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Lehrling
[Story] Alarichs Kreuzzug - Die Geschichten Myrtanas - von Silas Serdar
Die dunklen Wellen der See peitschten verzweifelt gegen die grotesken Felsen, die wie mächtige Speere aus den schwarzen Wällen herausragten. In den Wällen waren große, furchterregende Statuen eingehauen worden. Sie trugen dunkle Roben aus Obsidian und vor ihren Körpern hielten sie gezackte Klingen, die wie Fangzähne von Untieren glichen. Aus den dunklen Höhlen ihrer Masken brannten gespenstische Flammen, die mit voller Verachtung jede Bewegung der Belladonna zu verfolgen schienen.
Die stolze Kriegsgaleone pirschte seit geraumer Zeit entlang der Wälle, um eine geeignete Landestelle zu finden, stets außer Reichweite der Felsen.
Mit Abscheu und Angst starrten einige Seemänner auf die unheilverkündeten Gemäuer der verfluchten Insel. Einige nahmen es zum Anlass, um zu Innos zu beten, er möge sie vor den Schrecken schützen, der mit Sicherheit auf sie wartete. Selbst die Veteranen, die bereits viele blutige Schlachten gegen Orks und Piraten geführt hatten, erschauderten, als die bösartigen Blicke der Statuen auf sie fielen. Nicht einmal ihr geschätzter Rum konnte ihre gezerrten Nerven beruhigen. Dann waren noch die Winde, die eine Todeskälte über das gesamte Deck der Belladonna verbreiteten. Dabei glaubten einige Seeleute sogar, ein leises Wimmern und Klagen zu hören, der ihr Blut in den Adern gefrieren ließ.
Kapitän Salem schaute sich seine Matrosen mit verständnisvoller Miene an. Selbst der rotbärige Hüne, dessen bullige Statur einschüchternd war, spürte wie die eiskalte Klaue der Furcht dabei war, sein Herz wie eine reife Frucht quetschen zu wollen. Nach einer Weile wanderte Salems Blick auf die Ritter des Königs, die sich entlang der Reling aufgestellt hatten. Mit grimmigen, stoischen Blicken starrten sie auf die Wälle der verfluchten Insel, ohne dass auch nur ein Anzeichen von Furcht über ihre markanten Gesichter huschte. Vielleicht waren diese hochnäsigen Ritter tatsächlich so mutig, wie man es sich in Myrtana erzählte. Vielleicht aber konnten sie ihre Angst nur besser verstecken.
Plötzlich erklang ein lautes Würgen aus dem Oberdeck. Rasch wandte sich Salem um und sah einen einzelnen Ritter, der sich über die Reling gebeugt und elendig keuchte und röchelte. Salem schaute den Ritter bedrückt an, nahm dann einen Wasserschlauch von seinem Ledergürtel und ging mit sicheren Schritten auf den Leidenden zu. Sanft klopfte Salem auf die Schulter des Ritters und hielt seinen Schlauch bereit.
„Hier, junger Herr“, sagte Salem mit tiefer, beruhigender Stimme.
Der Ritter zuckte enorm auf und wollte sofort eine respektablerer Haltung einnehmen. Doch dann erkannte er den Kapitän, der ihn freundlich anlächelte und erneut den Schlauch anbot. Mit zaghaften Bewegungen nahm der junge Ritter den Schlauch dankend an, spülte mit dem klaren Wasser seinen Mund und spuckte die Reste seines letzten Mahls von Bord. Ein leises Seufzen kam aus der Kehle des Ritters.
Salem schaute derweil mit Mitleid auf den Jungen, der sich matt an der Reling anlehnte.
Dieser Bursche war wahrlich nicht wie die anderen Ritter. Er war viel zu jung, dass verriet schon sein bubenhaftes Gesicht. In den himmelblauen Augen hatte Salem bereits bei ihrer ersten Begegnung erkannt, dass der Junge nicht für diese „heilige“ Mission geschaffen worden war. Nach einer Weile richtete sich der Bursche auf und schaute beschämt auf den verschmierten Schlauch.
„Verzeiht mir, Kapitän. Ich… Ich wollte Euren Schlauch nicht beschmutzen“, sagte der Bursche bedrückt.
Salem jedoch lächelte bloß und klopfte mit seiner Pranke väterlich auf die Schulter des Jungen.
„Es ist nur ein einfacher Schlauch, junger Herr“, erwiderte Salem. „Den kann man ordentlich auf Hochglanz wieder putzen. Aber wie steht es mit Euch?“
„Es…“, begann der Bursche, zögerte jedoch eine Weile. Dann richtete er einen angstvollen Blick auf die Wälle der verfluchten Insel. Dabei kreuzte er widerwillig seinen Blick mit der einer Statue, die ihn mit hässlichem Ergötzen anzustarren schien. Ein leises Scheppern war zu hören, als der Bursche ungewollt zu zittern begann.
„Ich hasse diesen Ort“, flüstere der Bursche leise.
Salem nickte verständnisvoll und folgte dem Blick des Jungen. „In der Tat“, begann der Kapitän finster. „Ein entsetzlicher Ort. Der einzige Trost ist, dass wir hundert erfahrene und tapfere Ritter am Bord haben. Euch eingeschlossen.“ Salem lächelte den Burschen aufmunternd zu.
Doch dessen Miene hatte sich verdüstert. „Ich wünschte, dass man auf mich verzichtet hätte.“, erwiderte der Bursche verdrießlich und schaute auf das finstere Wasser, das gegen die Belladonna schwappte. Salem sagte nichts. Er schaute nur mitleidvoll auf den Burschen. Gerade wollte er den Burschen Mut zu sprechen, als plötzlich eine strenge, klare Stimme die Luft zerriss.
„Finbar!“
Erschrocken wandten sich Salem und der Bursche um und sahen zwei Paladine, die auf sie zukamen. Der erste war wie Salem ein großer und staatlicher Kerl und auf seinem breiten Gesicht thronte ein dichter, brauner Schnurrbart. Der zweite Paladin indes war kleiner, doch strahlte er eine Aura von Autorität und Strenge aus. Sein Gesicht war hart und markant und ein wohlfrisierter, blonder Gabelbart verlieh im etwas Edles. Doch als der Paladin näherkam, sah Salem erneut die hässliche, lange Narbe, die beinahe die gesamte, linke Gesichtshälfte entstellte.
Salem grüßte den Paladin, doch dieser schenkte dem Kapitän keine Beachtung. Stattdessen ging dieser direkt auf den Burschen zu, packte diesen an dessen Schulter und zerrte ihn an sich.
„Halte dich gefälligst aufrecht, Junge!“ sagte der Paladin streng. „Sollen deine Waffenbrüder dich so sehen?“
„N-Nein, Vater“, erwiderte Finbar eingeschüchtert. „Aber… Die Übelkeit und... diese Insel, sie – „
Bevor der Junge seinen Satz vernünftig bilden konnte, schnitt ihm der Paladin das Wort ab. „Keine Ausflüchte, Finbar. Stelle dich gerade und zeige Stärke!“, erwiderte der Paladin harsch.
Sofort bemühte sich Finbar, dem Befehl seines Vaters zu folgen. Derweil wandte sich der Paladin an seinem Mitstreiter.
„Lord Karlos. Sorgt dafür, dass Finbar sich nicht vor unseren Männern entblößt. Schon gar nicht vor den einfachen Matrosen.“
Lord Karlos nickte und wandte sich an Finbar. „Kommt, Sir Finbar“. sagte Karlos ruhig.
Der junge Finbar nickte hastig, wandte sich dann an Salem und verbeugte sich höflich vor ihm. „Vielen Dank für das Wasser, Kapitän.“, sagte er in einem formellen Ton. Die Augen jedoch funkelten Salem mit Dankbarkeit und Bedauern an. Dann folgte Finbar Lord Karlos zum Hauptdeck.
Der Paladin und Salem schauten den Jungen nach, der sich anstrengte, auf dem wackelnden Deck einen aufrechten Gang zu halten.
„Der Junge sollte nicht hier sein, Mylord“, kam es aus Salem heraus.
„Der Junge ist genau da, wo er sein sollte“, erwiderte der Paladin. Dabei glaubte Salem aus der Stimme des Paladins, Sorge und Unsicherheit herausgehört zu haben. Dann wandte sich der Streiter Innos an den Kapitän. Seine kalten, blauen Augen fixierten Salem auf eine unangenehme, strenge Weise.
„Eure Matrosen, Kapitän“, begann der Paladin im kühlen, tadelnden Ton, „Sind zu furchtsam. Ihren Mut werden sie bestimmt nicht in ihren Rumflaschen finden.“
„Meine Männer, Mylord“, erwiderte Salem ernst, „Haben nicht die Gewohnheit, gegen Untote und Dämonen zu kämpfen. Geschweige denn, deren Nester frontal anzugreifen.“
„Dann sollten sie sich schnell daran gewöhnen“, antwortete der Paladin hart. „Sie sind Männer des Königs und Söhne Innos‘. Sie sollten sich geehrt fühlen, an dieser heiligen Mission teilzunehmen.“
„Das könnten sie vielleicht, wenn wir mit der gesamten Flotte losgesegelt wären“, bemerkte Salem zynisch.
Der Paladin antwortete nicht sofort, sondern intensivierte seinen Blick. „Ich verstehe Eure Bedenken, Kapitän. Jedoch sind meine Ritter erfahrene Veteranen. Sie haben bereits Beliars schändlicher Brut das Fürchten gelehrt. Und das werden sie heute erneut bewerkstelligen.“
„Hat der junge Herr ebenfalls an den Kreuzzügen teilgenommen?“, fragte Salem, obwohl er die Antwort sehr wohl kannte.
Da sah der Kapitän auf einmal eine Veränderung im Gesicht des Paladins. Alle Härte und Strenge wichen von ihm und ein besorgter, trauriger Mann schien nun vor Salem zu stehen. Doch so schnell wie diese Gemütsänderung kam, so schnell verschwand sie wieder hinter einer kalten, stoischen Fassade.
„Sir Finbar mag zwar noch nicht die nötige Erfahrung besitzen. Doch er ist ein Ritter des Königs und Streiter Innos‘. Er ist dazu bestimmt worden, an dieser heiligen Mission teilzunehmen und sie siegreich zu erfüllen.“
„Oder er könnte dabei sterben, wie seine beiden Brüder.“, antwortete Salem kopfschüttelnd.
Mit einmal kam der Paladin dem Kapitän bedrohlich nahe. Seine Augen brannten wie blaues Feuer und sein Gesicht verhärtete sich in eine Grimasse des Zorns.
„Hütet Eure Zunge, Kapitän!“, fauchte der Paladin finster. „Mein Sohn wird nicht sterben! Er wird seine Bestimmung erfüllen! Zusammen werden wir den Tod seiner Brüder rächen! Zusammen werden wir Adanos‘ Reich von jedem ekelhaften Makel Beliars befreien! Jeder schändliche Tempel des Dunklen Vaters werden wir niederbrennen! Jede Missgeburt werden wir mit Feuer und Schwert von dieser Welt tilgen! Denn in uns brennt das göttliche Feuer Innos‘! Er brennt in all seinen Streitern! Also wagt es nie wieder, unser Feuer mit Euren giftigen Zweifeln zu verpesten!“
Der letzte Satz des wütenden Paladins hallte über das ganze Deck. Die wimmernden Winde schienen selbst sogar kurzzeitig aus Furcht zu schweigen, bevor sie wieder erneut über die Decks wehten. Da erkannte der Paladin sein Fehlverhalten. Angestrengt räusperte er sich und bemühte sich, sich zu beruhigen. In seinem Inneren schämte er sich und verfluchte sich dafür, die Fassung kurzzeitig verloren zu haben. Als er sich gefasst hatte, wandte der Paladin seinen Blick auf die dunklen Wälle der Insel.
„Wir werden obsiegen, Kapitän“, sagte der Paladin grimmig. „Wir werden obsiegen und Beliars Einfluss auf Adanos‘ Reich schwächen. Sorgt nur dafür, dass Eure Männer in der kommenden Schlacht die Fassung nicht verlieren, verstanden?“
„Jawohl, Lord Alarich“, antwortete Salem ruhig. Daraufhin wandte sich Alarich vom Kapitän ab und marschierte auf den Bug des Schiffes zu. Salem, der den Paladin mit seinem Blick verfolgte, sah dort die rote Gestalt des Feuermagiers, der wie ein roter Nebelschleier stand und auf etwas schaute.
Mit musternden Blick begutachtete der ergraute Meister Torren die schwarze Tafel. Sein Blick wanderte stets zwischen der Abbildung der Insel und den Inschriften, die in einer fremdartigen Sprache verfasst worden waren. Die nahenden Schritte Alarichs rissen den Feuermagier aus seinen Gedanken und er wandte sich dem Paladin zu. Ein freundliches Lächeln begrüßte Alarich, der dies mit einer förmlichen Verbeugung erwiderte.
„Verzeiht, wenn ich Euch bei Euren Studien unterbrochen habe, Hochwürden“, sagte Alarich respektvoll.
Der Feuermagier indes schüttelte lächelnd den Kopf. „Mitnichten, mein Sohn“, begann Meister Torren, „Ich habe bereits das Wesentliche herausfinden können.“
„Was habt Ihr in Erfahrung gebracht, Hochwürden?“, fragte Alarich, in dessen Stimme eine Spur von Besorgnis zu erkennen war.
Der Feuermagier wandte sich zuerst zur Karte und schließlich zu den Wällen der Insel. „Wir werden bald den Eingang der Passage finden, die uns zum Herzen von Thanadon führen wird“, sagte Meister Torren. „Und dort werden wir auch Beliars Tempel finden.“
„Wie stark ist die Passage befestigt?“, hakte Alarich nach.
Kurzzeitig straffte sich Meister Torrens Gesicht. „Da liegt der Hund begraben, mein Sohn. Er ist es nicht.“
„Wie meinen?“
„Die Passage ist weder mit Mauern noch mit Toren oder Ketten gesichert worden. Sie ist einfach zugänglich.“
Instinktiv spürte Alarich, wie das ekelhafte Gefühl einer Vorahnung in seiner Brust anschwellte. Er schaute sich die Statuen an, die immer grotesker wurden. Ihre gespenstischen Augen schienen den Paladin zu durchdringen und Alarich glaubte für einen Moment, im Winde ein schwaches, doch grausames Kichern vernommen zu haben.
„Glaubt Ihr, dass Eure Barriere ausreichen wird, um uns vor feindlichen Zaubern zu schützen?“, fragte Alarich, bemüht seine aufkeimende Besorgnis zu verbergen.
Meister Torren durchschaute jedoch Alarich und lächelte ihn aufmunternd zu. „Meine Barriere wird die Belladonna schützen. Weder Projektil noch Zauberei können sie durchdringen. Jedoch…“ Der Feuermagier schaute sich die Statuen an, bevor er weitersprach. „Jedoch könnten unsere Feinde andere Teufeleien für unwillkommene Besucher vorbereitet haben. Deswegen müssen wir uns gegen das Schlimmste wappnen.“
Die letzten Worte des Feuermagiers bedrückten Alarich. Der Kummer fraß regelrecht durch sein Herz. „Ist es das wirklich wert?“, hörte er sich im Inneren fragen.
Als ob er diese Frage laut ausgesprochen hätte, antwortete Meister Torren sofort. „Verzage nicht, mein Sohn“, sagte der Feuermagier und legte eine Hand auf Alarichs Schulter. „Unser Herr wacht über uns. Wir werden unsere Bestimmung erfüllen“, sagte Meister Torren mit festen Glauben.
Alarich lächelte und nickte stumm. Der Kummer jedoch blieb weiterhin bestehen. Plötzlich scheuchte ein Ruf die gesamte Mannschaft der Belladonna auf: „Passage, backbord voraus!“
Mit einen Mal öffnete sich ein großer, schluchtenartiger Spalt zwischen den Wällen der Insel. Zwei monströse, hässliche Dämonen aus schwarzem Stein schienen die Passage mit ihren grässlichen Hellebarden zu bewachen. In ihren Augenhöhlen brannten die kalten, weißen Geisterflammen, die boshaft auf die dunkle See starrten. Die Mannschaft der Belladonna versammelte sich augenblicklich an der Reling. Die Ritter zogen bereits ihre Waffen und bereiteten sich auf einen möglichen Kampf vor.
Derweil bellte Salem Befehle an seine Matrosen. Seine Veteranen rüsteten sich mit Rüstungen und Waffen aus, während die Jüngeren sicher unter Deck gebracht worden waren. Unterdessen hatte sich Meister Torren auf das Oberdeck aufgestellt und sprach eine Zauberformel. Kurzerhand bildete sich über der gesamten Belladonna eine rot wabernde, kuppelartige Barriere aus. Für kurze Zeit staunten Ritter wie Matrosen über diese neuartige Magie, bevor sie von ihren Anführern wieder auf die Gegenwart gelenkt wurden. Und als alle sich vorbereitet hatten, steuerte die Belladonna zwischen den steinernen Wächtern und verschwand daraufhin in der Passage.
Die Passage war schmal, jedoch reichte es für die Belladonna noch aus. Zu beiden Seiten der Kriegsgaleone erhoben sich nur wenige Meter entfernt glatt gehauene Mauern. Sie waren nicht krude oder grotesk, wie es die Wällen waren, sondern waren verziert mit düsteren Reliefs und Zeichnungen. Bei manchen Reliefs, die abscheuliche Dämonen darstellten, begannen viele von Salems Matrosen heftig zu zittern. Selbst die jüngeren unter den Rittern begannen innerlich zu zaudern. Das unheimlichste jedoch waren die Frauen.
Auf beiden Seiten standen auf kleine Altäre Statuen von Frauen. In ihren kalten Händen hielten sie schwarze Kerzen, auf denen ebenfalls die geisterhaften Flammen tanzten. Kalt und doch schön schauten die Frauen mit leeren Augenhöhlen auf die Belladonna herab. Ihre Diademe schienen jedoch aus Knochen und Hörnern zu bestehen, wodurch sie was Gespenstisches und Dämonisches zugleich besaßen. Salem begutachtete die Statuen mit wachsender Furcht an.
Plötzlich glaubte er zu sehen, wie eine der Statuen ihn finster anlächelte. Ruckartig nahm er sein Fernglas herunter und bemühte sich, die Fassung zu bewahren. Sein Blick wanderte über die Ritter bis hin zu Alarich. Keine Furcht. Kein Anzeichen von wachsender Panik war auf dessen Gesicht zu sehen. Was Salem nicht sehen konnte, war Alarichs Bestreben, gegen seine aufkeimende Furcht zu kämpfen. Und dann begann es.
Ein schwaches Singen hallte plötzlich durch die Passage. Eine melodiöse und unheilvolle Stimme einer Frau war zu hören. Dabei sang sie Worte in einer Sprache, die wahrscheinlich nur Meister Torren kennen könnte. Kaum hatte die Stimme gesungen, schon spürten alle auf der Belladonna, wie plötzlich die Furcht, wie eine eiskalte Stricknadel, in ihre Herzen gerammt wurde. Einige Matrosen zuckten panisch auf, jedoch zwang Salem sie sofort zur Räson.
Da erklang eine weitere Frauenstimme. Und dann noch eine. Und noch eine. Mit einen Mal sang ein ganzer Chor und ließ die Wände der Passage erbeben. Die Mannschaft schaute sich angsterfüllt um. Da wurden sie alle gewahr, dass die zuvor leeren Augen der Statuen plötzlich leuchteten. Wie durchdringende Lampen starrten die Frauen auf die Männer und ihre zuvor schönen Gesichter entstellten sich zu grausamen Fratzen. Ihre Münder wurden zu Mäulern des Schrecken. Da verwandelte sich der Gesang in eine entsetzliche Kakofonie des Schmerzen. Ein grässliches Geschrei kam aus hunderten steinernen Kehlen und trieben Salems Leute in den Wahnsinn.
Wie elende Jammergestalten fielen mehrere der Matrosen zu Boden und wandten sich heulend und klagend, während sie panisch ihre Ohren schützen wollten. Salem selbst begann laut zu wimmern, hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und versuchte, der grausigen Macht des Geschreis zu trotzen.
Selbst die Ritter krümmten sich vor Furcht und Schmerzen. Die Jüngeren begannen laut zu wimmern und zu schluchzen. Finbar hielt seine Ohren zu und doch drang das ekelhafte Geschrei hindurch und durchbohrte Finbars Herz mit tausenden von kalten Nadeln. Als Finbar laut aufschluchzte, packte ihn eine Hand an der Schulter und zerrte den Jungen hoch.
„Bleib standhaft, mein Junge!“, hörte Finbar seinen Vater rufen.
Als Finbar sich ihm zuwandte, sah er seinen Vater, der trotzt des Geschreis und der Schmerzen seine Fassung bewahrte. Dann eilte Alarich zu seinen Leuten und half einige auf, deren Knie weich geworden waren.
„Haltet stand, meine Recken! Ihr seid die Streiter Innos‘! Unser Herr beschützt uns! Hört ihr?! Innos beschützt uns!“
Und während Alarich dies sagte, kämpfte sein Willen gegen die Furcht und den Schmerz an, die die Seele des Paladins zu zerreißen drohten. Alarich begann immer mehr über das Deck zu torkeln und keuchte und fauchte wie ein verletztes Tier. Er wollte gerade erneut über das ganze Deck rufen, als plötzlich eine Totenstille herrschte.
Kein Laut. Kein Schrei war mehr zuhören. Mit großer Furcht sah sich Alarich um und erkannte, dass die Belladonna soeben die Passage verlassen hatte. Das boshafte Licht, dass noch zuvor in den Augen der steinernen Frauen gebrannt hatte, war erloschen. Und die dämonischen Fratzen kehrten zu ihrer schönen Form zurück.
Keuchend ging Alarich zu seinen Männern und begutachtete jeden einzelnen von ihnen. Beinahe wäre er über Salem gestolpert, der wie halbtot am Boden lag und noch immer schwer keuchte. Ohne nachzudenken, wirkte Alarich mit Hilfe seiner Rune einen Zauber aus und der Kapitän spürte, wie Kraft und Frische seinen Körper durchflossen. Alarich half Salem auf die Beine und brachte ihn an die Reling.
Dann suchte der Paladin schnurstracks nach seinem Sohn. Er fand Finbar zitternd und schwach vor. Nur mit Karlos‘ Hilfe konnte er sich noch auf den Beinen halten. Alarich dankte Karlos für seine Hilfe und sandte ihn zu den anderen Rittern. Als Alarich mit Finbar allein war, half er seinen Sohn dabei, sich sicher an der Reling anzulehnen. Alarich hielt Finbars Kopf mit beiden Händen.
„Wir haben es geschafft, mein Junge.“, sagte Alarich mit einem leisen Lächeln. „Hörst du, Finbar? Wir haben es geschafft. Alles wird gut.“
Gerade wollte Finbar antworten, als plötzlich der dunkle, grollende Klang einer Glocke erschallte. Mit einem Ruck drehten sich alle Männer um und ihre Augen weiteten sich vor Staunen und Furcht.
Vor aller Augen erstreckte sich ein weiter Kessel, der von den schwarzen Wällen umringt war. Entlang des Kessels waren Docks aus schwarzen Stein, an denen Schiffe befestigt worden waren. Große Kriegsgaleonen wie kleinere Handelskoggen schwammen im schwarzen Wasser und waren in einem überraschend gutem Zustand. Hinter den Docks führten Treppen zu den Wällen, die von hunderten, höhlenartigen Eingängen durchlöchert zu sein schien. Vereinzelnd konnte man Obelisken sehen, auf deren Spitze die Geisterflammen brannten.
Inmitten des Kessels ragte ein einzelner, riesiger Fels heraus. Und auf diesen Felsen thronte der mächtiger Tempel der Insel Thanadon. Minaretten aus schwarzen Marmor erhoben sich wie Speere gen dunklem Himmel. Mauern, die mit Dornen versehen waren, verbanden die Minaretten miteinander. In der Mitte des Tempels erhob sich ein unheilvoller Dom. Ein ekelerregendes Totenlicht floss wabernd von der dunklen Kuppel des Doms wie nebelartige Bäche nieder. Aus dem Innern des Doms erklangen die letzten Schläge der Glocke, bis sie dann verstummte. Der letzte Klang hallte über den gesamten Kessel und eine unangenehme Stille legte sich über alles.
Lange starrte die Besatzung der Belladonna auf den Tempel, der mit seiner boshaften Imposanz einschüchterte und doch zugleich beeindruckte. Alarich war der erste, der sich vom unheimlichen Bann lösen konnte. Er ging mit Finbar zu seinen Rittern und seine Stimme riss alle Anwesenden aus ihrer Trance. „Macht euch bereit, Männer!“, rief Alarich mit klarer Stimme. „Bereitet die Boote vor! Lord Karlos!“ Alarich wandte sich zu seinem Mitstreiter. „Holt den Erlöser aufs Deck!“
Auf der Belladonna herrschte nun große Aufregung. Die Ritter bereiteten ihre großen Ruderboote auf den Angriff vor. Derweil beobachtete Finbar mit einem Fernglas das felsige Ufer der Tempelinsel und hielt Ausschau nach Feindbewegungen. In dieser Zeit hievten Karlos und seine Waffenbrüder eine breite Sänfte aufs Deck. Rote Vorhänge wurden zusammengezogen, jedoch strahlte gelegentlich ein heller Schimmer rötlichen Lichtes heraus. Ein merkwürdiges Summen ertönte aus der Sänfte, wobei es aufgrund des schrecklichen Geschreis der jungen Matrosen unterging.
Der schreckliche Gesang hatte die Seelen der Jüngeren regelrecht zerbrochen. Wie von einer entsetzlichen Tollwut gepackt kreischten sie unverständliche Worte und schlugen wild um sich, während ihre Kameraden sie zu ihrer eigenen Sicherheit anketten mussten. Andere fanden jedoch durch den Gesang einen qualvollen Tod. So auch der Schiffsjunge Tim, den Salem schweren Herzens zusammen mit den anderen Verstorbenen notgedrungen im Frachtraum ablegen musste.
Traurig schaute der Kapitän auf den Jungen. Vor wenigen Wochen noch hatte Tim mit breitem Grinsen verkündet, dass er keine Jungfrau mehr sei, als er stolz von seinem Landgang zurückkehrte. Jetzt lag er tot und kalt vor Salem, sein einst fröhliches Gesicht zu einer panischen Grimasse versteinert.
Hinter Salem näherte sich dessen Erster Maat James. Sein Gesicht wurde von einem seiner gebrochenen Kameraden völlig zerkratzt. Als James Tims Leiche sah seufzte er schwer.
„Das hat der Junge einfach verdient“, sagte James bitter.
Salem schüttelte traurig den Kopf und sein Blick wanderte auf die anderen Leichen. „Das hat keiner von ihnen verdient“, erwiderte der Kapitän matt.
Schließlich stiegen beide zurück aufs Deck, wo bereits Alarich dabei war, die Sänfte auf ein vorgefertigtes Floss zu setzen. Beim Anblick des Paladins spuckte James wütend aus.
„All das verdanken wir Lord Arschloch und seinen Fanatikern!“ fauchte James leise. Salem erwiderte nichts darauf, sondern schaute sich schweigend Alarich an. „Wir hätten niemals hierherkommen dürfen, Sal. Dieser „Kreuzzug“ ist zum Scheitern verurteilt!“
„So weit will ich nicht gehen, James.“, antwortete Salem ruhig. „Wenn dieser „Erlöser“ so mächtig ist, dann haben wir eine Chance heil aus dieser Sache rauszukommen.“
„Wie kannst du dir bei dieser Magiescheiße sicher sein? Was ist, wenn uns dieses – Ding – um die Ohren fliegt?“
„Wir können nur hoffen, dass er es nicht tut“, antwortete Salem ernst.
Als alles vorbereitet war, stürmten die Paladine mit ihren Ruderbooten den Landungssteg der Tempelinsel. Alarich ging zusammen mit Karlos, Finbar und einer Kohorte seiner Veteranen vor und sicherte den gesamten Steg. Dabei entdeckten sie eine schwarze Treppe, die von beiden Seiten von Obelisken gesäumt war. Finbar betrachtete mit einer Mischung aus Furcht und Neugierde die Inschriften, die sehr alt zu sein schienen.
Wenig später stießen Meister Torren und ein Dutzend weitere Ritter hinzu. Zu Alarichs und Finbars größter Überraschung befand sich auch Salem unter ihnen. Dieser trug seine königliche Rüstung und einen schwarzen, ledrigen Nasalhelm, an dessen Spitze ein rötlicher Schweif befestigt war. Aus dem Stirnbereich des Helmes ragte der grimmige, gehörnte Löwe Myrtanas, der fauchend seine Pranken ausstreckte. In seinen Händen hielt Salem einen schweren Morgenstern, der aus magischen Erz bestand. Alarich nickte dem Kapitän respektvoll zu und wandte sich dann an Meister Torren. Der Feuermagier schien noch immer erschöpft zu wirken, seit sie die Passage überquert hatten. Als Finbar Meister Torren helfen wollte, winkte dieser dankend ab.
„Thanadon wird mich nicht in die Knie bringen, mein lieber Junge“, sagte der Feuermagier überzeugt.
Sobald alle versammelt waren, marschierte die Schar die Treppe herauf. Dabei bildeten Alarich, Karlos, Finbar und die Veteranen die Vorhut. Als sie das Ende der Stufen erreichten, bot sich der Vorhut ein furchterregender Anblick. Vor ihnen breitete sich ein dunkler, leerer Vorplatz. Hinter ihm erhob sich bereits das gewaltige Portal des Tempels. Links und rechts standen zwei majestätische Gestalten aus schwarzem Marmor. Stolz und finster hielten sie lange Zepter in ihren Händen. Entlang des Portals waren Gestalten abgebildet. Sie trugen Roben und seltsame Kopfbedeckungen mit Hörnern. Obwohl ihre Augen kalt und glanzlos waren, spürte die Schar erneut das elende Gefühl, beobachtet zu werden.
Alarich und seine Männer hielten nach jeder Gefahr Ausschau, die über sie herfallen könnte. Doch nichts rührte sich. Die Ritter versammelten sich mitsamt dem Erlöser auf dem Portalplatz. Die Sänfte des Erlösers befand sich inmitten der Veteranen, die um die Sänftenträger einen Schildwall gebildet hatten. Alarich stand nun vor seinen Mannen und blickte jeden von ihnen mit Stolz an. Als er bei Finbar aufhörte, begann der Paladin seine Rede.
„Meine tapferen Recken! Ihr seid mir in allen Schlachten gefolgt! Zusammen haben wir Beliars schändliche Bauten niedergebrannt und die Inseln, die durch sie verpestet wurden, mit Innos‘ göttlichem Feuer von allem Bösen gesäubert! Und nun wird auch Thanadon dasselbe Schicksal erleiden!“
Ein lauter Jubelsturm erklang über die Tempelinsel, den selbst James und die Matrosen von der Belladonna aus hören konnten.
„Ich weiß, dass manche unter euch fürchten, dass wir nicht in gewünschter Zahl losgesegelt sind“, fuhr Alarich fort und sein Blick fiel auf Salem, der ihn ernst anschaute. „Doch verzaget nicht, meine Recken! Dank des arkanen Geschick von Meister Torren und seinen Ordensbrüdern haben wir eine Waffe, die den gesamten Tempel von Beliars Einfluss befreien wird! Er wird die flammende Erlösung sein, die die garstigen Kinder des Dunklen Vaters vernichten wird! Selbst Dämonen werden wie Zunder lichterloh brennen!“
Erneut brachen die Ritter in Jubeln aus. Karlos begann breit zu Lächeln, während Finbar seinen Vater mit Bewunderung anschaute. So hatte der Junge Alarich noch nie gesehen.
„So lasst uns nicht mehr säumen, meine tapferen Brüder! Lasst Innos‘ Zorn auf diesen Tempel verschlingen!“ Und mit diesen Worten streckte Alarich sein gesalbtes Ordensschwert gegen den dunkelgrauen Himmel. „Für Innos! Für den König!“, brüllte der Paladin mit voller Inbrunst.
„Für Innos! Für den König!“ riefen die Ritter zurück. Dann marschierten sie alle mit erhobenen Waffen in Richtung Portal. Doch plötzlich blieben sie stehen.
Jenseits der Portalschwelle stand eine einzelne, hagere Gestalt. Sie trug eine finstere Zeremonienrüstung, unter dem sich eine Robe aus schwarzen und dunkelblauen Stoffen bestand. Auf ihrem Kopf trug sie einen altertümlichen Chepresh, die im Schein der Geisterflammen schimmerte.
Als Alarich in das Antlitz des Wesen starrte, erschrak er kurz. Das Gesicht glich einem abscheulichen Totenschädel und doch hatte es etwas Erhabenes. Die funkelnden, stechenden Augen wanderten über die gesamte Schar.
Plötzlich flackerten sie hell auf und ein leises Lächeln huschte kurzzeitig über die fahle Fratze des Wesens.
Dann musterte die Gestalt jeden Ritter an, bis er bei Alarich aufhörte. Alarich spürte auf einmal, wie sein Herz vor Schreck verkrampfte. Sein Blut schien sich in einen einzigen Gletscher verwandelt zu haben. Ein hörbares Keuchen entwich dem Paladin und sein gesamter Körper schien ihm nicht mehr gehorchen zu wollen. Alarich bemühte sich, gegen diese hässliche Furcht anzukämpfen. Vergeblich. Daraufhin begann die Gestalt vergnügt zu kichern. Und als sie sprach, ließ ihre fauchende und kalte Stimme die gesamte Schar erschaudern.
„Warum denn auf einmal so zögerlich, kleiner Paladin?“, fragte die Gestalt amüsiert. „Du hast doch gerade eben eine solch flammende Rede gehalten, die wahrlich Herzen zum Jubeln bringt. Weswegen zögerst du jetzt wie ein furchtsames Kind?“
Alarich starrte die Gestalt zuerst erschrocken an. Doch dann packte ihn der alte, brennende Zorn wieder, den er einst bei der Säuberung des Nördlichen Tempels zuletzt verspürte. Wutentbrannt richtete Alarich sein Schwert auf das Wesen.
„Ich fürchte mich nicht vor dir, Scheusal!“, rief der Paladin laut. „Ich bin gekommen, um Adanos‘ Reich von diesem grausigen Makel zu befreien!“
„Ach, sag bloß“, lachte die Gestalt im grausamen Spott. „Na, worauf wartet ihr dann? Kommt doch herein, meine Lieben. In meinem Tempel sind Innos‘ verblendete Kinder stets willkommen.“
Alarich glaubte sich verhört zu haben. Dann weiteten sich seine Augen, als er erkannte, wer vor ihm stand. In einem Anflug aus ungestümer Wut beschwor Alarich einen Heiligen Pfeil und warf ihn mit voller Wucht auf den Schattenregenten. Doch als der Pfeil sein Ziel traf, löste sich dieses wie ein schwarzer Nebeldunst auf und wirbelte in die Dunkelheit des Tempels. Ein ekelhaftes, schemenhaftes Lachen erklang in der gesamten Eingangshalle, bis es langsam und leise verstarb.
Eine Weile wagte keiner aus der Schar sich zu rühren. Selbst Alarich stand wie angewurzelt stehen. Doch dann rührte er sich und ging mit stürmischen Schritten durch das Portal. Ängstlich folgten ihm Finbar und Salem, dann die gesamte Schar.
Ihre Schritte erzeugten in der gesamten Eingangshalle ein Echo. Doch bis auf sie, drang kein anderes Geräusch zu den Ohren der Schar. Alarich stand nun in der Mitte der Halle. Dann näherten sich Karlos und Meister Torren ihm, worauf hin sich Alarich an den Feuermagier wandte.
„Spürt Ihr irgendetwas, Hochwürden?“, fragte Alarich leise.
Torren hielt inne und hatte dabei die Augen geschlossen. Wenig später öffnete er sie wieder und seine grauen Augen verdüsterten sich. „Überall spüre ich die Magie des Dunklen Vaters. Jedoch spüre ich weder die Gegenwart von Dämonen noch von irgendwelche Bannzaubern, die uns schaden könnten.“
„Verzeiht, Hochwürden“, warf Lord Karlos ein, „Doch es kann nicht sein, dass dieser Tempel einfach so unbewacht wird.“
„Wie ich es Lord Alarich bereits gesagt habe: Unsere Feinde könnten eine andere Teufelei ausgedacht haben, um Eindringlinge abzuwehren“, erwiderte der Feuermagier und starrte in die Dunkelheit des vor ihnen aufragenden Säulenganges. „Ich gehe sicherheitshalber vor“, sagte Meister Torren. „Sollte ich verborgene, magische Fallen aufspüren, gebe ich euch ein Zeichen.“
„Seid Ihr Euch sicher, Hochwürden?“, fragte Alarich unsicher. Torren nickte wortlos und beschwor ein magisches Licht. Die Dunkelheit des Tempels wich kurzerhand vom grellen Schein des Lichts. Mit langsamen Schritten ging der Feuermagier voraus. Alarich schaute Torren eine Weile besorgt an, bis er schließlich seinen Männern ein Zeichen gab. Die Ritter beschworen alle ihre Lichter und gingen in enger Formation durch die Halle.
Salem, der bis jetzt immer ruhig geblieben war, kämpfte nun gegen seinen panischen Wunsch an, sich schnellstmöglich auf die Belladonna zurückzuziehen. Da spürte er einen gepanzerter Handschuh, der ihn sanft an der Schulter berührte. Salem wandte sich um und sah Finbar, über dessen Kopf nun ebenfalls ein Licht brannte.
„Wenn Ihr es erlaubt, Kapitän“, begann der Junge, „Würde ich Euch durch die Dunkelheit führen.“ Salem nickte dankbar und schritt neben Finbar über der Schwelle.
Die Schritte hallten durch die dunklen Säulengänge. Immer mal wieder mussten die Ritter ihre Lichter neu entfachen, um nicht von der Finsternis des Tempels einverleibt zu werden. Um den Erlöser schlossen sie indes den Kreis immer enger. Alarich und seine Vorhut hielten derweil Ausschau nach jedem Geräusch, das in der tiefen Dunkelheit erklingen könnte. Nichts. Nicht ein Laut war zu hören. Bis jetzt.
Während sie durch die stillen Gänge gingen, erinnerte sich Alarich, wie er bei der Erstürmung des Nördlichen Tempels dutzende von Skeletten und Dämonen niedergestreckt hatte. Alles war laut, Fluche und Schreie erfüllten die Hallen des Tempels. Die Stille dieses Tempels jedoch schien Alarich mehr zu verängstigten als das laute Getöse der letzten Schlacht. Unfreiwillig erinnerte sich Alarich dann an den Schattenregenten des Nördlichen Tempels.
Ein gewaltiges, elendes Biest, das einem dämonischen Ork mit dunklem Schuppen geglichen hatte. Dieses Monstrum hatte vor den Augen des entsetzten Alarichs dessen älteren Söhne ermordet. Ebelin wurde vom Scheusal elendig zerdrückt. Goswin indes wurde durch das dämonische Feuer in seiner Rüstung lebendig gekocht. Für diese Schandtat hatte Alarich das Biest bestraft. Auf grausame Art du Weise. Eines Paladins unwürdig. Doch er würde es wieder tun, sollte Thanadons Schattenregent seinen letzten Jungen rauben wollen.
Da sah Alarich die kalte Fratze wieder, die er zuvor an der Portalschwelle sah. Dieser Schattenregent schien ein Untoter zu sein. Und doch spürte Alarich eine immense Macht, die dieser fremdartiger Untote ausgestrahlt hatte. Macht und Erhabenheit.
Eine Hand, die Alarich zaghaft an der Schulter berührte, ließ den Paladin wieder in die Gegenwart zurückkehren.
„Vater? Geht es dir gut?“, fragte Finbar besorgt.
Alarich wandte sich kurz erschrocken um, beruhigte sich jedoch schnell wieder. Der Paladin nickte bedächtig und sagte: „Es ist alles in Ordnung, Finbar“, sagte Alarich ernst. „Halte jetzt die Augen nach Feinden Ausschau.“
„Jawohl, Vater“, sagte der Bursche zögernd und entfernte sich von Alarich. Dieser schellte sich innerlich selbst. Sein Sohn sollte nicht sehen, wie sein Vater, der Paladin des Königs, sich fürchtete.
Nach wenigen Augenblicken erreichte Alarichs Schar eine weite, finstere Halle, die von einem Wald aus Säulen gefüllt zu sein schien. Eine eisige Kälte durchbohrte jedermann durch Mark und Bein. Meister Torren ging vor, um die Halle nach Dämonen oder Zaubern zu suchen. Als er nichts aufgespürt hatte, gab er der Schar ein Zeichen. Vorsichtig marschierten die Ritter durch den von Säulen bewährten Raum.
Mit einem Mal begannen die magischen Lichter wie wild zu flackern. Unruhe machte sich bei allen breit. Alarich bemühte sich augenblicklich, die Ordnung zu wahren. Alarichs Instinkte schlugen Alarm. Sofort befahl er seinen Männern, in Kampfformation aufzustellen. Dabei achtete er immens darauf, dass Finbar und Meister Torren in seiner Nähe blieben. Die Schar bildete einen Kreisformation, wobei die Veteranen den äußeren Ring bildeten.
Alarich und seine Mannen starrten finster in die Dunkelheit der Halle. Noch hörten sie nichts, nicht einmal das Klappern von Knochen. Nur das schwache Keuchen der jüngeren Ritter. Alarich wandte sich flüsternd an Karlos: „Beschütze Meister Torren und Sir Finbar. Lass nicht zu, dass weder sie noch der Erlös-„
Plötzlich flog Karlos‘ Kopf von den breiten Schultern und polterte mehrere Male auf den Boden. Eine warme Blutfontäne befiel Alarich und die anderen und ein Rufen und Schreien erfüllte die Luft. Dann knallte Karlos‘ Leichnam mit lautem Scheppern auf dem Boden. Alarich starrte mit Entsetzen auf seinen Kameraden, bevor er sich sofort ersann und sofort nach Karlos‘ Mörder suchte. Doch niemand war zu sehen.
Plötzlich hörte man von der anderen Seite der Formation entsetzliche Schreie. Und eine kalte Furcht durchlief jeden Einzelnen. Alarich wandte sich an seine Leute.
„Haltet die Stellung, Männer!“, rief er grimmig. „Haltet die Stellung! Lasst euch nicht von der Angst überrumpel- aaarggh!“
Alarich spürte plötzlich, wie eine eiskalte Klinge durch dessen Leib gestoßen wurde. Die Kälte fraß sich wie Säure durch Körper und Seele und Alarich fiel wie erstarrt zu Boden. Ein lautes Geschrei und Gebrülle erklangen, als ein Ritter nach dem anderen von unsichtbarer Hand niedergestreckt wurde. Dabei erwischte es als erstes die Veteranen, die mit erstickten Schreien einfach tot zu Boden fielen.
Die jüngeren Ritter gerieten mehr und mehr in Panik. Einige begannen wie verrückt mit ihren Waffen herumzuwirbeln. Doch trafen sie höchstens ihre eigene Leute, während ein Ritter nach dem anderen niedergestreckt wurde. Finbar blieb vor Schreck wie angewurzelt stehen. Vor ihm wichen und liefen seine Waffenbrüder panisch herum und versuchten verzweifelt, ihre unsichtbaren Gegner zu treffen.
Plötzlich riss ihn Salem aus seiner Starre und schüttelte den Burschen.
„Junger Herr! Der Erlöser!“, rief der Kapitän.
Finbar wandte sich erschrocken um und sah mit Schrecken, wie sich der Schutzwall um die Sänfte sich auflöste. Die Vorhänge der Sänfte wurden dabei weggerissen worden, so dass das Licht des Erlösers herausstrahlte.
Sofort eilte Finbar mit Salem zur Sänfte, schnappte sich dabei einen weggeschmissenen Schild und stellte sich gerade vor die Sänfte. Plötzlich sah er im Licht des Erlösers eine kalte Klinge aufblitzen, die auf ihn herabsauste. Reflexartig hob Finbar seinen Schild hoch, um den Angriff abzuwehren. Da durchlief die Klinge plötzlich einfach den Schild und trennte Finbars linken Unterarm vom Rest des Körpers.
Ein gellender Schrei entlief Finbar und der Junge stürzte rücklings gegen die Sänfte. Schreiend hielt er sich seinen abgetrennten Arm und schaute wie ein panisches Tier um. Da sah er plötzlich eine schemenhafte Gestalt auf sich zu kommen. Ein kaltes Feuer brannte in den grausamen Augen des Wesens, dessen Gesicht wie eine Leiche glich. Das elende Wesen schwang erneut seine Waffe und ließ es auf Finbar sausen. Dann folgte ein lautes Klirren.
Alarich rappelte sich hastig auf. Seine Rüstung war unbeschadet geblieben, doch er spürte, wie aus einer Wunde sein warmes Blut quoll. Der Paladin schaute sich angsterfüllt herum. Seine Männer, die noch zuvor diszipliniert die Formation hielten, lösten sich voneinander auf und kreischten, wie verrückt, während sie wie wild ihre Waffen schwangen. Ein Mann nach dem anderen fiel tot um, ohne dass Alarich einen Feind erspähen konnte. Da sah er plötzlich Meister Torren am Boden, der wie ein entsetztes Tier kroch. Sofort eilte Alarich auf den verletzten Feuermagier zu und half ihn auf die Beine.
Verzweifelt suchte Alarich dann nach seinem Sohn und sah seinen Jungen verletzt neben der Sänfte kauernd. Vor Finbar indes focht Salem gegen eine Gestalt an, die Alarich kaum erkennen konnte.
Da befiel den Paladin ein wilder Zorn. Er trug Meister Torren zur Sänfte, warf ihn beinahe auf Finbar und ging dann mit Gebrüll auf Salems Feind zu. Der schemenhafte Feind wandte sich um, konnte jedoch nicht mehr Alarichs Erzklinge ausweichen. Die Waffe des Paladins fuhr durch schemenhaftes Fleisch und ein lauter, entsetzlicher Klagelaut erfüllte die Luft. Alarich starrte erschrocken auf die wabernden Dünste, die das Wesen hinterließ, und sich auflösten. Doch da besann er sich wieder, stellte sich neben Salem auf und wollte gerade einen Befehl rufen. Da sah er jedoch, dass es keinen Sinn hatte.
Keiner seiner Männer war mehr am Leben. Überall lagen die Leichen seiner treuen Männer, ihre Gesichter in schmerzerfüllte Fratzen der Angst verwandelt. Plötzlich sah Alarich, wie sich weitere, gespenstische Gestalten aus der Dunkelheit schälten, je näher sie der Sänfte kamen. Mit Schrecken sah der Paladin in die erbarmungslosen Antlitzen seiner Feinde. Ihre Körper waren durchsichtig und leuchteten in einem krankem Totenlicht. Diese Wesen trugen Rüstungen und Waffen, die aus unterschiedlichsten Zeitepochen stammen könnten.
Bevor Alarich überhaupt was unternehmen konnte, stürmten die Schemen auf ihn und den entsetzten Salem zu. Mit einem verzweifelten Schrei schwang Alarich seine Waffe, als plötzlich hinter ihm eine Welle aus blauem Licht durchlief. Die Welle strömte durch die Schemen und sie alle lösten sich mit hässlichen, hohlen Schreien wie Nebeldunste auf. Die Schreie hallten noch lange kalt in der Säulenhalle, bis sie erstarben und die gespenstische Stille zurückkehrte.
Eine Weile rührten sich weder Alarich noch Salem. Als Alrich jedoch das Keuchen seines Jungen hörte, wandte er sich erschrocken um. An der Sänfte gelehnt stand Finbar, keuchend und zitternd. In seiner rechten, zitternden Hand hielt er seine Rune, deren helles Licht langsam wieder schwächer wurde. Alarich sah seinen Sohn lange an. Da fiel ihm mit Schrecken Finbars linker Unterarm auf, der noch immer von der Rüstung festgehalten wurde. Das Blut floss in Strömen aus der unbeschadeten Rüstung heraus.
Sofort eilte Alarich zu Finbar, und wirkte augenblicklich seine Heilrune. Dann nahm er seinen Sohn in die Arme und hielt ihn fest. Finbar blieb noch immer erstarrt. Doch dann begann er zu weinen und umarmte seinen Vater mit seinem rechten Arm. Alarich hielt seinen Sohn noch lange, bevor er sich fasste und sofort nach Meister Torren erkundigte.
Der Feuermagier keuchte und seine Augen waren weit aufgerissen. Er hielt Hand auf die Wunde zu, die ihn einer der Schemen nahe an der Brust zugefügt hatte. Alarich übergab Finbar an Salem und half den Feuermagier auf.
„Hochwürden!“, keuchte der Paladin, „Seid Ihr schwer verletzt?“
„Ich… Ich wurde verletzt…“, hauchte Meister Torren und starrte entsetzt auf seine Wunde. Als sein Blick schließlich auf Alarich fiel, bemühte sich der Feuermagier wieder, die Fassung zu erlangen. „Ich bin noch am Leben, mein Sohn.“, keuchte der Feuermagier. „Ich hatte also mehr Glück als unsere Gefährten.“
Bei dem letzten Satz Torrens wanderte Alarichs Blick über die Leichen seiner Männer. All seine Recken, die ihn tapfer zur Seite standen, lagen nun alle tot vor ihm. Alarich merkte, wie seine Knie drohten, zusammenzuklappen. Eine große Übelkeit stieg in ihm auf und er kämpfte dagegen an sich vor den anderen zu übergeben. Sofort eilten Finbar und Salem zu ihm und wollten ihn aufhelfen. Doch Alarich wedelte hastig mit seinen Händen. Jedoch konnten Finbar und Salem das Gesicht des Paladins nun deutlich sehen und sie erkannten die grenzenlose Furcht in den Augen ihres Anführer.
„Ich…“, begann Alarich stotternd, „Ich… Meine Männer… Sie…“
„Sie werden noch heute Nacht ihrem wahren Gott dienen.“
Die fauchende Stimme des Schattenregenten bohrte sich regelrecht in die Leiber der Überlebenden. Alle fuhren herum und sahen ihren Feind, der plötzlich inmitten der Gefallenen stand. Der Schattenregent schaute sich die Erschlagenen musternd an und nickte zufrieden, bevor sein Blick schließlich auf Alarich fiel. Dann entblößte der Schattenregent mit einem Grinsen seine scheußlichen, toten Zähne.
„Da hast du mir ein schönes Geschenk gemacht, kleiner Paladin“, hauchte der Schattenregent amüsiert. „Hundert stolze Ritter, die nun dem Dunklen Vater dienen. Was würde Innos zu deiner Tat wohl sagen?“
Wie aus einem schrecklichem Albtraum herausgerissen, entflammte eine hässliche Wut in Alarichs Herzen. Mit seinem Schwert stürmte der Paladin auf den Schattenregenten los, noch bevor Finbar und Salem ihn aufhalten konnte. Alarich wollte gerade den Kopf seines Feindes abschlagen, als sich dieser erneut in Luft auflöste. Alarich hörte jedoch nicht auf, sondern schlug und schwang seine Waffe wild herum, als ob er einen Schwarm Blutfliegen abwehren wollte, und brüllte in die Finsternis hinein.
„Elender Schänder!“, schrie Alarich hasserfüllt, „Dafür wirst du brennen! Hast du gehört, Feigling! BRENNEN WIRST DU!“
„Na, na“, tadelte die geisterhafte Stimme des Schattenregenten. „So verfahre ich nun mal mit Einbrechern. Aber wenn du gerne mit mir darüber diskutieren willst, kannst du mich in meinem Heiligtum treffen.“
Die letzten Worte des Schattenregenten hallten noch lange im Raum, bevor die Stille wider zurückkehrte. Alarich schrie und verfluchte seinen Feind, bis seine Stimme heiser wurde. Da packte ihn Salem und schüttelte den Paladin kräftig durch.
„Kommt zu Sinnen, Mylord!“, brüllte der Kapitän ihn an. „Wir müssen hier weg! Und zwar sofort!“
Alarich starrte zuerst verwirrt Salem an. Als er jedoch die Bedeutung von Salems Worte wurde, stieß er den Kapitän brutal von sich. „Fliehen?!“, rief Alarich erbost. „Ihr wollt, dass wir jetzt fliehen?! Einfach aufgeben?!“
„Welche Chance haben wir denn, Mylord?“, erwiderte Salem bitter. „Seht Euch um! Euer gesamtes Gefolge wurde massakriert! Niedergestreckt von diesen… Kreaturen! Mylord! Wir müssen von hier fliehen!“, rief Salem aufgebracht.
„Damit würden wir uns entehren!“, fauchte Alarich hasserfüllt. Alle Augen richteten sich auf den Paladin. Sein Gesicht verzog sich vor Wut und Abscheu. „Wir müssen unsere Mission erfüllen! Das schulde ich unseren Männern!“
Salem sah Alarich entgeistert an. Dann blickte er auf die Sänfte, aus dem das Licht des Erlösers herausstrahlte.
„Wenn Ihr unbedingt siegen wollt, Mylord.“, begann Salem hastig, „Dann sprengt den Erlöser. Hier und jetzt! Damit dieser Scheißort gesäubert wird!“
„Das darf nicht geschehen!“, rief Torren hastig und rasch erhob er sich von der Sänfte, wobei er beinahe umkippte. „Der Erlöser muss ins Heiligtum des Tempels gebracht werden! Nur dort kann er seine Wirkung entfalten und ganz Thanadon vom Bösen reinigen! Doch sollte er vorher hochgehen, wird er nichts ausrichten können!“
„Wie sollen wir es anstellen?!“, fragte Salem entgeistert. „Diese Kreaturen werden uns nicht mal einen Schritt machen lassen, geschweige denn uns bis ins Heiligtum vordringen lassen!“
„Ich werde eine Barriere um uns und die Sänfte beschwören.“, erwiderte Torren hastig. „Mit ihrer Hilfe können wir es schaffen.“
Salem schaute zuerst auf den Feuermagier und dann auf die Sänfte. Am liebsten würde er Reißaus nehmen und die anderen ihrer Torheit überlassen. Doch dann sah er Finbar, wie er ihn besorgt anstarrte. Diesen Burschen konnte er nicht im Stich lassen. Zudem würde er allein nicht weit kommen, da die Schemen von überall angreifen konnten. Mit einem lauten Stöhnen schüttelte Salem den Kopf und seufzte: „Adanos, erbarme sich unser!“
Ohne weitere Zeit zu verschwenden, gingen die vier Männer ans Werk. Torren beschwor eine kleine Barriere um sich und schloss damit die übrigen mit sich ein. Dann zündeten sie Fackeln an, die sie vorsichtshalber mitgenommen hatte, und steckten sie an der Sänfte, bevor sie sie anhoben. Langsam und gebeugt gingen die letzten der Schar durch die kalte Halle. Alarich schaute schweren Herzens zurück. Die Leichen seiner Waffenbrüder, seiner treusten Kameraden, verschwanden mehr und mehr in der Dunkelheit des Tempels.
„Ich… Ich habe sie verdammt.“, hörte Alarich sich selbst sagen. Sein Blick fiel dann auf Finbar, der mit ihm die Sänfte von vorne trug. Finbar hatte Alarichs Blick nicht bemerkt, sondern starrte angsterfüllt in die Dunkelheit vor ihnen. „Ich habe sie alle verdammt.“, sagte Alarich innerlich.
Die vier Überlebenden wanderten mühselig durch die Gänge, die immer spärlicher mit den Geisterflammen beleuchtet wurden. Auch wenn sie sich zuvor mit ihren Magien geheilt hatten, spürten sie, wie ihre Kräfte mit jedem Schritt von ihnen geraubt wurden. Die Kälte nahm immer mehr zu und ein zunehmender, modriger Wind blies durch die Korridore des Tempels.
Das Schlimmste waren die Schemen, die die vier Überlebenden folgten. Immer wieder tauchten sie aus der Dunkelheit auf und pirschten wie Wölfe um die Sänfte herum. Im Schein der Barriere schimmerten die kalten Augen in einem bedrohlichen rot. Finbar traute sich nicht, einem der Schemen anzusehen. Alarich indes starrte sie mit verzweifelter Wut an. Dabei schielte er oft auf seinen Jungen rüber, der am ganzen Körper zitterte.
„Meinen Jungen werdet ihr Scheusale nicht kriegen.“, fauchte Alarich sie leise an.
Unbeeindruckt pirschten die Schemen weiter, nur um dann plötzlich zu verschwinden. Alarich schaute sich um, erwartend, dass die Schemen plötzlich angreifen könnten. Nach einer Weile wandte er sich an Finbar. Die pure Angst stand dem Jungen ins Gesicht. Bedauern und Kummer machten sich nun in Alarich breit. Und Erinnerungen aus der Vergangenheit holten ihn heim.
„Nimm mir nicht meinen einzigen Jungen weg, Alarich!“, flehte Elma ihren Gatten an. Tränen kullerten aus ihren braunen Rehaugen und ihre Hände klammerten sich fest an Alarichs edlen Gewändern.
Alarich konnte nur mit Mühe, seine stoische Fassade aufrechterhalten. Er hob das geöffnete Schreiben hoch und zeigte es Elma.
„Elma“, begann er ernst, „Dies ist eine heilige Mission, die wir von seiner Majestät erhalten haben. Es ist eine große Ehre an ihr teilzunehmen.“
„Ich scheiße auf diese Ehre!“, schrie Elma aufgebracht. „Diese Ehre hat mir bereits zwei meiner Jungs das Leben geraubt! Sie wird nicht auch meinen letzten nehmen! Niemals!“
„Finbar ist ein Ritter des Königs. Es ist seine heilige Pflicht als Streiter Innos, gegen das Böse zu kämpfen“, erwiderte Alarich ernst. „Widersetzt er sich Rhobars Befehl, wird er entehrt. Willst du das, Elma? Willst du, dass Finbar für alle Zeiten ein Ausgestoßener wird?“
Elma starrte Alarich an. Wut, Trauer und Verzweiflung mischten sich in ihr zartes Gesicht, bis sich dieses in Tränen auflöste. Schluchzend sank sie auf die Knie und kauerte weinend am Boden. Alarich spürte, wie sein Herz zu zerreißen drohte. Lieber würde er erneut das Schwert eines Echsenmenschen spüren, als diesen Anblick länger ertragen zu müssen. Er ging in die Hocke und nahm das Gesicht seiner Gattin in beide Hände.
„Hör mir genau zu, Elma.“, begann Alarich aufmunternd. „Wir werden siegreich sein. Wir werden unsere Mission erfüllen! Und ich werde Finbar sicher nach Hause zurückbringen. Du hast mein Wort.“
Vor den Toren Monteras verabschiedete sich Elma von Finbar, der seine Mutter kaum loslassen wollte. Schließlich jedoch ließ er von ihr ab, wischte sich die Tränen und stellte sich zu den anderen jungen Rittern. Als alle bereit waren, gab Alarich den Befehl zum Abmarsch. Der Paladin sah jedem einzelnen an. Dann ruhte sein Blick auf Finbar, der weiterhin mit seinen Tränen kämpfte. Langsam schaute Alarich auf sein Schreiben. Mit diesem Schreiben, das das offizielle Siegel des Königs trug, wurde sein Kreuzzug nun endlich ins Leben gerufen worden. Wie auch immer Meister Torren es angestellt hatte: Diese Fälschung glich einem offiziellen Brief auf beängstigte Art und Weise.
„Vater.“
Finbars Ruf weckte Alarich aus seiner Erinnerung und er schaute verwirrt seinen Sohn an. Als er sich wieder ersann, schaute er nach vorne und sein Blut gefror in seinen Adern. Vor ihnen stand ein großes Tor aus schwarzem Marmor. Hässliche, totenähnliche Fratzen starrten mit ihren kalten Augen auf die vier letzten Überlebenden. Erschöpft ließen die vier Gefährten die Sänfte ab und schauten auf das Tor. Alarich wandte sich an Torren.
„L-liegt dahinter das Heiligtum, Hochwürden?“, fragte Alarich, bemüht mit gefasster Stimme zu reden.
Ernst nickte der Feuermagier zurück. „Ich habe die Signaturen verfolgt. Hier sind wir richtig. Nun müssen wir-„
Das Kreischen von Scharnieren unterbrach Torren und wie von Geisterhand öffneten sich die dunklen Pforten. Entsetzt machten sich Alarich und seine Gefährten kampfbereit. Ein eiskalter, verwester Wind kam aus dem Tor und sein entsetzlicher Gestank ließ die Überlebenden straucheln. Plötzlich hörten sie die Stimme des Schattenregent, die aus der Halle vor ihnen erklang.
„Kommt nur herein, meine Lieben. Ich habe euch und euer Geschenk sehnlichst erwartet.“
Mit großer Furcht und Vorsicht trugen Alarich und seine Gefährten die Sänfte in die Halle. Als sie sich umschauten, wurden sie von der finsteren Opulenz des Heiligtum verschlungen. Von der kuppelartigen Decke waberte das Leichenlicht wie kleine, bleiche Wasserfälle herunter. In der Mitte des Heiligtum brannte ein großes Geisterfeuer, das aus einer Grube gefährlich aufflackerte, als sich Alarich und seine Leute sich ihm näherten.
Hinter der Grube erhob sich ein scheußlicher Altar, auf dem ein Thron aus Knochen, Obsidian und Hörnern stand. Hinter diesem Thron erhob sich die majestätische Statue von Beliar selbst, dem Dunklen Vater. Alarich bemerkte, dass aus den Augenhöhlen der ein ganz anderes Licht brannte. Ein rötlich-purpurnes Feuer, das erbarmungslos und hasserfüllt auf Innos‘ Erwählte herabblickte. Alarich starrte zuerst angsterfüllt auf die Statue.
Dann jedoch riss er sich aus seiner Starre und ohne Zeit zu verschwenden, eilte er zur Sänfte und schrie mit ganzer Kraft: Althea Seraph!“
Nichts geschah. Der Erlöser summte weiterhin vor sich hin, als wäre nichts gewesen. Verwirrt sah Alarich auf die Sänfte und wiederholte: „Althea Seraph!“. Wieder geschah nichts. Mit wachsendem Entsetzen starrte Alarich seine Gefährten an, bevor er wie wild zu schrien begann. „Althea Seraph!“, schrie Alarich. „Althea Seraph! Althea Seraph! ALTHEA SERAAAPH!!“ Der Paladin zerrte in verzweifelter Wut den Erlöser brutal aus der Sänfte und ein glatter, runder Stein polterte auf den Boden des Heiligtum.
Ein warmes, rote Licht glühte aus dem dunklen Inneren des großen Runenstein. Auf ihm waren Zeichnungen von Feuer und Blitzen zu sehen. Wie ein geiferndes Tier schlug Alarich schreiend auf den Erlöser ein, der weiterhin unbeeindruckt vor sich hin summte. Mit verzerrten Gesicht wandte sich Alarich dann an Torren.
„Es funktioniert nicht, Hochwürden!“, schrie Alarich den Feuermagier an. „Warum funktioniert er nicht?!“
Mit einem Mal veränderte sich Torrens Miene. Ein bösartiges Funkeln war in seinen grauen Augen zu erkennen und ein kaltes Lächeln zierte sein faltiges Gesicht. Verwirrt starrte Alarich den Feuermagier an. „Hochwürden…“, hauchte der Paladin mit erstickter Stimme.
Ohne zu antworten, ging Torren an Salem und Finbar vorbei, die ihn entgeistert anstarrten und stellte sich direkt vor dem gewaltigen Geisterfeuer. Plötzlich sah Alarich wie schwarze Nebeldünste von überall auf Torren zu krochen. Dann bildeten sie eine menschenähnliche Form an und mit einem Mal stand der Schattenregent vor ihnen. Mit zufriedener Miene schaute er auf Alarich, Finbar und Salem herab und grinste abscheulich.
„Was für eine Überraschung, nicht wahr, kleiner Paladin?“, sagte der Schattenregent amüsiert. „Ein Feuermagier der seine brave Herde zur Schlachtbank geführt hat. Wo gibt es denn sowas?“
Alarichs Augen weiteten sich vor Grauen, als sie abwechselnd zwischen den Schattenregenten und dem falschen Feuermagier wechselten. Da erhob er sich in panischer Wut auf und stürmte schreiend auf Torren zu. Dieser jedoch warf kurzerhand einen Blitz auf den Paladin, der ruckartig nach hinten geschleudert wurde. Alarichs Körper zuckte vor Schmerz und jeder seiner Muskeln straffte sich.
Entsetzt sahen Salem und Finbar auf den keuchenden Paladin, bevor Finbar sofort zu seinem Vater eilte und ihn aufhalf. Salem folgte dem Jungen augenblicklich und stellte sich zitternd vor Alarich und Finbar. Der Schattenregent wedelte einen seiner knochigen Finger und schüttelte den Kopf.
„Aber, aber“, begann er tadelnd. „So benimmt sich doch kein Streiter Innos‘. Einfach so wie ein wilder Ork auf jemanden zu zustürmen.“
„Er hat sich schlimmere Frevel zu Schulden kommen lassen, Bruder.“, erwiderte Torren kalt. Entsetzt starrten die drei Überlebenden auf den Feuermagier, der seinen Kopf zum Schattenregenten gebeugt hatte und ihm irgendetwas zuflüsterte. Staunen huschte über das fahle Gesicht des Wesens und sein Blick fiel auf Alarich. Dann begann abscheulich zu lachen.
„In der Tat. Ein Sünder, wie er im Buche steht.“ Langsam schwebte der Schattenregent auf die drei zu, die sich zusammen kauerten. „Was soll ich bloß mit einem wie dir machen, kleiner Paladin?“ Der Schattenregent hob eine Klaue und streckte sie in Richtung Alarich.
Plötzlich stellte sich Finbar zwischen ihm und den Paladin, der nun von Salem gestützt wurde.
„Fass ihn nicht an, Scheusal!“, schrie Finbar verzweifelt. Mit beiden Händen hielt er zitternd sein Schwert und richtete ihn auf seinen Feind. Dieser hielt an und hob eine Klaue hoch.
Plötzlich schien die Kälte im Heiligtum zugenommen zu haben. Um Finbar und die anderen begann es im Leichenlicht zu leuchten. Und aus dem Licht kamen die Schemen heraus. Kalt und ohne Erbarmen umkreisten sie die Überlebenden und richteten ihre Waffen auf sie.
Finbar sah sich entsetzt um. Er wollte seine Waffe schwingen, doch die lähmende Angst hatte die Oberhand gewonnen. Sein ganzer Körper zitterte. Dann sank Finbar aufgelöst zu Boden und begann zu schluchzen. Der Schattenregent stellte sich nun vor dem kauernden Jungen und nahm mit einer Klaue das Gesicht des Jungen.
„Armes Kind.“, röchelte der Untote. „Welch Bitterkeit für die Sünden des Vaters zu sterben.“ Für einen kurzem Moment glaubte Finbar, eine Veränderung im Gesicht des Untoten gesehen zu haben.
Plötzlich hörte er seinen Vater schreien und der Schattenregent ging einige Schritte zurück. Vor Finbar stellte sich der Paladin nun und streckte keuchend seine Waffe aus.
„Du wirst mir meinen Jungen nicht nehmen, Missgeburt! Niemals!“
Der Schattenregent erwiderte nichts. Sondern schaute Alarich an. Dann blickte er auf den kauernden Finbar und schließlich wieder auf dessen Vater.
„Sein Leben ist verwirkt, kleiner Paladin.“, begann der Untote kalt. „All eure Leben sind verwirkt. Eure Seelen. Eure Leiber werden nun dem Dunklen Vater dienen.“
„Ich töte dich, wenn du ihn anrührst!“, schrie Alarich mit verzweifelter Wut. Hinter dem Untoten hörte man den falschen Feuermagier grausam kichern. Der Schattenregent indes verzog keine Miene, sondern schaute Alarich auf eine seltsame Art an.
Dann brach der Untote das düstere Schweigen mit den Worten: „Wenn du so erpicht bist, deinen Sprössling zu retten, dann kämpfe um sein Leben.“
Augenblicklich schaute der falsche Feuermagier verwirrt den Schattenregenten an. Dann eilte er zu ihm. „Was tust du da, Deimossar?“, fragte der Betrüger.
„Überlass das mir, Phobosul.“, erwiderte Deimossar bestimmt. Phobosul wollte widersprechen, doch der kalte Blick seines Bruders brachte ihm augenblicklich zum Schweigen. Dann wandte sich der Untote an Alarich. „Besiege meinen Auserwählten und dein Sohn wird leben.“, sagte Deimossar.
Alarich starrte den Untoten an. „Warum sollte ich deinen verdorbenen Worten glauben?“, fragte Alarich aufgewühlt.
„Hast du eine andere Wahl?“, fragte der Untote kühl.
Alarichs Hand bebte. Am liebsten würde er jetzt zuschlagen und dem Feind vernichten. So wie er es wollte. So wie es seine Rache wollte. Dann jedoch dachte er an Finbar. Zögernd schaute er auf seinen Sohn, der ihn angsterfüllt anschaute. Dann fiel Alarichs Blick auf Salem, der ihn mit Schrecken ansah. Sie würden sterben. Sie würden sterben und als untote Sklaven für alle Zeit Beliar dienen.
Alarich schwieg und bittere Wut zerfraß sein Gesicht. Bis er seine Entscheidung getroffen hatte. „Wenn ich siege,“, begann der Paladin, „Dann lass meinen Sohn gehen, zusammen mit dem Kapitän und seiner Mannschaft.“ Alarich machte eine unangenehme Pause. Dann fügte er hinzu: „Im Gegenzug soll meine Seele dir gehören.“
Entgeistert schauten Finbar und Salem Alarich an. Deimossar schaute den Paladin genau an.
Dann lächelte er zufrieden, hob dann eine Klaue und rief: „Hydarnes!“
Zwischen den Schemen schritt ein hünenhafter, schrecklicher Geist wie ein wandelnder Turm auf Alarich zu. Alarich kämpfte mit der blinden Furcht, die ihm völlig um den Verstand bringen wollte. Aus dem markanten Gesicht des Schemens waberte ein langer, geflochtener Bart. Der Riese trug eine Rüstung und eine Krone, die aus den Zeiten der Arsamiden, des Alten Volkes von Varant, stammen könnten. In seinen Pranken hielt Hydarnes einen langen, grausamen Kopesh, der im Schein des wabernden Feuers bedrohlich leuchtete.
Beim Anblick des Riesen fiel Salem auf die Knie und konnte sich kaum rühren. „Adanos, erbarme sich unser!“, hauchte der Kapitän entgeistert.
Alarich wandte sich an Finbar, der noch immer auf dem Boden kauerte. „Du wirst leben, mein Sohn“, sagte Alarich. „Du wirst leben.“
Dann stellte sich der Paladin Hydarnes. Der Riese streckte seinen Kopesh aus und hielt ihn drohend auf den Paladin. Da schlug der Paladin zu, der den Kopesh zur Seite schleuderte. Bevor er jedoch einen Schlag landen konnte, sprang Hydarnes zurück und nahm Stellung auf. Deimossar schmunzelte, als Alarich sofort zum nächsten Angriff setzte. Das Klirren der magischen Klingen hallte im gesamten Heiligtum. Alarich schlug ohne Unterlass zu und versuchte den Kopf des Schemen zu treffen.
Hydarnes aber wehrte jeden Angriff mühelos ab. Bei Alarichs nächsten Hieb, wich der Schemen rasch zur Seite des Paladins und schwang seine Waffe auf seinen Gegner herab. Gerade noch rechtzeitig hob Alarich seine Klinge schützend über seinen Kopf. Doch die Wucht von Hydarnes Angriff ließ den Paladin kurzzeitig zurücktaumeln. Da schwang Hydarnes seine Waffe erneut und streifte die Brust des Paladins.
Mit unterdrückten Schrei wich Alarich zurück und hielt seine Waffe bereit. Er spürte wie, wie sich seine unbeschadete Rüstung mit Blut füllte. Noch bevor er reagieren konnte, begann Hydarnes den Paladin mit einem Hagel aus schweren Hieben zu malträtieren. Alarich taumelte zurück und wehrte verzweifelt jeden Angriff ab, während er immer näher an den Rand der Feuergrube getrieben wurde. Als er die Gefahr erkannte, wich Alarich zur Seite und wollte sich wieder aufrichten, als Hydarnes‘ Waffe auf ihn herabfiel.
Das Kopesh ging durch die rechte Schulter des Paladins und mit einem Mal spürte Alarich einen entsetzlichen Schmerz. Schreiend sprang er weg und fiel auf dem Boden. Sein Arm. Sein gesamter, rechter Waffenarm war vollkommen von seinem Körper getrennt worden. Heulend richtete sich Alarich auf und sah gerade noch rechtzeitig das Kopesh, das drauf und dran war, seinen Kopf abzuschlagen. Hastig sprang der Paladin zur Seite und riss die Erzklinge aus seiner toten Hand und hielt sie schützend vor sich.
Doch Hydarnes war verschwunden. Plötzlich hörte er seinen Sohn nach ihm schreien. Alarich wandte sich um und spürte augenblicklich eine Todeskälte, die durch seinen ganzen Körper fuhr. Entsetzt schnappte er nach Luft. Dann sah er Hydarnes kaltes Antlitz immer näherkommen, während die Waffe des Schemens Alarich aufspießte. Klirrend fiel die Erzklinge zu Boden und Alarichs Körper begann zu erkalten.
Nur die Augen des Paladins flammten vor Leben. Mit immenser Willenskraft schnappte sich Alarich sofort nach seiner Rune und hielt sie vor dem Gesicht des Schemen. Noch bevor Hydarnes reagieren konnte, aktivierte Alarich seine Rune und blaue Flammen schossen heraus und umhüllten den Schemen vollständig. Ein grässliches, hohles Gebrüll erklang und ließ das Heiligtum erbeben. Dann löste sich Hydarnes auf und sein Schrei verklang mehr und mehr zu einem schwachen Echo.
Alarich fiel zu Boden, als das Kopesh mit seinem Träger verschwand. Keuchend prustete er Blut, erhob sich jedoch unter Schmerzen und richtete sich auf. Der Paladin starrte Deimossar nun mit voller Inbrunst an, der ihn nun direkt in die Augen schaute.
„Ehre… dein…Wort…“, rief Alarich röchelnd. Deimossar erwiderte nichts, sondern schaute Alarich mit Staunen an. Dann sah der Untote, wie die blauen Augen des Paladins trüb wurden und Alarich vorwärts auf den Boden knallte.
Unter Schreien eilte Finbar zu seinem Vater und drehte ihn um. Der Junge erschrak, als er das bleiche Gesicht des Paladins sehen musste. Trotz seiner Verletzung nahm Finbar den Leichnam in die Arme und hielt sie fest an sich, während er bitterlich zu weinen begann.
„Vater…“, schluchzte der Junge. Salem, der sich zuvor nicht zu rühren wagte, näherte sich langsam Finbar, behielt jedoch die Schemen und ihre Herren im Auge.
Deimossar schaute auf den Jungen und dessen Vater lange an. Dann wandte er sich an Phobosul: „Bring die beiden zu den Docks. Und hol dann deren Kameraden von der Kriegsgaleone.“, sagte Deimossar ernst.
Phobosul wagte es nicht zu widersprechen. Er ging auf Finbar und Salem zu und sagte barsch: „Los. Kommt mit!“
Salem musste Finbar aufhelfen, Alarich nicht loslassen wollte. Schließlich ließ Finbar unter Tränen von seinem Vater ab und beide wurden von Phobosul und den Schemen eskortiert.
Deimossar starrte lange auf Alarich herunter. Dann sagte er leise: „Dir ist das gelungen, woran ich gescheitert bin.“. Dann hielt er eine Klaue über Alarichs Leiche und kurzdarauf züngelten purpurne Flammenzungen um seine Finger. Als die ganze Klaue von ihnen umhüllt wurde, rief Deimossar im gebieterischen Ton: ALARICH FATAGN SHATAR FATAGN BELIAR!“
Angsterfüllt starrte James auf die Tempelinsel. Die Dunkelheit hatte ihn den letzten Stunden zugenommen und den gesamten Kessel eingehüllt. Die Fackeln drohten jeden Moment auszugehen. Plötzlich sah James entlang der Docks hunderte von Geisterflammen wie weiße Punkte aufleuchten. Dann begannen sich diese zu bewegen und mit aufgerissenen Augen sah James, wie die Lichter sich der Belladonna näherten. Das Geräusch hunderte Ruder erklang, die das schwarze Wasser aufwühlten.
Sofort eilte James panisch zur Schiffsglocke und klingelte sie mit heftigen Bewegungen. „Zu den Waffen!“, schrie er angsterfüllt. „Zu den verfickten Waffen!!“
Wie entsetzte Hühner liefen die Seemänner hin und her, bevor sie sich zu einem kauernden Haufen bildeten. Die ersten Ruderboote erreichten derweil die Belladonna und dutzende von Enterhaken krallten sich an der Reling der Galeone fest, wie die Krallen eines Wolfes um seine Beute. Angsterfüllt hörte die Mannschaft nun, wie jemand hinaufkletterte. En Poltern war zu hören und ihm folgten schwere Schritte. Aus Furcht warf James eine Fackel in Richtung des Geräusches und richtete dann seine Armbrust in die Dunkelheit.
Plötzlich hörte Salem rufen: „Bleibt ruhig, Männer! Ich bin es!“
Die Seemänner schauten sich ängstlich einander an und starrten dann auf die Gestalt, die soeben die Fackel in die Hand nahm. Als Salem nahe genug war, jauchzten einige erleichtert auf. James wagte trotz seine Angst aus dem Haufen heraus und eilte stockend auf seinen Kapitän zu. Dieser war kreidebleich und seine Augen waren erfüllt von Furcht.
„Sal!“, hauchte James ängstlich. „Adanos sei gepriesen! Du lebst. Aber wo-„
„James! Hör mir genau zu!“, zischte Salem und packte seinen Ersten Maat an dessen Schultern. „Wir müssen die Belladonna verlassen. Ohne Aufschrei. Ohne Gegenwehr, verstanden?“
„S-Sal?“, stotterte James verängstigt. Bevor er jedoch weiter Reden können, schnitt ihm Salem das Wort ab.
„Tu was ich dir sage, Junge!“, sagte Salem mit zittriger Stimme. „Oder sie werden über uns alle herfallen!“
Langsam entfernte sich die alte Schaluppe vom Dock. Salem und seine Mannschaft mussten sich anstrengen, ihre Tätigkeiten ausführen zu können, was aufgrund ihre zitternden Hände kaum gelang. Salem starrte mit voller Furcht auf sie. Hunderte, wenn nicht sogar tausende von Untoten lauerten entlang der Docks. Mit leeren Augen schauten sie auf die letzten Überlebenden des Kreuzzuges, die mit ihrem neuen Schiff vorsichtig zwischen den Ruderbooten glitten.
Von einem Minarett des Tempels schauten Deimossar und Phobosul auf die Schaluppe herab, die langsam auf die Passage zu steuerte. Verächtlich grunzte Phobosul. „Du solltest sie töten“, sagte er verdrießlich.
Deimossar zuckte nur die Achseln. „Wir haben bereits mehr als genug Sklaven, die uns dienen. Und durch deine gewagte List haben wir neue Kämpfer für meine Garde erhalten. Was kümmert es denn, wenn wir auf einige wenige verzichten?“
„Unserem Herrn kümmert es“, erwiderte Phobosul. „Du lässt die Kinder seines Bruders einfach so ziehen. Das zeugt von Schwäche.“
„Und deine Idee, einen instabilen Runenstein in unser Heiligtum zu schleppen, zeugt von Leichtsinn.“ Bei diesen Worten wandte sich Deimossar mit grimmigen Blick an Phobosul. Dieser wedelte hastig mit den Armen.
„D-Das war notwendig.“, verteidigte sich der falsche Feuermagier. „Irgendwie musste ich den Paladin ködern. Zudem weiß nur ich das Losungswort, um den Runenstein zu sprengen.“
„Dann schweig jetzt besser, bevor es dir noch rausrutscht“, erwiderte Deimossar kalt. Phobosul schaute auf den Boden des Minarettes und wagte, nicht weiterzusprechen. Deimossar schaute dann auf die Schaluppe, die soeben die Passage erreicht hatte.
„Ich habe in deiner Abwesenheit einige Prachtexemplare erhalten.“, begann Deimossar mit kaltem Lächeln. „Die werden deine Seele wieder auffrischen.“
Phobosul griff sofort nach seiner Wunde, die er mit Hilfe seiner Runenmagie verschließen konnte. Als Deimossar das sah, lächelte er. „Nimm es mir nicht über Brüderchen. Aber ich musste deiner Scharade ein wenig… „Glaubwürdigkeit“ verleihen. Sonst wäre deine Überraschung geplatzt.“
„So glaubwürdig musste sie nun wirklich nicht sein“, grunzte Phobosul bitter. Deimossar lachte und legte seine modrige Hand auf dessen Schulter.
„Du wirst bald sowieso eine neue Hülle benötigen, Phobosul“, meinte Deimossar grinsend. „Die Haut des alten Torren wird bald verfallen. Und du willst nicht vorzeitig in Beliars Reich einkehren, oder?“
Beinahe hatte die Schaluppe den Ausgang der Passage erreicht. Dennoch schaute Salem angsterfüllt um. Der Schattenregent könnte noch immer ein grausames Spiel mit ihnen spielen und sie kurz vor ihrer Flucht töten lassen. Und für einen Moment glaubte er dies, als er eine wabernde Gestalt sah, die am Fuß einer der großen Dämonenstatuen stand. Zuerst wollte er seine Männer alarmieren. Doch als er die Gestalt mit dem Fernglas begutachtete, erschrak er.
Hastig eilte Salem in seine neuen Kajüte und riss die Tür auf. In der Ecke des Raumes schluchzte Finbar, der sich seiner Rüstung entledigt hatte. Mit seiner einfachen Matrosentracht konnte man nun seinen verstümmelten Arm sehen, der in Bandagen eingehüllt wurde. Mit einem Ruck streckte Finbar erschrocken auf und starrte auf Salem.
Wenig später stützten sich beide an der Reling der Schaluppe, während James und die Mannschaft hastig weiterarbeiteten. Finbar nahm das Fernglas in die Hand und schaute damit direkt in das markante Antlitz des Gespenstes. Die Augen, die kurz zuvor wie Innos‘ Flammen blau brannten, starrten den Jungen nun kalt und grausam an. Plötzlich glaubte Finbar, eine Stimme zu hören.
„Lebe, mein Sohn“, hörte er die schemenhafte Stimme seines Vaters sprechen. „Lebe.“
Finbar senkte langsam das Fernglas, überreichte es dann Salem, der nun selbst durchschaute. Dann nahm der Kapitän das Fernglas herunter und seufzte schwer. Er wandte sich an Finbar, der sich nun an der Reling lehnte und mit den Tränen kämpfte.
„Kommt, junger Herr.“, sagte der Kapitän mit tröstender Stimme. Finbar ließ sich vom Kapitän in die Kajüte bringen, während die Schaluppe nun endlich aus der Passage fuhr und ins offene Meer segelte.
Der Geist Alarichs starrte derweil der Schaluppe lange nach. Dann löste er sich auf und er kehrte in die Finsternis Thanadons zurück.
Geändert von Silas Serdar (16.07.2024 um 22:04 Uhr)
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