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Das Samhainfest - Festplatz
Wildes Treiben herrschte auf dem Festplatz. Die gesamte Bevölkerung Schwarzwassers war hier versammelt, das gesamte Waldvolk. Ylva erkannte einige Gesichter, doch die meisten waren ihr fremd. Doch wie man im Norden sagte: biete einem Mann ein Bier an und er ist kein Fremder mehr. Wenn gefeiert wurde, Alkohol floss und man ins Gespräch kam gab es keine Unterschiede mehr. Alt und Jung saßen zusammen und sprachen über Vergangenes und Kommendes. Zwiste wurden beigelegt, wenn auch nur für diesen Abend. Auch wenn morgen die Äxte wieder sprachen, lachte man heute Arm in Arm. In dieser Hinsicht, so schien es, waren sich das Waldvolk und die Nordmarer einig. Und vielleicht lag mehr dahinter. Vielleicht war es die menschliche Natur, die sich danach sehnte den Alltag vergessen zu können, die Sorgen die mit ihm kamen, und einfach nur das Leben zu zelebrieren.
„Hoch die Humpen!“ rief sie, als sie sich an einen Tisch setzte, an dem angeregt geplaudert wurde, und setzte an. Es erfüllte ihr nordmarer Herz mit Stolz, dass einige der örtlichen Kerle mit ihrer Trinkgeschwindigkeit nicht mithalten konnten. Sie grinste und wischte sich den Schaum mit dem Ärmel ab.
„Nicht schlecht für ein paar Flachländer!“ sagte sie schelmisch und blickte sich um. Unbekannte Gesichter, vorwiegend Männer, aber auch die ein oder andere Frau saß hier. Ein paar Tische weiter konnte sie Ornlu mit Fäkalhumor Seemannsgarn spinnen hören, während sie an einem anderen Tisch einen Kerl von seinen weiblichen Eroberungen tönen hörte. Hier ging es gesitteter zu, man erzählte sich vom vergangenen Jahr. Die wilde Jagd kam zur Sprache, währenddessen der Sumpf scheinbar von Monstern belagert wurde. Die Kargheit, die zeitweise herrschte und es noch immer tat. Jagdtrupps, die nicht mehr genug erbeuteten konnten, um den Hunger dieser Siedlung stillen zu können. Auch an anderen Dingen schien es zu mangeln, die das Waldvolk nicht selbst herstellen konnte. Die Jägerin seufzte. In eine feine Gemeinschaft ist sie da geraten.
„Und du?“ wurde sie angesprochen „Das letzte Jahr, wie war es für dich?“
Ylva hielt kurz inne. „Vor einem Jahr wusste ich noch nicht, dass es euch gibt.“ sagte sie lachend und deutete mit dem Humpen in der Hand über den Festplatz. „Da war ich noch Jägerin und Nordmarerin durch und durch. Nichts mit Waldvolk und… Dämonensumpf und Tooshoo.“
„Und wie bist du hier her gekommen, wenn du nichts von uns wusstest?“
„Tausend Zufälle.“ gestand die Jägerin. „Hätte dieser Calan nicht den Ork umgebracht und mich dann verschleppt, und hätte ich dann nicht diesen Maris getroffen, der mich hierher gebracht hatte und dann diesen Ornlu der… Zeug macht.“ Sie schüttelte ungläubig mit den Kopf. In einem kurzen Jahr war sie von den Weiten Nordmars nach Tooshoo gekommen und war von einem Druiden unter seine Fittichen (oder Tatzen?) genommen worden, um die Magie eines Volkes zu lernen, von dem sie nie etwas geahnt hatte. Es war, wenn man darüber nachdachte, alles schrecklich surreal und unwahrscheinlich. Und doch war sie hier. Und, so musste sie sich eingestehen, das war gut so.
Sie klopfte mit ihrem leeren Bierhumpen auf den Tisch und stand auf.
„Eines ist zu wenig.“ sagte sie und nahm noch ein paar weitere entgegen, um die nächste Runde zu holen.
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Das Samhainfest - Festplatz
Freiya starrte in die Flammen. Die Faszination, die das Feuer auf sie ausübte, war ungebrochen. Doch nachdenklich war ihr Blick, wie er den tanzenden Flammen folgte. Die Waldläuferin hatte längst schon ihre Fackel dem Feuer übergeben und während der Rest zu den Feierlichkeiten übergegangen war, verharrte sie noch und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Ihr war aus einem seltsamen Grund nicht sehr nach Feiern zumute, anders als es bei Beltane nach der Wilden Jagd gewesen war.
Sie dachte an das letzte Jahr. Das letzte Samhain hatte sie nicht mit gefeiert, da sie mit Ryu und Griffin im Gebirge gewesen war. Sie war immer noch erstaunt darüber, wie sich der Kreis mit den Baumgeistern geschlossen hatte, was das Gebirge betroffen hatte.
Dann war da noch die Wilde Jagd gewesen, die von ihnen allen so Vieles abverlangt hatte. Selbst jetzt, mit Abstand und den Wunden, die für Freiya fast verheilt waren, wartete die Wilde Jagd immer noch wie ein großes Glücksspiel der Götter auf. Es war kein gutes Gefühl, zum Spielball der Mächte zu werden, so viel stand fest. Doch das Waldvolk von Argaan hatte alles gegeben und seine Heimat behalten.
Und sie selbst? Freiya hatte sich weiter entwickelt, war nun in den Stand der Waldläufer erhoben und übernahm neue Verantwortung, auch wenn ihr Fokus eigentlich auf einem Abschied lag. Sie hatte neue Freundschaften geschlossen, da waren Sandy und Argo, die sie nun begleiteten. Die Gedanken an die tierischen Gefährten erweckte die Erinnerung an den kleinen flügellosen Vogel mit dem langen Schnabel, den Freiya damals im Bluttal gefunden hatte. Sie hatte ihn aufgepäppelt und er hatte sie eine ganze Weile lang begleitet. Irgendwann, sie war schon längst wieder in Tooshoo gewesen, waren die Besuche des kleinen gefiederten Kerls immer weniger geworden und eines Tages war er nicht wieder gekommen. Freiya hoffte, weil er eine liebreizende Dame seiner Art gefunden und eine Familie begründet hatte, und nicht, weil er Opfer eines Raubtieres geworden war.
Dann war da auch noch Ryu. Die Rothaarige fragte sich, ob er der Beginn eines Neuanfanges war oder der Abschluss eines Lebensabschnitts. Das erste Kapitel einer neuen Geschichte in ihrem Buch des Lebens oder letztendlich der Schlussakkord eines ausklingenden Werkes? Es blieb abzuwarten.
Freiya drehte sich langsam weg vom Feuer und lief zu den Bäumen hin, um sich zu erleichtern. Sie hatte den Fackelumzug über ihren Eltern gedacht – wie jedes Jahr. Dahingehend war Samhain irgendwie traurig und tröstend zugleich. Sie konnte sich Zeit nehmen, jenen Menschen zu gedenken, die ihr fehlten. Es war so viel passiert in den letzten Monaten und irgendwie fühlte sie sich ihrer Mutter und ihrem Vater näher als zuvor. Ob sie wohl stolz wären?
Es war wieder ein Spektakel gewesen, als die Blüte des Lebens sich geschlossen und das Waldvolk den Winter begrüßt hatte. Freiya hatte dieses Jahr stärker als sonst eine Gefühlsregung gespürt, wie eine Umarmung einer großen Mutter. Tröstend und warm und dennoch mit der Erinnerung, dass sie alle ihre Aufgabe hatten und es zu schützen galt, was war.
Die Nacht, in denen die Schleier zwischen den Welten dünn wurden, war immer wieder etwas Besonderes und Freiya wusste, dass so manche Geister ihre Lieben besuchten. Doch sie hatte keinerlei Erwartungen an diese Nacht. Der Nebel wurde hinter der Baumgrenze dichter und nach ein paar Schritten zwischen die Bäumen schon war die Wärme und das Licht des Feuers gänzlich verschwunden. Silbrige Schlieren, gar nicht so unähnlich den Spinnweben aus ihrem Traum, hingen in Fetzen über dem Sumpf. Es fröstelte sie, als die Feuchte des Sumpfes sich über ihre Haut legte. Sie hatte für den festlichen Anlass ihre neue Waldläuferinnenkluft gegen ihre dunkle Hose und helle Leinenbluse getauscht – und trug zudem das rote Tuch adrett um den Hals. Doch hier, abseits des Feuers und der anderen, überzog eine Gänsehaut sie.
Als Freiya sich wieder erhob und sich den Festlichkeiten zuwandte, blickte sie plötzlich in das bleiche Angesicht eines Geistes! Erschrocken hielt sie den Atem an. Da stand … Kuno! Aber, wieso?
Grobschlächtig, wie sie ihn in Erinnerung hatte und wie er ihr damals auf Lyrcas Lichtung begegnet war, stand er da und starrte sie stumm und anklagend an. Freiya machte einen Schritt zurück. Was wollte dieser Geist von ihr? Warum kam er, um sie heimzusuchen?
Sein Gesicht verzog sich zu einer wütenden und hässlichen Fratze und er hob den Arm, streckte seine Finger bedrohlich nach ihr aus. Freiya stolperte zurück und prallte mit dem Rücken an einen Baum. Kuno griff nach ihrem Haar und zog daran, während seine andere Pranke ausfuhr und in ihrem Gesicht landete. Doch statt des zu erwartenden harten Schlages spürte sie nur einen kalten Hauch.
„Verschwinde!“, rief sie aufgewühlt.
Kuno aber baute sich abermals auf und legte seine Hände um ihren Hals. Eiskalt wurde es an Freiyas Kehle. Nicht wissend, wie sie sich wehren sollte, versuchte sie ihre Hände gegen den Geist zu stemmen, griff jedoch ins Leere. Plötzlich vernahm sie ein aufgeregtes Kreischen und Flügelschlagen. Sie sah Argo im Dunkeln heranrauschen, der mit seinen kräftigen Krallen nach dem Geist hackte. Freiya duckte sich weg und als sie wieder hinsah, war Kuno verschwunden.
„Oh, der Mutter sei Dank“, keuchte die Rothaarige und schluckte. Dann sah sie zu ihrem gefiederten Gefährten, der sich auf einen Ast niedergelassen hatte und aufmerksam die Umgebung beobachtete.
„Danke dir, mein Freund“, murmelte Freiya fahrig. Argo erwiderte nichts. Er spürte ihre Anspannung sicher.
Heftig atmend sank Freiya am Baum angelehnt zu Boden, bevor sie ihr Gesicht in ihren Armen vergrub.
Warum? Was wollte Kuno von –
„Freiya? Alles ok?“
Sie blickte auf und erblickte in der Dunkelheit Ricklen. Tränen stiegen ihr ob des Schrecks in die Augen und sie versuchte, sich zusammenzureißen.
„Mensch, siehst ja aus, als hätteste ‘nen verdammten Geist gesehen?!“, sprach Ricklen.
Freiya verzog das Gesicht und nickte. Sie biss sich auf die Lippen, um erneut zu verhindern, dass sie schluchzen musste. Ricklen ließ sich bei ihr nieder und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Da kann man sich schonmal erschrecken“, sagte er etwas unbeholfen. Freiya musste unwillkürlich schmunzeln ob seines Versuches, sie irgendwie zu trösten.
Einen Augenblick schwiegen sie, dann erhob der Waldläufer wieder das Wort:
„Freiya ... bist du sauer auf mich? Wegen dem, was zwischen mir und dem Hayabusa bei der Wilden Jagd vorgefallen ist?“
Etwas erstaunt blickte sie ihn an, schüttelte dann aber den Kopf:
„Nein, wie kommst du drauf?“
„Ich hatte fest damit gerechnet, dass du mich für dein Jagdkommando fragst. Hast du aber nicht. Hab gedacht, du gehst mir aus dem Weg. Vor allem, weil du auch verschwunden warst mit dem Hauptmann.“
Sie sah ihn weiterhin erstaunt an. Dass er sich solche Gedanken machte, war neu für sie. Wieder schüttelte sie den Kopf, diesmal energischer:
„Nein, ich bin wirklich nicht sauer. Ich wollte es nur unbedingt ohne dich schaffen, verstehst du das? Ich … wollte mich beweisen.“
„Das hast du! Glückwunsch zu deinem Jagderfolg mit deinem Kommando. Der Hirsch war ein ordentlicher Einstand“, sagte er und klopfte ihr wieder auf die Schulter.
„Danke“, erwiderte sie und fuhr sich verlegen durch Gesicht. „Hab ich von dir gelernt, wie man so ein Tier erlegt.“
Er lachte kehlig: „Verdammt, das hast du.“
Stille kehrte ein zwischen ihnen.
„Danke dafür. Und überhaupt für alles“, sagte sie dann leise.
Ricklen nahm seine Hand von ihrer Schulter und ließ sich neben ihr auf den Wurzeln des Baumes nieder, an dem Freiya saß.
„Es war ne tolle Zeit in deinem Kommando. Wie eine Familie“, gab sie zu. „Aber jetzt scheint es uns alle in verschiedene Richtungen zu zerstreuen.“
Ricklen nickte langsam.
„Kann mich nicht dran erinnern, wann ich jemals so lange ein bestimmtes Kommando hatte. So ein verdammt gutes dazu. Aber jetzt geht Onyx mit Kiyan aufs Festland, du gehst auch, Jilvie hat ‘nen neuen wichtigen Posten und Fridtjof ist auch schon weg. Verdammte Scheiße.“
„Weißt du den wirklichen Grund, warum Fridtjof weg ist?“, fragte Freiya in einem Anflug eines schlechten Gewissens.
„Klar“, erwiderte der blonde Jäger.
„Oh“, entfuhr es Freiya und etwas bedröppelt senkte sie den Kopf.
„Und, er hat doch Recht gehabt, oder?“
„Auf gar keinen Fall!“, fauchte Freiya viel mehr als sie wollte. Ricklen feixte nur. Dann kehrte wieder Stille zwischen den beiden ein, bis Ricklen schließlich das Wort ergriff:
„Wie geht’s jetzt weiter bei dir? Wann brichst du auf?“
„Ich bin mir noch nicht sicher. Ich denke, ich habe noch etwas zu tun“, sagte Freiya nachdenklich.
„Hält etwa der Hayabusa dich davon ab, zu gehen?“
„Alles hier im Moment hält mich davon ab, zu gehen“, erwiderte die Rothaarige. „Ich mich selbst wahrscheinlich am stärksten.“
„Ha, naja, so lange kein Mann dahinter steckt. Du weißt, was Jilvie dazu sagen würde?“
Freiya legte nachdenklich den Kopf auf die eine und dann die andere Seite, anschließend schmunzelte sie: „Kein Kerl der Welt sollte mich von meinem Weg abhalten?“
Ricklen nickte kurz und kräftig: „So sieht’s aus. Rate ich dir auch.“
Freiya indessen seufzte.
„Sieht eher so aus, als bräuchte ich vor meinem Aufbruch noch ne Lektion in Selbstverteidigung“, sprach sie nachdenklich.
„Wieso, willst du jemanden in die Eier hauen?“, fragte Ricklen.
„Wenn es zum Äußersten kommt, dann vielleicht.“
Ricklen schnaubte belustigt.
„Hey!“, protestierte sie.
„Jaja, schon gut. Mach, was du denkst. Aber verlier dein Ziel nicht aus den Augen. Soweit ich weiß, sind das deine Erinnerungen“, antwortete Ricklen ihr.
„RICKLEN?“, schallte es plötzlich.
„Hier drüben!“, erwiderte der Gerufene.
Es wurde hell und Jilvie erschien mit einer Fackel bei den beiden.
„Was macht ihr hier?“
„Vater-Tochter-Gespräch“, murrte Ricklen. Freiya schmunzelte.
„Verstehe. Bin grad fertig mit Ornlu!“
„Ach ja?
„Mit Tanzen, du Depp!“
„Ach so, ja. Na, dann gehen wir mal zurück, was?“, sagte Ricklen an Freiya gewandt, dann erhob er sich und half ihr auf. Es fröstelte Freiya vom Sitzen in der Kühle.
„Ich glaube, ich geh jetzt mal was essen“, verkündete sie.
„Oh, probier unbedingt von dem Hirschbraten, er schmeckt fantastisch!“, sagte Jilvie. „Das hast du dir verdient.“
Sie klopfte der Rothaarigen anerkennend auf die Schulter.
„Danke“, erwiderte Freiya und lächelte. „Das werde ich auf jeden Fall sofort tun.“
„Aber ja keinen Schnaps vom Jadewolf andrehen lassen!“, feixte Ricklen.
„Gott bewahre!“
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Abwehrend und mit nur halb gespielter Sorge vor dem Donnerwetter, dass ihn erwarten könne, hob Griffin beschwichtigend die Hände.
Inmitten der Feiernden, Trinkenden und Rauchenden, die allesamt auf eine Begegnung mit dem Geistern ihrer Vergangenheit hofften und dem Feuer Opfergaben darboten, hatte der ehemalige Hüter sich auf die wenigen Dinge zu konzentrieren versucht, die für ihn greifbar, real und wichtig erschienen. Allen voran dieses faszinierende, weißhaarige Persönchen, das ihn aus ihren türkisfarbenen Augen erwartungsfroh und herausfordernd anblitzte. Ein Persönchen, das sich so regelmäßig in Lebensgefahr begeben und so unglaublich schnell daran gewachsen war, das von dem schüchternen, kleinen Mädchen von einst kaum noch etwas geblieben war. Den Zorn der kleinen Frau hatte er damit allerdings nicht heraufbeschwören wollen.
Ohne wirklich darüber nachzudenken wieso, lächelte er Zarra knapp und entschuldigend an, ehe ehr ihren Körper dann fest an seinen drückte und sie in seine Arme schloss. Es war ein Zeichen der Entschuldigung und des stummen Danks. Tief atmete er aus, während er sie nach der Umarmung wieder freigab.
Ryu und Freiya waren gleichzeitig der Wind in seinen Segeln und die sichernde Anker gewesen, die ihm Halt gegeben hatten. Auf ihre so ganz unterschiedliche Art und Weise hatten sie beide ihn beflügelt und am Boden gehalten. Zarra aber, die mit ihren inneren Dämonen auch so sehr zu kämpfen schien - sie war der leuchtende Stern am dunklen Nachthimmel gewesen, der ihm die Richtung gewiesen und ihm in dunkelster Schwärze Licht geschenkt hatte.
Er hoffte eines Tages die richtigen Worte dafür finden zu können.
»Ich sage dir ausnahmsweise mal nicht, was für eine fantastische Singstimme du hast.« Er zwinkerte ihr neckisch zu. »Das wäre dir sicherlich peinlich.« Doch noch bevor er ihr die Zunge rausstrecken und sie weiter ärgern konnte, knuffte sie ihm grob in die Seite und zog die Stirn kraus.
»Du bist gemein!«, murrte sie ernst, aber mit einem kaum merklichen Lächeln auf den jugendlichen Zügen.
Griffin legte ihr sanft die Hand auf die Schulter, die ob ihrer Körpergröße viel größer aussah, als sie in Wahrheit war. »Weißt du, meine Liebe-« Er blickte physisch zu ihr herab, innerlich aber voller Demut und Dankbarkeit zu ihr herauf. »Gerade weil ich dich an die gierigen Hände der verrückten Druiden verloren habe, freue ich mich über all diese Feste. Du musst einem alten Mann verzeihen, wenn er dann voller Stolz auf die Jugend Zukunft des Waldvolks blickt.« Mit einem zufriedenen Schmunzeln fuhr er fort.
»Aber apropos - wie läuft deine magische Unterrichtung? Dein Blick ist noch klar und du hast drei zusammenhängende Sätze gesprochen, ohne manisch zu lachen, über Exkremente zu sprechen und deine Kleidung trägst du auch noch. Entweder läuft es also sehr gut oder sehr schlecht.« Etwas ernster fügte er an: »Aber im Ernst: Sie behandeln dich doch gut oder?«
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Das Samhainfest - Festplatz
Der junge Mann und seine Begleiterin fielen im Grunde nur durch ihre Kleidung auf. Sie entsprach nicht den Farbtönen des Waldvolkes. Braun, Grün – Farben, die Tarnung im Unterholz gewährleisteten. Auch die Art war anders. Wo hier Leder und Fell vorherrschend waren, schienen die beiden Außenseiter edlere Stoffe zu tragen, in wesentlich fröhlicheren Tönen. Der Mann wirkte entspannter, zwar nicht ausgelassen, aber so, als kenne er sich hier aus, als wäre ihm dieses Ritual, die Feier, die damit verbundenen Traditionen und Abläufe nicht fremd.
Die Frau hingegen, etwas älter als der Mann, der fast noch als Jugendlicher durchgehen mochte, schien sich eher unwohl zu fühlen. Sie stammte nicht aus diesem Volk, ihr als Tochter Varants waren diese Bräuche völlig fremd. Auch dieser Ort. Ein Sumpf! Alles feucht, alles stinkend. Da war ihr der trockene, heiße Wind ihrer Heimat lieber.
„Sumpfbursche“, murmelte sie, während sie einen Schluck aus einem Krug nahm und das Gesicht verzog. Sie schüttelte sich. „Das tue ich nur dir zuliebe, das weißt du, oder?“
Er lächelte unter dem breitkrempigen Hut zu ihr rüber. Ein Accessoire, welches er sich in Stewark angeschafft hatte. Es war eitel, übertrieben, aber gefiel ihm. „Qarrah, das weiß ich und ich weiß es auch zu schätzen“, antwortete er aufrichtig dankbar, „Ich … so sehr ich mit meiner Herkunft, mit diesem Ort hier abgeschlossen habe, so ist Samhain doch ein Fest … das ich stets zum Gedenken an meine Eltern genutzt habe.“
Der junge Mann sah einige Augenblicke lang in die Flammen. Qarrah, die Frau, nickte.
„Ich weiß, was du meinst“, antwortete sie mit belegter Stimme und er sah, wie sie sich Tränen aus den Augen wischte. Der Mann lächelte kurz. Noch vor einigen Monden hatte Qarrah ihn als Ärgernis betrachtet. Als sie anglotzenden Jüngling, der mit all seiner linkischen Tollpatschigkeit ihr Handwerk lernen wollte. Nun, die richtige Diebeskunst blieb ihm noch verborgen, aber unter ihrer Anleitung und mit ein wenig Kennenlernen, hatte er sich zu einem gewitzten Kerl mit Silberzunge entwickelt, der seine schlanken Finger, die dereinst Listen im Zeughaus der Wächter mit endlosen Inventuren gefüllt hatten, dazu nutzte, um unachtsamen Leuten das Goldsäckel vom Gürtel zu schneiden. Gerade in Stewark hatte er so reiche Beute gemacht, ein kleines Vermögen angehäuft, das in neue Kleidung, eine neue Frisur und somit auch ein Stückweit in eine neue Rolle geflossen war.
Da stand also Heric, Sohn eines Wächters, einstmals der Bursche, der für den Hauptmann Hayabusa in den Jahren der Trübsal für etwas Ordnung im Zeughaus gesorgt hatte, als junger Mann in edler Kleidung da und gedachte seiner Eltern. Ja, in gewisser Weise war dies hier sein Abschied, sein Willkommenheißen einer neuen Zeit.
Den Krug mit Taviks Bräu in der Hand, sah er sich um. Sah Freiya, die Jägerin. Sah Griffin, der nach langer Abwesenheit zurückgekehrt war und bei ihm etwas Ausrüstung bekommen hatte, sah – Heric verschluckte sich kurz – Zarra, die Tochter der Rimbes. Götter, war sie schön geworden! Röte stieg ihm ins Gesicht, als er bemerkte, dass Qarrah seinen Blick gesehen hatte. Gleich machte sich in ihrer Umgebung eine Kälte breit, die nur vom bevorstehenden Winter kommen konnte. Heric räusperte in seinen Krug und sah weiter.
Nur um sich fast erneut zu verschlucken.
Blass, hager, helles Haar, welches kurz gehalten war. Eine dunkle Augenklappe, das verbliebene Auge eisblau und beobachtend. Vom einstigen Fieberglanz war nichts mehr zu sehen. Da schaute ein vorsichtiger, vielleicht etwas angespannter Mann in die Runde, nickte hier und da grüßend, schien aber alleine eher steif zu sein.
„Meister Kiyan …“, murmelte der Bursche. Oft hatte er an seinen Lehrherren gedacht. Hatte zu Adanos gebetet, er möge überlebt haben.
„Der da?“, fragte Qarrah und folgte Herics Blick. „Sieht … ungemütlich aus.“
Heric lächelte betrübt. „Er war mal … lebhafter. Freundlicher, viel netter. Ich … bin froh, dass er überlebt hat. Aber … es scheint ihn härter gemacht zu haben.“
„Willst du …“
„Nein.“, fiel ihr Heric sofort ins Wort. „Nein, Qarrah, gehen wir. Trinken wir aus und reisen dann ab. Abschiede sollen kurz und schmerzlos sein.“ Er grinste sie an. „Außerdem gibt’s bei denen hier nicht viel zu holen und die Strafen für’s Erwischtwerden sind ungleich schlimmer als andererorts.“
Ja, dies hier war nicht mehr Herics Heimat. Aber dennoch würde ein Teil von ihm immer hierbleiben. Das Kind in ihm. Sein weiterer Weg würde aber anderswo hinführen. Und darauf, so musste er sich eingestehen, freute er sich wahnsinnig.
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Das Samhainfest - Festplatz
Wie machte er das nur? Eine einzige Umarmung und sie verlor jegliches Gefühl der Scham, fühlte sich sicher und wollte am liebsten nie wieder loslassen. Außerdem strahlte er immer eine Wärme aus, die im Sommer vielleicht etwas unangenehm sein konnte, jetzt, am Beginn der kalten Jahreszeit, jedoch umso angenehmer war. Der leichte Geruch von Schweiß und der Rinde der Äste, auf denen er sich so gern aufhielt, ließen ihr Herz ruhiger Schlagen.
Wie befürchtet endete die Umarmung viel zu schnell und dann wurde er auch noch frech dabei! Mit der kleinen Faust schlug sie ihm in die gepolsterte Seite, wobei es für ihn wohl nicht viel mehr als ein Stupser war.
Und da war es wieder. Die immer wiederkehrende Behauptung, er sei ein alter Mann. Was für ein Stuss. Ihre Großmutter war alt! Griffin war in der Blüte seines Lebens und sie verstand nicht, wieso er sie vom Gegenteil überzeugen wollte – oder war es er selbst, den er überzeugen wollte, um eine Entschuldigung zu haben für all die Dinge, die ihm früher leichter gefallen waren?
„Die Druiden haben mich doch nicht geraubt“, grinste sie zu ihm herauf, „Ich bin hier und ich bin ich!“
Stimmte das wirklich? Hatte sie sich seit der Wilden Jagd und dem Aufblühen ihrer Magie nicht verändert? War sie nicht offener geworden, hatte angefangen sich selbst nicht mehr als kleines Mädchen, sondern als Frau zu sehen, die im Begriff war dem Waldvolk zu helfen, wie es ihre Oma immer gewollt hatte?
„Aber ich bin auch froh, wenn ich dich wenigstens zu den Festen zu Gesicht bekomme! Die letzten Wochen waren anstrengend und ich habe nicht mal meine Omi gesehen“, gab sie zu und schaute sich suchend nach Nerea um, fand sie jedoch nicht. Stattdessen wurden ihre Augen kurz größer. War das...? Nein, das konnte er nicht...oder? Dieser seltsame Hut machte es schwierig sein Gesicht genau zu erkennen, doch wenn sie sich nicht täuschte, dann lief da Heric. Der gemeine Käfermörder! Doch noch bevor sie sich vergewissern konnte, versperrten einige tanzende Paare ihr die Sicht. Sei's drum, sie würde ihn früher oder später sicher nochmal sehen.
Griffins Kommentar zu ihrer geistigen Verfassung begegnete sie mit einem breiten Grinsen.
„Wer weiß? Vielleicht fehlt noch ein wenig Sumpfkraut bis ich deinem Bild einer Druidin gerecht werde?“, neckte sie ihn, bereute es jedoch im nächsten Moment, da sein Blick sich etwas verfinsterte.
Falsches Thema, Zarra…, ermahnte sie sich selbst.
„Keine Sorge, Griffin. Maris ist ein guter Mentor und Vareesa hat mir sehr geholfen zu…“, sie hielt inne, einer Eingebung folgend.
Ihre kleine Hand legte sie auf seinen Bauch, konzentrierte sich auf das, was sie die letzten Wochen immer wieder geübt hatte. Die kleinen Ameisen, trugen ihre Eindrücke und Empfindungen zu der neuen Welt, die sich ihr eröffnet hatte, brachten sie zu ihm, an die Oberfläche seiner Seele. Neugier, Freude über einen Erfolg, Wut und Zweifel, als sie bei dem Iltis scheiterte und die Art und Weise, wie sie die Natur wahrgenommen hatte, als sie von den Zinnen Niradhs aus ihre Magie ausgestreckt hatte. Doch sie stockte, spürte etwas in ihm, was...war das? Sie fühlte sich mit einem Mal beobachtet, beurteilt und...unerwünscht.
Erst, als sie die Verbindung löste, fragte sie sich, ob es unhöflich gewesen war, seine Seele einfach so zu berühren.
„Ehm…entschuldige, ich hätte dich fragen sollen“, äußerte sie kleinlaut und senkte den Blick, das Gefühl von einem wilden Tier beobachtet zu werden im Nacken.
Geändert von Zarra (03.11.2024 um 13:42 Uhr)
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Dieses Gör!, polterte lautstark eine Stimme in seinem Innersten.
Griffin hörte ein sehr unerfreutes Brummen in seinem Kopf, noch bevor er wie durch Milchglas die wilde Flut an Gefühlen, Sinneseindrücken und Gedankenfetzen vernehmen konnte, die Zarra ihm offenbar auf magische Weise übermittelte.
Es war ein überwältigendes Gefühl zu spüren, was sie spürte. Die Welt, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick und wie nach einem Traum, durch ihre Augen zu erblicken. Und auch wenn diese Eindrücke sich ebenso schnell verflüchtigten wie sie gekommen waren und ihn mit einem Gefühl der Leere zurückließen wie am Morgen nach einem einem besonders schönen Traum, würden diese Eindrücke für immer Teil von ihm sein.
Dieses dreiste Balg. Wie kann sie? Sie weiß es, hörst du? Sie weiß es.
Das vollkommen geräuschlose Rumoren in seinem Inneren wurde lauter. Ohrenbetäubend. Das letzte Mal hatte er ein ähnlich heftiges Poltern in sich gespürt, als er am Hafen Thorniaras auf Trilo gestoßen war. Damals hatte er die Kontrolle verloren - jetzt aber, in Gegenwart von Zarra, behielt er die Zügel fest in der metaphorischen Hand. Er würde nicht erlauben, dass was auch immer in ihm war, wieder die Kontrolle über ihn erlangen würde. Nicht jetzt. Nicht jemals.
Wie du willst. Es hörte auf an den Ketten zu reißen, die es fesselten. Es stoppte seinen Widerstand. Und doch spürte der ehemalige Hüter mehr als sonst die lauernde Präsenz in seinem Unterbewusstsein.
Griffin wandte wie in Zeitlupe den Blick zu Zarra, die überrascht von ihm abließ.
Er wollte sich der jungen Frau nähern, die instinktiv von ihm abgelassen und einen halben Schritt von ihm weggetreten war. Den Blick gesenkt, als fürchte sie eine Ohrfeige. Oder Schlimmeres. ES brach ihm das Herz, sie so zu sehen. Er wollte sie halten und daran hindern, sich von ihm zu entfernen - sowohl physisch als auch psychisch. Wollte ihr die Angst nehmen und ihr sagen, dass alles gut war und sie keine Furcht zu verspüren brauchte. Dass er das, was auch immer in ihm wohnte, im Griff hatte. Auch ganz ohne Betäubung durch Alkohol und Drogen.
Aber er fürchtete, dass er es damit nur schlimmer machen würde.
Daher ließ er bedrückt die Schultern und seinen Blick sinken.
»Es ist-« Gab es überhaupt etwas, das er hätte sagen können? »Weißt du, es-« Nein. Gab es nicht. Nichts außer der Wahrheit. Und ausgerechnet die hatte er zu bewahren geschworen. Selbst vor Zarra. »Vielleicht können die Druiden dir eines Tages mehr zu dem erzählen.« Mit einer ausladenden Geste deutete er auf sich selbst. Dann deutete er vorsichtig auf ihre Hand. Zögerlich legte sie ihre Hand in die seine und Griffin drückte sie vorsichtig auf seine Brust - direkt oberhalb seines Herzens. »Ich kann dir nicht erzählen, was das ist. Wer ich bin.« Er lächelte sie müde an. »Es tut mir leid, dir heute nicht mehr erzählen zu können. Ehrlich!«
Unruhig bebte sein Herz in der Brust. Er konnte den Blick der weißhaarigen Frau nicht deuten, die mit sich selbst zu kämpfen schien und in Gedanken versunken war.
Er ließ ihre Hand los. Noch für einige wilde Herzschläge lang ruhte die porzellanweiße Hand auf seiner Brust, dann nahm Zarra sie vorsichtig weg.
Er wechselte das Thema.
»Maris also, hm? Der ist zumindest nicht ganz so verrückt wie Ornlu.« Sein Lachen war zum ersten Mal in diesem Gespräch erzwungen und das müde Lächeln erreichte seine Augen nicht.
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Das Samhainfest - Festplatz
Ungewollt hatte sie einen Fehler gemacht, berührt, was nicht berührt werden sollte, wenn kein Konsens bestand und sie ärgerte sich über sich selbst, schämte sich für die Unbedachtheit, mit der sie nach Griffins Seele gegriffen hatte. Was gab es Persönlicheres, als das innerste Selbst? Und sie war ungefragt hereingeplatzt, hatte ihr Gepäck abgeladen und erwartet, freundlich begrüßt zu werden.
Dumme Göre…, verfluchte sie sich selbst mit den Worten, die ihre Großmutter mehr als einmal ihr gegenüber verwendet hatte, wenn sie unbedacht gehandelt und ihre Unterarme mit giftigen oder ätzenden Pflanzenteilen beschmiert hatte, um herauszufinden, was für einen Effekt sie haben würden.
Dass Gefühl von Griffins Herzen unter ihrer Hand, dessen Takt nicht mehr so besonnen und ruhig war, wie in dem Moment, als sie ihren Kopf an seine Brust gedrückt hatte, ließ sie schlucken. Hätte sie gewusst, dass sie solch Unwohlsein bei ihm auslöste, wäre sie niemals so weit gegangen ihm zu zeigen, was sie erlebt hatte. Der einfache Weg war offensichtlich nicht immer der Beste. Immerhin verstand sie nun ein wenig besser, warum manche Tiere so unkooperativ gewesen waren, wenn sie sie mit der Tierzunge erreichen wollte.
„Griffin, ich…will natürlich wissen, wer du bist. Aber nicht auf diese Weise. Ich möchte es lieber von dir hören, wenn du…wenn ich bereit dafür bin!“, murmelte sie beschämt, zwang sich jedoch ihm wieder in die Augen zu sehen. Etwas feucht waren die ihren und die seinen? Sie wirkten fern, als wären seine Gedanken woanders. Traurig und…einsam? Aber sie war doch hier!
Die gerade zurückgezogene Hand suchte erneut die seine. Sie wollte ihn spüren lassen, dass sie da war, auch wenn sie nicht wusste, ob er in diesem Moment überhaupt ihre Gesellschaft wollte oder sie nur erduldete, um sie nicht zu verletzten. Sie hoffte inständig, dass es keines von beidem war.
„Ich weiß nicht, ob Maris weniger verrückt ist als Ornlu“, griff sie das neue Thema wie eine Ertrinkende das rettende Seil, „Bevor wir zurückkamen, während der Nacht, als die Wölfe heulten – hast du es auch gehört? – lief er plötzlich von unserem Lager fort und kehrte erst am nächsten Morgen zurück, schwer verletzt“, berichtete sie aufgeregt.
Doch es reichte nicht, sie wollte mehr Zerstreuung für den einfühlsamen Riesen.
„Ich hab noch gar nicht gefragt, was du getrieben hast, während ich…naja…mit Tieren gesprochen habe. Jetzt klingt es doch so, als wäre ich verrückt“, stellte sie fest und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
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»Oh nein!«
Auch der ehemalige Hüter konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Zarra hatte dankbarerweise seinen Gesprächswechsel angenommen. Ein weiterer Grund, wieso er die Weißhaarige Frau so gut leiden konnte.
Theatralisch griff er nach dem Kopf der jungen Frau und drehte diesen wild von links nach rechts, während er mit bewusst übertriebener Intensität nach etwas Ausschau hielt, das nicht da zu sein schien.
»Mir scheint... hm. Nein, das kann nicht sein. Aber, was wenn-« Er murmelte wild vor sich hin und betrachtete weiter verschiedene Stellen an Zarras Kopf. Vorsichtig presste er schließlich sein Ohr auf den Kopf der Weißhaarigen und klopfte sanft gegen den Hinterkopf.
»Es ist schlimmer, als ich befürchtet habe.«, stelle er fest. Erst jetzt ließ er sie los. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte sie neckisch an.
»Komplett leer.«, stelle er fest und schüttelte den Kopf.
Lachend wich er einem erneuten Hieb der jungen Frau aus.
»Siehst du! Sogar deine Schläge sind schon so langsam. Es ist viel schlimmer als ich dachte! Vielleicht ist es wirklich besser, dass du nicht bei den Kriegern angeheu-Autsch!« Der Tritt traf ihn unvorbereitet und während er mit gespielter gedanklicher Abwesenheit ins Dunkel des Waldes gestarrt hatte.
»Unkontrollierte Gewaltausbrüche. Es wird schlimmer. Du Ärmste. Ich Ärmster! Hm. Dann gibt es nur eine einzige Heilmethode, fürchte ich. Eine, die nicht mal deine Oma kennt:« Verschwörerisch beugte er sich nach vor und flüsterte Zarra die vermeintliche Heilung ins Ohr.
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Festplatz
Corsika verweilte am Rand des Festplatzes und beobachtete mit ausreichender Entfernung das rege Treiben. Sie hatte sich an dem heidnischen Ritual nicht beteiligt, sie hatte lediglich etwas von dem Essen abgestaubt, das großzügig verteilt worden war. Die urige Küche des Waldvolkes musste sie wirklich loben, so satt wie heute war sie schon seit Monaten nicht mehr gewesen. Doch die Menschen empfand sie als schwierig. Sie feierten viel und ausgelassen, wirkten traditionell und tief verbunden zur Natur und zu ihren Ahnen. Doch zugleich schienen sie die Fremden nur zu dulden. Die tiefe Verachtung, die sie von Seiten Kiyans gespürt hatte, der Spott von Onyx, die unangenehmen Annäherungsversuche in der Taverne ... Corsika verstand es, sie war kein Teil dieser Familie. Für einen Augenblick hatte sie darüber nachgedacht, sich dem Fackelzug anzuschließen, doch etwas Unbestimmtes tief in ihrem Inneren hielt sie davon ab. Vielleicht war es die fehlende Überzeugung, vielleicht auch die Tatsache, dass sie niemandem nachtrauerte und sich auch nicht durch süße Getränke oder Tabak in einen Zustand versetzen lassen wollte, in dem sie Gefährten ihrer Vergangenheit sehen konnte. Daran wollte sie nicht denken, sie blickte nicht zurück, nur nach vorn. Sorgenvoll mitunter, denn sie hatte keine Ahnung, wohin es für sie von diesem Punkt aus gehen würde.
Sie konnte Griffin sehen, er war im Gespräch mit einer jungen Frau. Den ganzen Tag lang hatte sie nach dem Kerl gesucht, aber jetzt, wie sie ihn so sah, verspürte sie kein Interesse daran, sich in sein Leben einzumischen. Er war gedanklich ganz woanders, wahrscheinlich sollte sie es ihm gleichtun.
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Das Samhainfest - Festplatz
Mit einem schelmischen Grinsen flüsterte Griffin Zarra ins Ohr.
„Die einzige Heilung ist“, er machte eine Pause, die sie auf die Folter spannte, „ein Tanz mit einem Huhn auf dem Kopf!“
Sie starrte ihn ungläubig an, bevor sie in schallendes Gelächter ausbrach.
„Ein Huhn auf dem Kopf? Du spinnst doch!“
„Ganz und gar nicht!“, erwiderte er ernsthaft, obwohl seine Augen vor Belustigung funkelten, „Es ist eine alte, geheime Methode. Das Huhn bringt das Gleichgewicht zurück und der Tanz vertreibt die bösen Geister der Langsamkeit.“
„Na dann“, lachte sie noch immer, „wo kriegen wir jetzt ein Huhn her? Die werden momentan sicher streng von Mama Hooqua bewacht!“
„Keine Sorge, ich kenne da jemanden…“, zwinkert er ihr verschwörerisch zu, „Aber zuerst müssen wir üben. Also, auf die Füße, meine Dame!“
Völlig bekloppt!, schoss es Zarra durch den Kopf, als sie sich auf die Füße von Griffin stellte und er sie wie an Beltane auf die Tanzfläche trug.
Sie kam aus dem Lachen kaum noch heraus und sie gab nicht nur dem Sumpfkraut die Schuld daran. Dieser frechdreiste, große Kerl war einfach so. Er brachte sie zum Lachen und kam ihr zu Hilfe, wenn sie in Gefahr war.
„Ich glaube langsam, dass du auch verrückt bist“, rief sie, während er sie durch die Gegend wirbelte.
Dass er ihrer Frage eine Antwort schuldig blieb, war ihr bereits nicht mehr bewusst, denn im Moment konnte sie an nichts denken, während er sie geschickt über den Festplatz führte.
„Hey! Vergiss nicht, dass du ein Huhn auf dem Kopf hast! Halt ihn grade“, stichelte er und grinste zu ihr herab.
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Samhain - Festplatz
Vareesa saß auf dem Festplatz ein wenig abseits. Wie schon beim letzten Fest war sie, gemeinsam mit Ronja Mama Hooqua zur Hand gegangen. Nicht zuletzt, um auch den ein oder anderen Kniff beim Kochen zu lernen. Vergeblich. Aber auch, um den Kopf ein wenig freizubekommen von dem Ausflug mit Maris und Zarra. Der Schock, als der Mann der Wüste sie urplötzlich im Lager zurückgelassen hatte, nur um dann verwundet und blutig wiederaufzutauchen saß noch immer tief. Immerhin war dieser Mann einer der wenigen Auswege aus ihrer ‚Situation‘ gewesen. Und davon abgesehen hatte die Bognerin durchaus beobachten können, dass er irgendwie auch mehr für seine unsicheren Schülerinnen war. Für sie selbst ein Ruhepol. Ein Fels in einer Brandung, in der sie gedacht hatte zu ertrinken. Und für Zarra, ihre Schwester? Sie war nicht umher gekommen, die Weißhaarige dabei zu beobachten, wie glücklich sie beim gemeinsamen Essen mit Maris, Runa und eben Vareesa selbst war. Aber es passte jamit den Erzählungen ihrer Mitschülerin zusammen. Zarra war früher ein einsames Kind gewesen das erst jetzt zu lernen begann, dass sie auch ein Teil dieser Gemeinschaft war.
Apropos Zarra: die Wanderin konnte nicht umher, sanft zu lächeln, als sie beobachtete, wie dieser grobe Klotz, Griffin, sie umherwirbelte. Scheinbar hatte auch er ihr, so merkwürdig sie ihn empfand, eine väterliche Seite an sich, die ihr zusagte. „Hm“, gab sie nur von sich, während sie so auf einem der befestigten Zäune saß, das linke Bein angewinkelt oben aufgestützt und an sich herangezogen. „Lass dich nicht durcheinanderwirbeln, Kleines.“
Nachdenklich und irgendwie auch müde lehnte Vareesa ihr Haupt an das angezogene Knie und schaute ziellos mit leerem Blick durch die Menge. Ihr war bei dem ein oder der anderen fast, als unterhielten sich diese mit den leeren Plätzen an den Tafeln. Als waren jene zu Gast die man nicht mehr sehen konnte. Die hinter dem hauchdünnen Schleier saßen, der dieser Tage noch zärtlicher wirkte als beim ersten Ruf des kleinen Karrötchen. Noch einige Male nach ihrer Heimkehr hatte die Bognerin sich daran versucht, den kleinen Geist zu rufen. Mehr schlecht als recht mit einer Erfolgsanzahl die sich an einer Hand abzählen ließ. Und mit was für einer Anstrengung! Das eine Mal, um Ronja einen Streich zu spielen, die sich wieder an der Unterwäsche ihrer Mitbewohnerin bedient hatte und das andere Mal, nun, auch um Ronja einen Streich zu spielen, während sie sie wieder auf dem Donnerbalken belagert hatte. Unweigerlich lächelte die Frau, die zum heutigen Fest eine weite Stoffhose in grün trug und darüber ein naturfarbenes Hemd mit Schnürärmeln sowie einem braunen Mieder mit Schulterträgern und darüber eine schlichte, zu den Hosen passende, grüne Gugel.
„Sch-Schwester Vareesa! Endlich finde ich Euch.“
Vareesa schloss die Augen und atmete langsam durch. Diese hohe Ansprache ihrer Person. Es war Djeser. Seit ihrer Rückkehr war diese Nervensäge ständig um sie herumgewuselt. War es nicht schon genug gewesen, dass Sechet, deren Schwangerschaft glücklicherweise einen guten Verlauf zu nehmen schien, immer öfter Hilfe bei ihren täglichen Erledigungen brauchte? Kaum einen klaren Gedanken hatte sie fassen, geschweige denn, einen vernünftigen Bogen bauen können. Und nun war da auch noch Djeser, der ständig Meinungen und Beurteilungen zu seinen Schnitzereien wollte. Zugegeben, der Junge hatte wirklich ein maßgebliches Talent dafür, Szenen auf Holztafeln zu prägen oder Figuren anzufertigen, die ihren Vorbildern in kaum etwas nachstanden. Aber musste es denn mit IHREN Holzvorräten sein!? Nun, zumindest hatte er sich den Zofen-Blödsinn schneller abgewöhnt als seine trächtige Gefährtin von den ehemaligen Felsnattern. Dennoch: statt zu antworten, schwieg sie einfach, konnte jedoch deutlich hören, wie er vor sie trat. Seine Schritte waren, vor allem wenn es auf festem Holz war, immer wieder unverkennbar unbeholfen zu identifizieren.
„Schwester Vareesa! Das müsst Ihr sehen! V-Vareesa?“
Langsam öffnete sie die meerblauen Augen. Was er jetzt schon wieder angeschleppt hatte? Beim letzten Mal konnte er gar nicht fassen, wie gut gewürzte Scavanger-Spieße mit Kürbisstücken und dem richtigen Gewürz waren. Diese Felsnattern mussten wirklich ein enthaltsames, freudloses Leben geführt haben. Doch was Vareesa stattdessen sah, ließ sie automatisch den Blick heben. Mit seitlich ausgestreckten Armen hielt er ein langes Stück Stoff, nein, ein Kleid aus Federn vor ihre Nase. Die Bognerin richtete sich langsam auf und rieb sich dabei über die rote Druckstelle, die ihr Knie auf der Wange hinterlassen hatte. Dabei verlagerte sie das Gewicht unweigerlich etwas nach rechts, woraufhin ein lautes Knacken ertönte. Verdammt, sie war zwar noch immer in guter Form, aber Verrenkungen dieser Art waren einfach keine gesunde Dauerhaltung. Leider tendierte sie immer wieder dazu.
Nachdem nun also festgestellt war, dass Vareesa NICHT alt wurde und ihr Knie in der Lage war, die Durchblutung im Gesicht zu fördern, streckte sie zögerlich die Hand aus, um sich die Federn zu befühlen die in wunderbarer Feinarbeit eine ganze Fassade bildeten, die den Schein der Fackeln zu Teilen zu schlucken schienen und diesen nur schwach reflektierten. „Sind das Harpyien-Federn?“, murmelte sie langsam und schaute dann zu Djeser, der grinsend nickte. „Warte! Woher hast du den? Den hast du doch nicht einfach so bei Umhangmacher mitgenommen, oder? Djeser! Woher hast du diesen Umhang!?“
„Beruhige dich, werte Zo … Vareesa.“, ertönte plötzlich eine weitere Stimme. An Djesers Seite trat Sechet, ihre Hände wie immer um das Bäuchlein gelegt und mit einem sanften Lächeln im Gesicht. Man sah ihr an, dass sie müde war. Aber mit jedem Tag, der verstrich, trat, auch in die Augen Djesers, ein immer heller werdender, das Leben begrüßender Glanz in deren Augen. Fast, als gewöhnten sie sich langsam an das Leben in Tooshoo. „Nachdem Ihr so plötzlich mit Meister Maris aufgebrochen seid, wollten wir uns in der Gemeinschaft nützlich und euch stolz machen. Also halfen wir beim Ausnehmen der Jagdbeute und dem Säubern von Fellen, Häuten und Federn. Eure Handwerker wirken … ausgelastet. So wenige, die so viel für Eure ... unsere Gemeinschaft tun. Beeindruckend!“
Sie … stolz machen? Warum sollten die beiden sie stolz machen wollen? Es gab doch keinen Grund dafür. Oder war das wieder dieser Zofenquatsch? Wieso sollte jemand darauf Wert legen? Die beiden schienen ihren verdatterten Blick zu deuten und als Sechet ihr den Mantel umlegte, stellte ihr Begleiter sich, die Hände in die Hüften gestemmt vor ihr hin und rieb sich dann einmal spitzbübisch mit dem Finger unter der Nase entlang. „Ohne Euch dürften wir heute keine Kürbissuppe essen! Und ich mag es, dass wir auf Fellen und Stroh schlafen können! Im Warmen! Und Ihr habt mir schon so viel über Holz beigebracht! Ich konnte sogar schon ein paar Schnitzereien eintauschen!“
„Djeser möchte damit sagen, dass das hier unser Dankeschön dafür ist, dass Ihr uns ein neues Leben geschenkt habt. In einer Gemeinschaft, die nicht dabei zusieht, wie sie unter den Felsen der Berge zu Staub zerfällt. Und Ronja sprach davon, dass Ihr Eure Jagdbeute noch nicht eingefordert hattet. Also sprachen wir mit dem Umhangmacher und …“
„Danke.“, unterbrach Vareesa die beiden schließlich und zog dabei den Umhang enger um ihre Schultern. Dafür, dass Harpyien solche garstigen Kreaturen waren, fühlten sich ihre Federn unglaublich sanft und angenehm an. Zufrieden und lächelnd hob sie dabei sachte den dünnen Stoff an, der die Federn fest und robust vernäht an Ort und Stelle hielt. Die dunkelgrün gestochene Farbe würde sich hervorragend bei der Jagd machen und außerdem könnte sie dann endlich mal den eitlen Jägern und Alt-Druiden mit ihren Geweihkronen, Tätowierungen und anderem Schnickschnack zeigen, dass auch sie Geschmack besaß und keine Scheu hatte, ihre Erfolge nach außen zu tragen.
„Danke euch beiden. Wirklich.“, wiederholte sie noch einmal, als genug mit dem Mantel gespielt wurde und sie unruhig von einem Fuß auf den anderen wippte. „Aber das wäre nicht … Ach was solls. Djeser, du mochtest die Kürbissuppe? Na, dann komm mal mit. Wie es der Zufall möchte, kenne ich die Köchin und da sie mir noch etwas für die Hilfe bei der Ausgabe schuldet … kommt einfach mit. Und wo steckt eigentlich Ronja schon wieder? Ronja? Ronja!? Ronja, wo steckst du!? Wir essen jetzt!“
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Angestrengt atmend stützte der übergewichtige Südländer sich auf seinen Beinen ab. Zarra stand mit hochrotem Kopf und wild zerzaustem Haar neben ihm, ein zufriedenes Lächeln auf ihren Zügen. Die hatten den ein oder anderen Tanz hinter sich, alle vollkommen hühnerlos, aber trotzdem war Griffin überzeugt, dem fortschreitenden druidischen Wahnsinn vorerst einen Riegel vorgeschoben zu haben. Zumindest bis zum nächsten Fest sollte das ausreichen.
Kurz trafen sich die Blicke der beiden Tanzwütigen und unvermittelt begannen beide lautstark zu lachen.
Es war ein befreiendes, ehrliches und zugegeben lange überholtes gemeinsames Lachen, das sie in diesem Moment teilten. In ihm lag die Absurdität ihrer Situation und eine tiefempfundene Verbundenheit zweier Menschen, die das Band der Freundschaft eng miteinander verbunden hatte.
»Lass uns das... bitte nicht nochmal machen.«, keuchte Griffin angestrengt.
»Tanzen gern - aber bitte nicht mehr so viel.« Er richtete sich auf und schwang den Arm um Zarra, die er eng an sich drückte.
Er war schon immer ein recht kuschliger Zeitgenosse gewesen, aber mit der weißhaarigen jungen Frau war es irgendwie anders. Wann auch immer er sie sah und mitunter auch, wenn sie nicht da war, wünschte er ihre Nähe. Nicht auf eine romantische Art. Aber er genoss ihre Nähe - und er suchte sie regelmäßig.
»Komm mal mit!« Er nahm sie bei der Hand und zog sie über den Festplatz zu einer Person, die doch ein wenig verloren herumstand und aus der feiernden Masse hervorstach wie ein fremdes Blümchen.
»Corsika!« Er breitete die Arme aus und drückte die fremde Frau für einen kurzen Moment an sich. Dass er noch immer etwas außer Atem und mehr als nur ein bisschen verschwitzt war, das kümmerte ihn wenig.
»Schön, dass du noch hier bist. Wo hast du Dion gelassen?« Vorsichtig trat er einen Schritt beiseite und deutete auf Zarra.
»Zarra - Corsika. Corsika - Zarra.« Er grinste beide abwechselnd an.
»Corsika gehört zu einer ziemlich verrückten Truppe an Leuten. Wenn ich mich richtig erinnere, waren sie auf der Suche nach deiner Oma, die aber mit den Vorbereitungen beschäftigt und daher nicht allen helfen konnte.« Diesmal wandte er sich an Corsika.
»Zarra hier ist nämlich die Enkelin von Nerea. Braucht ihr eigentlich noch Unterstützung?« Verschwörerisch beugte er sich nach vorn.
»Wegen Dions... Zustand, meine ich.« Mit dem Zeigefinger tippte er sich an die Schläfe. Der dicke Mann war eine ehrliche Seele und vermutlich ein guter Kerl, aber sich einzubilden, man sei ein Zombie war schon fast druidisch-wahnsinnig.
»Soso!«, erklang eine strenge Stimme hinter ihm, die ihn unwillkürlich zusammenzucken ließ.
»Der feine Herr lässt mich also nach der Versammlung stehen, um sich mit anderen Frauen zu treffen. Du Lump!«, schimpfte sie, kurz bevor sich die kleinen Händchen einer gewissen Roten Snapperin von hinten um seinen Körper schlangen und sie ihn umarmte. Nicht jedoch, ohne ihm neckend in den Wanst zu zwicken.
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Freiya hatte die Arme verschränkt und beobachtete Griffin ganz genau, wie er mit Zarra ums Feuer tobte. Zugegebenermaßen verrauchte ihre innere Kritik an ihrem haarigen Kumpanen, als sie sah, wie ausgelassen und fröhlich er und Zarra miteinander umgingen. Die Freude war ansteckend. Dennoch hatte sie noch einen Scavenger mit ihm zu rupfen!
Seit der unschönen Begegnung mit dem Geist und dem Gespräch mit Ricklen war Freiya für sich geblieben. Sie hatte das Essen genossen, natürlich den Hirschbraten, aber sich sonst von Alkohol und Sumpfkraut (und Ornlu) fern gehalten. Auch nach Tanzen war ihr nicht zumute gewesen, vielleicht, weil sie nach dem letzten Beltane-Fest hohe Ansprüche hatte, was das betraf.
Freiya hatte Ronja gesehen, die eigentlich nach Ambrose hatte suchen wollen („Dieses brünftige Rumgehirsche hat mich ganz wuschig gemacht!“), allerdings war Vareesa wieder aufgetaucht und die Freude der Jägern darüber so enorm gewesen, dass sie Ambrose und brünftiges Brunfttum schon wieder vergessen hatte.
Letztendlich aber fühlte Freiya sich danach, ein wenig Zerstreuung nach dem Schreck mit Kunos Geist zu finden. Außerdem war da der zu einem Spatz zusammen geschrumpfte Scavenger, den sie mit Griffin zu klären hatte. Wie kam es, dass sie ihm schon fast nicht mehr böse war? Nun, aber … ein bisschen in die Mangel konnte sie ihn schon nehmen! Also baute sie sich hinter ihm auf und piekte ihn ein bisschen in die Seiten, während sie nicht anders konnte, als ihm doch eine Umarmung zu schenken. Bei den ganzen anderen weiblichen Anwesenden musste frau offensichtlich schauen, wo sie blieb und Griffins Herz war nunmal am besten über Körperkontakt zu erreichen.
War es denn jetzt etwa schon so weit gekommen, dass sie Körperkontakt mochte und sich danach sehnte? Das war garantiert Ryus Schuld! Griffins sowieso auch! Schlimm mit den beiden!
„He!“, protestierte Griffin, doch Freiyas strenger Blick ließ ihn sofort verstummen. Nach zwei Wimpernschlägen jedoch grinste sie.
„Das hast du verdient, dafür, dass du mich so schändlich hast stehen lassen! Aber erzähl, wer ist das neue Gesicht hier?“, fragte sie und lächelte der Fremden zu.
„Das ist Corsika. Corsika, das ist Freiya, auch die Rote Snapperin genannt“, sprach Griffin schnell, als ihm seine guten Manieren wieder einfielen.
„Ihr seid noch nicht so lange hier, richtig? Ihr seid mit bisher nicht aufgefallen. Bewahre, Corsika, und willkommen in Tooshoo!“, sprach Freiya.
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Samhain - Festplatz
Onyx mochte Samhain. Es war nicht so wild wie Beltane und das Essen war meist besser. Er hätte Freiya und ihrem Kommando am liebsten eine Umarmung geschenkt für den Hirschbraten. Das gab es nicht alle Tage und Onyx wusste sowas sehr zu schätzen. Doch er war Onyx und eine Umarmung kam nicht in Frage. Stattdessen nickte er - ohne bösartig zu gucken - jenen zu, die bei der Jagd aktiv gewesen waren. Ein Gut-gemacht-Nicken.
Genauso schien auch wohl Kiyan - der wieder Onyx Gesellschaft leistete - das gute Fleisch zu schätzen. Ein großer Unterschied zu Sumpfratte, auch wenn Sumpfratten-Schaschlik auch nicht das Übelste war - vor allem wenn es sehr scharf gewürzt war. Über Essen konnte man mit Onyx viel reden.
Onyx grunzte dann kurz auf, nachdem das Mädchen mit den Haaren wie Quark für sie alle was gesungen hatte. Der Torgaaner interessierte sich selten für Musik oder diese ganzen Barden. Sie redeten zu viel und waren zu gern im Mittelpunkt. Doch die da, die hatte Onyx Gemüt auf eine einfache Art berührt. Er kam zu Ruhe odr besser er kam einfach hier im Fest nun an. Und er hätte ihr auch ein Nicken geschenkt, wäre sie in seinem Blickfeld danach gewesen. War sie aber nicht, weil Griffin so dick war und sie so schmal, wie sein Bein.
Onyx war auch nicht entgangen, wie Kiyan so einen eitlen Pfau mit einer Varanterin beäugt hatte, doch das war sein Bier. Onyx Bier war Taviks Bräu und der eine Humpen heute reichte Onyx auch für den restlichen Abend. Der Hüter der Olvara ging es vorsichtig an, denn die Wirkung von Bier hatte er bisher nicht feststellen können und nahm an, dass es mehr davon bräuchte, dass er die pflanzliche Wirkung spürt oder gar sieht. Oder wirkte doch schon etwas? Er sah Vareesa und sie hatte sich in eine Harpyie verwandelt. Musste ja so kommen, wenn man Vareesa war und aus Trtauer um die verschmähte Liebe von Onyx lieber eine grausame Harpyie wurde, statt sein LEben weiter zu leben.
Kurz zuckte er zusammen, bei der Vorstellung wie sie schreien würde, bevor er sah, wie es doch ein Mantel sein musste. Glück für sie, denn hier waren eindeutig zu viele Jäger.
“Bewahret! Interessanter Mantel nicht wahr?”, sagte dann eine Stimme hinter ihnen. Man konnte nicht abstreiten, dass es unangenehm war, wenn der Jadewolf hinter einem stand und sich langsam näherte. Onyx und Kiyan grüßten und nickten auf seine Bitte hin, sich hinzusetzen.
“Ich spare mir die Floskeln und Geschichten des heutigen Abends. Ihr reist bald gen Festland und ich habe einen Auftrag an euch beide.”, sagte er und blickte vor allem Kiyan intensiv an.
“Ihr werdet sicher das verborgene Dorf besuchen. Sucht dort nach dem alten Aethel. Sagt Aethel, dass die Zeit gekommen ist. Er wird verstehen. Das was er euch dann gibt, werdet ihr mit eurem Leben beschützen und hierher bringen.”, wies er an und machte klar, dass nichts anderes passieren durfte. Manche Krieger mochten furchteinflößend sein und mit ihrer Waffenkunst oder Blick einschüchtern. Der Jadewolf hingegen war wie eine Bestie, deren natürliche Ausstrahlung Macht und Wildheit ausstrahlte. Man wollte in solche Momenten ihn niemals als Gegner haben.
Dann lächelte er sanft auf und holte etwas hervor. Zwei kleine, rote, onyx-daumennagelgroße Rubine. Der Feuerschein ließ sie noch schöner wirken.
“Ihr schweigt darüber und erfüllt diesen Auftrag. Das ist für eure Reise. Bei erfolgreicher Rückkehr soll es hierbei nicht bleiben.”, versprach er und Onyx zögerte nicht lange, um sich einen der kleinen Rubine zu greifen. Damit konnte man einen sehr guten Tausch machen oder in den Städten viele Goldstücke bekommen. Sehr gute Rüstungsteile oder gute Waffen oder sich zwei dicke oder drei dünne Kühe kaufen.
Kiyan nahm den Rubin auch entgegen, blickte aber den Jadewolf dabei die ganze Zeit an, bis dieser einfach fast nicht sichtbar nickte.
Dann stieß er mit beiden an, blickte zu den Tanzenden und meinte dann, dass Zarra heute sehr schön gesungen hatte. Onyx stimmte zu.
Danach war wieder Ruhe und es hätte so weitergehen können. Onyx wäre wohl noch nach etwas Essen einfach schlafen gegangen. Doch ob es an Taviks Bräu lag oder dem Fleisch oder der Haselnussfülung. Diese Nacht war anders für den Hünen. Er wusste, dass manche heute Nacht Geister sahen, doch das war Onyx bisher nie passiert. Wer wollte schon Onyx sehen? Anjun und Onkel Konan lebten wohl noch und was den Rest seiner Familie betraf, wollte er es weiter verdrängen wie all die Jahre bisher. Sie lebten wohl und selbst das interessierte Onyx nicht. Weder sein Vater noch sein älterer Zwillingsbruder. Sie hatten auch sicher keinen Grund Onyx aufzusuchen. Doch seit seiner Reise, seit der Erkenntnis seiner verdrängten Kindheit und Erlebnisse, seit der Erinnerung an so manches auf Torgaan, war Onyx noch jemand bewusster geworden. Seine Mutter.
Es war eine Eingebung die aus Onyx tiefer Seele kam, als er den Namen seiner Mutter aussprach “Xura…”
Ein Gefühl von Schmerz kam auf, aus Verlust und Trauer. Von einem Jungen, der mit seinen Brüdern im Dorf spielte und zusehen musste, wie seine Mutter auf einer Trage zurückgebracht wurde. Ein Schattentiger hatte sie zerfleischt, den halben Leib mitgehen lassen und was blieb, war der von einer Pranke zerdrückte Kopf einer einstmals schönen Frau. Danach wurden sie Piraten unter der strengen Hand ihres Vaters.
“Xura…”, sagte er erneut und blickte an den freien Platz am Tisch. Sie lehnte da wie früher auf einen Ellenbogen, sagte etwas ganz typisches zu ihn, dass er nur in seinen Erinnerungen hörte und löste sich dann auf. Keine verhätschelte Geste, keine Küsse die zugeworfen wurden - einfach nur ehrliche, direkte Worte, die gut taten. Die genau so als Kind gut taten, wenn es die Worte waren die ihre Geist da sprach. Doch Onyx war sich sicher.
Kiyan grunzte kurz auf und räusperte sich mit fragendem Blick. Onyx hob die flache Hand und signalisierte, dass alles gut war.
Geändert von Onyx (04.11.2024 um 12:52 Uhr)
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Die Umarmung seitens Griffins kam für Corsika so unerwartet, dass sie für einen Moment hilfesuchend die Augen hin- und herbewegte, ohne die Geste selbst aktiv zu erwidern. Das machte nichts, er wirkte auch nicht so, als könnte er sich auf alle Damen konzentrieren, die er wie eine vieltriebige Schlingpflanze zu sich zog. Eine knollige Schlingpflanze mit eigentümlichem Duft, in ihrem Auftreten aber so mitreißend, dass Corsika für einen Augenblick die Worte fehlten. Gut für ihn, denn so konnte er auch glatt seine Freundin mit den schlohweißen Haaren und eine weitere Frau vorstellen, die augenscheinlich zu den Kriegerinnen dieses Volkes gehörte.
„Erwachet – bewahret … ich sage einfach mal Hallo“, erwiderte Corsika und richtete ihre Klamotten, die in der schwungvollen Bewegung von Griffin verrutscht waren. Sie schämte sich sowieso, schon seit Wochen in denselben Fetzen herumzulaufen, aber hier im Dunkeln und unter den Wilden fiel es gar nicht so auf. Zugegeben, viele von den anderen hatten sich für das Fest wirklich herausgeputzt und trugen den exotischsten Schmuck und die kompliziertesten Frisuren, die man sich nur vorstellen konnte. Wieder andere tanzten mit nicht viel mehr als einem Lendenschurz und der eigenen Körperbehaarung bekleidet.
„Wenn Dion nicht hier ist, sitzt er vermutlich mit seinem Teller vor der Unterkunft deiner Oma und wartet, dass ihm oder Alfons geholfen wird. Ich bin nicht seine Aufpasserin.“ Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich an Zarra. „Aber er ist kein Zombie mehr, zumindest war er es gestern nicht. Vielleicht hält er sich jetzt für ein Huhn. Er hat eine blühende Fantasie.“
Dann neigte sich ihr Blick zu Freiya und ein leichtes Lächeln verirrte sich auf Corsikas Lippen. Es war eher eine Ausnahme, denn die Regel, dass sie hier von jemandem willkommen geheißen wurde. Sie war hier vermutlich an die gastfreundlichsten Menschen dieser Gemeinschaft geraten.
„Verzeih mir die Frage, aber wie kommt man zu so einem Titel? Rote Snapperin … sind Snapper nicht diese kaltblütigen, kehlig knurrenden Monsterechsen?“ Sie blickte vorwurfsvoll zu Griffin und wieder zurück zu der Rothaarigen. „Ich hoffe, du bist mit diesem Titel einverstanden, Freiya. Wir laufen ja auch nicht herum und nennen Griffin einen pummelrunden, pelzigen Tanzaffen, oder?“
…
„Oder?“, wiederholte sie.
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Samhain - Festplatz
Zarra hatte sich eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht gewischt und Corsika schüchtern angelächelt, als Griffin sie miteinander bekannt gemacht hatte. Sie sah ganz anders aus, als die meisten im Waldvolk, hohe Wangenknochen, schmaler Körperbau. Ein wenig erinnerten sie die Form ihrer Augen an die des Hauptmanns. Nur weniger…bedrohlich…und orange.
„Bewahre, Corsika“, hatte sie noch immer vom Tanz außer Atem gehaucht, als sich eine weitere Frau dem vermeintlichen Hühnerstall anschloss.
„Freiya!“, japste die Weißhaarige und schaute die Waldläuferin mit großen Augen an, während sie Griffin für etwas piesackte, was Zarra nicht verstand. Ob er es verdient hatte?
Doch wer waren Dion und Alfons? Und wieso war er ein Zombie und jetzt ein Huhn? Meinte Griffin ihn, als er davon sprach, dass er jemanden kannte? Immerhin kannten Hühner sich untereinander, oder nicht?
Ein verwirrter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht, während sie lauschte, wie die Fremde sich über Freiyas Titel wunderte und schließlich einen für Griffin erfand, der…war es unhöflich? Zumindestens klang es lustig!
„Pummeliger, pelziger Tanzaffe“, giggelte Zarra und schaute zu Griffin, der gespielt empört wirkte, „Ich glaube, der Titel passt ganz gut!“
„Tatsächlich weiß ich gar nicht, warum man dich Rote Snapperin nennt, Freiya“, fiel ihr dann auf und wandte sich an die Rothaarige, wobei sie Schwierigkeiten hatte Augenkontakt zu halten, ohne dabei mehr zu erröten, als sie ohnehin schon vom Tanz war. Die kühle Abendluft half etwas dabei, doch brachte es sie auch zum Frösteln.
„Ein Tee wäre jetzt toll“, murmelte sie und rieb sich die bandagierten Unterarme.
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Freiya lachte, wandte sich aber zuerst an Zarra.
„Du hast vorhin übrigens wieder sehr schön gesungen und mit Enya und Fynn musiziert“, nahm die Waldläuferin sich noch die Zeit, der jungen Frau mit den hellem Haar ihre Eindrücke zu schildern. Sie hatte Zarras Darbietung am Feuer gelauscht, bevor sie zwischen die Bäume gegangen war.
Zarra schien Freiyas Worte auf ihre Art und Weise zu verarbeiten, hielt die Arme aber um ihren Oberkörper geschlungen. Griffin legte sofort seine Pranken um das zarte Wesen, dass Freiya schmunzeln musste.
„Da hilft nur weiter tanzen oder sich wärmen lassen!“, sagte Griffin auf seine charmante Art und Weise und rubbelte Zarras schlanke Arme, dass die junge Frau hin und her wackelte.
„Oioioi“, entfuhr es ihr und Griffin erbarmte sich ihrer und legte seine Arme einfach um sie. Freiyas Blick wanderte kurz unbewusst hin zu den Bäumen, als sie daran dachte, dass sie erst kürzlich am eigenen Leib erfahren hatte, wie wundervoll eine wärmende Umarmung war. Sich an einen Körper lehnen zu dürfen, ein anderes schlagendes Herz zu vernehmen und mit liebevoller Wärme umhüllt zu werden. Sie senkte kurz die Augen, bevor ihre Gedanken wieder in die Gegenwart zurückkehrten.
Die Waldläuferin räusperte sich.
„Wie ich zu dem Namen gekommen bin? Gute Frage“, sagte sie und verzog zunächst nachdenklich das Gesicht. Wie war das denn gewesen?
„He, Franzl, warum bin ich die Rote Snapperin?“, rief sie dem Bierbauchfranzl zu, der in der Nähe an einer der Tische seinem Namen alle Ehre machte. Der war doch damals zugegen gewesen, der wusste das doch bestimmt irgendwie noch in seinem alkoholgetränkten Oberstübchen.
„Haschd mid de Bougn gschossen bei de Oniks. Die Legend läbt!“
Er prostete ihr zu.
„Ach ja, alles klar, danke!“
Sie drehte sich zurück zu den anderen Dreien, doch die sahen sie nur fragend an.
„Als ich nach Schwarzwasser gekommen war vor über zehn Jahren, hat unser Onyx mich am Bogen ausgebildet und schnell ging herum, dass ich die Rote Snapperin wäre. Eine legendäre Waldläuferin mit rotem Haar vom Festland. Dass meine Bogenkünste unterirdisch waren, hat dabei keinen interessiert.“
Freiya wandte sich an Corsika: „Ihr müsst wissen, Corsika, dass das Waldvolk Geschichten liebt. Ich hatte diesen Namen schneller weg, als ich Flitzebogen sagen konnte und es war auch völlig sinnlos, sich dagegen zu wehren. Dieser Name hatte sich innerhalb von kürzester Zeit verselbstständigt und ich habe schnell gelernt, dass es den Leuten vor allem darum ging, irgendwelche wilden Geschichten zu hören – die ich mir zum damaligen Zeitpunkt dann einfach ausgedacht hatte. Heute kann ich wahre Geschichten erzählen und die Rote Snapperin ist ein Teil von mir.“
Die Rothaarige hatte mit der Wahrheit bei dieser Sache nie hinter dem Berg gehalten und so sprach sie auch diesmal wieder wahr. Sie fand es bemerkenswert, dass Corsika in Erwägung zog, dass der Name ihr eventuell gar nicht gefallen könnte. Das hatte hier noch nie jemanden interessiert.
„Die Rote Snapperin hat mir geholfen, Fuß zu fassen hier vor vielen Jahren“, erklärte sie. „Aber genug von mir.“
Sie lächelte der Fremden zu. Auch Freiya fiel eine gewisse Ähnlichkeit in Corsikas Zügen zu Ryu auf. Wo steckte er eigentlich? Sie hatte ihn bisher nicht gesehen und das betrübte sie viel mehr, als sie innerlich ihrer netten Gesellschaft hier gegenüber zugeben wollte.
„Woher kommt Ihr, Corsika, und was hat Euch hierher veschlagen? Jedenfalls habt Ihr eine Menge Humor mitgebracht, den man braucht, um an einem Platz wie diesem zu überleben“, befand sie, bevor sie sich an Griffin wandte.
„Ich finde auch, dass pummeliger, pelziger Tanzaffe ganz gut passt“, kicherte sie plötzlich. Griffin straffte sich und zog an seiner Weste.
„Herr Hühnerdompteur pummeliger, pelziger Tanzaffe, bitteschön, wir sollten das schon richtig machen!“
Wen hatte er denn jetzt als Huhn bezeichnet?
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Als Corsika hörte, dass ausgerechnet Onyx für den Spitznamen der Waldläuferin verantwortlich war, hoffte sie insgeheim, dem dunklen Krieger mit dem faulen Mundwerk nicht zu sehr in Erinnerung geblieben zu sein. Er hatte es in ihren Augen nicht verdient, ihr einen Beinamen zu verpassen. So etwas muss auf gegenseitigem Einverständnis beruhen, sonst ist es nichts als Spott. Freiya schien der Name aber nicht zu stören, im Gegenteil, sie trug ihn so präsent wie ihr wehendes rotes Haar. Ob Griffin seinen neuen Titel auch so gelassen anerkannte?
Der Abend nahm ja doch noch eine recht wohlwollende Wendung für Corsika, dabei wäre sie schon fast in Richtung ihrer Gastunterkunft verschwunden. Jetzt aber war ihr nach einem Getränk, etwas Warmem, denn der nahende Winter zog ihr bereits durch die recht dünnen Klamotten und auch ihr Geist könnte sich noch etwas wohler fühlen. Sie beneidete Griffin und die beiden Frauen um ihre gute Laune. Sie war zwar schon ein wenig ansteckend, aber womöglich brauchte Corsika doch noch einen Katalysator. Es fiel ihr schwer, sich zu lockern, sich fallenzulassen. Die lange Zeit in der Wildnis hatte sie gelehrt, stets Frau ihrer Sinne zu sein.
„Ich komme von einer kleinen Inselstadt des Östlichen Archipels“, erzählte sie vage, aber wahrheitsgemäß. „Ich war mit meinem Handelsschiff unterwegs, die Winde haben mich nach Argaan verschlagen. Von meinen Waren ist einiges über Bord gegangen, jetzt versuche ich, wieder Fuß zu fassen.“
Sie musste nicht jedem brühwarm erzählen, dass sie eine Schiffbrüchige war, die wochenlang in der Wildnis von ihren Weinvorräten, Wurzeln und Pilzen überlebt hatte. Sie würde es von allen Menschen dieser Welt zwar noch am ehesten diesen hier zutrauen, dass sie Verständnis für ihre Situation hatten, aber da war noch ein Funken Stolz, den sie sich aus unerklärlichen Gründen bewahren wollte.
„Und wo wir bei Hühnern sind …“, sagte sich und deutete auf die Feder an ihrem Haarknoten. „Ich habe zwar keine Hühner, aber einige Gänse, die mich auf meiner Reise begleiten. Falls jemand von euch eine kaufen oder tauschen will, braucht ihr nur einmal honken, hehe.“
Bei dem Spruch spürte sie direkt, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Hatte sie das gerade wirklich so einen flachen Spruch von sich gegeben? Was war denn nur los mit ihr? Hatte sie schon zu viel von diesem eigenartigen Kraut eingeatmet, das hier überall geraucht wurde? Sie musste schnell davon ablenken.
„Aber erst einmal habe ich Durst. Könnt ihr etwas empfehlen? Etwas Warmes und Belebendes vielleicht?“
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Das Samhainfest - Festplatz (zuvor auf dem Übungsplatz)
Vor dem Fest …
Die Frau namens Corsika hatte keine weitere Antwort mehr gegeben und war verschwunden. Ein Zwischenspiel mit Qualitätsgehalt. So hatten sich der Torgaaner und der Gortharer wieder wichtigeren Dingen zugewandt, nämlich dem Bogenschießen.
Das Prinzip des Pfeifer genannten Pfeils faszinierte Kiyan. Nicht die Technik dahinter, nein, aber die Idee, das produzierte Geräusch gleichermaßen als Schreckschuss für allerlei Getier oder Leute zu nutzen, als Warnung für eventuelle Eindringlinge, aber auch als Zeichen für einen Angriff. Denn jetzt, wo sich der Jäger zurückerinnerte, meinte er das Geräusch eines Pfeifers während der Wilden Jagd mehrfach gehört zu haben. Etwas, das allen Jägern und Waldläufern signalisierte: Jetzt, angreifen!
Bei den Sehnen hatte Kiyan durchaus richtig gelegen, ebenso bei der Ausrüstung zur Wartung der Sehnen. Alsbald zeigte sich, dass der Bogenkampf mit diesem so unscheinbaren Teil des Bogens stand und fiel. Die falsche Sehne für den falschen Pfeil und der Schuss würde entweder zu kurz fliegen oder zu lang, vielleicht zu stark, vielleicht zu schwach. Bei Kjarl waren sie gleich ans Bogenschießen gegangen, ohne zu viel Zeit für die Sehnen und das Einspannen zu nutzen.
Onyx würde diese Lücke natürlich schließen. So durfte sich der Jäger den Kinderbogen schnappen und das Befestigen der Sehne üben. Er wählte eine Sehne aus, die von der Länge her zu den Maßen des Bogens passte und begann sie so einzuhängen, wie Onyx es erklärt hatte. Den Bogen entlasten, den Druck wegnehmen. Mit einem Maß an Kraft, das ausreichend war, ging Kiyan vor. Er wusste, würde er an der eingehängten Sehne zerren wie ein Wilder, wäre sie alsbald gerissen. Also ging es für den Jäger erst einmal darum, den Ablauf sauber und sicher zu bewerkstelligen. Schnell gewöhnte sich Kiyan daran, für das Befestigen der Sehne seinen Stiefel als Auflage zu nutzen. So bekam er ein Gefühl dafür und gerade in der herbstlichen Jahreszeit war ein fester Boden rar gesät. Und darüber hinaus befürchtete er, dass Onyx ihm den Kopf abreißen würde, wenn er sähe, wie Kiyan den Waldläuferbogen in den Schlamm stellte …
Danach folgte das Anlegen eines Jagdpfeils auf die Sehne. Kiyan war klar, dass es dem Torgaaner um schnelle Abläufe ging. Aus sicherem Handeln sollte rasches, automatisches Handeln werden. Keine Gedanken an die Tätigkeit verschwenden, denn im schlimmsten Fall – Beute oder Feind vor Augen – bliebe keine Zeit, lange darüber nachzudenken, welcher Schritt denn als nächstes folgte. Zum Glück hatte er bei Kjarl ja bereits mit dem Bogen geschossen, weshalb das Auflegen wesentlich rascher von statten ging. Aus dem Zeughaus hatte er sich einen Köcher besorgt, den er nun auf dem Rücken trug. Er zog den Jagdpfeil heraus, den Bogen vertikal haltend. Links hielt den Kinderbogen mittig am lederumwundenen Griff, rechts legte den Pfeil an, wobei die kleine Kerbe im Holz gegen die Sehne drückte. Onyx nahm dies grunzend zur Kenntnis, verlangte aber auch hier viele Wiederholungen, um zu sehen, dass aus der sicheren Bewegung ein Automatismus wurde.
Adanos, da hast du mich mit einem waschechten torgaanischen Perfektionisten gesegnet.
Während dem Fest …
Nach dem Unterricht und am Folgetag hatte das Samhain-Fest begonnen, das Zelebrieren des nahenden Winters, der Abschied von den Monaten der Sonne und des Lebens. Die Tage wurden länger, die Nächte kälter. Der Tod wurde wahrscheinlicher, lauerte nun außerhalb des Scheins von Fackeln und Laternen. Die Reden und Lieder hatte Kiyan schweigend und nachdenklich zur Kenntnis genommen. Wo Beltane zum Feiern und Frohlocken einlud, sorgte zwar auch das Fest im späten Jahr für Freude und Tanz, jedoch mit einer Spur Bedrücktheit. Beltane markierte den Beginn, Samhain das Ende.
Während er also mit seinen Kumpanen aus dem Kommando anstieß und mit Onyx und Turya über die anstehende Reise sprach, wanderte sein Blick immer wieder zum Feuer. Der Torgaaner hatte, mysteriös wie er mitunter war, davon gesprochen, dass zu Samhain der Schleier zwischen dieser Welt und der Anderswelt dünner war, durchlässiger für die Geister jener, die vergangen waren. Magier und Gelehrte würden sicherlich ihre Meinung dazu haben und in den Schulen und der Universität des Herzogtums Gorthar würde man fast verächtlich von archaischen Gebräuchen und Aberglauben sprechen, aber Kiyan – der weltgewandte, zivilisierte und aus dem Hort der Fortschrittlichkeit stammende Gortharer – wusste es besser. In diesem Moment wog die Tonscheibe wieder schwer. Galt der hauchzarte Schleier auch für den Sohn des Felsen, den Wolf der Schamanenkaste, Lugdrub gro-Ogdum?
Nein, er ist gebannt. Dafür hat der Jadewolf gesorgt.
Während der Jäger also Taviks Bräu trank und gelegentlich etwas aß, schien es, als würde auf der anderen Seite des Feuers Gesichter aufblitzen. Nicht die lebender Bekannter, nicht nur. Mal war ihm, als würde Kiyan seine Mutter sehen, den Kopf zurückgelegt, ein herzliches Lachen auf den Lippen und einen schelmisch-liebevollen Blick, der ihm durch Mark und Bein ging. Dann wieder sein Vater, ernst, aber mit dem Ausdruck grimmiger Zufriedenheit, ja fast einem schiefen Lächeln im Gesicht, als hätte er den Werdegang seines Sohnes so nicht erwartet, wäre aber mit den Entscheidungen einverstanden. Sie beide so zusammen zu sehen, eine Szene, wie sich einander hielten und zu einer Musik, die nicht jene der hiesigen Barden war, tanzend, zerrte so gnadenlos und sehnsüchtig schmerzend an seinem Herz, dass der Jäger fast in Tränen ausgebrochen wäre.
Irgendwann, dachte er sich, irgendwann bin ich wieder bei euch.
Auch seinen Bruder sah er. Nicht den Geist. Nein, den Verbrannten. Er saß neben ihm. Lachte über das Bild der Eltern. Mit zusammengepressten Zähnen vertrieb Kiyan die Einbildung. Dafür wäre wieder ein andermal Zeit. Denn irgendwann würde er dieses Kapitel aufschlagen und es würde eine Erzählung von Blutvergießen, Rache und grenzenlosem Hass werden. So sehr kochte es in ihm, dass er sich fast schwor, das ganze Herzogtum in Tod und Leid zu tränken, nur um der Seele seines Bruders Frieden zu schenken. Der Verbrannte verzog stolz und triumphierend die verkohlten Lippen, entblößte von den Flammen geschwärzte und gesplitterte Zähne.
Ich sehne dieses Epos herbei, Kiyan.
Der Verbrannte verschwand jedoch augenblicklich, als der Jäger über die Flammen hinweg eine weitere Gestalt bemerkte. Erst hätte er sie nicht erkannt, da die Bekleidung so seltsam wirkte, so fremd an dem Menschen, den Kiyan erst letztes Jahr kennengelernt hatte, der ihm aber schnell wie eine Mischung aus kleinem Bruder, Sohn und Lehrling geworden war. Heric.
War er lebendig? Tatsächlich hier? Nein, er hatte mit ihm, mit dem Waldvolk gebrochen. Verständlicherweise. Wollte sein eigenes Leben wählen.
Also ist er tot? Götter, nein, wenn dem so ist … dann … ich …
Der Blick Herics streifte ihn, blieb kurz hängen, dann verschwand der einstige Lehrling. Entweder ging der Mensch oder der Geist kehrte zurück. Auch hier schwor sich Kiyan, beizeiten die Wahrheit zu ergründen. Er betete, dass der Bursche am Leben war.
Zu späterer Stund …
Ein in Jade gehüllter Wolf hatte den Torgaaner und den Gortharer aufgespürt. Körperlich wirkte er unscheinbar, gar nicht so eindrucksvoll wie der hagere Einäugige oder der dunkle Hüne. Aber die Macht, die aus jeder Pore strömte, die hinter den Augen lauerte, die seine Bewegungen mehr kennzeichnete, als es bei Onyx der Fall war, machte Ornlu überlebensgroß, fast halbmenschlich. Als wäre auch er eine Erscheinung aus der Anderen Welt, die zwei Sterbliche aufsuchte.
„Ich spare mir die Floskeln und Geschichten des heutigen Abends. Ihr reist bald gen Festland und ich habe einen Auftrag an euch beide.“, sprach der Druide und sah erst den Waldläufer an, ehe sein Blick fast bohrend in Kiyans eisblaues Auge bohrte.
„Die Schuld“, bestätigte dieser fast unhörbar leise flüsternd und nickte nur.
„Ihr werdet sicher das verborgene Dorf besuchen. Sucht dort nach dem alten Aethel. Sagt Aethel, dass die Zeit gekommen ist. Er wird verstehen. Dass was er euch dann gibt, werdet ihr mit eurem Leben beschützen und hierherbringen.“
Das verborgene Dorf. Dabei musste es sich um das berüchtigte Beria handeln, einen Flecken, der vom Waldvolk besiedelt worden war, ehe es gen Argaan zog. Onyx nickte verstehend. Kiyan legte kurz die Hand auf die Scheibe, die er unter dem Hemd trug. Der Jadewolf sah auf die Stelle, wo die Hand lag und nickte seinerseits. Die Botschaft war – zumindest in Kiyans Fall klar -: Enttäusche mich, beschütze es nicht mit dem Leben, versage bei der Aufgabe, es hier her zu bringen, und deine Tage sind gezählt. Dann bist du ein entehrter Vogelfreier, schlimmer noch als das schäbigste Ungeziefer.
Das war nicht der freundlich lachende, der gesellige Ornlu sondern der eiskalte, gnadenlos richtende Jadewolf. Kiyan war bewusst, welchem der beiden Teile des Mannes er verpflichtet war.
„Ihr schweigt darüber und erfüllt diesen Auftrag. Das ist für eure Reise. Bei erfolgreicher Rückkehr soll es hierbei nicht bleiben.“
Mit diesen Worten übergab er den beiden Männern zwei Rubine. Klein, aber unbestreitbar wertvoll. Dies würde … sicher mehr als genug Ausgaben decken. Einen Moment wunderte sich der Jäger, warum der Druide so freigiebig war. Etwas, das den Waldläufer Onyx nicht zu stören schien. Er nahm das Juwel mit rascher Bewegung und dem geübten Blick eines ehemaligen Banditen an.
Was auch immer wir beschaffen sollen, es muss weitaus wertvoller sein als diese Edelsteine. Bei Adanos, vielleicht wäre der Tod doch besser gewesen … aber nun, Kumpel, Eid ist Eid, Schwur ist Schwur. Und sterben kann ich am Ende immer noch …
Danach hatte sich der Jadewolf wieder anderswo hinbegeben und einen nachdenklichen Kiyan und einen abgelenkten Onyx hinterlassen, der seinerseits nun zum Feuer starrte. Sah auch er seine Toten? Angehörige? So wenig kannte der Jäger den Mann. Im Laufe der Reise würden sie sich vielleicht besser kennenlernen. Oder auch nicht. Bei ihnen wäre es auch möglich, dass sie im Laufe von ganzen Monddurchläufen nur ganze hundert Worte miteinander sprächen und ansonsten stille Kameradschaft vorzögen.
Als Kiyan bemerkte, dass der Hüne von Torgaan fast … melancholisch-bedrückt wirkte, grunzte er ihn an. Als der Mann signalisierte, dass alles in Ordnung war, nickte er nur.
„Los, trinken wir noch was. Aber bitte nicht bei der Friede-Freude-Eierkuchen-Truppe da hinten“ – er deutete mit dem Krug fast verächtlich in Richtung einiger Bekannter, guter wie schlechter – „sonst flechten wir uns noch gegenseitig die Arschhaare oder so.“
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Samhain - Auf den Armen Tooshoos
Samhain war Samhain. Wie jedes Jahr zu dieser Zeit. Ryu stand in aller Ruhe auf einem der höheren, breiten Äste von Tooshoo und überblickte die Festlichkeiten. Seine Linke an den großen Stamm gelegt, hatte er sich dem regen Treiben, einige Meter unter seinen Füßen eher ferngehalten.
Wie jedes Jahr.
Stattdessen wartete er auf etwas. Auf jemanden.
Wie jedes Jahr.
Wenn das Rascheln im Geäst einem Gruß gleich klang. Wenn der kühle Wind, der ihm sonst die Richtung wies, sich anfühlte wie eine sanfte Umarmung. Wenn seine Sinne mehr wahrnahmen als sie es ohnehin schon taten. Die Ohren des Hüters, dem stummen Flüstern lauschend, welches herabfallende Blätter mit seinem Hauch tanzen ließ. Mit seinen Fingerspitzen fühlend, wie dort unter der Rinde des Weltenbaumes jene einer anderen Hand an die seinen gelegt wurde. Der Hüter blickte zu den einzelnen Bruchstücken des Himmels die durch das mittlerweile lichter gewordene Blätterdach zu erkennen waren und hielt die Sterne im Blick. Wo blieben sie heute nur? Lag es daran, dass sich alles so versetzt, anfühlte durch die wilde Jagd? Aber eine noch viel schwerwiegendere Frage belastete den Geist des Hüters.
Wie jedes Jahr.
Lange ließ er den bisher angespannten Atemzug aus seinen Lungen weichen. Dann wandte sich Ryu mit den Augen wieder nach unten und ging völlig routiniert am Ast entlang, bis er an dessen dünner zulaufender Spitze stehen blieb und sich kurz ab kniete. Kaum in der Lage, sich ein verdrießliches Lächeln zu verkneifen. Samhain war schon immer anders gewesen. Ein Fest, dass das Leben feierte und den Tod ehrte. Ein Fest, sich zu besinnen und über Vergangenes nachzudenken. Und wenn der Hayabusa ebendies tat, fühlte es sich zumindest in dieser Nacht an, als konnte er zur Ausnahme einmal in Frieden über all jene nachdenken, die er über die Jahre verloren hatte. Als konnte er wenigstens in dieser Nacht die betrauern und offen vermissen, für die es über das ganze Jahr keine Zeit gab. Weil er gebraucht wurde. Weil man auf ihn baute. Weil er es sich selbst nicht erlauben konnte, seine eigene, kleine Welt der Gedanken und Gefühle über die derer zu stellen, die auf ihn angewiesen waren. Aber heute, an Samhain … da war nicht nur der Schleier zwischen den Welten der Lebenden und Toten dünn. Nein. Auch die Tür zu dem Gemäuer, welches seine innersten Wünsche verborgen hielt stand einen Spalt weit offen. Weit genug, um sich einzugestehen, dass sie ihm fehlten. Und dass er sie nur an diesem Abend um Vergebung bitten konnte.
Wie jedes Jahr.
Erneut raschelte es, dieses Mal energischer durch den kräftigen Zug, der durch das Geäst heulte und als dieser abklang, erhob sich der Templer einmal mehr. Das Haupt gesenkt und die Augen geschlossen. Ein bitterkaltes Frösteln zog sich über seine Haut und lähmte ihn. Hielt den Hüter fest, unfähig, sich zu bewegen. Da war es wieder: das tonnenschwere Gefühl einer Last, die sich Schuld nannte. Diese Last, die er sich und seinem eigenen, mehrfachen Versagen zuschrieb. Das Versagen, dass einer der wenigen Gründe für ihn bedeutete, Angst zu verspüren. Die Angst und Scham, seiner eigenen Mutter nie wieder unter die Augen treten zu wollen. Ihr versuchen zu erklären, dass er es nicht geschafft hatte, die Familie wiederzuvereinen. Dass er sein Versprechen nicht gehalten hatte.
Wie jedes Jahr.
Der Hayabusa schnaufte langsam durch. „Ihr seid spät dran.“ Ein sanftes, liebliches Kichern drang an seine Ohren. So nah und doch weiter entfernt, als er hätte, jemals reichen können. Gefolgt vom belustigten Grunzen einer im Vergleich männlichen Stimme. „Ihr habt ja recht.“, antwortete das mittlere Kind der drei Geschwister, ballte die Fäuste und zog leicht zitternd die Brauen zusammen. Dann, mit einem geplagten Lächeln auf den Lippen wandte er sich um und sah, wie die beiden dort am Stamm von Tooshoo standen: sein älterer Bruder Kynezu, die Arme verschränkt, schief grinsen und den Kopf etwas schief geneigt. Mit der leicht abgedrehten Haltung wirkte er fast schon herausfordernd. Als wollte er sagen: „Komm schon, ist das alles?“ Er sah kaum einen Tag älter aus wie an dem Tag, an dem sich ihre Wege das letzte Mal getrennt hatten. Ryu konnte sich kaum mehr an die letzten Worte erinnern, die sie gewechselt hatten. An die letzten Worte des jungen Mädchens, welches, beide Hände sanft vor ihrem Schoß gefaltet dastand und ihm sanft entgegenlächelte, dafür umso mehr. „Ryu ... mein... Bruder. Es tut mir leid ... ich... ich wollte nicht... keine... Rache ...“ Passend zu der eisigen Kälte, die ihn ergriffen hatte, war es, als trieb man ihm erneut den brennenden Dolch in die Brust. Genau wie an jenem Tag, damals in Silden. Mit sich selbst im Kampf wandte er den Blick auf das natürlich gewachsene Holz unter seinen Füßen, den schweren Kloß im Hals herunterschluckend und die Augen zusammengepresst. Von allen Wunden, die er in seinem Leben davongetragen hatte, war es diese die ihn am meisten schmerzte und nie verheilen würde. Würde es jemals aufhören zu schmerzen? Nein, vermutlich nicht. Aber er würde weiterhin versuchen damit umzugehen. Zu leben.
Wie jedes Jahr.
Ein weiterer, eiskalter Windhauch umspielte den Templer und ließ ihn abermals frösteln. Die Kühle einer hauchdünnen, kaum spürbaren Berührung legte sich um seine rechte Armstulpe und drang bis zu seiner Haut hindurch. Gleichsam spürte er dieses am linken Oberarm. Beide waren sie nähergekommen. Wollten den sonst so gemäßigten Geist und das gefasste Herz des Hüters beruhigen. Ihm sagen: „Es ist in Ordnung.“ Aber war es das? Hinter leicht geröteten Augenlidern blickte das mittlere Kind der Familie auf. Unsicher und ängstlich, einem geprügelten Hund gleich. Und was ihm begegnete war das Lächeln seiner beider Geschwister. Kynezu, der das Gesicht verzog wie es unbeholfene, große Brüder taten, wenn sie sagen wollten: „Ach komm. Ein großer Kerl muss das abkönnen!“ und Hinata, die süße kleine Hinata, der er noch Wiegenlieder vorgesungen hatte lächelte auf jene mitfühlende Weise, die er noch gut von ihrer Mutter kannte. Die Art, auf die die Frauen in der Familie sagten: „Du solltest dich nicht quälen, großer Bruder. Du hast nichts falsch gemacht. Alles wird gut!“ Ein wenig unsicher aber doch vertraut durch dieselben Gesten wie schon in den Jahren zuvor, ließ sich Ryu rüber zum Baumstamm führen, an dem er sich langsam niederließ und weiterhin den inneren Kampf mit sich führte. Erst, als die beiden geisterhaften Gestalten sich bei ihm niedergelassen hatten, packte der Hayabusa sich ein Herz und kam zur Ruhe. Kynezu hatte sich gestreckt und auf die Unterarme gestützt lang gemacht. Ein Bein angewinkelt, das andere ausgestreckt. Hinata hingegen hatte ihre geisterhaften Arme um den ihres lebenden Bruders geschlungen und das Haupt sanft auf dessen Schulter abgelegt. Und für Ryu … fühlte es sich so unreal an. Wie die zaghafte Berührung hauchzarter Seide. Er wusste, er würde durch sie hindurchgreifen, würde er jedwede Geste erwidern. Also verhielt er sich ruhig und genoss das Wenige an geschwisterlicher Liebe, dass sich die drei noch geben konnten so gut er konnte.
Wie jedes Jahr.
„Wisst ihr … es ist vieles passiert in diesem Jahr.“, begann er und lehnte den Kopf sachte gegen Tooshoo, den Blick gen Himmel gewandt. „So viele alte Gesichter sind wiedergekehrt. Leute, von denen ich dachte, sie wären für immer verschwunden.“ Kynezu neigte den Kopf etwas schief und das ungebändigte, geisterhafte Haar strich über sein Gesicht und offenbarte dabei in den bläulich-weißen Augen eine Frage. „Nein. Myra war nicht dabei.“, antwortete der Templer nur und suchte Kynezus Blick. Ein Blatt, welches durch ihn hindurchsegelte, ließ seine Gestalt für einen Moment verschwimmen wie die von einem Stein durchdrungene, in Unruhe gebrachte Wasseroberfläche. „Aber, da sie nicht bei euch ist, bedeutet das entweder, sie will mich nicht sehen, oder sie ist noch am Leben. Irgendwo da draußen.“ Der ältere Bruder, nun wieder in fester Gestalt hob nur den linken Arm in einer ausschweifenden Geste und winkte schließlich aus dem Handgelenk. Sicher, woher sollte er das auch wissen? Hinata hingegen streichelte sanft über den Arm ihres Bruders. Wollte stillen Trost spenden und genoss wohl auch irgendwo die Vertrautheit, die sie schon im Kindesalter zu ihrem selbsternannten Beschützer verband. Ryu erinnerte sich daran, wie sie nach Stunden des Schreiens im Nu in seinen Armen eingeschlafen war, wenn er nach einem Angelausflug am Abend zurückgekommen war. Auch auch jetzt wirkte sie so ruhig. Geister hegten also nach wie vor Gefühle für ihre Lieben. Ein beruhigender, Trost spendender Gedanke. „Wo wir gerade bei Mutter sind … ich habe vor kurzem von ihr geträumt. Und von dir, Hinata. Du warst damals so klein.“ So erzählte der Hayabusa von den Erlebnissen in diesem Jahr. Von den Freunden die wiederkehrten. Von Kiyan, der in seiner ernsten Art an eine ältere Version seines Bruders erinnerte und von Valerion dem Großmaul. Und die Reaktionen seiner Geschwister sprachen Bände. Hinata hob immer wieder den Kopf, hielt sich die Hand vor den Mund und ließ ein weit entferntes Kichern erklingen. Kynezu hingegen gestikulierte, rollte mit den Augen und brummte oder seufzte nur vor sich hin.
Aber da waren noch mehr Dinge: Das Wiedersehen mit Griffin und Ornlu. Und der Abend, an dem er, kopfüber hängend, die rote Snapperin, Freiya, kennengelernt hatte. Natürlich hatten die beiden bei der Erwähnung der verschiedenen Namen reagiert. Mal freudig, mal ernüchtert. Doch als Ryu auf Freiya zu sprechen kam, hoben beide Geister ihren Blick und fixierten ihren Bruder. „Was ist? Warum schaut ihr auf einmal so?“ Sie beide grinsten. Nun, Kynezu grinste und Hinata lächelte, woraufhin ihre Nasenspitze leicht zuckte. „Oh, nein, nein, nein! Das ist nicht …“ Ryu hielt inne, verzog das Gesicht und schnaubte trotzig. „Soll ich euch jetzt weiter davon erzählen, was ich erlebt habe oder nicht!?“ Kyne lachte. Hinata lachte … und ihr Bruder schließlich auch. Wenn auch zaghaft. Es tat gut. Auf eine sehr reumütige Weise tat es gut, hier zu sitzen. Mit zwei der Menschen, die ihm näherstehen sollten als die meisten. Selbst wenn er Kynezu kaum kennengelernt hatte in der kurzen Zeit, in der sie sich begegnet waren. Aber die brüderliche Verbindung war da. Und Hinata … süße, kleine Hinata. Sie beide waren ihrer Zeit zu früh entrissen worden. Wieder dachte er an seine Mutter. Sie war nicht bei ihrer Familie. Aber wo war sie nur? Ob sie noch in dem kleinen Fischerdorf lebte? Oder hatte es sie auch in die Ferne gezogen wie den Rest ihrer Familie? Vielleicht suchte sie nach ihren Kindern oder ihrem Mann? Der Hüter legte die Stirn in Falten. Und als konnte sie seine Gedanken lesen, legte Hinata ihm beschwichtigend die Hand aufs Knie. „Du hast ja recht. Ihr wird es gut gehen. Ich frage mich nur … ob ich sie noch erkennen würde? Und ob sie mich noch erkennen würde? Seit diesem Traum denke ich oft an sie. An euch. Und an Vater. Mhrm … Vater …“ das mittlere Kind des Hayabusa-Clans schnaubte halb verächtlich und streckte sich einmal lang und ausgiebig. Das Sitzen und die kalte Nähe seiner Geschwister trieben die Müdigkeit in seine Knochen. Diese Geste hatten beide Geister genutzt, um sich zu erheben und dort zum letzten begehbaren Ende des Astes zu wandern. Stumm beobachteten sie die Menge. Hinata, warm lächelnd. Kynezu mit geschmälerten Lippen. Er vermisste wohl einen guten Schluck, wohingegen die Schwester der beiden Männer die Freude darüber verspürte, dass Ryu sein Wort, das Waldvolk zu schützen nachwievor gehalten hatte.
Wie jedes Jahr.
Schließlich wandten sich die beiden ihrem lebenden Familienmitglied zu und lächelten abermals. Ein erneuter, kalter Wind trat auf und Ryu verstand, dass die kurze Zeit mit seiner Familie sich nun dem Ende neigen würde. „Ihr … müsst dann wieder, hm? Tja … dann in einem Jahr wieder hier? Selber Ort, selbe Zeit?“ beide nickten voll Zuversicht in den toten Augen und streckten dann synchron den linken Arm mit nach oben gedrehten Handflächen in Richtung ihres Bruders. Dieser seufzte nur zaghaft, hatte er doch noch so viel zu erzählen gehabt. Aber so war das eben mit Pflichten, Schleiern und den Reichen aus Leben und Tod. Berührte man einander zu lange, so zog einen die eine Seite auf die andere, ohne dass man sich dessen wirklich bewusst war. Zumindest hatte Ryu sich diese Version zurechtgelegt, um den Schmerz über das Vermissen seiner Familie zu lindern. Mit einem Griff unter seine Jacke zog der Schwertmeister zwei Federn eines Wanderfalken hervor und legte diese jeweils in eine der Handflächen seiner Geschwister. „Danke, dass ihr mir den Weg weist, wenn mein Herz sich zu verlieren droht. Bis nächstes Jahr, kleine Schwester. Bis nächstes Jahr, großer Bruder.“ Die beiden schlossen ihre Hände um die Federn, führten diese jeweils an die eigene Brust, lächelten und senkten ihre Häupter. Und im nächsten Augenschlag verschwommen die geisterhaften Gestalten, hinfort getragen vom kühlen Herbstwind. Und lediglich ein Paar aus Federn stieg in den Himmel empor, bis der letzte noch lebende der Hayabusa-Geschwister sie aus den Augen verlor.
Wie jedes Jahr.
Noch eine ganze Weile stand der Hüter so da, den Blick gen Himmel gerichtet. Viele Gedankengänge schossen ihm durch den Kopf. Viele Was-wäre-Wenns. Viele Leben die er nie leben würde. Viele Erinnerungen, die er niemals machen würde und denen er dennoch nachtrauerte. Bis ihn eine vertrauter Berührung, die sein Haar durchflutete, wieder ins Hier und Jetzt holte. Ein Windhauch, kühl und wegweisend. Die orange-roten Wyvernaugen folgten der Windrichtung, hinab zu den Lichtern des Waldvolkes. Zu jenen, die er zu schützen geschworen hatte. Zu seiner noch lebenden Familie. Ein Lächeln trat auf sein Gesicht das nur ein stummes „Danke.“ formte. Dann, mit ausgestreckten Armen, ließ er sich nach vorne fallen, griff sich den nächsten Ast und schwang sich so nach und nach herunter. Mit einem Mal waren seine Sinne wieder offen. Für die Musik. Die Gerüche. Die Menschen. Er sah sie alle beim munteren Miteinander: den grimmigen Kiyan, der mit Onyx am Tisch saß und wie immer die anderen mit seinem Auge verurteilte und dabei Ornlu, dem Jadewolf lauschte. Vareesa, gehüllt in ein prächtiges Kleid aus Federn, wie sie dem jungen Djeser schimpfend auf den Rücken klopfte, der sich an seiner Suppe verschluckt hatte. Während Ronja, der Wildfang erstaunt mit dem Kopf in die Höhe schreckte, als sie an Sechets Bauch gelauscht hatte. Da war Griffin, der nach einem eher unkonventionellen Tanz mit Zarra von Freiya auf neckende Art gemaßregelt und gleichzeitig von einem weiteren, fremden Gesicht begleitet wurde. Auch Ricklen hatte unter groß gespuckten Tönen das Wetttrinken mit Darius begonnen, der nur lässig dasaß und die Oberhand gewann, während Jilvie und Senna nur im gleichen Takt mit den Köpfen schüttelten. Auch Thanan war vor Ort und beobachtete, wie so oft, die junge Zarra aus der Menge heraus. Sie alle und noch viele weitere, bekannte Gesichter waren hier. Und sie lebten. Sie waren hier.
Anders als jedes Jahr.
Der Hüter lauschte den Gesprächen, als er sich der Gruppe um seine Jagdgefährten von oben her näherte, und dabei fiel das Auge auf die Fremde, die irgendwie anders herausstach und ihm direkt ein Gefühl seltsamer Verbundenheit vermittelte. Vermutlich war es ihr Auftreten, nein, vielmehr das Aussehen ihrer Kleidung das ihn entfernt an eine edlere Variante der Fetzen erinnerte, die er trug. Nun, zumindest waren Schnitt und Stil wohl sehr an jenen angelehnt, den er bei seiner Kleidung bevorzugte. Still, fast lautlos landete der Templer schließlich auf einem Ast über den Leuten und verschränkte die Arme. „Ich hab‘ gehört, der Kirschsaft den Mama Hooqua unterm Tresen hat soll ganz gut sein. Oder vielleicht lieber warmer Reisschnaps?“
Geändert von Ryu Hayabusa (06.11.2024 um 06:49 Uhr)
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