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Schwarzwasser - nach Beltane (Tiergefährte 1)
Die Rabin fraß in etwa so viel wie … nun, ein Rabe eben fraß. Kiyan war kein Experte in Sachen Vogelkunde und konnte damit keineswegs behaupten, die schwarzgefiederte Verbrecherin sei verfressen und unersättlich. Er merkte jedoch, dass die ursprünglichste Art, eine Verbindung zu einem Geschöpf der Natur aufzubauen, das Füttern war. Ihm war, als würden irgendwo im Jenseits Generationen von Männern und Frauen, die ältesten unter ihnen in Felle und grobe Stoffe gehüllt, anerkennend bei dieser ihm gekommenen Erkenntnis nicken. Glückwunsch, schienen sie zu rufen, du hast das Prinzip des Domestizierens verstanden.
Jemand klackerte mit seinem Schnabel an seinem Ohr. »Herrje, du hast doch schon was bekommen?«, murmelte der Jäger, woraufhin ein anklagendes, leises Krähen die Antwort war. Unzufrieden war die Schurkin mit seiner Wahl der Nahrung.
»Was möchtest du denn, hm? Die Reste des Beltane-Festessens?«
War das ein zustimmendes Krähen?
»Nein, also … das geht wohl leider nicht. Wie ich die Leute hier kenne, ist davon jetzt eh nichts mehr übrig. Katerfrühstück, verstehst du?«
Verständnisloses Krähen.
»Ja nun, Fräulein, akzeptiere die Ungerechtigkeit der Welt. Mh, sonst … vielleicht kann ich dir etwas jagen? Eine … äh … Ratte? Ein Sumpfkaninchen? Sumpfeichhörnchen? Götter, gibt’s sowas überhaupt?«
Die gekrähte Antwort schien ebenfalls eklatantes Unwissen über die hiesige Fauna zu offenbaren. In einträchtigem Schweigen gingen Mann und Rabin also weiter. Als – was für ein Zufall – eine Sumpfratte aus einem morschen, grün bemoosten Bretterhaufen sprang.
»Äh … ekelhaft.« Das Biest zischte ihn an. »Also, Schurkin, willst du … kannst du … soll ich?«
Ein protestierendes, lautes Krähen, dann erhob sie sich in die Luft und verschwand.
»Götter, dieser Verrat schmerzt!« Kiyan zog seufzend das Schwert. »Verschwinde, Rattenvieh!«
Es zischte und kam näher. Erneut seufzte er. Rattenjagd. Eine angemessene Queste für einen Wilden Jäger!
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Festplatz
Ah, so viel Ungewissheit. So viel Unsicherheit. Das kam ihm alles so bekannt vor. Wie sehr hätte sich Maris damals gewünscht, jemanden zu haben, der zumindest ein wenig Führung geben konnte! So seltsam es auch war, hatte ausgerechnet der launische und unterdrückerische Große Löwe diese Rolle eingenommen, indem er Maris zur Dienerschaft zu knechten versucht hatte. Mit Erfolg - bis sich beim Tod des Weißaugendrachen eine Chance geboten hatte, aus diesem Gefängnis auszubrechen.
Nur zu gern wollte Maris Chala helfen, um ihr eine ähnliche Erfahrung zu ersparen. Ob er da konnte - nun, er wusste es nicht. Aber irgendetwas würde er sicher sehen können.
"Du musst gar nichts tun, außer mit mir in Kontakt zu bleiben, wenn die Vision beginnt. Ja, auch das ist ein Aspekt unserer Magie, wenn auch offenbar nicht allzu verbreitet. Manche von uns werden auch Seher genannt, aber nur wenige können wirklich sehen." Er zwinkerte mit dem trüben Auge. "Lass dich nicht von Äußerlichkeiten täuschen. Ich bin nicht so blind, wie ich aussehe."
Maris warf einen kurzen Seitenblick auf Runa, die mit verkniffenem Gesicht einen großen Schluck von dem Wurzelkaffee genommen hatte und sich nun voller Interesse auf ihre Ellenbogen gestützt über den Tisch beugte. Er hatte sich geschworen, nichts mehr vor ihr zu verheimlichen. Hier also kam die nächste Runde der Offenbarungen.
"Normalerweise müsste ich mich ein wenig vorbereiten, um meine Aufmerksamkeit auf das außerhalb Liegende zu konzentrieren. Aber wie es der Zufall so will, habe ich noch genug Wirkstoff des Traumrufs in mir, um bestimmt noch drei weitere Visionen zu erleben. Und dank Gilana bin ich so sehr mit magischem Erzstaub bepudert, dass vermutlich jeder Funke Magie sofort vervielfacht wird. Wir könnten also quasi direkt loslegen."
Er sah sich um. Nunja, das war vermutlich nicht der stimmungsvollste Ort für eine Vision, aber am Ende sah er selbst es sowieso nicht und Außenstehende würden nur einen Kerl sehen, dessen Pupillen für eine Weile in die Augenhöhlen rollten. Nichts, was über das normale Maß an Verrücktheit in dieser Gemeinschaft hinausging.
"Leg das Tagebuch auf den Tisch und lass deine Hand darauf liegen", sagte er. Als sie es tat, legte er seine Hand auf die ihre.
"Je enger der Kontakt, desto einfacher kann ich den Linien des Schicksals folgen. Und bitte brich den Kontakt nicht ab, solange ich noch nicht fertig bin. Beug dich jetzt vor."
Chala beugte sich über den Tisch. Maris reichte zu ihr hinüber und packte ihren Haarschopf. Er zog Chalas Kopf zu sich heran und drückte seine Stirn gegen die ihre.
"Na dann los." Er atmete tief durch, schloss die Augen und entspannte seinen Körper. Er spürte immer noch den Puls von Tooshoo in sich. Diesmal würde es einfach werden.
Während er sich in die Tiefen seiner Gedankenwelt begab und schließlich die Barriere durchbrach, gab er unbewusst einen tiefen Brummton von sich. Plötzlich spannte sich sein Körper an, die linke Hand presste Chalas Stirn kraftvoll gegen die seine, die rechte verkrampfte sich und drückte Chalas Hand mitsamt dem Notizbuch zusammen. Seine Augen öffneten sich, doch seine Augen waren nach oben gerollt.
" ... kann mich kaum orientieren ... keine klare Linie ... "
Runa sah ihren Vater besorgt an. "Paps? Alles in Ordnung?"
Maris' Atem intensivierte sich. " ... fünf Herzen unter einer Brust ... ein zerbrochenes Kind ... die Schönheit im Spiegel ... drei Klingen ..."
Seine Fingernägel gruben sich in Chalas Handrücken. Er bebte. Runa starrte ihn panisch an. "Paps?"
" ... Türme auf geeintem Fundament, doch sie sehen sich nicht ... eine helfende Hand ... Aniron?"
Mit einem Schlag ließ die Spannung in seinem Körper nach. Maris atmete schwer, als hätte er eine große Anstrengung vollbracht. Dann rappelte er sich auf und sah Chala an, die Augen wieder völlig normal.
"Bitte Entschuldige. Der Traumruf hat es ungewohnt intensiv gemacht, und deine Linien sind unklar und verworren."
Maris wischte sich über die Stirn. Dann griff er nach dem Wurzelkaffee. Er brauchte dringend etwas, das ihn auf Kurs brachte.
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Heilkammer
Onyx war für viele seiner Zeitgenossen, ein plumper, riesiger Grobian, der Leute würgte und meistens nichts sagte. Die Wenigsten wussten jedoch, wie akribisch und detailversessen der Waldläufer an den Dingen arbeitete, die für ihn wichtig waren.
Boss Jarvo war wichtig. Sein Zustand war furchtbar und wenn man Mertens Worten genau zugehört hatte, so hatte man ihn nach einem weiteren Ausraster wieder Fesseln anlegen müssen. Phasenweise ging es Jarvo gut und er tolerierte, dass er ‘eingeschränkt’ wurde. Doch er war eine tickende Zeitbombe oder für die Verhältnisse ihrer Welt ein Säbelzahntiger, der gerade dabei war, seine Fesseln durchzubeißen und einen sehr genau anstarrte.
Onyx hatte im Grunde schon alles, bis auf das Eiswasser aus den Bergen und so war er am frühen Morgen, als in Tooshoo alles noch seinen Rausch ausschlief, aufgebrochen. Mit seinen letzten Vorräten an Snapperkraut eilte er in die Berge und war nun am Abend zurückgekehrt.
Er war ausgelaugt, durch das Snapperkraut sehr aggressiv gestimmt und auch sehr müde. Hatte dafür einen Behälter voll mit Eiswasser aus den Bergen. Das war nur noch etwas kühl, aber im Grunde konnte es nur sein, dass dieser Duath wollte, dass man sehr sauberes Wasser besorgte.
Auf dem Rückweg, hatte er dank einer Snapperkraut bedingten guten Nase und einer kurzen Rast, Morgentau-Pilze und etwas, was er noch aus Khoriniszeiten kannte - Blauflieder - gefunden. Den hatte er dann vorsichtig mit der goldenen Sichel abgetrennt und würde bald testen, was passierte, wenn er Blauflieder zu sich nahm.
Doch im Jetzt passierte er die Wächter vor dem großen Baum und stillte dann seinen Durst an einem Fass mit sauberen, abgekochten Wasser. Es schmeckte nicht so besonders, aber besser dieses Zeug trinken, wie die Scheißerei oder Schlimmeres bekommen.
In der Heilkammer angekommen, stampfte er durch den Raum und setzte sich an den Tisch, den er das letzte Mal auch genutzt hatte.
Er blickte sich kurz um. Beobachtete die Heilerin Leyla und auch Osmo, wie sie die armen Seelen behandelten, die sich beim Fest irgendwie weh getan hatten oder einfach noch Kopfschmerzen vom Alkohol hatten. Onyx könnte nie die Geduld aufbringen, auch nur einen zuzuhören, welches Wehwehchen er hat.
“Mein Fuss tut weh, wenn ich auftrete.”, jammerte einer gerade.
“Dann hüpfen auf einen Bein und nicht treten auf, Dummkopf!”, hätte Dr. Onyx geraten und den Typen mit Pfeilen raus gejagt.
Aber das war wohl zu einfach und deswegen war er kein Blabla-Heiler. Er war Pragmatiker und sah zu, dass das was man machte auch funktionierte.
So holte er den Morgentau heraus und öffnete den Sammelbehälter, wo der Rest lagerte. Die letzte Feuerwurzel an Leylas geheimen Fundort, Berglavendel vom letzten Mal, frisches Atelaskraut aus Mertens Kräuterzucht, sowie ebenso von dort den Baldrian.
Onyx sah sich nochmal um, denn er wollte dabei weder belauscht noch beobachtet werden. Und dann ging es los. Worte der Olvara wurden jeder Pflanze zugeflüstert und Onyx beobachtete oder besser spürte akribisch, dass sich was tat. Was auffiel, war dass der Berglavendel keinen so ausgeprägten gold-violetten Schimmer hatte, wie bei Ryus Blauen Bären. Frisch geerntet war natürlich besser. Das leuchtete Onyx ein. Ob die Wirkung dadurch schlechter wurde? Das würde er noch sehen.
Dieses Mal kamen neben der goldenen Sichel aber auch Mörser und Stößel in Spiel. Onyx hatte damit früher einfach Pfefferkörner klein gemacht oder andere Samen. Nun zerkleinerte er damit die klein geschnittenen Blätter und Stängel der Feuerwurzel, den Baldrian im Ganzen, das fein geschnittene Atelaskraut und das Berglavendel gleichzeitig. Dann kippte er das Gemisch in den Behälter mit dem kalten, sehr klaren Wasser und machte sich final an die zwei Morgentau-Pilze in ihrem kupferfarbenen Schimmer, der durch die Worte der Olvara erwacht war. Drei weitere erwachte Pilze aß er, um zumindest etwas ihrer Wirkung für sich zu nutzen. Sie würden wieder wach machen - die andere Wirkung nahm er in Kauf. Immerhin hatte er was an und würde nicht in den Regen gehen.
Die zerkleinerten Pilze warf er dann zum Rest in den Behälter, setzte einen Deckel drauf und schüttelte das Gemisch so heftig er konnte.
Onyx merkte schon die Wirkung der Morgentau-Pilze, als er ein paar Tropfen auf seine Haut bekam. Sie lumiszinierte schwach violett und blau. Er wischte es weg und löste den nicht komplett dichten Deckel.
Er roch dran und merkte sich die heutige Vorgehensweise. Es war feiner, nicht so brockenhaft wie bei Ryu. Die Farbe war jedoch nicht so dunkelblau wie bei Ryu. Stattdessen war es ein etwas helleres Blau. Wie das von Enzian. So sang es zumindest Osmo, als er vorbei lief und an Onyx dann roch.
“Du hast doch keine Ahnung von Heilmagie, wie kannst du dann blaue Suppe kochen? Das ist ein Sakrileg und gegen die Regeln der Altvorderen!. Möge dich der Heil-Butt holen, Ritter der Blumen!”
Onyx knurrte und brummte und Osmo suchte das Weite so schnell er konnte, bevor er bei Leyla hielt und zu ihr genau dasselbe sagte. Oder wiederholte er das nur vor ihr? Onyx würde ihn bald mal wieder kräftig durchschütteln.
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“Das wird helfen?”, fragte Mertens und vernahm ein zustimmendes Brummen des Hünen.
“Das half auch Ryu, ja? Ist es denn sicher?”, fragte er noch. Onyx verdrehte fast unmerkbar die Augen.
“Ja. Müssen warten bis Morgen. Dann Boss Jarvo besser im Kopf. Blauer Bär ist gut. Wer geben?”
“Ich! Du hältst ihn einfach fest - ok?, fragte der Waldläufer und Onyx nickte.
Dann traten sie in das eigens für Jarvo hergerichtete Zimmer und Onyx erschrak ein wenig. Jarvo starrte sie an, wie eine Raubkatze die bereit war zu springen.
“Du schon wieder!? Mach mich frei und ich zerreiße euch alle.”, knurrte der Waldläuferführer und versuchte sich von den Ketten und Seilen zu lösen. Es war ein schlimmer Anblick für Onyx seinen Boss Jarvo so zu sehen. Die Augen tierisch und um die Augenränder in den Schatten. Eine Aura der Dominanz und Wut herrschte um Jarvo und der Waldläufer befand, dass es gut war, dass er den Säbelzahn nicht füttern würde. Er hatte ja nicht einmal was, um ihn zur Not tot zu schlagen.
Onyx packte den Stuhl an dem Jarvo lehnte und zu zappeln begann, dann direkt den Mann am Kopf. Mertens trat direkt vor und packte Jarvo fest an der Nase. Dann kippte er die Flüssigkeit in den wütend schreienden Hüter und hielt mit Onyx den Waldläuferführer fest.
“Nochmal! Alles!”, zischte Onyx und legte nun seinen Arm kräftig um den Hals von Jarvo. Er spürte wie seine VEnen pochten und sich alle Halsmuskeln anspannten. Wie er nach den beiden schnappte. Mertens knallte Jarvo eine und packte dann abermals dessen Nase und verdrehte sie leicht. Reflexartig riss der Mund auf und der Rest des Blauen Bären floss Jarvis Kehle halbwegs runter. Er spuckte und hustete natürlich, aber so viel wie er bekommen hatte, musste das reichen.
Sie ließen ab. Mertens richtete noch ein paar Worte an Jarvo oder das was ihn beherrschte und dankte dann Onyx.
“Ich werde heute Nacht wachen.”, sagte der Waldläufer.
“Onyx auch. Hier bleiben in Heilkammer. Nicht müde.”, versprach der Hüter der Olvara und war gespannt, ob es klappen würde. Notfalls müsste er noch einmal den Blauen Bären zubereiten.
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Sumpflilie
Etwas wackelig schob sich Zarra in den Schankraum der Sumpflilie. Die gestapelten Krüge in ihren Armen schwankten bedenklich, doch sie konnte die Balance zurückgewinnen. Ein Blick über die Becher und an ihnen vorbei offenbarte nicht viel, außer weiterer Nach-Feier-Patienten, die ihr Heil in Wurzelkaffe oder sogar Kräuterbier suchten, das bekanntlich gegen den Kater am Morgen half. Aber tat es das wirklich? Nicht, dass Zarra sich sonderlich dafür interessierte oder gar Wissen hatte. Alkohol war nichts, womit sie sich sonderlich stark auseinandersetzte, und sie wollte es auch gar nicht, da sie bisher keine sinnvollen Anwendungen dafür hatte finden können. Sie schaute auf ihre bandagierten Arme, welche langsam ob des Gewichts der Krüge zu zittern begannen. Einst hatte sie sich starken Wurzelschnaps auf die Haut gekippt, so wie sie sich den verschiedensten Pflanzen und ihren Reizstoffen aussetzte, um zu lernen und zu verstehen. Es war absolut gar nichts geschehen. Danach hatte sie es getrunken – der nächste logische Schritt in ihren Augen. Sie musste wohl etwa in Runas Alter gewesen sein und sie hatte an diesen Versuch keinerlei weitere Erinnerungen. Seit dem hatte sie Alkohol gemieden.
„Ach Mädchen“, ertönte Mama Hooquas Stimme etwas gequält, „Wir waschen die Krüge normalerweise unten am Platz, wenn Beltane vorüber ist.“
„Oh“, erwiderte Zarra überrascht und gleichermaßen enttäuscht, „Das…wusste ich nicht.“
„Macht nichts. Stell sie ab. Ich werde die hier abwaschen. Danke, dass wenigstens DU mitdenkst“, lenkte die Wirtin ein, welcher der geknickte Tonfall der Jugendlichen wohl ein schlechtes Gewissen beschert hatte.
Mit gedämpftem Elan stellte sie die Krüge auf einen unbesetzten Tisch ab, wobei einer von ihnen umfiel. Sie griff schnell danach und stellte ihn wieder zu den anderen, ehe sie sich mit rosa Wangen an die Hooqua wandte.
„Ich habe beim Herkommen Bud und Terrence gesehen und…“, begann sie, wurde jedoch von der emsigen Frau unterbrochen.
„…haben Hunger. Wie immer. Sag ihnen, dass sie nicht noch mehr bekommen, wenn sie es nicht schaffen, ihre Arbeit richtig zu erledigen. Außer sie zahlen“, sagte sie bestimmt und ließ keinen Zweifel daran, dass sie in diesem Punkt unnachgiebig war.
„Verstehe“, beeilte sich Zarra zu sagen und wechselte dann das Thema, „Die Barden, Enya und Fynn. Hast du sie heute schon gesehen, Mama?“
„Hmm, jetzt wo du’s sagst. Nee. Vermutlich schlafen sie noch. Wenn du willst, warte einfach hier auf sie.“
„Danke“, lächelte das Mädchen und setzte sich an den Tisch, auf dem nun zwei kleine Türme aus Krügen standen.
Die Hände in ihren Schoß gelegt, überlegte sie, ob Mama Hooqua wusste, dass Ornlu und die Torgaanerin den beiden Wächtern entwischt war. War das der Grund, warum sie sich weigerte ihr etwas zu Essen für die beiden mitzugeben?
Während sie überlegte, stellte die Wirtin ihr einen Teller vor die Nase. Zwei kleine Hartwürste, etwas Käse und Brot.
„Hier, als Dank dafür, dass du die Krüge gebracht hast“, begründete die Mama ihre Großzügigkeit und nahm den dankbaren Blick des Mädchens mit einem Lächeln entgegen.
Ein zweites Frühstück war genau das, was sie brauchte. Auch, wenn sie auf die Hartwürste verzichten würde.
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Festplatz
Panik stieg in Chala auf, als der Griff des Mannes in ihrem Haar kräftiger wurde. Ihre Stirn schmerzte, während er sie gegen die seine presste und ihre Hand verkrampfte unter der seinen, während sie das weiche Material des kleinen Bucheinbands unter ihren Fingern spürte. Der tiefe Ton, den Maris aus seiner Kehle tönen ließ, gab ihr das Gefühl eines okkulten Gesangs, der diese widrige Situation in ein Ritual zu verwandeln versuchte. Hilfesuchend zuckten ihre Augen zu Runa, die mit großen Augen und unsicherer Miene dem Schauspiel folgte. Das Weiße der Augen des Sehers verschwamm zu einem einzigen vor den ihren, geschuldet der Nähe und der Intensität des Augenblicks. Erst seine abgehackten, fast undeutlichen Worte lenkten sie ab, doch milderte es nicht ihre Sorge.
Auch Runa wurde zunehmend nervöser. Ihr Vater verhielt sich äußerst seltsam und ihr gefiel offensichtlich gar nicht, was hier gerade passierte.
„…kann mich kaum orientieren…keine klare Linie…“
Orientieren? Wo war Maris mit seinen Gedanken oder gar seinem Geist? Welche Linie meinte er? Jene des Schicksals, von der er zuvor gesprochen hatte? Das klang alles so wage für Chala und die Panik in ihr half nicht dabei Verbindungen zwischen seinen Worten und dem, was gerade geschah, zu ziehen.
„…fünf Herzen unter einer Brust…ein zerbrochenes Kind…die Schönheit im Spiegel…drei Klingen…“
Scheinbar vollkommen unzusammenhängende Satzfetzen fielen aus dem Mund des Einäugigen, nach denen die Aranisaani mit ihren Gedanken schnappte, wie eine Ertrinkende nach Treibgut. Die Bedeutung der fünf Herzen konnte sie erahnen, doch der Rest? Keine Idee kam ihr bei der Erwähnung von Kind, Schönheit oder Klingen.
„…Türme auf geeintem Fundament, doch sie sehen nicht…eine helfende Hand…Aniron?“
Je mehr Maris sprach, desto unklarer wurde die Weissagung. Seine Finger gruben sich wie Krallen in ihre Hand und ihre Kopfhaut, sodass sie die Zähne aufeinanderbeißen musste, um einen Laut zu unterdrücken. Sein Körper vibrierte unterschwellig, im Einklang mit dem Brummen seiner Stimme.
Keuchend schnellte Chala zurück, als die Anspannung aus dem Körper des Sehers wich. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sehr sie sich gegen seinen Griff gestemmt hatte, so als sträubte sich ihr Körper gegen die Nähe. Sie atmete schwer, schaute zwischen Runa und Maris hin und her, während sie sich langsam beruhigte.
„Das war…intensiv“, gab sie zu und nahm indirekt die Entschuldigung an, die er ihr anbot.
Sie tat es ihm gleich und griff ebenfalls nach ihrem Wurzelkaffee, und wenn es nur war, um sich an etwas festzuhalten. Die Worte, die sich in ihre Gedanken gebrannt hatten, schwirrten in ihrem Kopf umher. Sie hatte nicht die Gewissheit erlangt, die sie sich versprochen hatte. Dafür Antworten, auf die sie nicht einmal die Fragen kannte und Fragen, deren Antworten zu finden ihr vielleicht gar nicht helfen würde.
„Wer ist Aniron?“, fragte sie als erstes, packte das Ende des Rattenschwanzes an Fragen, welche auf ihrer Zunge lagen und bemerkte, wie Runa etwas sagen wollte.
Geändert von Chala Vered (05.06.2024 um 18:26 Uhr)
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Festplatz
"Das ist meine Mutter!", platzte es aus Runa heraus, bevor Maris etwas auf Chalas Frage erwidern konnte.
"Mama ist eine Wassermagierin, zu Hause in Stewark", fügte sie wichtig hinzu.
"Vor allem aber", ergänzte Maris, "leitet sie dort die Heilkammer. Wäre mir allerdings neu, dass Geistheilung großartig ihr Metier wäre. Vor allem ist sie seit Jahr und Tag eine Wehmutter."
Er strich sich grübelnd über's Kinn. "Nicht, dass das mit den fünf Herzen unter einer Brust am Ende gar nichts mit deinem Geist zu tun hatte ..."
Er schüttelte den Kopf. Nein. Nicht auszumalen, wenn da ein Wurf neuer Ornlus heranwüchse.
"Also, was ich dir auf jeden Fall sagen kann, ist, dass etwas in dir stark fragmentiert ist. Deshalb fiel es mir auch so schwer, eine klare Linie zu finden. Deshalb, und weil ich wegen dem Traumruf aufpassen musste, nicht über's Ziel hinauszuschießen. Für gewöhnlich sind meine Visionen klarer."
Maris spürte Runas prüfenden Blick auf sich lasten und wandte sich zu ihr um. "Was ist denn?"
"Paps, das war verflucht gruselig. Machst du so was öfter?"
Er lächelte schief. "Für gewöhnlich mit weniger Hokuspokus und Körperzuckungen. Ich glaube, der Traumruf schießt immer noch ein wenig zu stark rein."
Er hob entschuldigend die Arme und sah wieder zu Chala.
"Keine Ahnung, was die einzelnen Sequenzen bedeuten könnten. Szenen aus deiner Vergangenheit vielleicht? Manchmal sind sie aber auch eher metaphorischer Natur. Die Türme, die sich gegenseitig nicht sehen können, haben vielleicht etwas mit diesen verschiedenen Teilen von dir zu tun. Und wenn du Aniron noch nicht kennst, dürfte das ein Wink in die Zukunft sein. Vielleicht solltest du sie in Stewark besuchen? Selbst wenn sie dir nicht direkt helfen kann, wird sich vielleicht eine neue Perspektive auftun. Vielleicht zeigt sich der nächste Schritt auf dem Weg bei ihr, wer weiß?"
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Festplatz
Ein gräulicher Farbton legte sich über Chalas Gesicht, als sie hörte, dass Aniron eine Wehmutter war. Wenn sie tatsächlich schwanger wäre, dann…Nein, das durfte nicht sein. Und Fünflinge? Götter bewahret.
„Stewark?“, hakte sie krächzend nach und spürte einen Klos ihren Hals verdichten.
„Ja, da wohnen wir, wenn wir nicht auf Reisen sind, oder Paps?“, rief Runa begeistert.
„Wenn ich mir die Satzfetzen durch den Kopf gehen lasse, die du während der Trance von dir gegeben hast, dann tun sich mehr Fragen, als Antworten auf“, gab die Aranisaani zu und legte den Kopf schief, während sie auf ihrer Unterlippe kaute.
Sie versuchte sich zu beruhigen, die Bedrohung, die Nachwuchs auf ihr derzeitiges Leben haben würde, für den Moment zu verdrängen. Sie sah Runa an und ein seltsames Gefühl regte sich in ihr. Sie mochte die Kleine, doch wäre sie selbst in der Lage dazu einen Menschen großzuziehen? Noch dazu fünf? Nein, sicher nicht.
„Fünf Herzen unter einer Brust…im Sumpf während der Jagd sind das Jagdkommando, dem ich zugeteilt wurde – Liams, du erinnerst dich? – in einen Nebel geraten, der uns die Sinne wortwörtlich vernebelte. Ich sah mich selbst fünf weitere Male. Es könnte also eine Verbindung bestehen.“
Sie trommelte nervös mit ihren Fingern auf der rauen Tischplatte. Wenn es insgesamt fünf Persönlichkeiten gab, die sich diesen Körper teilten, dann…
Einer Eingebung folgend schlug sie das Buch auf.
„Die Krakeleien…eins, die gedrungene Handschrift zwei“, begann sie zu zählen, „Die ausladenden Schwünge der Buchstaben hier, drei. Mein eigener Eintrag, vier, und…die letzten Einträge mit so akkuraten Schriftzeichen…fünf.“
Es konnte möglich sein.
„Das zerbrochene Kind und diese kindlichen Bilder könnten eine Verbindung haben. Und die drei Messer…meine Wurfmesser?“, überlegte sie laut und erinnerte sich noch bildlich daran, wie sie in ihren Besitz gekommen waren.
Maris hatte davon gesprochen, dass etwas in ihr stark fragmentiert war, was ihm das Sehen der Schicksalslinien erschwert hatte. Doch reichte es als Beweis? Gab es ihr die Gewissheit, nach welcher es sie verlangt hatte? Nicht ganz, doch die Wahrscheinlichkeit war größer denn je.
„Ich danke dir, Maris“, sagte sie mit ehrlicher Bewunderung und einem Hauch Verwirrung in der Stimme, „Ich habe nun ein Ziel. Werdet ihr auch bald aufbrechen? Zurück nach Stewark? Falls nicht, könnte ich vielleicht eine Nachricht an deine Mutter überbringen, kleine Kriegerin“, bot sie als Gegenleistung an und lächelte schwach.
Geändert von Chala Vered (05.06.2024 um 19:19 Uhr)
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Die letzte Nacht und der Morgen steckte dem in die Jahre gekommenen Mann noch merklich in den Knochen. Zu nicht unerheblichen Teilen allerdings auf die bestmögliche Art und Weise. Er war zwar vollkommen zerknautscht, ihm taten die Füße von dem ganzen Getanze weh, er hatte nur wenig und sehr unruhig geschlafen und irgendwie wurde er den Geschmack von totem Iltis auf der Zunge auch nach mehrfachem Ausspülen nicht los. Und doch fühlte er sich selig. Die Erinnerungen an die letzte Nacht, an das ganze Getanze, an die Unterhaltungen mit Menschen, die ihm so sehr ans Herz gewachsen waren, an den Gesang von Zarra und an den zugegeben schönsten Sonnenaufgang seit mindestens einem Jahrzehnt, den er mit Ryu und Freiya hatte teilen dürfen - all das waren Erinnerungen, von denen er noch lange zehren würde.
Deswegen konnte er sich den Gesamten Weg zur Lilie nicht ganz entscheiden, ob er schlurfend und ausgelaugt um jeden Schritt kämpfen oder beschwingten Schrittes dorthin eilen sollte. Die Unsicherheit hielt, bis er die Hand auf das alte Holz der Eingangstür legte und diese - etwas schwungvoller als gedacht - aufstieß und schließlich eintrat.
Doch - heute war definitiv ein guter Tag.
Und der wurde noch besser, als er die weiße Haarpracht einer vertrauten Person erblickte.
»Guten Morgen, kleine Libelle.«, sprach Griffin leise aber mit einem hörbaren Schmunzeln im Gesicht. Er konnte nicht anders, als lächeln, wenn er sich in Gesellschaft des Mädchens mit den türkisfarbenen Augen befand. Wie es mittlerweile zur Gewohnheit wurde, legte er ihr vorsichtig die Hand auf das Haupthaar und widerstand nur ganz knapp dem Drang, dieses durchzuwuscheln. Dann nahm er mit einem neidischen Blick auf ihren Teller neben ihr Platz und warf der Hooqua nicht einen, nicht zwei, sondern drei seiner mittleidigsten Blicke zu, ehe sie schließlich auf sein zutiefst bedröppeltes Gesicht und den knurrenden Magen reagierte.
Lautstark seufzend rollte sie mit den Augen.
Sie wusste um seine finanzielle Situation und war sich darüber im Klaren, dass von dem einstigen Hauptmann und Hüter nichts zu erwarten war außer ein paar netten Worten und einer Umarmung, die sie insbesondere heute aber nicht wollte.
»Aber nur, weil ich gehört habe, dass du unserer Zarra hier den Hintern gerettet hast!«, murrte die Mama einen Touch miesgelaunter als üblich und stellte kurz darauf einen kleinen mit Wurst, Käse und etwas Brot gefüllten Teller neben den von Zarra. Griffin machte sich sogleich daran, den leeren Magen zu füllen. Mit vollem Mund schmatzte er Zarra entgegen. »Daff kömmem müfft...« Er schluckte angestrengt herunter. »viele von sich behaupten.« Genüsslich biss er in eine Wurst und wedelte mit dem abgebissenen Stück Wurst gestikulierend vor Zarras Gesicht herum. »Aber dich würde ich sogar ohne Aussicht auf ein kostenloses Frühstück retten.«, feixte er und lachte lautstark.
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Sumpflilie
Das Warten fand ein jähes Ende, als statt des Bardenpaare sie jemand von hinten ansprach und ihr seine Hand auf den Kopf legte. Die soeben noch gelangweilte Miene des Mädchens hellte auf und sie genoss die Wärme, die von der Pranke in ihren Kopf überging.
„Griffin!“, stieß sie freudig überrascht aus und schaute zu ihm auf.
Aus ihrer sitzenden Position wirkte er noch viel eindrucksvoller, wie er mit sanften Augen auf sie herabschaute, in denen der Schalk zu tanzen schien. Gleichwohl vollbrachte er das Unmögliche und erschlich sich mit einem Hundeblick, der seines gleichen suchte, ein Frühstück von der ohnehin gereizten Mama Hooqua. Und dann wurde auch noch Zarra als Grund genannt. Ja, wirklich, sie selbst!
Mit leicht rosa gefärbten Wangen schaute sie beeindruckt dabei zu, wie der Hüne sich sein Frühstück einverleibte. Dass er Hunger hatte sah man an der Größe, der Bissen, die er seinem Mund mit einem Mal zumutete. Als er dann noch zu sprechen begann, musste die Weißhaarige lachen, verbarg ihren Mund mit hervorgehaltener Hand.
Beinahe schielend folgte sie dem angebissenen Wurststück, mit dem er vor ihrem Gesicht herumwedelte und konnte ihre Mundwinkel einfach nicht wieder entspannen. Zu groß war die mit seinem Erscheinen aufgetretene Freude in ihr.
„Ich muss ziemlich oft gerettet werden, nicht?“, fragte sie zwischen sei Bissen ihres eigenen Frühstücks, „Erst vor dem Tausendfüßer, dann vor den Harpyien und schließlich...“, sie machte eine dramatische Pause und grinste schief, „Vor dem schlimmsten Feind von allen, meiner Oma!“
Sie lachte und griff nach ihrem Becher, der mit der dunklen Wurzelbrühe gefüllt war. Ihr Teller war bis auf die beiden Hartwürste leer und auch, wenn sie diese für Bud und Terrence aufbewahren wollte, hatte sie nun doch jemanden vor sich, der sie ihrer Meinung nach deutlich mehr verdient hatte.
„Willst du?“, fragte sie und deutete auf die beiden Würstchen, „Als Dank für all die Male, die ich dir mein Leben verdanke“, fügte sie hinzu und wurde dabei ernster.
Sie meinte es so und es war ihr wichtig, dass er dies auch wusste.
„Ich hatte viel Spaß gestern Nacht, wenn wir den unangenehmen Teil vergessen“, sprach sie einfach weiter, so, als müsste sie all die Jahre der Stille aufholen, mit der sie die Welt bedacht hatte, „Das Tanzen mit dir hat es zum besten Beltane gemacht, was ich jemals feiern durfte! Sonst musste ich immer an der Seite meiner Oma bleiben, nur tanzen, wenn sie tanzte…“
Ihr langer Zeigefinger kreiste gedankenverloren über den Rand ihres Bechers, während sie Griffin beim Essen beobachtete und seine Reaktion abwartete.
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»Jahrein jahraus mit Oma Rimbe tanzen.« Er strich sich mit gespielter Nachdenklichkeit durch den struppigen Vollbart und kämpfte gegen die Vorstellung in seinem Kopf an, wie die alte Frau gänzlich sorgenfrei das runzlige Tanzbein schwang und damit für großes Schamgefühl bei ihrer damals vermutlich noch wesentlich jüngeren Enkelin gesorgt hatte.
Genüsslich biss er in die kläglichen Überreste seiner letzten Wurst und trauerte ihr für einige Sekunden hinterher, ehe er fortfuhr. »Es freut mich, dass du Spaß hattest, meine Liebe!«, gestand er und ein ehrliches, breites Lächeln festigte sich auf seinem rundlichen Gesicht, während er zufrieden und gesättigt tiefer in seinem Stuhl versank.
Mit einem wortlosen Abwinken lehnte er die feilgebotenen Würste ab, die noch auf Zarras Teller lagen. Sie hatte sie die ganze Zeit nicht angerührt, vermutlich, weil sie sich die für einen kleinen Mittagshappen später am Tage aufbewahren wollte. Und der Mittagshappen war Griffin heilig. Ganz im Gegensatz zum Mitternachtshappen, denn der - wie jeder wusste - landete sofort auf den Hüften. Mitternachtshappen abzulehnen lehnte er daher nie ab. Aber die Ablehnung eines Mittagshappens war - und da lehnte er sich nicht zu weit aus dem Fenster, fand er - war grundsätzlich abzulehnen. Oder war anzunehmen, dass die Ablehnung anzunehmen war? Einerlei - die Würste würden Zarras bleiben.
»Ich hatte wirklich auch schon schlechtere Feste in schlechterer Begleitung.«, fuhr er mit einem neckenden Augenzwinkern fort, legte dann aber etwas ernster seine Hand auf die von Zarra und beugte sich zu ihr nach vorn. »Ich für meinen Teil kann mich an keinen unangenehmen Teil erinnern.« Ein warf Zarra ein gütiges Lächeln entgegen, das sie leicht errötend auffing und zur Seite blickte. »Du hast geraucht, getrunken, getanzt und einem alten Mann damit gleichermaßen große Sorgen und eine große Freude gemacht. Daran ist nichts peinlich - bis auf die Tatsache, dass deine Oma mich unverblümt aus eurem Haus geworfen hat, das war mir ein wenig unangenehm.« Er lachte laut und lehnte sich in seinem Stuhl wieder zurück. Auch seine Hand nahm er von Zarras.
»Gib deiner Oma ein wenig Zeit. Denn weißt du: Irgendwann kommt man in ein Alter, in dem man selbständiger wird. Sich selbst kennenlernt und herausfindet, was man möchte.«, berichtete er jetzt etwas ernsthafter. Er sprach langsam und ruhig, während seine Gedanken zu Wüstensand und Rauchschwaden abdrifteten. »Kinder werden erwachsen und für uns alten Leute ist das manchmal ein wenig schwer zu akzeptieren. Denn wenn du eine Person so lange kennst, dann bildest du dir ein, ganz genau zu wissen, wer sie sind, was sie mögen und wie sie agieren.« Er zuckte mit den Schultern. »So lange zumindest, bis du das nicht mehr weißt.« Er grinste. »Und je mehr die Eltern - oder Großeltern - es auch versuchen mögen: Irgendwann wird aus jeder Raupe mal eine... Libelle.« Der Südländer zwinkerte der Weißhaarigen zu. Er kannte sich mit Libellen wirklich nicht sonderlich gut aus, aber er war sich ziemlich sicher, dass keine Raupe zu einer Libelle wurde. Zarras etwas verwirrter Blick und die Tatsache, wie sie verlegen versuchte, sich damit zurückzuhalten, ihn zu korrigieren, bekräftigten diese anfängliche Vermutung nur noch. »Und eine Libelle weiter einzusperren wäre ein Verbrechen, findest du nicht?«
»Ich bin mir sicher, dass deine Oma nur ein bisschen Zeit braucht um sich an die neue Zarra zu gewöhnen.« Er lächelte sie schelmisch an. »Und wenn ich dich bis dahin noch ein paar Mal retten musst, dann ist das eben so. Mir wird's hier sonst doch sowieso zu langweilig.«
Mit diesen Worten schloss der alte Mann seine weise Rede und legte zufrieden die Hände hinter den Kopf.
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Sumpflilie
Gespannt, verwirrt, beklommen und auch ein wenig verwundert lauschte Zarra Griffins Monolog. Sie hätte gern an einigen Stellen Anmerkungen oder Kommentare fallen lassen, aber sie wollte ihn zuerst ausreden lassen. Denn wer wusste schon, was die Zunge für Worte formen würde, ehe man es versuchte? Dass er jedoch ihre Würstchen abgelehnt hatte, bedauerte sie. So sehr sogar, dass sie das erste Nein nicht zu akzeptieren bereit war.
„Ich esse ohnehin kein Fleisch“, versicherte sie dem Hünen und legte ihm ihre Hartwürstchen auf den Teller, „Da, du hast noch gar nicht aufgegessen“, neckte sie ihn und grinste schief.
Er lachte nur, doch für den Augenblick rührte er das erste Zweite Frühstück nicht an.
„Außerdem habe ich schon Zuhause etwas gegessen“, gab sie zu und klopfte sich auf den flachen Bauch, der nicht gerade nach ausreichender Ernährung für eine Siebzehnjährige aussah.
Doch was sollte sie tun? Sie war schon immer spindeldürr gewesen, nicht nur in der Körpermitte. Hals, Arme und Beine passten sich ihrem Rumpf ungefragt an, sodass sich manch einer sicher fragen mochte, ob die kleine Rimbe überhaupt etwas aß.
Doch ehe sie sich weiter mit ihrer Masse beschäftigte, versenkte sie ihren Finger stattdessen in der liebenswerten Wampe des ach so alten Mannes, die erstaunlichen Widerstand für sie bereithielt. Unter dem oberflächlichen Mantel steckten ungeahnte Kräfte. Zarra selbst hatte bereits mit eigenen Augen gesehen, zu was der Hüne in der Lage war und ein wenig beneidete sie ihn um seine Stärke und Bewegungsfreiheit, die er nicht nur im Kampf gegen den Tausendfuß eindrucksvoll gezeigt hatte.
„Ich stimme deiner Weisheit zu, aber nur, wenn du aufhörst dich als alt zu bezeichnen“, ermahnte sie ihn, ehe sie bemerkte, was sie da überhaupt gerade tat.
Schnell zog sie ihren kurzerhand waffenfähigen Finger zurück, verbarg ihn in ihrem Schoß, während ihr die mittlerweile typische Röte ins Gesicht stieg.
„Tut mir leid“, nuschelte sie und griff nach ihrem Becher, um sich einen Moment Zeit zu verschaffen.
„Weißt du“, begann sie, ohne den Blick zu heben, „Ich glaube, dass ich noch nie so viel mit jemandem gesprochen habe, ohne vorher wegzulaufen. Ich…hab mich noch nie so gefühlt, wie jetzt gerade. Wie seit der Wilden Jagd und Beltane. Es hat sich so viel verändert in so kurzer Zeit und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll“, sprach sie sich ihre Sorgen von der Seele.
Wie schon festgestellt, wusste man nie so ganz, was für Worte die eigene Zunge formen würde, wenn man seinen Gedanken freien Lauf ließ.
Geändert von Zarra (05.06.2024 um 21:58 Uhr)
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Es war schön mit anzusehen, wie das junge Mädchen immer mehr aus sich herauskam. Oder vielleicht doch viel eher aus ihrem Kokon krabbelte? Er beobachtete amüsiert, wie sie ihm frech Grinsend in die Wampe piekste, dann aber in gewohnt zarra'scher Art und Weise wieder in sich zusammensank und unverständliche Dinge vor sich hin murmelte.
In solchen Momenten war es dem Braunhaarigen ein inneres Bedürfnis, das Mädchen fest in seine Arme zu schließen, sie zu halten und ihr zu zu flüstern, dass alles in Ordnung war, sie toll war, wie sie war und sie doch bitte aufhören sollte, sich für sich selbst, ihre Worte und ihr Verhalten zu schämen. Er wusste aber, dass das vermutlich nur dazu geführt hätte, dass sie auf der Suche nach einem Loch, in welchem sie vor Scham hätte versinken können, verloren gegangen oder von einem Monster angegriffen oder einer Horde wilder Biester entführt worden wäre.
Stattdessen lehnte er sich also auf dem Tisch nach vorn um zumindest den physischen Abstand zwischen den beiden ein wenig zu verringern.
»Wieso genießt du es nicht einfach?«, fragte er unverblümt.
Zarra war nun wirklich keine Person, die ihr Herz auf der Zunge trug und unterschied sich dahingehend sehr stark von ihm. Umso mehr wollte er das ernst nehmen, was sie ihm in diesen Augenblicken offenbarte.
»Wieso hast du das Gefühl, dass du dich rechtfertigen müsstest für das, was du getan hast, das was du bist und das, was du getan hast?« Er schlug einmal lautstark mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass sich einige der Anwesenden verwirrt zu ihnen umdrehten. Er hielt ihrem Blick stand und nickte ihnen freundlich zu. »Bewahret.«, rief er ihnen grinsend entgegen und wandte sich dann wieder zu Zarra.
»Scheiß auf das, was andere von dir denken und über dich reden.«, ergänzte er schulterzuckend. »Ich bin ein al-« Er räusperte sich verlegen. »Ich bin kein ganz so junger Fettsack, ein alkoholkranker, drogenabhängiger Fremder, der einer Frau hinterhertrauert, die sich für seinen besten Freund entschieden hat.« Er lachte laut. »Die Leute reden sowieso über dich. Über mich. Über uns. Über alle.« Wieder zuckte er teilnahmslos mit den Schultern, beugte sich dann aber nach vorn und nahm vorsichtig ihre Hand in die seine. Er drückte sie aufmunternd ein wenig.
»Wenn du sagst, dass sich viel verändert hat, dann klingt das immer, als sei das etwas Schlechtes. Ich frage dich, Zarra Rimbe, also nochmal: Wieso hast du das Gefühl, dass irgendetwas an dem, wie du bist, nicht vollkommen perfekt wäre?«
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Sumpflilie
Sie war erschrocken zusammengezuckt, als Griffins flache Hand den Tisch traf und ein lautes Klatschen durch die Lilie hallte. All die Aufmerksamkeit war auf ihn gerichtet gewesen, doch er hatte ihr einfach entgegengelacht und sich nicht davon beirren lassen.
„Es einfach…genießen?“, fragte sie verwundert.
Hatte sie jemals etwas einfach nur genossen? Ja, wann immer sie für ihre Großmutter und sich Kräuter sammeln gegangen war. Immer dann, wenn sie einen neuen Käfer entdeckt hatte, den sie noch nicht kannte. Tatsächlich genoss sie es auch bereits bekannten Insekten hinterherzujagen, zu schauen, wohin es die kleinen Kerlchen und Damchen trieb in ihren aufregenden Leben.
Seine Fragen kratzten an der tiefsitzenden Unsicherheit, die sie ihr ganzes Leben lang schon mit sich trug. Warum rechtfertigte sie sich? Weil sie immer schief angeschaut worden war, wenn sie einen Käfer gefangen und ihn stolz präsentiert hatte.
Seine Hand ergriff die ihre und für den Bruchteil eines Wimpernschlages wollte sie sich reflexartig befreien, doch sein ernster Blick, die Schwielen auf seiner Haut und die Erinnerung an Beltane bewahrten sie vor dieser Torheit.
„Veränderung ist nicht grundsätzlich schlecht“, stimmte sie ihm zu und dachte an die Verwandlung von Libellenlarven, die im Wasser aufwuchsen, nur um sich als Libellen in die Lüfte zu schwingen und von dort als überragender Jäger zu herrschen.
Als ihr schließlich bewusstwurde, was für ein Kompliment er ihr mit seinen letzten Worten gemacht hatte, war es vollends um sie geschehen und die Hitze, welche ihre Wangen plötzlich ausstrahlten, verrieten ihr, dass sie einmal mehr so rot war wie die reifsten Wildtomaten.
„Sowas kannst du doch nicht einfach so sagen“, japste sie und versuchte sich irgendwie aus der Situation zu ziehen, doch er ließ sie nicht.
Wieso wollte sie überhaupt ihr Gesicht verbergen? Hatte er nicht Recht damit, dass es sie nicht scheren sollte, was Bierbauch Franzl oder Mama Hooqua von ihr dachte? Doch dann erinnerte sie sich daran, wie freundlich die Mama zu ihr war und sie musste zugeben, dass es eben doch wichtig war, solange das Bild, welches andere von ihr hatten, ein gutes war.
„Ist es falsch zu wollen, dass die anderen einen mögen?“, fragte sie vorsichtig.
Sie wollte seine Worte nicht abweisen, erkannte sie doch die große Freiheit, welche sie versprachen. Dennoch nagte an ihr das Gefühl, dass es eine Gradwanderung war.
„Denn wenn ich perfekt wäre, dann würde mich doch jeder mögen, wie ich bin, oder nicht?“
Sie schaute ihm endlich wieder in die Augen, ein fragender Blick, der begierig auf eine Antwort wartete. Hatte sie sich all die Jahre umsonst verrückt gemacht? Hätte es ihr einfach einerlei sein sollen, wie die anderen Kinder sie ignorierten?
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Griffin hatte ein gleichermaßen empörtes wie herausforderndes "Wieso denn nicht?" auf Zarras Aussage, er könne solche Dinge nicht sagen, gerade schnell genug herunterschlucken können, um dem Rest ihrer Ausführungen - und viel interessanter noch: dem deutlich in ihren Gesichtszügen abzulesenden Gedankenprozess beiwohnen zu dürfen.
»Magst du Pfirsiche?«, fragte der Südländer seine Gegenüber und hob beschwichtigend die Hände, als sie völlig verwirrt dreinblickte. Sie nickte vorsichtig, anscheinend noch ein wenig unsicher darüber, wieso beim Schläfer ihr Gesprächspartner plötzlich von Steinobst anfing.
»Ich für meinen Teil liebe Pfirsiche.«, erläuterte er und ihm wurde bewusst, wie lange er keine mehr gegessen hatte. »Aber es gibt eben Leute, die mögen sie einfach nicht. Das ist so.« Er zuckte mit den Schultern. »Du kannst der süßeste, geschmackvollste und bestaussehende Pfirsich am ganzen Baum sein, du wirst immer jemanden treffen, der einfach keine Pfirsiche mag.«, beendete er schließlich seine Ausführungen mit einer Redewendung aus seiner Heimat.
»Und natürlich ist überhaupt nichts falsch daran gemocht werden zu wollen. Im Gegenteil. Dass du dir Gedanken darüber machst, wie dein Verhalten auf andere wirken könnte und wie sich deren Meinung zu dir ändern könnte ist sogar wichtig.« Er senkte die Stimme und fügte im Flüsterton an: »Jede Gemeinschaft kann eben nur einen Ornlu gebrauchen, der macht was er will, ganz egal was andere denken.«, scherzte er. »Aber dein Wert, weder als Person noch als Mitglied im Waldvolk, bemisst sich nicht daran, wie viele Leute dich mögen.«, schloss er zufrieden und verschränkte die Arme vor der Brust, während er sich gemütlich und zufrieden ob seiner weisen Worte in seinem Stuhl zurücklehnte.
Geändert von Griffin (05.06.2024 um 22:33 Uhr)
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Sumpflilie
„Das…ergibt erstaunlich viel Sinn“, äußerte sich Zarra verwundert über den treffenden Vergleich von Steinobst und dessen Beliebtheitsrate zu der eines Menschen.
Gleichwohl fragte sie sich, wie Griffin darauf gekommen war. Wenn sie so darüber nachdachte, hatte sie schon sehr lange keine Pfirsiche mehr gegessen und dank ihm hatte sie jetzt Lust auf einen. Toll. Plötzlich verfiel sie in ein nasales Glucksen, welches sich aufgrund der Absurdität, in die sich das zuvor ernste Gespräch entwickelt hatte, in ein Lachen wandelte.
Mit dieser Antwort konnte sie sehr gut leben und sie spürte, wie ihre Anspannung ob des heiklen Themas von ihr abfiel. Wie auch immer Griffin es machte, er sorgte einfach jedes Mal dafür, dass sie sich wohl und sicher fühlte.
„Du bist sehr weise, alter Mann“, grinste sie schelmisch und ließ sich noch einmal dazu verleiten, seinen Bauch zu piksen.
Sie schaute ihn aus ihren großen türkisenen Augen an, musterte seine grünlichen, die leichten Lachfalten und durchaus attraktiven Gesichtszüge. Die Erinnerung, wie sie seine Stirn küsste ploppte auf und sie hätte wohl den Blick abgewandt, wenn sie in diesem Moment nicht so glücklich gewesen wäre.
Ihre eigenen Sorgen für den Moment beseitigt mit einer Antwort im Gepäck, welche sie vielleicht langfristig vor der Angst, unangenehm aufzufallen, bewahren würde, dachte sie an eine Aussage, die der Hüne kurz zuvor getroffen hatte. Nicht nur eine, wenn sie es genau betrachtet, denn er hatte Dinge über sich preisgegeben, die sie ihm nicht angesehen hatte. Sumpfkraut war so alltäglich im Waldvolk, dass es sie wunderte, wie sehr Griffin scheinbar darunter gelitten hatte. Dass Alkohol seine eigenen Probleme mit sich brachte, wusste sie bereits. Doch was war das mit der Frau, der er hinterhertrauerte?
Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was das Richtige in dieser Situation aus dem Blickwinkel der anderen Gäste und der Mama war, zog Zarra ihre Hand unter Griffins hervor. Sie spürte die Wärme weichen, die seine Haut auf ihrer hinterlassen hatte. Langsam erhob sie sich von ihrem Stuhl, machte einen Schritt auf ihn zu, während er sie neugierig beobachtete. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals und sie legte ihre Stirn in sein Haar, sog den Geruch ein, der an ihm haftete. Irgendwie animalisch, doch auch nach Schweiß und einer langen Nacht.
„Eine Frau, die sich für jemand anderen als dich entscheidet, hätte dich auch nicht verdient“, flüsterte sie ihm ins Ohr und versuchte ihm Trost zu spenden für etwas, was wohl schon lange zurücklag.
Doch so wie er ihr versuchte zu helfen, wollte sie dasselbe für ihn tun.
„Und wenn ich Pfirsiche finden sollte, bist du der erste, dem ich welche abgebe“, versprach sie mit einem Grinsen in der Stimme.
Geändert von Zarra (05.06.2024 um 22:51 Uhr)
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Festplatz
Ja, er erinnerte sich an Liam und seine Leute. Es war eine Tragödie, was mit seinem Trupp geschehen war, und nach der Jagd hatte Maris ein ernstes Gespräch mit Runa darüber geführt, dass es ihnen mit etwas Pech ganz genauso hätte ergehen lassen können. Hinter den Heldengeschichten von Ereignissen wie der Wilden Jagd standen immer auch Opfer, die ihren Mut und ihre Bereitschaft mit dem Leben bezahlt hatten. Chala und Shakes hatten es irgendwie überlebt - und offensichtlich hatte sich ihr mitten in den Prüfungen des Kampfes auf Leben und Tod ein Geheimnis tief aus ihrem eigenen Inneren offenbart.
"Ich denke, du bist da auf einer guten Spur", sagte er, nachdem er Chalas laut ausgesprochenen Gedanken gelauscht hatte. "Dieses Tagebuch ist ein Glücksfall, habe ich das Gefühl. Vielleicht könnte es ja der Spiegel sein, durch den sich die Chalas auf den Spitzen der Türme indirekt sehen können, wer weiß? Vielleicht solltest du deine Erkenntnisse aufschreiben und aktiv mit den anderen Ichs in Verbindung treten, wenn es sie gibt. Vielleicht können sie andere Teile zu diesem Rätsel beitragen."
Auf ihre Frage, ob sie ebenfalls aufbrechen würden, schüttelte er lächelnd den Kopf.
"Nein, ich habe hier noch Einiges zu erledigen. Runa, würdest du lieber Zarra, Vareesa und mich begleiten, oder mit Chala zusammen nach Hause zurückkehren?"
Runa sah ihn ungläubig an. "Du würdest mich einfach mit ihr mitgehen lassen?"
"Du hast in den letzten Tagen bewiesen, dass ich dir Unrecht tue, wenn ich dich noch wie ein Kind behandle. Du kannst auf dich aufpassen und auch Chala hat sich mein Vertrauen verdient, also liegt die Entscheidung ganz bei dir."
Ihre Augen strahlten vor Begeisterung. Mit einem freudigen Ausdruck im Gesicht spielte sie ihre Optionen durch, bis sie schließlich eine Entscheidung fällte. "Tut mir leid, Chala. Ich werde auch bleiben. Bin zu neugierig darauf, was die drei in den Sümpfen anstellen. Aber wenn du zu Mama gehst, kannst du ihr bitte sagen, dass ich sie, den alten Bücherwurm und die kleine Sumpfnudel lieb hab und dass ich bald wiederkomme?"
Maris lächelte, beließ es aber dabei. Er würde Aniron so wie kurz nach ihrem Aufbruch eine Botschaft über einen tierischen Helfer zukommen lassen und sie vorwarnen. Aber die freundlich angebotene Hilfe wollte er nicht schmälern, indem er das Chala unter die Nase band.
"Vielleicht solltest du unter den Handwerkern und Händlern fragen, ob jemand nach Stewark reist oder eine Lieferung dorthin plant. Du könntest jemanden finden, an den du dich heften kannst, oder etwas dazu verdienen, wenn du auf dem Weg gleich noch etwas mitnimmst. Ob nun Gold, Vertrauen oder einen Gefallen, schaden wird es sicher nicht."
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Festplatz
Chala nickte verstehend. Es war nachvollziehbar, dass Runa lieber bei ihrem Vater blieb und das neugewonnene Vertrauen auskostete, was er ihr scheinbar entgegenbrachte. Gleichwohl hatte sie nicht erwartet, dass Maris sie kurzerhand begleiten würde. Kurz dachte sie über seinen Vorschlag nach, herumzufragen, ob sonst noch jemand in die gleiche Richtung unterwegs war oder sie etwas überbringen könnte und die Reise so zu ihrem Vorteil nutzen konnte. Allerdings trieben die neuen Erkenntnisse sie an, machten sie nervös und entfachten den Wunsch in ihr, schnellstmöglich aufzubrechen. Ein so konkretes Ziel wie im Moment, hatte sie noch nie zuvor vor Augen gehabt.
„Ich denke, dass ich so schnell wie möglich aufbrechen werde“, verriet sie den beiden, „Ich habe das Gefühl, dass ich nicht länger warten sollte und außerdem hilft es sicher, die letzte Nacht aus meinem Körper zu laufen“, meinte sie und zwinkerte Runa dabei zu, deren Augen gleich wieder groß wurden.
Auf der einen Seite so unschuldig, und doch schon so erwachsen, dachte die Aranisaani und lächelte in sich hinein. Sie musste wohl in Runas Alter gewesen sein, als sie die Dolche gestohlen hatte und sich zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich überlegen gefühlt hatte. Sie hingegen war bereits eine gefeierte Kriegerin, die eine Ausgeburt Beliars bezwungen hatte. Ein guter erster Schritt, in ein vielversprechendes Leben.
Den letzten Schluck Wurzelkaffee, der längst kalt geworden war, schmeckte wirklich erbärmlich. Dennoch verschwand er im Mund der Dunkelhäutigen, die ihr Frühstück bereits verzehrt hatte.
„Ich werde bei Mama Hooqua noch etwas Proviant besorgen. Wenn ihr den Hauptmann sehen solltet. Sagt ihm bitte, dass ich dieses Mal wiederkommen werde.“
Mit diesen Worten erhob sie sich schließlich, schwang die Beine über die Bank und machte sich auf den Weg zur Lilie. Eventuell würde sie noch, wie Maris es vorgeschlagen hatte, das heute gehörte und ihre Gedanken dazu aufschreiben. Sie konnte nicht wissen, wann sie wieder die Kontrolle verlor, also wäre es sicher besser vorzusorgen, statt im Nachhinein irgendwann und irgendwo aufzuwachen.
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Nur ganz vorsichtig hoben sich die Mundwinkel des Braunhaarigen, als das junge Mädchen ihn mit den sanften Worten aufzumuntern versuchte. Doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Schwermut ergriff sein Herz und wie so oft spürte er ihre eiskalten, dürren und langen Finger, die sich fest um sein pochendes Herz legten und unerbittlich ihren Griff verstärkten. Er schluckte schwer, aber der gigantische Frosch in seinem Hals weigerte sich, in die gefrorenen Gefilde seiner Brust herabzusinken und verharrte stattdessen unnachgiebig in seinem Hals.
Die Gedanken des Südländers drifteten für einen winzigen Augenblick ab. Und er ließ sie. Er beobachtete sich selbst dabei, wie er sich in eine einfachere Zeit träumte. Eine Zeit, in der er noch Hüter gewesen und sein Name in Silden etwas wert gewesen war. Und viel wichtiger: Zurück an eine Zeit, in der er für sie gekocht hatte. Anfangs noch ganz selten, dann fast jeden Tag hatte er für sie gekocht, hatte gelernt, welche Speisen sie mochte, welche sie nicht mochte. Er lernte ihre Vorlieben für die verschiedensten Gewürze und in welchen Mengen sie welche in ihrem Essen haben wollte. Er erinnerte sich für einen Herzschlag lang an den Brief, den er ihr vor seinem Abschied geschrieben hatte. Und für einen winzig kleinen Augenblick lang erlaubte er sich, sich an den Augenblick zu erinnern, in dem sein Herz ihm in den Magen gerutscht war, als er nach seiner Rückkehr ihr Lächeln an der Seite eines anderen Mannes gesehen hatte. An der Seite seines besten Freundes.
Er räusperte sich halblaut und vertrieb die störenden Gedanken an das War-Einmal.
»Wir müssen aufhören über Pfirsiche zu sprechen, kleine Libelle.«, scherzte er und klopfte ihr sanft auf die Schultern. Es war dieses eine, ganz besondere Klopfen, das gleichzeitig ein tiefempfundenes "Ich danke dir!" zum Ausdruck brachte und deutlich machen konnte, dass was auch immer stattfand, ein Ende finden musste. Das weißhaarige Mädchen verstand und löste ihren Klammergriff um seinen Hals.
»Erstens, weil du deine Würste noch nicht aufgegessen hast« Er zwinkerte ihr zu, während sie wieder Platz nahm und ihm bei der Erwähnung des Frühstücks einen ungeahnt finsteren Blick zuwarf, auf den er nur abwehrend die Hände heben konnte. »und zweitens, weil wir sonst die nächsten Tage auf der Suche nach Argaan auf Pfirsichsuche sein werden, weil ich dann unbedingt welche essen will!« Er zwinkerte ihr zu. »Was hattest du denn heute ursprünglich geplant, bevor ich dich hier mit den Weisheiten alt- ehm... nicht mehr ganz so junger Leute genervt habe?«
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Sumpflilie
„Erstens, du nicht mehr ganz so junger Mann“, erwiderte sie mit finsterem Blick und nachempfundenen Tonfall, mit der er sie bedacht hatte, „liegen die Würstchen ganz offensichtlich auf deinem Teller, also hast du deine Würste noch nicht aufgegessen!“, sie hielt kurz inne, holte für den zweiten Teil Luft, „Und zweitens ist es schon zu spät, und ich hätte jetzt gern einen Pfirsich!“
Ihr missmutiger Blick wich einem Lächeln, wobei sie selbiges in den Augen Griffins vergeblich zu finden versuchte. Seine Mundwinkel waren gehoben und offenbarten zwei kleine Grübchen in seinen Wangen, die ihm ein spitzbübisches Aussehen verliehen, doch die Lachfalten um seine Augen blieben glatt. Sie selbst runzelte ob dieses Details ihre Stirn, war nicht zufrieden damit, dass er offensichtlich nur vorgab glücklich zu sein. Doch ihr fiel in diesem Moment nichts ein, was ihn tatsächlich aufheitern konnte, wenn es ihre ehrliche Anteilnahme an seiner verlorenen Liebe nicht schaffte.
„Lass dir von jemanden, der sehr gut darin ist, nervige Situationen einfach zu umgehen oder gar vor ihnen zu fliehen, gesagt sein, dass ich deinen Weisheiten viel Gutes abgewinnen kann“, stellte sie klar, ehe sie preisgab, was ihr eigentliches Vorhaben an diesem Morgen in der Sumpflilie gewesen war.
„Ich hatte gehofft Enya hier zu finden, die Bardin?“, begann sie und wartete auf ein Nicken Griffins, welches ihr bestätigte, dass er wusste, von wem sie sprach, ehe sie fortfuhr, „Sie kannte meine…Mutter“, kurz stockte Zarra, Gefühle quollen in ihr auf, die ihre Stimme zu ersticken drohten, „Ich habe sie nie kennengelernt, weißt du? Sie starb bei meiner Geburt. Darum verhält sich Oma wohl auch ab und zu wie ein ganzes Ameisenvolk, das seine Brut zu schützen bereit ist. Ich bin alles, was sie von ihrer Tochter noch hat.“
Das Mädchen musste innehalten, gegen die Emotionen ankämpfen, die sich ihrer bemächtigten. Sie wollte keine Tränen mehr vergießen ob der Ungerechtigkeit ohne Eltern aufgewachsen zu sein. Sie hatte ihre Großmutter, die sich all die Jahre so liebevoll um sie gekümmert hatte.
„Kann man jemanden vermissen, den man niemals kennengelernt hat?“, fragte sie Griffin mit feuchten Augen, „Immer wieder habe ich Oma nach Mama gefragt, doch sie brachte es nicht über sich von ihr zu sprechen. Irgendwann habe ich das Fragen gelassen, um ihr nicht mehr weh zu tun. Darum hatte ich gehofft, dass Enya mir etwas erzählen kann. Wie sie war. Wer sie war. Saelind hieß sie.“
Ihre zuvor freudige Stimmung war von der Sehnsucht nach dem Unmöglichen getrübt und sie ärgerte sich, dass sie, statt Griffins Schmerz zu lindern, ihren eigenen offenlegte.
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Ohne ein weiteres Wort zu sagen erhob Griffin sich und umrundete mit einem großen Schritt den kleinen Tisch, an dem die in sich zusammengesunkene Zarra saß und zog sie zu sich heran. Sie schaffte es nicht mal, aufzustehen und umschlang seinen Wanst ohne sich von dem Stuhl zu erheben. Tief vergrub sie ihr Gesicht in seiner schmutzigen Kleidung. Und auch wenn kein Schluchzen zu hören war, spürte Griffin, dass das junge Mädchen gegen die Tränen kämpfte. Stark sein wollte. Ob vor sich selbst, vor ihm oder vor den Fremden in der Lilie, was wusste er nicht. Aber es war unwichtig.
»Es ist in vielerlei Hinsicht ungerecht«, sagte er und wusste selbst noch nicht ganz, wohin der Rest des Satzes gehen sollte, nachdem er ihn angefangen hatte. Er legte die Arme auf die Schultern der jüngsten Rimbe und presste sie fest an sich. Was sagte man schon einer Person, die ganz offenbar so sehr trauerte? Was konnte er schon tun? Gab es überhaupt irgendetwas, dass irgendjemand zu ihr hätte sagen können, um ihren Schmerz zu lindern? So sehr er sich das Gegenteil einredete, aber für Zarra war er ein gänzlich fremder und ebenso fremd war sie ihm. Er wusste nichts über sie oder ihre Familie. Selbst ihre Großmutter kannte er kaum, hatte sie das ein oder andere Mal getroffen und im Laufe der Jahre vielleicht mal eine Handvoll Sätze ausgetauscht.
Und doch empfand er in dem Moment, in dem er das junge Mädchen in seinen Armen hielt und an seinen massigen Körper presste das tiefe, innere Bedürfnis, ihr den Schmerz zu nehmen. Selbst einen winzigen Teil ihrer Trauer hätte er ihr ohne zu zögern abgenommen und alles dafür gegeben. Ein so junges Leben sollte nicht mit einem so großen Schmerz belastet sein.
»du hast nie die Möglichkeit gehabt, eigene Erinnerungen an deine Mutter zu haben und bist jetzt auf das angewiesen, was dir andere zu erzählen bereit sind.«, beendete er schließlich wenig hilfreich den angefangenen Satz und schalt sich in demselben Atemzug selbst, mit dem er den Satz verklingen ließ. Was nutzte es ihr, wenn er das Selbstverständliche aussprach?
Er war enttäuscht von sich selbst und seinen unbeholfenen Umgang mit der Situation, aber in diesem Augenblick gab es wichtigere Dinge als das.
»Willst du Enya suchen?«
Ein unverständliches und kaum hörbares Brummen war zu hören, als Zarra in seine Kleidung sprach.
»Alleine?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Soll ich dich begleiten?«
Sie nickte stumm und schniefte laut.
»Jetzt?«
Sie schüttelte den Kopf.
Vorsichtig zog er seinen Stuhl mit dem Fuß heran und setzte sich langsam direkt neben die Weißhaarige. Sie rutschte kurz auf ihrem Stuhl nach und wanderte dann mit dem in der Kleidung vergrabenen Gesicht von der Plautze über die Brust bis an seine Schulter. Er saß stumm da, hielt das trauernde Mädchen in seinen Armen und ertrug die entstandene Ruhe zwischen den beiden. Statt die satzgroße Stille mit Banalitäten zu füllen legte er ihr sanft die Hand auf den Kopf und streichelte ihr ganz vorsichtig darüber.
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