuchen, die is' weg!", murrte Cobra verdrossen und lehnte sich gegen die Rückseite des Sofas.
"Aber wieso denn? Was hat sie denn genommen?"
Sofort merkte Salih, wie zuerst Matts und Cobras Augen zu ihm wanderten und dann, einen Moment später auch die Blicke von Wish und Fix. "Äh...keine Ahnung!", antwortete er ehrlich und zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Das war irgendsoein Pulver, das hat die in unsere Drinks gekippt..." Recht schwerfällig ließ er sich auf eines der freien Sofas fallen und versuchte sich zurückzuerinnern. Aber allzu viel war da nicht. Er wusste noch, wie er diese furchtbaren Metallsplitter in seinem Rachen gespürt hatte. Und wie Saskia ihn noch gewarnt hatte, dass das Zeug schnell wirkte. Nur einen Namen hatte sie nicht gesagt. Oder doch? Eigentlich war er sich sicher, noch alles genauestens zu wissen und trotzdem wollten sich diese Erinnerungen einfach nicht mehr so recht abrufen lassen.
"Solang ich nich' weiß, was die Hure genomm'n hat, kann ich au' nix mach'n", knurrte Fix lustlos und machte keine Anstalten, sich mehr für die kleine Frau einzusetzen.
Wish hingegen war bereits losgeeilt und holte einige Tücher, mit denen sie anfing, Saskia zuerst das Erbrochene vom Arm und dann das Blut vom Mund zu wischen. Auch wenn es ihr sichtlich unangenehm war, war die Asiatin umsichtig genug, keine genaueren Fragen zu dem Ursprung der roten Flüssigkeit zu stellen. Darüber hinaus schaute sie sogar in Saskias Rachen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht an ihrem Mageninhalt ersticken konnte und fühlte mehrfach nach ihrem Puls. Unterdessen schauten die vier Männer schweigend bei ihrem Tun zu und rührten keinen Finger.
"Hmm...die hatte dieses Zeug aus ihrer Jacke geholt!", erinnerte sich Matt auf einmal mit Blick auf Saskias Oberkörper, wo das Kleidungsstück noch immer ihre Blöße bedeckte.
Sofort kramte Wish in Saskias Jackentaschen und zog tatsächlich eine kleine Plastiktüte hervor, die sie einen Moment skeptisch beäugte, ehe sie sie an Fix weiterreichte. "Hier! Kannst du was damit anfangen?"
"Pfff...!", machte der Dealer missgelaunt, nahm die Tüte dann aber entgegen und schaute sich den Inhalt genauer an.
Auch Salih warf einen verstohlenen Blick in die Richtung und erkannte sofort drei von den kleinen Kapseln wieder. Es gab keinen Zweifel, dass es sich dabei um das Zeug handelte, was Saskia ihm gegeben hatte. "Was ist das?", wollte er neugierig wissen.
"Blutkristalle!", meinte Fix sofort.
"Häh? Was?"
"Bist 'e taub, Alter? Blutkristalle! Das sin' kleine Kristalle, die du dir in 'n Drink mischt un' dann runterkippst. Die bohr'n sich dann durch deine Schleimhäute ins Blut un' setzen da dann den Stoff frei."
"Klingt irgendwie entspannter, als sich das mit 'ner Nadel spritzen zu müssen", merkte Matt schmunzelnd an.
Aber Fix schüttelte abfällig den Kopf. "Ja, un' 's zerwichst dir die Schleimhäute! Steck dir lieber 'ne Spritze in den Arm, is' besser!"
Salih lachte leise in sich hinein. Das erklärte natürlich, warum dieses Pulver so unheimlich geschmerzt hatte. Und irgendwie wunderte es ihn nicht, dass Saskia ihn nicht über die Wirkung vorgewarnt hatte. Seine überraschte Reaktion hatte ihr sichtlich Freude bereitet.
"Moment...aber wenn diese Blutkristalle nur das Zeug ins Blut geben, was genau ist denn dann da drin?", wollte Wish wissen.
"Hmmm..." Fix zog eine der Kapseln aus der Tüte hervor und besah sie sich genauer. Seine Augen verengten sich leicht, so als ob er etwas auf der Kapsel gefunden hatte, was ihm beim Identifizieren der Substanz half. "Alter...", entfuhr es ihm leise, dann erschien ein Ausdruck von Zorn auf seinem Gesicht. "Willst du mich verarschen!" Fast herausfordernd fuhr Fix zu seinen Mitstreitern herum und hielt ihnen die kleine Kapsel entgegen. "Woher hat diese Drecksnutte das?", rief er in den Raum hinein. Natürlich bekam er keine Antwort, weil sie alle keine Ahnung hatten, wovon er sprach. "Wie zum Fick kommt die an sowas?"
"Was denn?", brummte Cobra sichtlich genervt.
"Das is' fucking X-Pike!"
"Un' was soll das sein?"
Fix wirkte höchst ungehalten, dass seine Mitstreiter seine knappen Erklärungen zu der Droge nicht direkt verstanden, und begann zu erklären: "Das Zeug heißt X-Likalalphalin! Is' 'ne Hardcore-Droge, nich' so 'n Lappen-Shit wie Hallex oder Gras. Das is' noch super neu un' sau schwer zu kriegen. Wie kann 's sein, dass diese dumme Nutte das in die Finger kriegt? Huh? Un' dann au' noch so viel davon?"
"Woher sollen wir das denn wissen?", lachte Matt spöttisch, während er sich aus der Küchenecke aus einem Schrank eine Tüte Kartoffelchips holte. "Sie hat 's halt irgendwo herbekommen, is' doch egal. Oder bist du einfach nur pissig, weil sie es nicht schweineteuer von dir gekauft hat?"
"Fuck off!" Wütend steckte Fix die Kapsel zurück in die Tüte und knallte sie mit Schwung auf Saskias reglosen Körper. Abstreiten tat er den Vorwurf aber nicht. Dann wandte er sich anklagend an Salih. "Un' du! Bist 'e eigentlich völlig kernbehindert? Warum nimmst 'e irgend'n Zeug, was dir diese Nutte gibt, wenn du nich' weißt, was das is'?"
"Jetz' komm mal wieder runter", schnaubte Salih glucksend und erwiderte den wütenden Blick des Drogendealers. "Mir geht es doch gut!" Mehr als gut sogar. Das Hoch hatte noch immer nicht nachgelassen und allmählich wunderte er sich, ob es wirklich an diesem X-Likalalphalin lag. Hatte er etwa noch mehr Drogen genommen, an die er sich jetzt nicht mehr erinnern konnte? Vielleicht lag ja bei diesen Animals im Club sogar irgendwas in der Luft, was einen aufputschte. Wundern würde es ihn nach dem, was er gesehen hatte, nicht mehr...
In diesem Moment kehrte zum ersten Mal so etwas wie Leben in Saskia. Ihr entfuhr ein langgezogenes "Huuuuuhh...!" und ihr Kopf kippte zur Seite. Dann fixierten ihre Augen Fix und sie gluckste leise. "Ffffkk...chhhhhhh...", nuschelte sie, weiterhin entrückt grinsend.
Wish wirkte nicht weniger besorgt als vorher. "Aber...wenn Salih das Zeug auch genommen hat, warum reagiert denn Saskia so stark darauf und Salih ist noch ganz normal?" Sie warf einen Blick in Richtung des Marokkaners, wie um sich zu vergewissern, dass er im Vergleich zu der kleinen Frau noch recht fit war.
"Was weiß ich!", fauchte Fix unwirsch. "Guck dir die Nutte doch ma' an! Die is' so mickrig, für die wirkt das Zeug wahrscheinlich wie die doppelte o'er dreifache Menge, Alter! Außerdem...die hat sich wahrscheinlich noch zehn an'ere Sach'n reingeballert, so blöd, wie die is'..."
"Äh...was denn zum Beispiel?"
"Woher soll ich das wiss'n? Hallex, Koks, Heroin, roter Sand, kann alles Mögliche gewes'n sein. Vielleicht hat sie au' einfach radioaktives Sperma getrunken! Dieser Kacknutte würd' ich alles zutrau'n..."
"Okay...und was machen wir jetzt?"
"Wir?", echote Fix verächtlich. "Gar nix! Die Hure wird schon wieder zu sich komm'n. Un' wenn nich'...tja, Pech gehabt!"
"Jetzt mach ma' halblang!", fuhr Matt mit spürbarem Unmut dazwischen. "Kiki gehört immer noch zu uns, also sieh gefälligst zu, dass es ihr besser geht!"
Es schien ihm körperliche Schmerzen zu bereiten, doch nachdem er einen Moment herumgedruckst hatte, schnaubte der Dealer und zuckte mit den Schultern. "Wir könnt'n ihr zur Not Naloxon geben. Is' hinten im Nebenraum. Aber ich würd' erstma' abwarten. Ich weiß nich', was dieser Hauf'n Scheiße noch genommen hat, also is' 's besser, zu warten, wie 's sich entwickelt. Wenn s'e am Abkratz'n is', könn' wir ihr immer noch was einflöß'n."
"Gut zu hören", nickte Matt zufrieden und warf sich mit seiner Chipstüte auf das Sofa neben Saskia, ehe er knuspernd und krümelnd seinen Snack verzehrte.
Wish unterdessen blieb ebenfalls bei der kleinen Frau und säuberte sie weiter mit den Tüchern. "Alles gut, Kiki! Wir sind bei dir...", redete sie ihr aufmunternd zu, schien aber selbst nicht so recht zu wissen, was sie tat. Oder ob ihre Worte überhaupt ankamen.
Wieder nuschelte Saskia irgendwas Unverständliches und grinste breit, während ihr leerer Blick an die Decke ging. "Shhuuuuu...shuuuuhuuu...", machte sie leise und gluckste dann erneut.
Angesichts von Fixs Ärger und Wishs Sorge, während Saskia so völlig ohne jede Scham und ohne jede Rücksicht ihren Rausch genoss, konnte Salih nicht anders, als aufzulachen. Es war ein so herrlich schräger Moment. Er hatte keine Ahnung, was er sich von diesem Ausflug erhofft hatte, aber irgendwie war er in dieser Sekunde einfach nur rundum zufrieden. Und das, obwohl er noch vor ein paar Stunden nach seiner Begegnung mit Noura geglaubt hatte, er würde einen Nervenzusammenbruch haben. Die Rauschmittel machten wirklich alles erträglicher. Kein Wunder, dass Gloria sich dauerhaft solche Sachen einwarf.
Auch seine Mitstreiter schienen die Sache nicht sonderlich eng zu sehen. "Nächstes Mal, wenn wir irgendwo hingehen, checken wir vorher, ob diese fucking Animals da sind!", beschwor Matt seine Kollegen und knusperte auf seinen Chips herum.
"Wenn es nach Saskias ginge, würden wir dann wahrscheinlich erst recht hingehen", schnaubte Cobra mürrisch und warf der kleinen Frau einen abschätzigen Blick zu.
Grinsend zuckte Matt mit den Schultern. "Tjaah...dann dürfen wir sie in Zukunft halt nicht entscheiden lassen, wo wir feiern gehen. Stimmt 's, Kiki?" Natürlich bekam er keine richtige Antwort. "Hey, willst du eigentlich auch was haben?", fragte er sie und hielt der zugedröhnten Frau die Chipstüte hin, woraufhin sie ebenfalls nicht reagierte. Trotzdem tat er so, als hätte sie die Frage bejaht. "Hier, für dich...!" Er nahm einen besonders großen Kartoffelchip und steckte ihn ihr in den Mund.
Salih lachte in sich hinein und schloss die Augen. Wie sehr hatte er es vermisst, mit seinen Freunden abzuhängen. Vielleicht war es ja doch besser, Single zu sein, überlegte er. Dann hätte er mehr Zeit für Leute, die ihn nicht betrogen und hintergangen. Vielleicht war jetzt aber auch nicht der richtige Augenblick, um das zu entscheiden. Denn jetzt fühlte er sich einfach nur...gut.