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Das sichere Haus
Lares hatte so ein scharfes Tempo vorgelegt, dass Piero ihn auf dem gesamten Weg quer durch die Stadt nur an der nächsten Ecke verschwinden gesehen und nicht ein Zoll weit aufgeholt hatte. Er kam nicht umhin, schon wieder eine neue Lektion dahinter zu vermuten, auch wenn der alte Lump aus ihren gemeinsamen Arbeiten in der Vergangenheit eigentlich wissen musste, dass Pieros Beobachtungsgabe keiner Schulung bedurfte. Erst im Westviertel schien Lares das Tempo ein wenig herauszunehmen, sodass Piero ihn vor dem vermaledeiten Haus endlich einholte, das ihm diesen ganzen Ärger eingebracht hatte.
"Also, was soll der ganze Mummenschanz? Sprich wahr und sprich schnell, stronzo!"
Lares erwartete ihn lächelnd auf der gegenüberliegenden Seite des Anwesens.
"Das, mein Lieber, ist das Sichere Haus. Ein Gebäude, das gewisse Leute in der Stadt als Übungsobjekt nutzen, um ihre Fähigkeiten zu beweisen. Außerdem dient es als zeitweilige Unterkunft für diejenigen unter ihnen, die innerhalb der Stadtmauern untertauchen wollen."
Pieros rechte Augenbraue hob sich so weit, dass sie bald aus dem Gesicht sprang.
"Ein Übungsobjekt für gewisse Leute, also ..."
"... denen beizutreten ich dir als meinem alten Freund eröffnen werde, sobald du es geschafft hast, seine Herausforderungen zu meistern."
Schnaubend sah Piero zu dem Gebäude herüber. Was Lares sagte, ergab Sinn. Die kuriosen Aufbauten, die unterschiedlichen Sicherheitsstandards und das absurde Schloss am Haupteingang waren ihm beim letzten Mal schon äußerst verdächtig vorgekommen.
"Ein Übungsobjekt für Diebe also. Bene, das kauf ich. Aber was sollte die Nummer mit der Stadtwache?"
Ganz beiläufig setzte Lares sich wieder in Bewegung und führte ihn erneut um das Haus herum in den Hinterhof, während er antwortete.
"Nun, Winstan ist ein ... Freund. Ich wusste, wann er Patrouille hat - und er sollte es bei einer Ermahnung belassen, sobald er die zu erwartende Ausrede von dir gehört hatte. Als Belehrung in Sachen Aufmerksamkeit und Vorsorge. Deine kleine Freundin war aber nicht Teil der Rechnung."
"Oh, Johanna ist bestimmt keine Freundin von mir."
"Wer könnte dir schon böse sein, mein Bester?" Lares, erneut vor dem nun wieder verschlossenen Kellerfenster angekommen, deutete mit einer Hand hinab und hielt Piero mit der anderen eine neue Öffnungsnadel entgegen. "Wollen wir noch einmal? Diesmal ohne Überraschungen."
Piero brauchte zwei Atemzüge, um Lares' Ausführungen und den ganzen Rattenschwanz an verworrenen Beziehungen, der dahinter hängen mochte, zu verarbeiten. Und er sah die Möglichkeiten, die ihm diese spezielle Mitgliedschaft einbringen konnte. Über die Verpflichtungen mochte zu einem späteren Zeitpunkt noch zu sprechen sein. Schlagartig fand das gewinnbringende Lächeln den Weg zurück in sein Gesicht. "Mit Vergnügen", entgegnete er und nahm die Öffnungsnadel. Er kniete neben dem Fenster nieder, ohne den Blick von Lares zu nehmen, drückte das Fenster mit dem Knie weit genug auf, um die Nadel einzuführen, ließ sie bis an die Falle gleiten und hebelte das Fenster binnen eines Herzschlages auf, ohne auch nur einmal hinzusehen.
"Alter vor Schönheit, mein Freund."
Lares hob überrascht die Augenbrauen. "Respekt!"
"Ich lerne verdammt schnell, mein Lieber." Und er hatte heimlich geübt, bis ihm das Gefühl für die Öffnung in Fleisch und Blut übergegangen war. Aber das würde er Lares nicht auf die Nase binden.
"Nun gut, dann sehen wir uns bei der nächsten Aufgabe unten im Keller."
Mit einem eleganten Schwung verschwand der in die Jahre gekommene Gauner durch das Kellerfenster.
"Nicht übel, Vecchio. Hätt ich dir gar nicht mehr zugetraut."
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Lehrling
Das sichere Haus
Während sein Schüler sich ungelenk durch das Kellerfenster ins Tiefparterre des sicheren Hauses mühte und dabei den ein oder anderen Gegenstand mit sich riss, setzte sich Lares auf einem der Vorratsfässer nieder. An seiner Bewegungsfähigkeit würden sie definitiv arbeiten müssen, wenn Piero nicht zeitnah erneut im Gefängnis der hiesigen Stadtwache landen wollte. Doch für den Moment standen andere Lektionen an.
„Willkommen im sicheren Haus“, sagte er schließlich und breitete die Arme aus. „Das hier ist der übliche Eingang für alle, die sich der Kunst des Schlösseröffnens zum ersten Mal annähern. Mit steigenden Fähigkeiten gibt es auch bequemere Zugänge. Durch die Vordertür hat es aber noch nie jemand reingeschafft. Das Schloss dort ist beinahe unmöglich zu knacken, und man hat keinerlei Deckung, während man daran arbeitet. Angeblich wurde beim Bau des Hauses eine besondere Belohnung für die Person in der Vorkammer hinterlegt, der es zuerst gelingt – in Jahrzehnten ist das Schloss unangerührt geblieben.“
Lares erhob sich und führte Piero durch den Raum, der wie eine gewöhnliche Speise- und Vorratskammer aussah. Zu beiden Seiten standen prallgefüllte Regale und übereinander gestapelte Kisten. Doch sein Weg führte zu einer einfachen und unscheinbaren Holztür am anderen Ende des Raumes.
„Nachdem du dich in der Vergangenheit immerzu erfolgreich um den Part des Schlösserknackens gedrückt hast, wird dieses Schätzchen hier dein erstes Mal mit dir bestreiten. Keine Sorge, vor dir hat schon so manch anderer seine ersten Schritte getan. Und ich werde dich natürlich hindurch begleiten.“
Er zog ein in Stoff eingelegtes Bündel hervor und entrollte es auf einer nahen Kiste. Darin befand sich eine ganze Reihe schmaler Werkzeuge, die in Spitzen, Haken, Wellenformen und kleinen Kugelformen endeten. „Ein Geschenk von mir – du wirst es in den nächsten Tagen noch brauchen. Für heute aber benutzen wir aus didaktischen Gründen den hier. Hab ich selbst gemacht, während ich darauf gewartet habe, dass meine Freunde dich aus dem Gefängnis holen.“
Lares streckte Piero ein krudes Objekt entgegen, dem man seinen Ursprung als Zimmermannsnagel eindeutig noch ansehen konnte. Wo jedoch einst ein gerades Stück Metall in einer robusten Spitze endete, beschrieb dieser Homunculus von einem Diebeswerkzeug zwei rechte Winkel und endete in einem flach geschlagenen Fächer.
„Das, mein Lieber, ist die einfachste Art von Sperrhaken – oder auch Dietrich, wenn du willst, auch wenn für dich ‚Peterchen‘ zutreffender ist. Für einfache Schlösser wie das da reicht so etwas aus – und wenn du wirklich geübt bist, gelingt es dir vielleicht auch mit einem geraden, spitzen Gegenstand, den du nicht erst in Form bringen musst. Komm, wir arbeiten uns zusammen durch. Aber die Arbeit wird ich dir nicht abnehmen.“
Johanna
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Das sichere Haus
Peterchen! Piero nahm sich fest vor, jedem die Zunge herauszureißen, der es wagte, ihn auf diese Weise anzusprechen. Doch Lares kam angesichts der vielen nützlichen Geschenke diesmal gerade noch so damit durch.
„Prego, dann zeig mir mal, wie ich das mache“, sagte er, nahm den Dietrich mit der rechten und ließ mit einer unauffälligen Bewegung seiner Linken das Bündel von der Kiste verschwinden, bevor der Lump es sich noch einmal anders überlegte.
„Es gibt verschiedene Arten von Schlössern. Was du hier siehst, ist eines der einfacheren Sorte. Das hier nennt man ein Buntbart-Schloss. Der Schlüssel“, sagte er und ließ eben jenen aus seinem Ärmel erscheinen, „trägt hier vorne den Bart. Der ist eigentlich nichts weiter als ein Hebel, mit dem du den Mechanismus im Inneren drehen und damit den Sperrriegel in die Tür zurückziehen kannst. Naja – und warum sollte man das nur mit einem Schlüssel können, wenn man doch auch so viele andere Dinge als Hebel benutzen kann? Dir muss es nur gelingen, etwas einzuführen, das du dann drehen kannst – und hier kommt dein neues liebstes Werkzeug ins Spiel. Denn durch die beiden Winkel kannst du genau das mit dem Dietrich sehr bequem machen.“
Lares tippte mit dem Zeigefinger auf das Schlüsselloch. „Dir ist bestimmt schon einmal aufgefallen, dass diese Dinger immer eine andere Form haben. Der Bart des passenden Schlüssels ist das Gegenstück dazu und passt genau durch die Öffnung dieser Platte. Im einfachsten Falle, wie hier, ist die Form des Lochs aber auch schon das einzige Hindernis. In etwas schwierigeren Fällen hast du auch im Inneren noch Eisenstäbe oder andere unbewegliche Hindernisse, die weniger offensichtliche Hürden bilden und etwas mehr Feingefühl erfordern, um sie beim Aufhebeln zu umgehen. Das nennen wir dann ein Besatzungsschloss. Aber wenn du das hier beherrschst, kannst du acht von zehn Schlössern in jeder Stadt dieser Welt öffnen. Zu den interessanten zwei von zehn kommen wir dann später. Also dann, führ es ein, das Peterchen!“
Murrend fügte sich Piero und fädelte das abgeflachte Ende des Sperrhakens an den Ecken der Metallplatte vorbei, bis er den vorderen, abgewinkelten Teil im Schlüsselloch hatte.
„Nicht so schüchtern, mein Lieber. Steck ihn ruhig noch etwas weiter rein! Bei einem Schlüssel hängst du doch auch nicht nur den Bart ins Loch!“
„Prego …“, entgegnete Piero gedehnt und schob den Dietrich tief in das Schüsselloch, was ihn von allein dazu zwang, den Winkel zu verändern und das Werkzeug gerader zu halten.
„Siehst du, jetzt kannst du den Mechanismus auch besser hebeln. Der Rest ist simpel. Mit der linken Hand hältst du den Haken in Position, mit der Rechten drehst du nun das zu dir stehende, abgewinkelte Ende mit dem Nagelkopf, so wie bei einem Schlüssel. Ist mit dem Nagelkopf vielleicht etwas unangenehm an den Fingern, aber wer unter schwierigen Umständen lernt, weiß gutes Werkzeug besser zu schätzen.“
Piero erwiderte nichts, zu sehr war er darauf konzentriert, sich vor seinem Kollegen keine Blöße zu geben. Wie Lares es ihm gesagt hatte, hielt er den Dietrich mit der einen Hand in Position und drehte ihn mit der anderen – doch das Werkzeug rutschte ihm zwischen den Fingern nach oben weg, gerade als er Druck ausübte.
„Keine Sorge, das passiert jedem beim ersten Mal. Naja, fast jedem. Du bekommst ein Gefühl dafür, in welche Richtung dir der Sperrhaken beim Drehen abhauen will und wie du ihn halten musst, damit das nicht passiert. Versuch’s nochmal!“
„Das ist demütigend“, knurrte Piero, doch er gab nicht auf. Beim zweiten Versuch korrigierte er seinen Griff, um das Werkzeug nicht nach oben wegrutschen zu lassen, drehte es – und mit einem leichten Druck ertönte ein erstaunlich befriedigendes Klicken.
Die Tür schwang mit einem ächzenden Knarren auf. Piero wandte sich zu Lares um und ließ dabei grinsend den Dietrich zwischen seinen Fingern rotieren.
„Gekonnt ist eben gekonnt.“
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Lehrling
Das sichere Haus
„Gar nicht mal so schlecht“, bestätigte Lares. „Sieht aus, als wären deine flinken Finger für mehr als nur Beutelschneiden zu gebrauchen. Und beim nächsten Mal gelingt es dir vielleicht auch, ohne Kratzspuren auf dem Schlüsselloch zu hinterlassen.“
Er zeigte auf eine ganze Reihe von Einkerbungen in dem Messingblech, von denen die meisten bei genauerem Hinsehen stumpf aussahen. Doch ein, zwei Kratzer zeigten einen verräterischen, metallischen Glanz.
„Macht dir nichts draus. Du siehst, dass du nicht der erste bist, der seine Spuren an dem Schätzchen hinterlassen hat. Die Kunst ist es, das Schloss schnell und ohne solche Rückstände zu öffnen, die dich später verraten könnten. Aber das kommt mit Zeit und Erfahrung.“
Lares machte eine einladende Geste in Richtung der geöffneten Tür. „Nach dir, mein Lieber.“
Die beiden fanden sich am Fuße einer schmalen Treppe aus poliertem Stein wieder. Die Stufen mündeten in einer Halle, deren Äußeres einen gewaltigen Kontrast zu dem schmucklosen Lager im Keller bildete. Bodenfließen aus poliertem Stein bedeckten den kreisrunden Raum in einem schwarz-weißen Schachbrettmuster. Cremefarbene Tapeten mit vergoldeter Zier verliehen dem Raum ein freundliches Äußeres, dessen Decke mit einem altertümlichen Heldengemälde von respektabler Qualität dekoriert war. Von der Treppe aus blickten sie auf drei Türen, die zu verschiedenen Seiten aus der Halle führten.
„Geh nur voran! Tiefer ins Innere des Hauses führen alle drei Türen“, sagte er. Als Piero sich aber anschickte, an ihm vorbeizugehen, hielt Lares ihn zurück.
„Vielleicht solltest du dir den Raum aber ganz genau anschauen, bevor du blindlings hineinläufst. Du erinnerst dich an den Bruch in Geldern damals?“
„Oh, du meinst der mit dem armen Bastard, der mit uns in diesen Tempel einsteigen sollte? Wie hieß der noch gleich?“
„Larry der Schleicher.“
„Na, nachdem er in die Bärenfalle getreten war, ist er jedenfalls nicht mehr geschlichen.“
Lares hob die Schultern. „Nein. Die Orks haben ihn aufgeknüpft, als sie ihn gefunden haben.“
„Tragisch“, erwiderte Piero, doch seine Züge verrieten nicht viel Mitgefühl.
„Berufsrisiko. Zumindest Bärenfallen brauchst du hier drinnen keine zu erwarten. Aber vielleicht schaust du lieber genau hin, bevor du deine Füße hier irgendwohin setzt. Achte auf Unregelmäßigkeiten in der Höhe der Fliesen, auf ungewöhnliche Öffnungen und versteckte Drähte. Und wenn du was findest, gib mir Bescheid. Das schauen wir uns zusammen an.“
Johanna
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Isidor ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf das umgestürzte Stück Baumstamm sinken, das ihm als notdürftiger Hocker diente, und nahm die dampfende Schüssel entgegen. Seine Finger waren taub vor Anstrengung, selbst der hölzerne Löffel fühlte sich an wie ein Amboss in der Hand. Er musste die Schale mit beiden Händen halten, um nicht versehentlich den Inhalt auf seine Beine zu schütten – oder schlimmer, auf Armonds.
Der erste Löffel brannte angenehm in seiner Kehle. Gemüse, Salz, ein Rest Fleisch. Vielleicht sogar etwas Sellerie, wenn er sich nicht täuschte. Er schloss die Augen einen Moment, ließ die Wärme in sich einsinken wie ein Schmied die Glut in den Stahl. Dann hob er den Blick und erwiderte Armonds neugierigen Blick, der über den Schalenrand hinweg auf ihm ruhte.
„Was ich gelernt habe?“ Er atmete durch, schob den Löffel zurück in die Brühe, rührte mechanisch. „Dass ein Ziel nicht einfach das ist, worauf man zielt. Sondern alles, was dazwischen liegt – Wind, Haltung, Spannung. Der kleinste Fehler wird da unten zu einem Fehlschuss. Und manchmal…“ Er zuckte mit den Schultern, „…trifft man trotzdem nicht, auch wenn man alles richtig macht.“
Er schlürfte noch einen Löffel Suppe, ehe ein leicht schiefes Grinsen seine Züge durchzog – mehr resigniert als wirklich amüsiert. „Ich habe auch gelernt, dass vierzig Kilo am Morgen nicht viel sind, aber am Abend die Schultern ruinieren. Und dass es dem Bogen egal ist, ob ich ihn mag oder nicht.“
Sein Blick wanderte zum Fass. Es war noch da, schief und morsch, wie eh und je. Ein dummer Holzkasten. Und doch ein Feindbild, das in ihm mehr Stolz geweckt hatte als so mancher Mensch.
„Und beim Essen…“, fuhr er fort und wirkte dabei für einen Moment jünger als zwanzig, „…reden wir meist über Brot. Oder den Ofen, der wieder zu heiß wurde. Frieda erzählt gern von Kundschaft. Johanna schweigt meistens, wenn sie isst. Und wenn sie etwas sagt, dann ist es meist etwas, das mir noch stundenlang durch den Kopf geht.“
Er hielt inne. Der Löffel fror auf halbem Weg zur Schüssel.
„Ich denke nicht, dass sie das wollen würden. Dass ich hier bin, meine ich. Aber das ist nicht ihr Krieg.“
Er aß weiter. Langsamer jetzt. Und leiser.
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An den Toren von Stewark
Der Pfad war schmal und uneben, eingesäumt von Dornsträuchern, die sich wie widerwillige Finger nach ihren Stiefeln reckten. Der Regen der letzten Tage hatte Spuren hinterlassen – nicht genug, um den Aufstieg zu gefährlich zu machen, aber genug, dass Ravia bei jedem Schritt darauf achten musste, wohin sie trat. Der Wind, der vom Meer heraufstrich, war feucht und roch nach Tang und Eisen. Er schien die Stadt schon zu ahnen, lange bevor sie sie sehen konnten.
Pakko schwieg. Er hatte das Beil, das er sonst locker über der Schulter trug, mit einem Riemen an die Seite geschnallt, die Hände frei, das Kinn leicht vorgeneigt. So ging er immer, wenn er etwas beobachtete. Wahrscheinlich sie. Wahrscheinlich alles.
„Du könntest ruhig was sagen“, murmelte Ravia, während sie eine Wurzel umging, die aus dem Geröll ragte wie der Finger eines alten Mannes.
„Ich wollte dir Raum lassen.“
Seine Stimme war leise, nicht spöttisch. „Wenn du mir was sagen willst, sag’s. Wenn nicht – ich zwing dich nicht.“
Sie biss sich auf die Lippe. Er war so... vernünftig. Das war das Problem. Es machte es schwieriger, sauer auf ihn zu sein.
Die Türme von Stewark rückten näher. Jetzt, wo sie oberhalb der Klippen traten, konnte man die untere Stadt erkennen – ein Gewirr aus grauen Ziegeldächern, Schiefer, hölzernen Giebeln, die sich wie keuchende Rösser an den Hang schoben. Über allem thronte die Feste. Kahl. Uneinnehmbar. Ein Ort, der einem nie das Gefühl gab, willkommen zu sein.
Das Stadttor war breit, aus demselben Stein wie die Mauern und mit Eisen beschlagen, das schon etliche Wetter überstanden hatte. Zwei Wachen standen davor – einer mit einer Hellebarde, der andere mit einem Kettenhemd, das unter der Brust spannte. Beide trugen die Farben der Stadtwache, doch der eine wirkte, als sei er erst gestern aus dem Söldnerlager gepflückt worden.
„Halt!“, rief der Breitschultrige, als sie sich näherten. „Name, Herkunft, Grund des Besuchs.“
Routine. Kalt. Abgestumpft.
Ravia blieb stehen. Sie hatte solche Situationen oft erlebt – aber selten mit offiziellem Auftrag. Ihre Finger glitten fast instinktiv Richtung Gürtel, doch sie hielt sich zurück.
Langsam. Keine hastigen Bewegungen. Stewark war nicht Bakaresh.
„Mein Name ist Ravia. Wir kommen im Auftrag von Kapitän Arus, Schiff: Joka La Maji, vor Anker südlich der Stadt.“
Sie zog das zusammengerollte Pergament hervor, löste das Band und hielt es hoch, ohne es aus der Hand zu geben.
„Wir haben eine Nachricht und ein Siegel für die Bevollmächtigten des Königs. Uns wurde gesagt, man werde wissen, wohin damit.“
Die Wache mit der Hellebarde trat näher, musterte sie wie ein Händler ein verdorbenes Stück Obst.
„Ravia? Hab ich noch nie gehört.“
„Dann ist es ja gut, dass du mich heute kennenlernst“, entgegnete sie mit einem Lächeln, das gerade genug Zähne zeigte, um freundlich zu wirken.
Er knurrte, doch der andere Wachsoldat – der mit dem zu engen Kettenhemd – trat vor und betrachtete das Pergament mit gerunzelter Stirn. Er sah das Siegel, runzelte die Stirn noch mehr, dann hob er eine Hand.
„Wartet hier.“
Er verschwand im Torbogen. Sekunden wurden zu Minuten. Pakko sagte nichts. Ravia zählte ihre Atemzüge. Sie wusste nicht, ob sie beobachtet wurden – aber sie ging davon aus.
„Unaona hatari hapa?“
Seine Stimme war leise. Ein Wispern, das kaum über das Pflaster reichte.
Siehst du hier Gefahr?
Ravia warf ihm einen kurzen Blick zu, dann wieder zum Stadttor.
„Hatari iko kila mahali.“
Gefahr ist überall.
Ein Nicken. Schweigen. Dann:
„Arus aliniambia, nisimwache mtoto wake peke yake.“
Arus sagte mir, ich soll sein Mädchen nicht allein lassen.
„Sio mtoto.“
Ich bin kein Kind.
Sie schob das Pergament tiefer in ihren Gürtel. Pakko antwortete nicht sofort. Sie hörte ihn durch die Nase ausatmen – scharf, aber nicht spöttisch.
„Lakini bado uko peke yako.“
Aber du bist trotzdem allein.
Das saß. Ravia spürte, wie sich ihre Finger zur Faust schlossen. Nicht aus Zorn – aus Verteidigung. Es war zu ehrlich. Und sie hasste ihn dafür, dass er es sagte.
„Unaweza kuniacha kimya. Kama zamani.“
Dann kannst du mich ja wieder schweigend stehen lassen. Wie früher.
Er zuckte kaum merklich. Vielleicht hatte er mit dem Stich gerechnet. Vielleicht auch nicht.
„Ninarudi. Siku zote.“
Ich komme zurück. Immer.
Sie sagte nichts mehr. Doch ihre Schultern sanken ein wenig, als hätte ein Teil der Spannung für einen Moment nachgegeben – nicht vergeben, nicht vergessen, aber ruhiger.
Schließlich kehrte der Soldat zurück, diesmal begleitet von einem Mann mit Schreibertasche, grünem Wappenrock und scharfen Augen. Kein Kämpfer – aber jemand, der wusste, wie Worte weh tun konnten.
„Ihr kommt mit mir. Keine Fragen. Keine Umwege.“
Er sah Pakko an. „Beide.“
Ravia nickte, hielt das Pergament weiter fest.
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Zitadelle
Die Stadt verschluckte sie wie ein dunkler Schlund.
Das Tor öffnete sich schwerfällig, seine Eisenbeschläge klangen wie dumpfe Glocken, die sich in Ravias Knochen senkten. Der Schreiber im grünen Wappenrock – hager, mit ernsten Schritten wie jemand, der nicht geht, sondern führt – sagte kein weiteres Wort. Nur ein knapper Blick bedeutete ihnen, ihm zu folgen.
Hinter dem Torhaus trat der erste Windstoß über das Pflaster – kühl, salzig und durchtränkt von dem Geruch einer Stadt, die sich dem Meer nicht beugte, sondern ihm trotzte. Zur Rechten hämmerte es dumpf aus der Schmiede, der Rhythmus einer Frau, die mit jedem Schlag sagte, wem der Stahl gehörte. Der Qualm, der aus dem Schlot stieg, roch nach Eisen, Ruß und dem brennenden Öl der Nacht.
Pakko war still. Er bewegte sich so, wie er es immer tat, wenn er nicht wusste, ob er begleiten oder schützen sollte. Nah genug, um präsent zu sein. Weit genug, um nicht aufzufallen.
Die Klippenchenke kam in Sicht – mit verrußten Scheiben und einer Tür, deren Angeln vom Wetter gezeichnet waren. Ein Betrunkener taumelte heraus, musterte sie kurz und verschwand, als er den Wappenrock ihres Begleiters erkannte. Keine Grüße. Keine Fragen.
An Worgans Alchemiestube roch es nach trockenem Lavendel, Schwefel und dem süßlichen Gestank von Beerenextrakten, die schon vor Tagen hätten abgefüllt sein sollen. Die kleinen Fenster waren beschlagen, als würde das Haus seinen Atem anhalten.
Dann öffnete sich vor ihnen der Festplatz – leer um diese Tageszeit, nur die Raben waren wach. Zwei Kinder rannten um den trockenen Brunnen. Eines blieb stehen, als Ravia vorbeiging, und hob kurz die Hand. Sie wusste nicht, ob es ein Gruß war oder eine Warnung. Vielleicht beides.
„Hier entlang“, murmelte der Schreiber und bog nach Süden ab.
Die Straße zog sich nun bergauf. Die Pflastersteine waren alt, glattgetreten von Jahrhunderten. Der Wind wurde kühler, schärfer – er roch nach altem Kalk und kaltem Zorn. Die Stadt war gewachsen, aber sie hatte nie gelernt zu vergessen.
Die Zitadelle thronte über dem Rest wie ein dunkler Zahn im Fleisch der Stadt. Ihre Mauern waren dick, die Fenster zu schmal für Hoffnung. Zwei Wachen standen vor dem Tor, schwer gerüstet, Helme tief im Gesicht, die Hellebarden verschränkt. Als sie nähertraten, legte Ravia instinktiv die Finger an die Tasche, in der sich das Siegel befand.
Doch der Schreiber machte nur ein Zeichen – und sie traten zur Seite.
Pakko blieb zurück. Keine Wache hielt ihn auf, kein Blick zwang ihn zum Gehen. Doch als sie die letzten Stufen zur Zitadelle nahm, trat er einen Schritt näher und sagte leise, kaum hörbar:
„Nitakusubiri hapa. Lakini usiporudi kabla ya jua kutua—naenda kwa Arus.“
Ich werde hier auf dich warten. Aber wenn du bis Sonnenuntergang nicht zurück bist – gehe ich zu Arus.
Ravia wandte den Kopf nur ein wenig, der Wind spielte mit ein paar Strähnen an ihrer Schläfe. Sie sagte nichts – nur ein Nicken, kaum mehr als eine Regung der Lider. Doch es genügte.
„Sawa?“, hakte er nach. Einverstanden?
Sie zögerte den Bruchteil eines Herzschlags. Dann:
„Sawa.“
Dann trat sie durch das Tor der Zitadelle. Der Stein unter ihren Stiefeln war glatt, fast poliert, doch Ravia wusste, dass das hier keine Ehrerbietung war – es war Kontrolle. Jeder Schritt klang zu laut. Jeder Atemzug zu falsch.
Ein Flur führte hinein – kahl, nüchtern, mit Wänden, die nichts erzählten. Nur leise Stimmen drangen durch Ritzen, das Kratzen einer Feder auf Pergament, das Quietschen eines Lederstuhls. Die Luft schmeckte nach Öl, Tinte und vergangenen Urteilen.
Ein Beamter trat aus einer Seitentür – mittleren Alters, das Haar schütter, aber der Blick scharf wie eine Waage.
„Ihr seid von Kapitän Arus?“
„Ja“, antwortete sie knapp. „Ich bringe Schreiben und Siegel. Im Namen der Joka La Maji.“
Er musterte sie. Kein Misstrauen, aber auch kein Willkommen.
„Folge mir.“
Ravia blickte zurück – ein Hauch von Unsicherheit, den sie schnell hinter sich ließ. Dann nickte sie.
„In Ordnung.“
Drinnen war es stiller. Kälter.
Und sie wusste: Nun begann das Spiel, zu dem sie keinen Einsatz mitgebracht hatte – nur ein Pergament, ein Siegel, und den Schatten einer Hoffnung, dass sie mit mehr zurückkehren würde als mit Schuld.
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Zitadelle
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss wie ein Urteil ohne Richter. Kein Scheppern. Kein Echo. Nur ein dumpfer Schlag, der sich in ihren Schultern verfing.
Ravia stand im Flur der Zitadelle – ein Bau, der weniger wie ein Ort wirkte, sondern mehr wie ein Zustand. Alles war zu gerade, zu glatt, zu gerichtet. Die Steine zu sorgfältig gesetzt, das Licht zu knapp, die Luft zu still. Als würde selbst das Atmen geduldet, aber nicht erwünscht.
Der Schreiber ging voran, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Seine Stiefel klangen regelmäßig auf dem Stein, nicht hastig, nicht stolz – nur wie ein Mann, der Wege geht, die er auswendig kennt, aber nie gern betritt.
Sie passierten mehrere Türen. Verschlossen, alle. Zwei waren mit Messingbeschlägen versehen, eine trug ein Wappen, das Ravia nicht kannte – ein stilisierter Schlüssel auf schwarzem Grund. Verwaltung, vielleicht.
Der Schreiber hielt an einer schmalen Flügeltür, öffnete sie mit einer Bewegung, die er wohl hundertfach wiederholt hatte. Er sagte nichts. Nur ein Blick, dann eine Handbewegung.
Ravia trat ein.
Der Raum war kahl. Ein Tisch, zwei Stühle. In der Ecke eine Truhe, aus schwerem Holz, eisenbeschlagen. Das Licht kam von einem kleinen Fenster unter der Decke, durch das der graue Tag nur zögerlich kroch. Auf dem Tisch: eine Lampe mit milchigem Glas, ein Tintenfass, mehrere versiegelte Pergamentrollen. Rote Bänder. Goldene Siegel. Eines davon leicht verschmiert, als sei es in Eile gepresst worden.
Sie war nicht die Erste.
„Wartet hier“, murmelte der Schreiber, ohne den Raum ganz zu betreten.
Dann schloss er die Tür hinter sich.
Ravia blieb einen Moment stehen. Sie spürte das Gewicht des Pergaments unter ihrer Jacke. Und das des Siegels – weniger schwer, aber von anderer Art. Es hatte sich in ihre Gedanken gedrückt, seit Arus es ihr gegeben hatte. Seit diesem einen Satz, gesprochen mit der Ruhe eines Mannes, der wusste, dass Loyalität auch Last bedeuten konnte.
„Ich erwarte, dass du mit mehr als einem netten Gruß zurückkommst.“
Sie setzte sich. Nicht sofort, nicht zögerlich – mit einer Genauigkeit, wie man sie in der Takelage lernte, wenn das Schiff rollte und jede Bewegung bedacht sein musste. Ihre Hände ruhten auf den Oberschenkeln. Die Finger leicht geöffnet. Die Schultern gerade.
Der Stuhl knarrte kaum. Sie wartete.
Ein Geräusch draußen. Schritte, dann wieder Stille. Ein leises Kratzen, als würde jemand über Pergament schreiben – oder es zerknüllen. Die Lampe flackerte kurz, als sei ein Luftzug hindurchgefahren, doch das Fenster blieb still.
In Ravias Kopf drehte sich der Gedanke, dass dieser Ort nicht auf Antworten wartete. Er verwaltete sie. Und wenn man keine brachte, wurde man nicht gehört.
Sie holte das Schreiben hervor und legte es auf den Tisch. Dann das Siegel, sorgfältig aus dem Leinenbeutel gezogen. Es war von schwerem Metall, vermutlich Silber, mit dem Wappen der setarrifischen Königslinie – für sie sah es aus wie die Sonne, welche einen feurigen Schweif hinter sich herzieht. Ravia hatte es schon einmal gesehen, vor Jahren, als Arus mit einem königlichen Bevollmächtigten verhandelt hatte. Sie hatten nahe der Küste im Osten der Insel ankern müssen, weil Setarrif keinen Hafen besaß.
Die Tür öffnete sich.
Ein anderer Mann trat ein. Nicht der Schreiber. Dunkles Haar, zurückgekämmt, glatt wie frisch geölt.
Handschuhe, die zu weich für Wachen waren, aber zu wertvoll für Schreiber. Ein Brustwappen – silberner Schlüssel auf schwarzem Grund. Dasselbe wie auf der Tür.
Er schloss die Tür sorgfältig. Trat an den Tisch. Sah nicht auf das Schreiben, nicht auf das Siegel. Nur auf sie.
„Ihr seid von Kapitän Arus“, sagte er, ohne Fragezeichen.
„Bringt ein Schreiben. Und vermutlich eine Bitte, die nicht ausgesprochen werden soll.“
Seine Stimme war ruhig. Weich. Doch jeder Ton war gesetzt wie ein Trittstein über tiefes Wasser.
Ravia erwiderte den Blick. Sie sagte nichts. Legte nur die flache Hand auf das Schreiben, schob es in seine Richtung. Dann den Beutel mit dem Siegel. Kein Wort. Keine Erklärung. Ihre spitze Zunge wäre in diesem Augenblick eher hinderlich, als förderlich gewesen.
Er nahm das Pergament nicht gleich. Nur der Blick prüfte – zuerst das Papier, dann ihre Haltung. Seine Augen blieben einen Moment zu lange an ihrem Gesicht, als wolle er einen Ausdruck ablesen, den sie sich längst abgewöhnt hatte zu zeigen.
Dann griff er nach dem Siegel.
„Ein Zeichen, dass ihr unter Schutz steht“, sagte er.
„Ein Zeichen, dass ich nicht gestört werde“, entgegnete sie leise.
Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen. Nicht freundlich. Nicht kalt. Einfach dort. Wie ein Kratzer auf poliertem Metall.
„Ihr bleibt hier. Man wird euch antworten.“
Er nahm das Schreiben, wandte sich ab – und verließ den Raum mit einem letzten, stillen Blick zurück, der weder Misstrauen noch Anerkennung trug. Nur Interesse. Als sei sie nicht die Botin. Sondern die Ware.
Die Tür fiel zu. Diesmal ohne Schloss. Ravia atmete aus. Ihre Schultern blieben gerade.
Sie war allein. Und der Raum war noch immer still. Doch etwas hatte sich verändert. Vielleicht war es nur der Staub, der sich wieder senkte. Oder das Wissen, dass das Spiel begonnen hatte.
Nicht auf dem Tisch. Sondern in den Händen derer, die ihn nicht deckten.
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Zitadelle
Die Zeit in dem kahlen Raum verstrich wie das Schaben eines Messers über Knochen – langsam, kaum spürbar, aber stetig. Ravia saß noch immer an dem Tisch mit dem nun einsamen Siegel darauf, ein Mahnmal dessen, was sie vertreten sollte. Oder durfte. Oder musste. Das Schreiben hatte der Mann mitgenommen. Sie hatte die Hände gefaltet, nicht aus Anstand – besaß sie überhaupt welchen? – sondern weil Utätigkeit sie unruhig machte. In einem Raum wie diesem war jede Bewegung eine Entscheidung.
Als die Tür erneut aufschwang, war es nicht der gleiche Mann wie zuvor. Dieser war älter. Glattrasiert. Mit einem Gesicht wie gegerbtes Leder und Augen, die zu ruhig waren für jemanden, der nicht rechnete. Seine Robe trug dasselbe Schlüsselwappen. Doch der Stoff war feiner. Die Knöpfe aus gebürstetem Silber.
„Ihr sprecht Torgaanisch.“
Kein Gruß. Kein Einstieg. Nur eine Feststellung, die sich wie eine Falle anfühlte.
Ravia hob den Blick, ruhig. „Ich spreche vieles. Das meiste davon freiwillig.“
Ein kaum wahrnehmbares Lächeln, schmal und trocken wie ein Riss in altem Stein.
„Und doch überrascht es, bei dieser Erscheinung.“
Sein Blick wanderte über sie – blond, hellhäutig, fremd unter dem Klang des Südens.
„Eure Haut spricht nicht dieselbe Sprache wie euer Mund.“
Sie zuckte kaum mit den Schultern. „Nicht alles, was gelernt ist, stammt vom eigenen Blut.“
„Natürlich“, sagte er, und nun war sein Ton fast jovial, „aber Torgaan ist Teil des Reiches. Ihr dürft also durchaus stolz sein, dem König einen Dienst zu erweisen.“
Ein Satz, der vorgab, Größe zu ehren, und in Wahrheit nur sagte: Erwartet weniger.
Ravia erkannte den Ton. Höflicher Raub.
„Das bin ich“, sagte sie knapp. „Stolz. Sehr.“
Er nickte, als habe er genau diese Antwort erwartet. Oder keine andere akzeptiert.
„Euer Schreiben ist gelesen, euer Siegel geprüft. Eure… Prise“, er nutzte das Wort mit einem schwachen, falschen Lächeln, „wird vermerkt. Die Auszahlung erfolgt wie üblich über die entsprechenden Stellen – bei Gelegenheit.“ Ein winziges Zögern, kaum länger als ein Atemzug. „Natürlich angepasst an die Umstände und den regionalen Beitrag.“
Reduzierte Belohnung. Weil ich Torgaanisch spreche. Und weil Baba für euch arbeitet.
Sie ließ sich nichts anmerken. Noch nicht. Dafür war es zu früh. Oder zu spät.
„Ihr kehrt mit einem Folgeauftrag zurück zur Joka La Maji“, fuhr der Mann fort, nun wieder sachlich. „Euer Kapitän soll Kurs auf die varantische Küste nehmen. Südlich von Ishtar. Kein Hafen. Kein Anlegen. Nur Sichtkontakt.“
Ravia runzelte die Stirn. „Und was nehmen wir an Bord?“
„Jemanden, der dort bereits wartet.“„Einen Namen?“
„Nicht nötig.“ Seine Stimme ließ keinen Zweifel zu. „Eure Aufgabe ist nicht das Wissen, sondern die Anwesenheit. Anker werfen, Sicht halten. Ihr werdet erkannt werden.“
Das Schweigen danach war kurz, aber spürbar.
Dann zog er ein zweites, kleines Pergament hervor. Zusammengefaltet, versiegelt. Kein Wappen, nur rotes Wachs. Unbeschriftet.
„Und gebt dies an euren Kapitän weiter. Nur an ihn.“
Sie nahm es. Seine Finger berührten ihre dabei nicht, aber sie spürte trotzdem das Gewicht dahinter. Keine Botschaft. Eine Last.
„Noch etwas“, sagte er dann, als habe er den angenehmsten Teil des Gesprächs für den Schluss aufgehoben. „Sollte es unter eurer Mannschaft fähige Kämpfer geben – mit Interesse an Disziplin, Loyalität und dauerhafter Stellung – so steht die ehrwürdige Akademie derzeit offen für Bewerbungen. Besonders für solche, die bereits Kampferfahrung besitzen.“
Ein harmloser Zusatz. Freundlich fast. Und doch roch er nach Not.
„Wenig Krieger, viele Kriege?“, fragte Ravia, die Stimme leise.
Diesmal lächelte er wirklich. „Nur ein König, der vorbereitet ist.“
Dann drehte er sich um. Die Tür öffnete sich wie von selbst, als hätte sie auf dieses Ende gewartet.
Ravia stand nicht sofort auf. Sie ließ ihm ein paar Schritte Vorsprung. Nur für das Gefühl, dass sie noch selbst entschied, wann sie ging.
Doch als sie durch die Tür trat, war ihr klar: Sie hatte nicht verhandelt. Sie hatte hingenommen. Und das war manchmal das Klügste, was man tun konnte.
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Die Zitadelle entließ sie nicht – sie floh aus ihr. Derartig offizielle Räumlichkeiten beunruhigten die Piratin.
Das schwere Tor fiel hinter ihr zu, als wolle es verhindern, dass sich der Geruch von Papier, Wachs und kaltem Stein hinaus in die Stadt mischte. Ravia trat auf das Pflaster zurück, den kleinen, unbeschrifteten Brief in der Innentasche, das Gesicht ohne Ausdruck, den Rücken gerade wie auf dem Achterdeck bei Windstärke sieben.
Pakko stand nicht mehr, wo sie ihn verlassen hatte.
Am Fuß der Treppe saß auf einem umgedrehten Wassereimer, die Beine breit, den Rücken lässig an die Mauer gelehnt. Vor ihm: drei Soldaten der Stadtwache, einer davon mit schief sitzendem Helm, der gerade versuchte, aus einem ledernen Becher Würfel zu schütteln, ohne dabei seine Bierkrüge zu kippen.
„Drei Mal Krone. Dein Zug, Torgaaner.“
Pakko grinste nur, ließ die Würfel tanzen – und warf zwei Kronen und ein Herz.
„Zählt das?“, fragte einer der Männer, während der dritte sich kratzte.
„Wenn du’s dem Kommandanten erklärst“, murmelte Pakko, „dann sicher.“
Als er Ravia aus dem Augenwinkel kommen sah, stand er auf, klopfte sich den Staub von den Hosen und nickte den Männern zu. „Bis zum nächsten Mal.“
„Warte, du schuldest mir—“
Doch Pakko war schon neben ihr.
„Was hast du denen gegeben?“, fragte sie halblaut, während sie gemeinsam die Straße entlanggingen.
„Nichts. Nur Zeit. Und das Gefühl, dass sie gewinnen könnten.“
Ravia schnaubte leise. Kein Lachen. Aber auch kein Groll.
„Alles erledigt“, sagte Ravia, bevor er nachfragen konnte.
„Wir haben einen neuen Kurs.“
Pakko nickte. Keine Fragen. Aber seine Augen blieben auf ihr haften, einen Moment zu lang. Dann wandte er sich wortlos ab und ging los – zurück durch die Straßen von Stewark, die zu dieser Stunde nach Fisch, Feuerstein und schlechten Entscheidungen rochen. Sie folgte ihm.
Die Stadt hatte sich verändert. Nicht in ihrem Aufbau, nicht in den Geräuschen. Aber in der Wahrnehmung. Plötzlich schien jedes Fenster zu horchen, jeder Schatten zu zucken, jede Stimme zu flüstern. Ravia wusste, dass es Unsinn war. Und doch ertappte sie sich dabei, wie sie prüfte, ob sie jemand verfolgte – ohne die Haltung einer Verfolgten anzunehmen.
Am Markt war es ruhiger geworden. Die Sonne hatte sich hinter den westlichen Mauern verkrochen, und das Licht fiel schräg auf das Kopfsteinpflaster wie durch das Gitter eines Kerkers. Ein Hund lag unter einem Wagenrad und schnarchte. Eine Händlerin zählte Münzen mit einer Geduld, die nur der Hunger lehrte.
Pakko blieb plötzlich stehen. Er sah nicht zu ihr.
„Du bist lang drin gewesen.“
Ravia antwortete nicht sofort.
„Vielleicht war ich zu höflich.“
Er schnaubte. „Das ist nicht dein Ruf.“
Ein kurzes Schweigen.
Dann gingen sie weiter. Keine weiteren Worte.
Doch als sie sich dem Stadttor näherten, wo ihre Reise begonnen hatte, spürte Ravia, dass sie beide wussten: Das Gespräch war noch nicht zu Ende. Nur vertagt. Wie so vieles, was auf einem Schiff nicht zwischen zwei Tauen, sondern zwischen zwei Blicken entschieden wurde.
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„Sie wollen, dass wir nach Varant segeln“, sagte Ravia schließlich, als das Stadttor bereits hinter ihnen lag. Der schmale Pfad zur Küste zog sich wie ein ausgetretener Gedanke durch die steinige Landschaft, flankiert von niedrigen Sträuchern und vom Wind schräggewachsenen Gräsern, die sich in der Abendluft wie Seegras im Fluss bewegten. Hier roch die Welt wieder nach Salz, Tang und feuchtem Holz.
Pakko hob eine Braue. „Varant?“
„Südlich von Ishtar. Nicht hinein. Kein Hafen. Kein Name. Nur Sichtkontakt.“ Ihre Stimme war ruhig, aber das Tempo ihrer Schritte verriet, dass sie die Worte schneller loswerden wollte, als sie dachte.
„Was holen wir?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Jemanden, der uns erkennt. Oder etwas. Mir wurde nichts gesagt. Wir sollen einfach dort sein. Unauffällig.“
Er runzelte die Stirn. „Das klingt...“
„Gefährlich?“ Sie warf ihm einen schiefen Blick zu.
„Wie das Gegenteil. Wie etwas, das gefährlich wird, wenn man fragt.“
Sie nickte. Eine Geste, die mehr sagte als jede Bestätigung. Die Art von Auftrag, bei dem Schweigen zum Teil des Geschäfts wurde – nicht aus Anstand, sondern aus Überleben.
Sie schwiegen eine Weile, während die Steine unter ihren Stiefeln knackten und der Wind versuchte, ihnen Gespräche aus dem Mund zu ziehen.
„Und das?“ fragte Pakko schließlich. Seine Stimme war leise, aber gezielt. Er deutete mit einem kaum sichtbaren Nicken auf die Innentasche ihrer Weste – auf die Stelle, wo sie das rote Siegel trug. Sie hatte es ihm nicht gezeigt. Er hatte auch nicht gefragt. Trotzdem wusste er scheinbar davon.
Ravia legte die Hand über die Tasche, als müsste sie sich vergewissern, dass es noch da war.
„Das ist für Baba. Nur für ihn.“ Ihre Antwort kam sofort, scharf, als hätte sie geübt, sie zu sagen – oder um sich selbst daran zu erinnern.
Pakko sagte nichts. Aber sein Blick blieb an ihr hängen, tastete ihr Gesicht ab wie ein Späher das Gelände vor einem Überfall. Keine Fragen. Nur das Wissen, dass es welche gab.
Sie kamen an eine Wegbiegung, wo die Klippen zurücktraten und sich das Land senkte. Zwischen den windgebeugten Bäumen zeigte sich der erste Blick auf die Bucht. Die Joka La Maji lag dort, tief im Wasser, als wäre sie aus Blei gegossen. Ihre Masten ragten wie Speere in den Himmel, das Segel eingerollt, das Deck voll. Es war Essenszeit.
Ravia blieb stehen.
„Ich muss noch etwas erledigen“, sagte sie, ohne ihn anzusehen.
Pakko hob leicht den Kopf. Sein Blick wanderte über den Weg, zurück zur Stadt, dann zu ihr. Ein leises Schnauben. Kein Widerwort.
„Allein?“
Sie nickte. „Wenn Baba kann, soll er noch einen Tag warten. Zwei, wenn nötig.“
Ein Flimmern huschte über sein Gesicht – der Wunsch, mehr zu wissen, abgelöst vom Wissen, dass sie es ihm nicht sagen würde.
„Ich sag’s ihm“, sagte er schließlich. „Wenn du nicht auftauchst...“
„Dann schulde ich dir was.“ Ihre Stimme war weich, aber nicht schwach.
„Ich sammle bald Zinsen“, murmelte er.
Sie lachte nicht. Aber ihre Schultern lockerten sich ein wenig, und in ihrem Blick lag für einen Moment etwas, das Vertrauen war. Oder Erinnerung daran.
„Wartest du hier?“
„Nein.“ Pakko streckte die Arme kurz aus, gähnte übertrieben und drehte sich halb in Richtung Pfad zum Strand. „Ich muss bei den anderen noch angeben, wie ich diese Wachen ausgenommen habe, während du auf offiziell gemacht hast.“
„Das ist kein hoher Anspruch.“
„Nein“, grinste er, „aber ich mag’s einfach.“
Sie blieb zurück, beobachtete ihn, bis er zwischen den ersten Büschen verschwand. Dann atmete sie durch. Nicht tief. Nicht erleichtert. Nur: bewusst.
Die Stadt lag wieder vor ihr – träge, müde, immer lauernd. Die Gassen zwischen den Häusern wirkten enger als noch vor Stunden, die Schatten länger, als die Sonne es erlauben sollte. Doch ihre Schritte führten zurück in das Herz aus Stein und Schuld, in dem sie noch etwas offen hatte.
Der Brief in ihrer Tasche schien schwerer zu werden, je weiter sie ging. Nicht vom Material her – das Siegel war klein, das Papier dünn – aber von dem, was darin lag. Oder was darin fehlte. Und während sie sich auf den Rückweg machte, schien selbst der Wind innezuhalten, als lausche er darauf, was sie damit anfangen würde.
Sie wusste es selbst nicht. Noch nicht. Aber sie wusste: Zeit war selten ein Verbündeter. Und in Stewark schon gar nicht.
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In den Gassen
Die Stadt nahm sie wieder auf wie eine Welle, die sie längst ausgespuckt hatte – widerwillig, aber nicht ohne Gier. Ravia glitt durch die Gassen, das Ziel nicht ganz vor Augen, aber in den Fingern. Das Pergament, das sie bei sich trug, hatte keine Worte, keine Namen. Und doch sprach es zu ihr.
Ein Baum, vielleicht eine Laterne. Darunter Zahlen, keine erkennbaren Maßeinheiten, aber rhythmisch angeordnet. Kringel, Striche, zwei Linien, die sich kreuzten. Wie ein Gitter. Oder eine alte Karte, von jemandem gezeichnet, der mehr an Verstecken dachte als an Wege.
Sie hatte es mehrfach gefaltet, mit der Lampe gegen das Licht gehalten. Nun trug sie die Formen im Kopf. Und begann, sie in der Stadt zu suchen.
Zuerst am Wehrgang. Eine Mauer mit vier Einschnitten, nicht drei – verkehrt. Dann am südlichen Außenring. Ein Gitter, aber kein Zeichen. Schließlich – kurz bevor sie es aufgeben wollte – eine kleine Gasse mit überwachsener Steinrinne. Ein kümmerlicher Baum, der sich mühselig zwischen dem behauenen Fels zweier Häuserwänden herausbog, wie ein zerzauster Wächter. An seinem Stamm: Eine eingeritzte Kerbe. Zwei Striche, schräg übereinander. Ravia blieb stehen.
Laterne. Baum. Beides.
Sie drehte sich langsam um. Sah sich um wie jemand, der nur die Abendluft suchte. Und dann erkannte sie den zweiten Hinweis. Eine Hauswand, grob verputzt, mit einer ausgeblichenen Markierung – ein Kreis mit einem Punkt darin. Für die meisten nichts. Für sie: eindeutig.
Saarinas Handschrift. Oder die derer, die mit ihr sprachen.
Sie folgte der Gasse, bog zweimal ab – nach Gefühl, nicht nach Plan – und kam in einen Hof, den sie nicht kannte. Dreieckig, mit nur einem Fenster, das zugemauert war. An der Mauer: eine Eisenstange, verwittert. An ihr hing eine Lampe, unbeleuchtet. Der Laternenbaum.
Darunter: eine Tür.
Einfach. Schlicht. Unauffällig. Doch sie ahnte, dass es der Ort war, den die Nachricht beschrieben hatte. Was sollte hier auf sie warten? Was hatte Saarina oder ihre Freunde damit bezweckt?
Ravia trat nicht näher. Noch nicht. Stattdessen setzte sie sich auf eine der niedrigen Stufen gegenüber – in Sichtweite, aber nicht auffällig. Sie zog die Schatulle aus ihrer Tasche. Zylinderförmig, fein gearbeitet, das Schloss kaum sichtbar, eingebettet in kleine Erhebungen wie eine Muschel im Sand.
Sie betrachtete es lange. Bewegte es zwischen den Fingern.
Noch nicht.
Das Schloss war anders als jedes, das sie kannte. Kein einfacher Riegel, kein Hebelmechanismus. Sondern ein Code. Eine Drehung. Vielleicht sogar ein Druckpunkt, den man spüren musste wie den Herzschlag eines Feindes.
Sie hatte nicht das rechte Werkzeug dafür. Nur die Dietriche aus Bakaresh und ihre Sinne. Und die genügten noch nicht.
Aber das hier war die Art von Tür, die man nicht mit Gewalt öffnete. Sondern mit Geschick. Mit Wissen. Oder mit der richtigen Frage. Wieso sonst die Heimlichtuerei?
„Willst du’s aufbrechen, oder willst du’s verdienen?“, hatte Baba einmal gefragt, als sie versuchte, eine Rumkiste zu stehlen, die längst leer war. Sie hatte ihn nicht verstanden. Heute vielleicht ein bisschen mehr.
Ravia verstaute die Schatulle wieder. Sie stand auf und ging. Nicht zurück. Nicht weiter. Sondern einen Bogen. Lauernd.
Wenn das hier ein Tor war, dann war irgendwo ein Späher. Und wenn jemand sie beobachtete –
dann sollte er sehen, dass sie wusste, was er wusste.
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In den Gassen - Ein leerstehendes Haus?
Sie hatte kaum zwanzig Schritte gemacht, da hörte sie es.
Kein Geräusch, das sich aufdrängte. Kein Ruf, kein metallisches Klirren. Nur ein leises „Klapp“ – wie von einem Fensterladen, der sich schloss, obwohl der Wind nicht stark genug war, um ihn zu bewegen. Ein Moment zu kurz, um sicher zu sein. Und doch reichte er, um Ravias Schultern eine Spur höher wandern zu lassen.
Gut. Beobachtet werde ich also.
Sie schlenderte weiter. Nicht ziellos. Nicht eilig. Und bog um eine Ecke, nur um gleich darauf in einem schmalen Durchgang innezuhalten. Eine Tür stand dort offen – halb, wie aus Versehen. Der Geruch dahinter war eine Mischung aus Staub, Leder, Öl und getrocknetem Schweiß.
Und ein Hauch von Minze. Künstlich. Überdeckend.
Ein altes Haus, drei Stockwerke, bröckelnder Putz. Niemand sprach sie an. Niemand trat ihr entgegen. Also trat sie ein.
Der Flur war leer. Ein Vorhang aus grobem Stoff flatterte in einem Nebenzimmer. Ein Treppenabsatz führte ins obere Stockwerk, ein anderer nach unten. Ravia stand da wie eine Katze auf einer neuen Planke – kein Laut, aber alle Sinne gesträubt. Ihre Finger zuckten fast unmerklich in Richtung ihrer Taschen.
Dann sah sie es.
Auf der Fensterbank des kleinen Eingangsraumes: ein Schloss. Kein gewöhnliches, kein Türschloss. Eines zum Üben. Montiert auf einem Stück Holz. Daneben: Ein Satz von drei Dietrichen. Einfach. Benutzt.
Kein Zettel. Kein Befehl. Kein Willkommen.
Ein Test. Oder eine Einladung.
Ravia trat näher. Nahm das erste Werkzeug zur Hand. Sie spürte den Gebrauch – leichte Riefen, als hätte jemand mit ruppigem Griff zu oft den gleichen Fehler gemacht.
Das Schloss war simpel – ein Drehmechanismus, vier Stifte. Der klassische Anfänger. Doch sie wusste: der erste Schritt war nie die Tür. Es war der Griff zum Werkzeug. Der Moment, in dem man entschied, es nicht anders zu tun.
Sie schob den Dietrich vorsichtig hinein. Kein Klicken. Kein Widerstand. Nur ein leises metallisches Knurren – das Warnen eines alten Mechanismus.
Sie drehte zurück. Versuch zwei. Dann drei.
Beim vierten saß der erste Stift. Der zweite folgte. Beim dritten hakte es. Sie lachte leise – die Art von Lachen, das nicht fröhlich war, aber ehrlich.
Besser als das verdammte Ding an meiner Truhe.
Beim siebten Versuch war das Schloss offen.
Dann hörte sie eine Stimme. Nicht laut. Nicht nah. Aber klar genug, um durch die Holztreppe zu dringen.
„Wieder zu.“
Keine Frage. Kein Spott. Nur eine Aufforderung.
Ravia schob das Schloss zu, verriegelte es, stellte es zurück. Wieder. Und wieder.
Sie wusste nicht, ob jemand zusah. Aber jemand wusste, dass sie hier war. Und dass sie nicht ging.
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In den Gassen - Ein leerstehendes Haus?
Das Schloss klickte ein zweites Mal. Leise, sauber. Ravia verriegelte es wieder, genau so, wie sie es geöffnet hatte, und stellte es zurück auf die Fensterbank. Keine Stimme lobte sie, kein Schatten bewegte sich, kein verräterischer Atemzug. Nur die gedämpfte Stille eines Hauses, das entweder leer oder voller Augen war.
Sie ließ den Blick wandern. Der Tisch in der Raummitte war kahl, eine dünne Schicht Staub darauf, die selbst den Abendwind nicht anzurühren schien. Langsam ging sie hinüber, strich mit den Fingerspitzen über die Oberfläche, als wolle sie prüfen, ob der Staub gleichmäßig war. Er war es.
Dann hörte sie es.
Nicht laut. Kein klares Klirren oder Knarren. Eher ein Schaben, als ob etwas Schweres über Holz geschoben würde – sehr vorsichtig, sehr bedacht. Der Laut kam von der Wand her, in der ein Vorhang halb den Durchgang verdeckte. Sie blieb still, so still, dass sie fast den eigenen Puls im Hals spürte. Kein Schritt folgte, kein Atem.
Doch als sie sich wieder dem Tisch zuwandte, stand dort ein Schloss.
Messing, die Kanten blanker als der Rest, als wären sie von vielen Händen poliert worden. Es war zu groß, um unbemerkt dort abgelegt zu werden – und doch hatte sie es nicht kommen sehen.
Also so läuft das hier.
Sie setzte sich. Nahm das Schloss in die Hand. Schwer. Solide. Die Art von Mechanismus, den man nicht einfach mit einem gewohnten Griff überlisten konnte. Zwei Scheiben, die gegeneinander liefen. Sie zog einen ihrer Dietriche aus der kleinen Ledertasche an ihrem Gürtel, spürte die vertraute Kühle des Metalls, das sie in Bakaresh so oft benutzt hatte.
Der erste Versuch scheiterte.
Der zweite brachte ein kurzes, ermutigendes „Klack“, das sofort wieder im Metall erstickte.
Beim dritten Versuch spürte sie, wie sich der erste Stift sauber setzte. Der zweite folgte. Der dritte zickte, weigerte sich. Sie biss sich auf die Innenseite der Wange, drehte einen Hauch zurück, probierte den Winkel neu – und dann glitt der Mechanismus auf, dumpfer und tiefer als das erste Schloss.
Ein kurzes Aufblitzen von Stolz. Aber kein Grund, länger hinzusehen.
Sie stellte es zurück. Drehte sich, tat einen Schritt zur Seite. Hörte wieder das Schaben – minimal, so als würde jemand ein Holzstück zurechtrücken. Als sie wieder hinsah, war das Messingschloss weg.
An seiner Stelle: ein schmaler Zylinder in einem Holzrahmen, mit gebogenem Riegel. Kein Schmuck, keine Verzierung. Funktional. So, wie man es an einer Kiste oder einem Geheimfach finden würde. Ihre Finger kannten die Form – und wussten, dass der Mechanismus empfindlich war.
Sie setzte an. Der erste Stift saß sofort. Der zweite klemmte, der dritte war glatt wie Glas. Sie probierte Druck, ließ wieder nach. Dieses Schloss war wie ein trotziges Kind: Je mehr man drängte, desto weniger bewegte es sich. Erst als sie den Druck fast losließ, gab der Mechanismus nach.
Beim vierten Versuch war es offen.
Sie schloss es. Öffnete es noch einmal. Schneller. Fließender. Noch einmal.
Da – ein anderes Geräusch. Kein Schaben diesmal, sondern das leise Knarren einer Diele im oberen Stockwerk. Sie hob nicht den Kopf. Tat, als hätte sie nichts gehört. Wenn sie sich umdrehte, wäre die Person schon längst fort. Besser, so zu tun, als ob man nicht suchte – nur fand.
Als sie zum dritten Mal öffnete und schloss, stand auf dem Tisch nichts mehr von dem Zylinderschloss. Stattdessen lag dort ein kleiner Schlüssel. Einfach gearbeitet, Eisenguss, der Griff rund und glatt von vielen Händen. Daneben: ein winziges Vorhängeschloss, alt und verkratzt.
In die Vorderseite war ein Kreis geritzt, mit einem Punkt in der Mitte.
Das gleiche Zeichen wie an der Hauswand in der Gasse.
Ravia nahm zuerst den Schlüssel auf, wog ihn in der Hand. Kühl. Schwerer, als er aussehen durfte. Dann das Vorhängeschloss. Das Metall war stumpf, aber die Gravur schien frischer – als hätte jemand erst kürzlich daran gearbeitet.
Kein Willkommen. Keine Erlaubnis. Nur eine Spur.
Sie steckte beides ein. Stand auf. Ging zur Tür. Keine Stimme wies sie hinaus, keine Hand hielt sie zurück. Aber das Haus hatte seinen Zweck erfüllt. Das wusste sie.
Vor dem Ausgang hielt sie kurz inne. Lauschte. Vom Hof drang nur der ferne Klang einer Glocke herüber, dreimal, langsam. Keine zufällige Stunde – eher ein Signal. Sie zählte innerlich mit, speicherte das Muster.
Draußen war die Luft kühler geworden. Das Licht hatte den blassen Goldton des späten Abends angenommen. Der Hof lag verlassen, doch das Gefühl, beobachtet zu werden, klebte an ihr wie Salz nach einer langen Überfahrt. Sie ging nicht sofort. Lief mit einem lockeren Bogen am Rand entlang, als prüfe sie die Mauern. Kein offenes Fenster, kein sichtbarer Späher. Aber irgendjemand wusste jetzt, dass sie die drei Schlösser geöffnet hatte – und dass sie den Schlüssel trug.
Als sie die Gasse verließ, nahm sie sich vor, den Weg im Kopf zu behalten. Jede Biegung, jede unebene Stelle im Pflaster, jede Geruchsänderung. Nicht, weil sie ihn zurücklaufen wollte. Sondern, weil sie sicher war, dass sie ihn bald würde zurücklaufen müssen – nur vielleicht in anderer Begleitung.
Sie schob die Hände in die Taschen. Ihr Finger glitt über den kleinen Schlüssel, spürte den rauen Rand der Gravur am Vorhängeschloss. Kein Schatz. Kein Gold. Aber etwas, das ihr die Tür zu etwas anderem öffnen konnte.
Und in Stewark, das wusste sie aus Erfahrung, war es manchmal wertvoller, zu wissen, welche Tür sich lohnte – als zu wissen, was dahinter lag.
Geändert von Ravia (12.08.2025 um 01:01 Uhr)
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In den Gassen
Sie verließ das Haus, ohne den Blick zu heben. Wer auch immer dort drinnen gewesen war, hatte seinen Teil getan – und erwartete, dass sie den ihren nun ebenso leise erfüllen würde. Der Schlüssel in ihrer Tasche war schwerer geworden, als bestünde er nicht nur aus Eisen, sondern aus einer Entscheidung.
Die Gasse mündete in eine Straße, die sie nicht oft benutzt hatte. Stewark war ein Labyrinth aus halb geplanten, halb gewachsenen Wegen, in dem selbst Einheimische manchmal in Sackgassen landeten. Ravia ließ den Blick beiläufig über Türen und Fenster streifen. Gesichter in Schatten. Das leise Klappern einer Werkstatt. Der süße, leicht vergorene Geruch von Obst, das zu lange in der Sonne gelegen hatte.
Drei Straßenzüge weiter hielt sie inne.
An einer unscheinbaren Holztür, eingelassen in eine graue Mauer, war das Zeichen eingeritzt.
Kreis mit Punkt. Dasselbe wie auf dem kleinen Vorhängeschloss.
Kein Schild, kein Griff von außen, nur ein waagerechter Schlitz in Augenhöhe. Sie ging weiter, als hätte sie es nicht bemerkt, bog in eine schmale Nebengasse, wartete dort einen Moment, bis ein Wagen vorbeigerumpelt war. Dann kehrte sie zurück. Niemand stand davor. Kein Geräusch dahinter.
Der Schlüssel passte.
Die Tür schwang auf, gerade breit genug für eine Person. Dahinter roch es nach Metall, Öl und alten Holzspänen. Der Raum war karg – Regale, ein Arbeitstisch, eine halbleere Werkzeugwand. Und Truhen. Viele Truhen.
Nicht die sortierte, aufgeräumte Art, die man in einem Handelshaus fand. Jede anders. Holz, Metall, mit Riemen, mit Schlössern. Einige standen offen, leer. Andere waren verriegelt, einige doppelt. Ravia trat näher und strich mit den Fingerspitzen über die Kanten einer großen Holztruhe. Das Schloss war vertraut – nicht identisch, aber nah an dem der zylinderförmigen Schatulle, die sie in Bakaresh erbeutet hatte.
Also will man, dass ich übe.
Sie zog einen Dietrich. Setzte an. Der Mechanismus war störrisch, reagierte auf Druck mit Schweigen. Sie atmete flach, hörte dem Metall zu, wie man den Atem eines Gegners studierte. Erster Versuch: gescheitert. Zweiter Versuch: der erste Stift setzte, der zweite blockierte.
Der dritte Versuch brachte Fortschritt. Ein leises Klicken, kaum mehr als ein Versprechen. Der Riegel blieb verschlossen, aber sie wusste jetzt, wie er sprechen würde, wenn er es wollte.
In der Ecke stand eine schmale Metallkiste. Das Schloss daran war simpler, aber mit einer Finesse eingebaut, die sie fast übersah: Ein doppelter Mechanismus, bei dem der zweite Teil erst auslöste, wenn der erste korrekt gesetzt war. Sie öffnete es schneller, als sie dachte. Leer. Kein Zettel. Kein Zeichen. Nur Staub.
Es war kein Lager. Es war eine Werkbank. Ein Ort, an dem Hände geübt und Augen zugesehen hatten. Vielleicht auch Ohren, irgendwo hinter diesen kahlen Wänden.
Sie blieb noch einen Moment stehen, den Blick auf eine dritte Truhe gerichtet. Die Gravur am Schloss erinnerte vage an Wellen. Ihre Finger juckten, es zu versuchen – aber etwas sagte ihr, dass es noch nicht an der Zeit war. Vielleicht würde sie morgen wiederkommen müssen. Vielleicht würde jemand anderes entscheiden, wann.
Als sie die Tür hinter sich schloss, blieb sie einen Moment in der schmalen Schattenlinie der Mauer stehen. Lauschte. Nichts. Nur das gedämpfte Treiben der Stadt, das durch die engen Gassen gedämpft wurde.
Sie ging nicht den direkten Weg zurück. Stattdessen nahm sie einen Umweg über den oberen Markt, wo Händler ihre Stände abdeckten und die letzten Kunden Münzen abwogen. Ihr Blick blieb an einem Jungen hängen, der einen kleinen Beutel in der Hand drehte und dabei ständig nach links und rechts sah. Ein Anfänger. Ungeübt. Genau die Sorte, die in Stewark entweder verschwand – oder ein Angebot bekam.
Ravia ging weiter.
Der Schlüssel in ihrer Tasche war jetzt nicht mehr nur ein Stück Metall. Er war ein Versprechen, dass jemand wollte, dass sie die nächste Tür fand.
Und Türen hatten sie hier viele.
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»Also ehrlich!«
Armond wedelte beim Sprechen mit seinem hölzernen Löffel in der Luft umher. Die Suppe hielt er in der anderen. Mit dem Kopf des Löffels deutete er schließlich auf Isidor.
»Ich habe doch gesagt, dass wir erst über andere Themen reden.«
Er seufzte halblaut und nur in Teilen aus gespieltem Frust. Eine Unterhaltung mit diesem Knaben konnte bisweilen ein quälendes Stück Arbeit sein. Ihm eine flüssige Unterhaltung aus dem geschundenen Körper zu zaubern, war ein beachtenswertes Stück Arbeit. Und auch wenn Armond es durchaus angenehm fand, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die ähnlich verschwiegen waren - im übrigen war es nur noch befriedigender, mit Leuten "zusammenzuarbeiten", die ähnlich verschwiegen waren, dabei aber mit den Händen hinter dem Rücken oder über dem Kopf gefesselt irgendwo in den unzähligen Kammern und Hinterzimmern dieser malerischen Insel auf einen Teil ihrer Zähne und / oder einen Teil ihrer Finger herabblickten - Isidor war eine harte Nuss.
»Du willst zurück.«, schlussfolgerte der Myrtaner.
»Mit deinen Mädels schäkern, deine kleinen Rüstungen schmieden und das tun, was zu einem halbwegs normalen Leben.«
Ein Lächeln umspielte seine Lippen.
»Ich halte dich nicht für dumm genug, dir jetzt zu sagen, dass ich das verstehe. Ich tu's nicht.«
Er zuckte mit den Schultern. Ein weiteres Seufzen folgte.
Das war kein Thema für heute Abend. Und erst Recht kein Thema, das Armond mit Isidor ausrollen wollte.
Der Verbrannte war klug genug, nichts zu erwidern.
»Was du sagst ist sehr richtig. Wind. Distanz. Höhenunterschied. Direkte Hindernisse. All das sind Dinge, die du beachten musst. Bei jedem Schuss. Und es sind längst nicht alle. Schießt du mit einem Kruz- oder einem Langbogen. Wie ist das Holz. Wie alt ist die Sehne. Ist der Pfeil gerade. Ist die Befiederung neu oder alt?«
Kurz ließ er das Gesagte wirken.
»Und das sind nur die Dinge, die du beachten musst, wenn du auf ein stationäres Ziel schießt. «
Er grinste, denn Isidor verstand.
»Keine Bange, das steht für heute nciht auf dem Stundenplan. Irgendwann anders. Vielleicht. Aber du hast die Grundlagen verstanden. Du wirst mit mir nicht hier campieren müssen, bis du alles verstanden hat. Meine Aufgabe ist es, dir die Grundlagen beizubringen. Der Rest ist schweißtreibende, fürchterlich anstrengende, nie enden wollende Fleißarbeit.«
Es vergingen einige Augenblicke, in denen die beiden Männer sich und Isidor dann seinen Bogen ansah.
»Du kannst noch eine Weile üben.« Er hielt inne.
»Wenn du magst. Ich bin hier. Ich stehe dir mit Rat und Tat zur Seite. Aber wenn du willst, können wir auch eine Art... Abschlussprüfung machen. Bestehst du, kannst du gehen. Die Grundlagen solltest du beherrschen.«
Dass er noch überhaupt keine Ahnung hatte, wie so eine Abschlussprüfung aussehen könnte, behielt er für sich.
Er war Agent, kein gottverdammter Ausbilder.
Felia
Geändert von Die Bürger (03.09.2025 um 17:45 Uhr)
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Isidor senkte den Blick, ließ den Löffel in der Schüssel kreisen, bis ein kleiner Wirbel aus Fett und Kräutern auf der Oberfläche tanzte. Prüfungen also. Das Wort schmeckte ihm nicht. Es erinnerte zu sehr an Dinge, die er nicht kontrollieren konnte. Und daran, dass man durchfallen konnte – selbst wenn man sich den Rücken wund arbeitete.
„Klingt, als wolltest du mich loswerden“, murmelte er halblaut, nicht mit Trotz, eher mit einem angedeuteten Lächeln, das ebenso müde war wie sein Rücken. „Aber ja. Ich will’s versuchen. Wenn du meinst, ich kann gehen, dann will ich wissen, ob ich's verdient habe.“
Er stellte die fast geleerte Schüssel beiseite und erhob sich. Die Knochen knackten beim Aufstehen, als wollten sie protestieren. Die Muskeln zogen sich wie alte Lederstreifen, festgeworden vom Tag. Und doch... da war etwas Neues in seinem Stand. Kein Selbstbewusstsein. Aber etwas, das sich dorthin entwickeln konnte. Vielleicht.
„Wenn du mir also sagst, worauf ich zielen soll, tu ich mein Bestes. Und wenn ich danebenschieße, dann sag wenigstens nicht: ‘Ich hab’s ja gesagt.’“ Er streckte sich kurz, griff dann nach dem Bogen, der inzwischen fast vertraut in seiner Hand lag – nicht wie ein Werkzeug, das er verstand, aber wie ein Tier, das er jeden Tag neu kennenlernen musste.
Ein kurzes Schweigen dehnte sich, ehe er leise nachsetzte:
„Und falls du mich wirklich durchfallen lässt, sag wenigstens, woran’s lag. Ich will nicht dümmer gehen, als ich gekommen bin.“
Ein rauer Windzug zog durch die Bäume und ließ die Reste des Feuers tanzen. Isidor trat ein paar Schritte nach vorn, die Füße fest im Boden, die Schultern schräg – so, wie Armond es ihm gezeigt hatte. Was auch immer dieser Mann sich ausdenken mochte: Er würde nicht kneifen.
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Armond hatte mächtig gelacht, nachdem Isidor am gestrigen Abend so voller Tatendrang begonnen hatte in Position zu gehen. Mit einem vom Training des Tages ausgelaugten Körper, einem Kopf voller Gedanken an die Heimat und seine Freunde und einem zu allem Überfluss gänzlich leeren Köcher hätte das wahrlich eine spannende Prüfung sein können.
Spannend.
Aber gänzlich erfolglos.
Ziel war es nicht, Isidor vorzuführen und sich an seinem Versagen zu belustigen, das Ziel war es, herauszufinden, ob der Kerl aufgrund seines Umgangs mit dem Bogen an der Akademie aufgenommen weren würde. Isidor bewusst scheitern zu lassen hätte nicht dazu beigetragen, dieses Ziel zu erreichen.
Armond hasste Ineffizienz.
Diesen vielleicht letzten Test zu gestalten war schwieriger gewesen als gedacht. Den Rest des abends und einen guten Teil des Morgens hatte er daher gebraucht, bis er eine Idee entwickelt hatte, die zumindest halbwegs brauchbar wirkte.
Jetzt - eine gute weitere Stunde nach ursprünglicher Konzeption - deutete er mit einer ausladenden Geste auf mehrere unterschiedliche Ziele. Eine Glasflasche baumelte von einem Ast und reflektierte bunt das Licht der Sonne. Der Suppentopf und zwei Holzschüsseln standen an verschiedenen Stellen in der Nähe der Klippe. Beide Rucksäcke standen auf Ästen der hier noch vereinzelt zu findenden Bäume. Eine Vielzahl an Zielen verschiedenster Größen, aus unterschiedlichen Materialien und in allerlei möglichen Entfernungen zu Isidors Position hatte der Myrtaner in den letzten Minuten aufgebaut.
Es war simpel, halbwegs schnell zusammengeschustert und schwierig genug, um den Burschen zu fordern.
»Du hast fünf Pfeile im Köcher. Du kannst schießen, worauf du willst. Auch mehrfach.«
Ruhig trat er neben Isidor und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Beeindrucke mich, Schmiedebursche!«, sagte er feierlich.
Armond war zufrieden.
Der erste Teil dieser Prüfung war recht simpel. Er konnte prüfen, ob Isidor verinnerlicht hatte, was er die letzten Tage gelernt hatte. Gleichzeitig war die Auswahl der Ziele aber eine hervorragende Möglichkeit, Isidor besser kennen zu lernen. Würde er voller Tatendrang und Hochmut fünf Pfeile daneben schießen, weil er die schwierigsten Ziele treffen wollte? Oder war er dumm genug, sich die einfachen, nahen Ziele zu suchen, nur um auf Nummer sicher zu gehen?
Felia
Geändert von Die Bürger (09.09.2025 um 15:14 Uhr)
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Baronie Stewark, Stewarker Land, Dalahs Gehöft -> kleine Bucht (Stangenwaffen 1 Selbststudium)
Meve blinzelte. Dieser eine Moment zwischen dem Aufbau des Übungsgerätes und dem Kommando Sarenyas, zuzustechen, war ihr wie eine mehrmonatige Ewigkeit vorgekommen, das Auftreten und Vergehen von Jahreszeiten in einem einzigen Wimpernschlag. Vielleicht war es auch einfach der Schock der Erlebnisse. Der Überfall der Sturmkrähen auf den Hof, der Tod Torvalds. Die Gefangenschaft Kajas und Dalahs ungewisses Schicksal. Würden sie das Kind versklaven und zu einer der ihren machen? War ihre Mutter längst tot und würde wahlweise Futter für die Fische oder Möwen werden? All diese Gedanken wirbelten in Meves Verstand herum, so sehr, dass sie zu unkonzentriert war und falsch mit dem Speer zustach, der Schwung sie aus der stehenden Haltung brachte, die ihr Sarenya eingebläut hatte.
„Konzentriere dich, Titanenkind.“, die dunkelhaarige Krähe sah sie mit hochgezogener Braue an. „Was ist los?“
„Das fragst du?“, fragte die blonde Hünin und sah die kleinere Frau fassungslos an.
Diese seufzte, wandte einen Moment den Blick ab. Vielleicht schlummerte da also doch ein Gewissen. Als sie wieder in die blauen Augen der Nordländerin blickte, wirkte sie ernster als zuvor.
„Wir sind die Sturmkrähen. Schon seit den grauen Tagen der Vorzeit ist dies unsere Art zu leben.“, die Worte wirkten wie auswendig gelernt, „Wenn du dein ganzes Leben auf der See zubringst, lernst du schnell, nichts in Frage zu stellen. Du gehorchst. Ganz einfach. Auch wenn es Blutvergießen bedeutet.“
Ein harter Schein trat in ihren Blick. „Und dann heißt es: Die oder wir. Der Knecht war ein Kollateralschaden. Vermeidbar, aber es ist nun mal passiert. Diejenige wird ihre Strafe bekommen und ihre Lektion lernen. Was die Mutter des Mädchens angeht, die Hofbesitzerin …“ Der harte Ausdruck verschwand wieder, Sarenya seufzte.
„Sie war gegenüber der Krähenmutter unseres Schiffes … aufmüpfig. Vorlaut, als ihr Kind begutachtet. Ospria ist eine streitbare Frau, aber grundsätzlich fair. Die Frau hat arge Prügel bezogen und wurde dann wie du abseits gebracht, um ihren Wert zu messen.“
„Du siehst aber nicht glücklich aus mit dem … Ablauf.“
„Weil ich solche wie die Bäuerin schon erlebt habe. Mütter. Kämpferinnen.“
„Dalah ist keine Kämpferin …“
Sarenya schnaubte. „Nicht im Sinne einer Kriegerin, einer Soldatin. Aber sie hat ein Kind. Mütter würden für ihre Kinder töten. Sie und ihre Tochter zu trennen, wird unmöglich sein. Das Kind ist jung, irgendwann ist der Verlust der Mutter vergessen … aber eine Mutter, nun …“
„Vergisst nicht.“, schloss Meve, die in ihrem jungen Alter noch nicht das Vergnügen oder die Pflicht hatte, Mutter zu sein und auch nicht wusste, ob sie es jemals sein würde … oder sein wollte. Der Blick, den Sarenya ihr zuwarf, war lang und nachdenklich. Meve öffnete leicht den Mund in plötzlicher Erkenntnis: Sarenya war ebenfalls Mutter. Oder es zumindest gewesen. Die Sturmkrähe schien zu merken, dass Meve der Gedanke gekommen war.
Ein knappes Nicken. „Ja“, antwortete sie barsch auf die Frage, die nicht laut gestellt worden war. „Ja, ich habe eine Tochter. Ja, ich wir waren nicht von Geburt an Sturmkrähen. Sie war jung genug, um mich schnell genug zu vergessen, aber …“
Sie wandte sich ab. „Los, du zu groß geratenes Weibsstück, ich will jetzt etwas Arbeit sehen. Ich sage dir den Kreis an und du stichst in den entsprechenden Radius. Für jeden Stich, der daneben geht oder unsauber ausgeführt wurde, machst du Liegestütze. Natürlich am Ende der Übung.“
Ich würde wetten, dass Ospria auch Sarenya und ihre Tochter in das Volk der Sturmkrähen gebracht haben. Das erklärt ihren Trotz der alten Krähenmutter gegenüber. Darauf kann ich bauen. Vielleicht … nur vielleicht …
„Los, du Holzkopf, oder soll ich dir Feuer machen!“
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Fünf Pfeile.
Isidor nickte knapp, als Armond ihm die Hand auf die Schulter legte, doch der Druck wog schwerer, als er zugeben wollte. Nicht wegen des Gewichts, sondern wegen der Worte. „Beeindrucke mich.“ Das klang wie ein Spott – aber es war keiner. Und das machte es nur schlimmer.
Er ließ den Blick schweifen.
Glas. Holz. Eisen. Tuch.
Stillstand. Bewegung. Entfernung. Reflexion.
Jedes Ziel sprach eine eigene Sprache. Und alle schienen zu flüstern: Zeig, was du kannst. Oder geh.
Isidor atmete tief ein, fühlte, wie die Luft seine Lunge füllte, langsam, kontrolliert – wie Armond es ihm beigebracht hatte. Dann trat er an den Rand der improvisierten Schusslinie. Die Fingerspitzen an der Sehne fühlten sich steif an, doch das war gut. Es hielt ihn davon ab, vorschnell zu handeln.
Er zog den ersten Pfeil. Prüfend. Ruhig. Dann spannte er. Zielte. Und ließ los.
Erster Schuss: Die linke Holzschale. Nicht das schwierigste Ziel, aber auch nicht das leichteste – ein mittlerer Abstand, halb verborgen im Schatten eines Wurzelstocks. Der Pfeil flog in flachem Bogen, traf sie an der Kante, ließ sie klappernd umkippen. Kein Durchschlag. Aber ein Treffer.
Kein Kommentar von Armond. Nur Wind und das sanfte Knacken des Lederequipments.
Zweiter Schuss: Der Rucksack, Armonds. Er war schwerer, saß höher, in einer Astgabel. Isidor zögerte einen Moment, dann zielte er tief, kalkulierte das Gewicht mit ein. Der Pfeil durchschlug den unteren Saum und blieb darin stecken. Der Treffer fühlte sich unsauber an – aber es war ein Treffer. Wäre ich ein Feind… hätte ich seine Ration durchbohrt.
Ein seltsamer Gedanke. Ein kurzer Anflug von Scham. Und Stolz.
Dritter Schuss: Die baumelnde Glasflasche. Beweglich. Empfindlich. Ein Test für Präzision. Er nahm sich Zeit. Zwei Atemzüge. Dann schoss er – verfehlte um eine Handbreit. Das Glas schwankte nur. Dritter Schuss verschwendet.
Er schloss die Augen einen Moment. Fokus. Keine Wut. Nur Lernen.
Vierter Schuss: Der Topf. Stabil, glänzend, schräg gestellt. Seine Pfeilspitze glitt daran ab – klong. Kein Treffer im eigentlichen Sinn. Nur ein Kontakt. Wieder keine Wirkung. Zwei Fehlschüsse in Folge.
Letzter Pfeil. Erneut Stille. Armond rührte sich nicht.
Fünfter Schuss: Die zweite Holzschüssel – diesmal Armonds. Nah, leicht, aber direkt unterhalb der Klippe. Ein Treffer würde sie hinunterstürzen lassen. Eine Metapher, irgendwie. Er spannte den Bogen. Zögerte. Dann zielte er, nicht auf die Schüssel.
Er zielte auf die Glasflasche. Noch einmal. Der Wind hatte sich gedreht. Sein Herz schlug hart. Der Pfeil löste sich.
Ein Splittern. Ein Regen aus Licht und Splittern. Die Flasche war Geschichte.
Isidor ließ den Bogen sinken, sagte jedoch nichts. Er sah nur hinunter auf seine leeren Hände – und wartete.
Auf Armonds Urteil. Oder das Schweigen.
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