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Lehrling
Bauernhof nahe Stewark
Thorek saß am Lagerfeuer, umgeben von den anderen Arbeitern des Bauernhofs. Das flackernde Licht der Flammen malte tanzende Schatten auf die Gesichter der Männer, die sich nach einem langen Arbeitstag am Abend versammelt hatten. Der Tag war kühl, und die frische Luft trug den Duft von Holzrauch und gebratenem Fleisch zu ihm herüber.
Er betrachtete die leuchtenden Glutkörner im Feuer und ließ die letzten Wochen Revue passieren. Die harte Arbeit auf dem Feld, das Jagen im Wald und die ruhigen Gespräche mit Gernot und den anderen Bauern waren zu einer Art Ruhepol für ihn geworden. Doch tief in ihm wuchs die Unruhe. Sein ursprüngliches Ziel, sich den Rebellen um König Ethorn anzuschließen, schien ihn nun klarer denn je vor Augen zu stehen. Die Bilder von Stewark, von der Stadt, die sich unter der Herrschaft der Rebellen verändert hatte, begannen, sich mit jeder Stunde, die er auf dem Bauernhof verbracht hatte, zu schärfen.
Thorek wusste, dass der nächste Schritt entscheidend sein würde. Er war nicht länger nur ein Mann, der durch die Lande zog, auf der Suche nach einem Ort, an dem er sich niederlassen konnte. Er war ein ehemaliger Ordenskrieger, dessen Loyalität und Mut auf die Probe gestellt werden sollten. Die Entscheidung, ob er seine Vergangenheit verbergen oder offenbaren sollte, nagte an ihm.
Er schaute zu den anderen Arbeitern, die in angeregten Gesprächen vertieft waren und ab und zu herzhaft lachten. Es war eine einfache, aber zufriedenstellende Gemeinschaft. Die Männer schienen sich um ihn keine Sorgen zu machen, und das war ein Trost, den Thorek nicht leugnen konnte. Aber es war auch eine ständige Erinnerung daran, dass er nicht hier bleiben konnte. Nicht, wenn er seine Pläne verwirklichen wollte.
"Da ist etwas, was dich beschäftigt, Thorek", bemerkte der alte Bauer Wenzel, der sich neben ihn gesetzt hatte und die Intensität in Thoreks Augen bemerkte. "Was liegt dir auf dem Herzen?"
Thorek blickte den alten Mann an und konnte den Drang nicht unterdrücken, seine Sorgen zu teilen. "Ich habe beschlossen, morgen nach Stewark aufzubrechen", begann Thorek, seine Stimme ernst. "Ich habe viel Zeit damit verbracht, über meine Zukunft nachzudenken. Die Stadt hat sich verändert, seit König Ethorn und seine Rebellen die Baronie übernommen haben. Ich will sehen, wie es dort wirklich aussieht und ob ich die Möglichkeit bekomme, mich den Rebellen anzuschließen."
Wenzel nickte verstehend. "Es ist eine große Entscheidung", sagte er. "Stewark ist nicht wie das Leben hier. Es wird Herausforderungen geben, das ist sicher. Aber ich denke, du hast das Zeug dazu, das herauszufinden."
Die anderen Männer lauschten aufmerksam und nickten zustimmend. Thorek spürte eine Mischung aus Nervosität und Entschlossenheit in sich aufsteigen. Die Vorstellung, dass sein nächster Schritt ihn in eine unbekannte Zukunft führen würde, machte ihn sowohl besorgt als auch neugierig. Was würde ihn in Stewark erwarten? Würde er die Gelegenheit bekommen, sich den Rebellen anzuschließen und vielleicht eine Rolle in der neuen Ordnung der Stadt zu spielen? Der Weg vor ihm war ungewiss, aber Thorek wusste, dass er den Mut aufbringen musste, ihn zu gehen. Der Schein des Feuers, der in der Nacht leuchtete, war für ihn nicht nur eine Wärmequelle, sondern auch ein Symbol für die Hoffnung und die Herausforderungen, die vor ihm lagen.
"Ich werde morgen früh aufbrechen", sagte Thorek schließlich und erhob sein Becher. "Auf neue Wege und auf das, was vor uns liegt."
Die Männer stießen an, und Thorek fühlte sich von der Wärme und der Unterstützung seiner einfachen Gefährten getragen. Er wusste, dass sein Weg ihn bald nach Stewark führen würde, aber für jetzt genoss er den Moment und die Gesellschaft, die ihn auf seinen letzten Tagen hier begleitete.
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Lehrling
Bauernhof südlich der 'Gespaltenen Jungfrau', morgens
Das Morgengrauen hatte seinen Namen an diesem Tag wahrlich verdient, denn der Anblick, der sich dem Bauernehepaar und ihren Überraschungsgästen bot, als sie sich endlich aus der Sicherheit des Kellers heraustrauten (verbunden mit etwas schieben und drücken, um Dion wieder durch die enge Luke zu pressen), war tatsächlich grauenhaft.
Das Monster hatte unter den Tieren, die ihm in der Umzäunung des Hofes ausgeliefert gewesen waren, brutal gewütet. Der Gestank von Blut und Eingeweiden lag schwer in der Luft, dicke schwarze Fliegen ließen sich träge brummend bereits auf den zerfetzten Körperteilen der Opfer des nächtlichen Massakers nieder.
Dion wanderte wie in Trance über den Hof und rief seine Ziegen bei ihren Namen. Timo, sonst so dickköpfig und eigenwillig, wich ihm nicht von der Seite.
Nicht alle Ziegen hatten die Nacht überlebt – aber zum Glück hatten sich einige doch noch in Sicherheit bringen können. Rosi fand er im Schweinegehege, wo sie sich zwischen zwei unglaublich massiven Schweinen versteckte, die das Monster erstaunlicherweise übersehen haben musste. Die Schweine waren jedenfalls unversehrt und grunzten sich gegenseitig an. Man hätte fast glauben können, sie würden eine philosophische Diskussion über ein Napf voll Hafer führen, das eines von ihnen für sich zu beanspruchen schien. In Dions Kopf setzte sich fast automatisch der Dialog zusammen: ‚Bruder, kann ich etwas Hafer haben?‘ …
Er schüttelte den Kopf. Seltsame Gedanken hatte man als Zombie!
Die dicke Gabi hatte sich zwischen einigen Sträuchern verkrochen und war schon wieder dabei, ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen, als Dion sie fand – fressen. Es stimmte Dion froh, dass Gabi die Nacht überstanden hatte, hatten sie doch so viel gemeinsam!
Peter und Paul, in ihrer typischen Selbstüberschätzung, hatten es irgendwie geschafft, auf einen Stapel Kisten zu klettern und trauten sich jetzt nicht mehr herunter, bis Dion ihnen eine Treppe aus Kisten, Fässern und Säcken gebaut hatte.
Die hochnäsige Dörte kam irgendwann einfach auf den Hof spaziert, als gehöre er ihr. Wo sie sich in der Nacht verkrochen hatte, blieb ein Rätsel, aber nicht einmal ein Stäubchen trübte ihr glattes, glänzenden Fell. Wie machte sie das immer nur? Dion hätte einiges darum gegeben, etwas über Dörtes Fellpflegeroutine zu erfahren – sein eigenes Haar war viel zu oft zugleich fettig und splissig, kein schöner Anblick … Andererseits, von einem Zombie wurde ja ohnehin nicht erwartet, dass er gut frisiert war, also gehörte wenigstens dieses Problem jetzt der Vergangenheit an!
Die kuschelweiche Molli schließlich, deren Locken sie fast wie ein Schaf aussehen ließen, entdeckte er in einer Ecke der Scheune, wo sie sich in einem Strohhaufen verkrochen hatte. Sie schaffte es, ihm einen gehörigen Schrecken einzujagen, als sie auf ihn zugelaufen kam, denn mit all dem Stroh, das in ihrem Fell hing, sah es aus, als hätte ein Strohballen plötzlich Beine bekommen.
Nachdem Dion, Corsika und die Bauern die verbliebenen Tiere wieder zusammengesammelt und zunächst sicher in der Scheune untergebracht hatten (bis auf Timo, der sich noch immer strikt weigerte, Dion von der Seite zu weichen), versammelten sie sich wieder im Wohnhaus. Die Stimmung war, wie nicht anders zu erwarten, gedrückt. Alfons war noch immer nicht zu sich gekommen. Die Bäuerin hatte ihn ins Bett gelegt und wachte nun an seiner Seite, die Hand ihres Sohnes zwischen den eigenen haltend.
„Wie geht es ihm?“, fragte Dion, gefolgt von einem Zombie-Stöhnen, das er beinahe vergessen hätte.
„Unser armer Alfons …“, schluchzte die Bäuerin.
„Sieht man das nicht?“, raunzte der Bauer, „Die scheiß Magie hat ihm sein Hirn zerfickt!“
„Alois!“
„‘tschuldigung. Aber ist doch wahr! Der kleine grüne Hurensohn hat ihm offensichtlich so dermaßen in die Hirnwindungen geschissen, dass er jetzt einfach nicht mehr aufwachen will!“
„Alois!“
„‘tschuldigung. Wenn ich dieses dreckige kleine Ungeziefer von Goblin erwische, ich ramm‘ ihm seinen kack Zauberstab ungespitzt hinten rein und lass ihn dran zappeln, bis er erstickt! Darauf kannst du aber einen lassen!“
„Alois!“
„‘tschuldigung…“
„Sag mir lieber, wie wir unseren Jungen wieder aufwecken können! Oder muss er jetzt für immer so bleiben?“ Die Bäuerin schniefte.
„Vielleicht können die Magier …“, schlug Dion zögerlich vor, aber der Bauer – Alois – fuhr sofort dazwischen:
„Die Magier? Sag mal Junge, hast du sie noch alle? Die Magier!“ Er spuckte das Wort regelrecht aus und zog dabei ein Gesicht, als ob er in die sauerste Zitrone der Welt gebissen hätte. „Die sind doch dafür verantwortlich, dass so eine Scheiße überhaupt erst passiert! Magie und der ganze Dreck! Das ist doch nicht mehr natürlich! Am Ende pumpen die ihn noch mit ihrer Alchemie-Scheiße voll und programmieren sein Hirn um, so dass sie ihn aus der Ferne kontrollieren können! Sowas machen die nämlich, darauf kannst du einen lassen, Junge! Unter meiner Mütze trage ich extra antimagische Metallfolie, und wenn Alfons auf mich gehört und seine Mütze getragen hätte, dann hätten die ihn mit ihrer Zauberstrahlung auch nicht erwischen können! Die machen das nämlich, um…“
„Alois!“, fiel ihm die Bäuerin ins Wort, „Bitte, jetzt keine Vorträge über Echsenmenschen!“
Alois verschränkte die kräftigen Arme vor der Brust und zog schmollend die Mundwinkel nach unten.
„Es gibt eine Kräuterfrau bei den Sumpfleuten. Die da um diesen großen Baum leben“, fuhr er ruhiger fort, „Vielleicht weiß die Rat? Zumindest arbeiten sie dort mit natürlichen Methoden. Ganzheitlich. Ohne Alchemie!“
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»Wie heißt das Zeug?«, fragte Vicious und nahm einen weiteren Schluck des Getränks, das Erika ihr angeboten hatte.
»Limonade, meine Liebe.«, antwortete die übergewichtige Frau. »Ich habe die Zitronen selbst im Garten angebaut. Torsten und Torben freuen sich jedes Mal darauf, wenn sie zu mir kommen. 'Hast du noch Limonade, Omi? Und Kuchen!' Ha! Diese Bengel.«
Kaum hatte die Kopfgeldjägerin den Becher abgestellt, hatte Erika bereits den Krug in der Hand und goss nach. Es lag auf der Hand, weshalb die beiden Knaben so gerne hierher kamen. Und das, obwohl sie sich mitten im Nirgendwo befanden.
»Ein Getränk für Krieger.«, lobte die Fremdländerin. »Auch wenn manche behaupten, das wäre Pflaumensaft.«
»Davon muss ich ständig aufs Klo.«
»Meine Rede.«
Vicious zuckte mit den Schultern. Das Kalb von einem Hund hatte sie inzwischen als festen Bestandteil der Einrichtung akzeptiert und lag sabbernd auf ihrem Stiefel. Vielleicht war es auch perfides Kalkül, um die Kopfgeldjägerin bewegungsunfähig zu machen. Denn Vicious merkte, wie ihr Fuß langsam einschlief.
»Wie ist das also mit dem Wolf?«, fragte die Marmo schließlich. Erika seufzte und setze sich an den Tisch.
»Du willst es wirklich wissen, was? Also gut. Ich bin früher mit den Tieren oft rüber ins Bluttal gezogen. Ganz früher machte das noch mein Mann sogar. Es gibt da jede Menge für die Viecher zu fressen. Außerdem ist Bewegung gut für die Bande. Lange Zeit musste man sich da keine Gedanken machen. Besonders als die Waldläufer da kampierten. Die haben für Ordnung gesorgt. Leider sind sie vor einiger Zeit ab in den Süden gezogen. Seitdem ist das Bluttal nicht mehr so sicher. Wirklich schade.«
»Was hat das mit dem Wolf zu tun?«
»Dazu komm ich jetzt. Vor einer Weile, ich weiß nicht wann genau, bin ich wieder da gewesen. Die Herde fraß sich durchs Gebüsch, alles wie immer.«
Erika hatte die Hände gefaltet. Die Daumen rieben nervös aufeinander.
»Also. Ich hab lautes Blöcken gehört. Als ich hinlief, kamen mir schon die meisten der Tiere entgegen gestürmt.«
»Hattest du den Hund nicht dabei?«
»Doch, doch, Benno war dabei. Er knurrte und seine Nackenhaare hatten sich aufgestellt. Da wurde mir schon mulmig. Benno hat keine Manschetten, Wölfe und Beißer und sogar Snapper zu verjagen. Das war aber anders. Er war, ich weiß nicht, irgendwie vorsichtig.«
Vicious blickte zum dicken Köter herab. Er war ein Riesenvieh und der erste Eindruck, den sie von Benno hatte, ließ keinen Zweifel daran, dass er ein guter Hütehund war.
»Als ich dann bei der Stelle war, sah ich überall abgerissene Ziegenbeine, Fetzen von Wolle, und Blut. Überall Blut. Es war schrecklich. Ich schlachte ja selbst, aber das war was anderes. Das schlimmste war, als ich dann in die Ferne guckte. Am Waldrand. Da stand der Wolf. Viel zu groß, die Beine viel zu lang. Im Maul hatte er ein Schaf. Das schlurrte er nicht über die Erde. Er trug es im Maul, als wäre es nur ein kleines Lämmchen. Aber das wars nicht. Und dann der Blick.«
Für einen Moment hielt Erika inne und knetete ihre Hände.
»Er hat zu mir rüber geguckt. Er wusste, dass ich da war. Sein Blick war... fast menschlich.«
Wieder pausierte die alte Frau. Vicious nahm indes einen weiteren Schluck Limonade. Bisher hörte es sich alles nach einer sehr blümeranten Geschichte an. Es war kein Wunder, dass die beiden Enkel das gerne hörten.
»Und dann?«
»Dann verschwand er im Dickicht. Ich bin seitdem nicht mehr im Bluttal gewesen. Vier Tiere hat er gerissen. Eine Ziege und drei Schafe. Hab es nur rausgefunden, weil ich die Herde zuhause gezählt habe. Außer ein paar Resten war da nämlich nichts zu finden.«
»Muss so was nicht die Miliz übernehmen?«
»Die Miliz? Soweit draußen doch nicht. Und im Bluttal schon gar nicht.«
»Wie viel zahlst du, damit ich das Ding erledige?«
Erika blickte Vicious schräg an.
»Mach dich nicht unglücklich, Mädchen.«
Vicious erwiderte den schrägen Blick. Sie konnte sich nicht daran erinnern, das letzte Mal Mädchen genannt worden zu sein.
»Ich meine es ernst. Ich gebe dir sogar Rabatt für die Limonade.«
»Du bist wohl ein guter Kämpfer, hm? Ich kann dir aber nicht viel geben. Hundert Goldstücke, wenn überhaupt.«
»Und das Rezept. Für die Limonade.«
»Na gut. Das kann ich entbehren. Aber ich sag dir, sei bloß vorsichtig. Das ist kein gewöhnlicher Wolf!«
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Lehrling
Sieben von Corsikas Gänsen hatten das Massaker der Nacht überlebt oder waren zumindest nicht abgehauen. Auch wenn die fahrende Händlerin sich wünschte, dass die nun fehlenden vier Gänse irgendwo draußen in der Wildnis ihr Glück fanden, wusste sie, dass diese Vorstellung ein reiner Wunschtraum war. Ihre Gänse waren einander sehr treu, es kam fast nie vor, dass sich ein einzelnes Tier absetzte, außerdem waren ihre Flugfähigkeiten beschränkt, da sie lange Zeit im Käfig verbracht hatten. Andererseits hatte sie auf dem Hof mehrere Spuren ausgerissener und teilweise blutiger Gänsefedern gefunden. Geduldig sammelte sie alle ein und steckte sie mit dem Stiel in eine Stelle hinterm Stall mit weicher Erde. Dabei formten die Federn ein Kreis, in dessen Mitte Corsika ein paar kleine Steine aufeinanderschichtete. Kein sonderlich aufwändiges Grab, aber mehr, als das durchschnittliche Federvieh in der Regel bekam.
Für Corsika war die Fehde mit dem verfluchten Goblin und seinem überdimensionalen Haustier dadurch eine persönliche Angelegenheit geworden. Sie fand es außerordentlich beeindruckend, wie es diesem wesentlich kleineren Wesen gelungen war, einem so großen, verfressenen Geschöpf den eigenen Willen aufzuzwingen. Wenn ihr so etwas ähnliches gelang, könnte auch sie in dieser lebensfeindlichen Umgebung bestehen.
Ihr Blick wanderte zu Dion, der auf einem Fass saß und sich in der Nase bohrte. Vielleicht war ihr etwas ähnliches wie dem Goblin-Schamanen bereits gelungen, doch leider hatte sie mit ihrem persönlichen Diener eher eine Niete gezogen. Na, zumindest musste sie nicht fürchten, dass er sie anknabberte.
„Dion“, rief sie und pfiff ihn zu sich heran. Sogleich verfiel er wieder in seine eingebildete Zombie-Persona und stöhnte ihr gequält entgegen.
„Ich habe mich entschieden. Wir marschieren in den Sumpf und suchen diese Kräuterfrau auf. Das sind wir unseren Gastgebern schuldig, nach all dem Ärger. Du trägst den Jungen. Mit deiner untoten Stärke sollte das doch kein Problem sein, nicht wahr?“
„Muss das s… ich meine natürlich huarrgh!“
Dion schlurfte ins Haus, um Alfons zu holen. Corsika wandte sich derweil an dessen Vater.
„Wir sorgen dafür, dass Euer Sohn geheilt wird. Ihr müsst uns aber einen Karren und etwas Proviant für den Weg mitgeben.“
„Ich habe eine bessere Idee“, sagte der und rieb sich die Finger. „Ich werde Euch begleiten. Meine Frau, die geht mir mit ihrem Gejammer ohnehin auf den Kranz.“
„Ach.“
„Ich spüre seit geraumer Zeit ganz negative Schwingungen bei ihr. Und die ständigen Widerworte. Das hält doch keiner aus.“
„Nun …“
„Außerdem kennt Ihr den Weg in den Sumpf nicht. Ihr würdet vermutlich vom Pfad abkommen und zu Moorleichen werden.“
„Und Ihr kennt den Weg?“, fragte Corsika.
„Ich kenne einen Trick.“
Er eilte in die Scheune und kehrte mit zwei gebogenen, metallischen Stäben wieder, die er von sich streckte. Damit lief er auf Corsika zu, bis er etwa fünf Schritt vor ihr stoppte. Da bewegten sich die Spitzen der Metallstangen auseinander.
„Was ist das?“, wollte Corsika wissen.
„Eine Wünschelrute zur Erkennung des biodynamischen Feldes. Damit lotse ich uns sicher durch den Sumpf, ganz ohne diese verkackte Magie.“
„ALOIS!“, tönte es aus dem Haus.
Der Angesprochene verdrehte nur die Augen.
„‘tschuldigung. Also, wollen wir?“
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Lehrling
„… und eigentlich ist diese ganze Welt eine Strafkolonie der Aldebaraner“, erklärte Alois, „Und wir hier, ich meine unsere Körper, sind tatsächlich nur sowas wie Gefängnisse!“
„Mhm“, machte Corsika.
„Hrrrrngg…“, stöhnte Dion.
„Ohne Scheiß! Muss man wissen! Wissen aber die Wenigsten! Die Sache ist, eure Persönlichkeit, also die, die ihr denkt, dass ihr seid, die seid ihr überhaupt nich‘! In Wirklichkeit seid ihr nämlich Aldebaraner! Ich auch! Also, die Seele! Nicht der Körper, natürlich. Echte aldebaraner Körper sehen ganz anders aus. Die haben so Dinger … na, wie sagt man … ektoplasmatische Papillarkoronalen! Und sowas haben wir ja ganz offensichtlich nicht, eh?“
„Ne“, pflichtete Corsika bei.
„Nnnggg?“, japste Dion.
„Klar! Also, wie gesacht, dieser Planet ist ein Strafplanet, und die haben unsere echten Seelen sozusagen bewusstlos gemacht und in diese Körper gestopft, damit wa ja nicht aufmucken! Aber wenn man in sich selbst hineinhört und Meditation macht und so, dann kann man sich an sein eigentlichen Ich erinnern! Aber das wollen die natürlich nich, dass man sich erinnert! Klar, ne? Deswechen wollen die auch in deinen Kopp! Aber nich mit mir, nee du, nich mit mir! Die Arschkrampen bleiben schön draußen aus meiner Rübe!“ Alois tippte sich mit dem Finger gegen seinen Spezial-Hut aus antimagischer Folie.
„Jup“, sagte Corsika.
„Ufffff…“, ächzte Dion. Zombiestärke hin oder her, Alfons wurde langsam ziemlich schwer!
„Und die Echsenmenschen, die sind nicht vom Aldebaran, aber die gehören trotzdem dazu. Sind sozusagen die Wärter, die die angeheuert haben, damit se hier alles verwalten und überwachen. Die verstecken sich halt auch in so normalen Körpern, nur manchmal, da kommse raus, um irgendwen so richtig herzuficken, wenn einer aufmucken will. Setarrif, hab ich gehört, da sind se gewesen, als die Stadt zerlegt wurde. Angeblich von nem Drachen, aber den Blödsinn glaubt jawohl niemand! Drachen, pff! Was kommt als nächstes, der Weihnachtsmann? Da kann ich ja nur lachen! Reine Gehirnwäsche! Ne, da haben die Echsenmenschen aufgeräumt, das haben die, und alles von Denen Da Oben organisiert! Wo die genau sitzen, weiß keiner. Nichtmal aufm Aldebaran wisse se das. Wir leben nämlich in einem Makro-Multiversum und einem Makro-Mikroversum, ne? Fadentheroie, ist das, moderne Fisik! Und da haben die die Möglichkeit, zu reisen zwischen den einzelnen Stationen mit Implosionstechnologie! Da muss man die Corioliskraft anzapfen entsprechend einem Implosionsstrudel, das ist eine logarithmische Spirale raum-zeitlich betrachtet nach innen! Da staunt ihr, was? Muss man wissen!“
„…“, kommentierte Corsika.
„Uuuugh … ich … brauch ne Pause!“, lamentierte Dion und legte Alfons vorsichtig im hohen Gras neben dem Weg ab, bevor er sich selbst schwer atmend auf den Boden plumpsen ließ. Wie lange schleppte er den Jungen jetzt schon herum? Ein paar Stunden auf jeden Fall! Sie waren am Morgen aufgebrochen, und inzwischen hatte die Sonne den Zenit überschritten.
„Gabi, hör auf!“ Dion versuchte halbherzig, die Ziege wegzuschieben, die ihm über die verschwitzte Stirn lecken wollte, aber Gabi war hartnäckig, und so gab er bald auf und ließ sie gewähren. „Wie weit ist es denn noch?“
„Wir dürften den Orkwald heute Nachmittag erreichen“, erklärte Alois, „Dann ist es noch etwa ein Tagesmarsch durch den Wald, um zum Sumpf zu kommen.“
Dion blinzelte. „Äh … Orkwald? Wieso heißt der Orkwald?“
„Was denkst du denn, Junge? Hör mal auf, deinen Kopp nur als Hutständer zu verwenden! Weils da scheiß Orks gibt, natürlich!“
„WAS? Aber wie kommen wir dann lebend, oder … äh … untot da durch?“
Alois lächelte selbstzufrieden. „Lass mich nur machen! Die Orks sind natürlich auch Teil der Verschwörung, und damit gibt es auch Mittel und Wege, wenn man die kennt, dann ist man sicher! Und wie der Zufall so will, habt ihr mit mir einen Experten an eurer Seite…“
„Oh, bei Innos!“, stöhnte Dion. Konnte ein Untoter Angst um sein Leben haben? Ja, konnte er!
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Lehrling
Orkwald
Corsikas Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie über die neuste Station auf ihrer illustren Reise in Kenntnis gesetzt wurde. Ein Orkwald! Welcher Mensch mit gesundem Geistesverstand marschierte freiwillig mit einer Schar Gänse und Ziegen durch einen Wald, in dem diese wilden, blutrünstigen Bestien hausten? Das waren die einstigen Usurpatoren des Kontinents! So eine Information ist sogar bis zu ihrer entlegenen Heimatinsel im Östlichen Archipel vorgedrungen. Selbst hatte sie nie einen Ork zu Gesicht bekommen, aber in ihrer Vorstellung waren es riesige Wildschweine, die auf zwei Beinen liefen und klobige Fleischerbeile zu schwingen vermochten. Jedenfalls keine nette Begegnung auf einem sonntäglichen Waldspaziergang. Oder welcher Tag auch immer war.
Bei dem Gedanken daran wurde ihr auch klar, woher die Bestie mit großer Wahrscheinlichkeit stammte, die der niederträchtige Goblin-Schamane auf sie losgehetzt hatte. Gewiss war es ein Ork, der unter einem Zauberbann stand, vielleicht war er von seiner Horde verstoßen worden und dann in die Fänge des gerissenen Goblins geraten. Wie auch immer es sich zugetragen haben mochte, Corsika empfand ihr Leben plötzlich doch wieder als wertvoller als das des ohnmächtigen Jungen und blieb stehen.
„Ohne mich.“
Für einen Augenblick schlich sich ein Funke der Erleichterung auf Dions vor Anstrengung purpurrot verfärbte Speckbacken.
„Von Orks war nie die Rede. Ich riskiere doch mein Leben nicht für diesen kleinen Beliarbraten.“
„Huah huah“, stimmte ihr Dion hastig nickend zu.
Alois fuhr sich entgeistert durch das strohige Haar, sodass auch sein präparierter Hut herunterfiel.
„Vertraut ihr mir etwa nicht? Nach allem, was ich euch anvertraut habe?“ Er hob seine Kopfbedeckung auf und platzierte sie wieder vorsichtig auf seiner sich ausdehnenden Halbglatze. „Ich habe euch in den Club der Eingeweihten aufgenommen und so dankt ihr mir das? Sogar du, der unseren ganzen Braten verschlungen hat?!“
Der verurteilende Finger des Bauern war direkt auf Dions schuldbewusstes Gesicht gerichtet.
„Jetzt bloß nicht schwach werden“, flüsterte Corsika, doch davon schien das Dickerchen gar keine Notiz zu nehmen.
„Untote haben keine eigene Meinung“, brabbelte er schließlich ausweichend. Corsika verdrehte die Augen, aber Alois schien ein einfaches „Nein“ nicht zu verstehen.
„Euch werden eure Vorbehalte gleich mächtig peinlich sein, wenn ihr seht, mit was ich ausgestattet bin!“
Der Bauer begann in der Innentasche seines Mantels zu wühlen, während Corsika und Dion ratlose Blicke austauschten. Was er dann hervorholte, war ein handtellergroßer, cremeweißer Block, der ein überraschend angenehmes Aroma verströmte.
"Dieses Wunder der Natur vertreibt Orks auf dreihundert Schritt Entfernung!" Er wandte sich mit einem vielsagenden Blick an Dion. "Und noch dazu macht es die Damen ganz wuschig."
"Das ist Kernseife", stellte Corsika nüchtern fest. "Wäre gut, wenn ihr beide sie auch mal verwenden würdet."
"Siehst du? Sie wirkt schon", meinte Alois triumphierend. "Ich bin damit schon ein Dutzend Male durch den Wald gegangen und habe höchstens mal ein anerkennendes Pfeifen eines Orkweibchens zu hören bekommen. Die Monster halten respektvollen Abstand, sie hassen Sauberkeit. Das funktioniert garantiert, sonst Geld zurück. Hat mir mein Händler des Vertrauens jedenfalls erzählt und der muss wissen, wovon er redet, der ist schon fast siebzig und lebt immer noch."
Corsika seufzte. Wie man es auch drehte und wendete, ihre Situation war verfahren. Konnte man Alois überhaupt glauben, dass es in diesem Wald Orks gab? Wahrscheinlich waren die doch auch nur ein weiteres Hirngespinst dieses Irren. Und der Weg zurück war auch nicht sicherer, immerhin spazierte dort noch ein echtes Monster durch die Landschaft. Zwei Schritt vor, einer zurück? Nein, das war nicht ihre Lebensweise. Lieber drei Schritt vor und einmal stolpern, sich aufrappeln und weiter. Sie hatte eigentlich nichts zu verlieren.
„Na schön, du gehst voraus, Alois, aber wir halten uns am Waldrand und bewegen uns schnell, damit wir vor Sonnenuntergang auf der anderen Seite sind.“ Dann bemerkte sie Dions wehleidigen Blick, der sich nicht schon wieder in Bewegung setzen wollte. „Na los, Zombies kennen keinen Schmerz.“
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Waldstück nahe Thorniara
Die Gruppe verließ die Stadt durch das große Westtor, und mit jedem Schritt entfernten sie sich weiter vom geschäftigen Treiben der Straßen Thorniaras. Die Morgensonne stand noch tief am Himmel, als sie den gepflasterten Weg hinter sich ließen und auf einen schmaleren, von Bäumen gesäumten Pfad abbogen. Es dauerte eine Weile, bis sie den Rand des Waldes erreichten, dessen hohe, dichte Baumkronen kaum Licht durchließen. Die feuchte, erdige Luft umhüllte sie, und das Rascheln der Blätter unter ihren Schritten wurde zum einzigen Geräusch in der Stille des Morgens.
Ordenskrieger Calis hielt inne und musterte die Umgebung, während die Novizen sich umsahen. "Denkt daran, bleibt immer in Sichtweite!" ermahnte er sie noch einmal streng. Die Novizen nickten und begannen, die Gegend nach den Dunkelpilzen abzusuchen. Dunkelpilze wuchsen vor allem in Höhlen, wuchsen allerdings auch an besonders schattigen Stellen im Wald.
Thelyron kniete sich zu einer Gruppe von Farnen, die sich zwischen zwei moosbedeckten Felsen ausgebreitet hatten. Er betrachtete die Pflanzen genau, nahm ein Blatt zwischen seine Finger und fühlte die glatte Oberfläche. "Keine Dunkelpilze." murmelte er, während er weiterging. Sein Blick wanderte weiter, auf der Suche nach den charakteristischen dunkelgrauen Hüten der Pilze.
Lucan war auf der anderen Seite des kleinen Hangs beschäftigt und inspizierte eine Ansammlung von Pilzen, die an der Basis eines alten, knorrigen Baumes wuchsen. "Schau dir die hier an!" rief er den anderen zu, "Hmm ne! Die sehen fast aus wie Dunkelpilze, aber die Lamellen sind zu hell." Er beugte sich näher heran, schnupperte und schüttelte dann den Kopf. "Falsche Sorte - schade!" Er ließ die Pilze unberührt und wanderte weiter.
Emir stand in der Nähe einer Felswand und begutachtete die schattigen Risse im Gestein, wo kleinere Pflanzen wuchsen. "Nichts Besonderes hier..." stellte er fest, während er vorsichtig einen Finger über die feuchten Moose und Flechten gleiten ließ. "Es ist noch zu früh, um irgendetwas zu pflücken." fügte er hinzu und ging weiter, die Augen immer auf die schattigsten Ecken gerichtet.
Die Gruppe blieb in Sichtweite von Ordenskrieger Calis, der die Umgebung mit einem wachsamen Auge überprüfte. Seine Hand ruhte locker auf dem Griff seines Schwertes, während er aufmerksam jedem Geräusch im Wald lauschte. Immer wieder schauten die Novizen zu ihm hinüber, um sicherzustellen, dass sie nicht zu weit voneinander entfernt waren.
Je tiefer sie in den Wald vordrangen, desto dichter wurde das Blätterdach über ihnen, und die Schatten wurden länger. "Hier könnten wir mehr Glück haben." sagte Thelyron leise, als er auf eine Stelle zeigte, wo die Bäume besonders eng beieinander standen und kaum Licht den Waldboden erreichte. Die Suche ging weiter, doch noch hatten sie keine Dunkelpilze gefunden.
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Lehrling
Im Orkwald
Ausnahmsweise war Dion einmal froh, sein sterbliches Leben bereits hinter sich gelassen zu haben und nur noch eine emotionslose untote Hülle zu sein, denn andernfalls hätte er sich in diesem Wald wahrscheinlich so sehr gegruselt, dass er bei jedem Blätterrascheln und jedem Vogelruf frische Unterhosen benötigt hätte.
Der schmale Pfad, den Alois sie entlangführte, wand sich zwischen uralten, knorrigen Bäumen hindurch. Kaum ein Lichtstrahl drang durch das schwarze Blätterdach, die Luft roch schwer nach feuchter Erde, Moder und Pilzen. Obwohl sie sich mitten in einem lebenden Wald befanden, wirkte die Umgebung tot – es gab kaum Unterholz, Sträucher oder Gräser. Die Bäume, die kaum Sonnenlicht hindurch ließen, erstickten jede Nahrungskonkurrenz am Boden. Nur Pilze und einige wenige, besonders anspruchslose Farne konnten in dem dauerhaften Halbschatten gedeihen.
Die Stämme der Bäume waren krumm und verwachsen, ihre Rinden von tiefen Furchen durchzogen, und mehr als einmal kam es Dion so vor, als könnte er uralte Gesichter in den Stämmen entdecken. Niedrig hängendes, totes Geäst war über und über bedeckt mit Moosen und Flechten, die aussahen wie graues Greisenhaar. Wurzeln krochen über den Boden wie armdicke Schlangen und schienen es darauf anzulegen, unvorsichtige Wanderer zu Fall zu bringen. Was mochte passieren, wenn man in diesem Wald stürzte? Ob die Wurzeln dann anfingen, sich zu bewegen, den Gestürzten umschlangen und ins Erdreich zogen, auf Nimmerwiedersehen?
Dion war noch nie ein großer Freund von tiefen Wäldern gewesen. Er bevorzugte die offenen Wiesen und Weiden. Viel zu leicht konnte man im Wald verschwinden, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen. Der Wald war ein Organismus, und ein gefräßiger noch dazu. Er war wild und ungezähmt. Der Mensch hatte keine Macht über den Wald. Wer den Wald betrat, der gab sein Schicksal in die Hände des Waldes …
Ein Schauer lief Dion über den Rücken, während er solchen Gedanken nachhing, und er musste sich immer wieder daran erinnern, dass er als Zombie ja gar nicht in der Lage war, wirkliche Angst zu empfinden – sonst hätte er sich längst geweigert, auch nur einen weiteren Schritt in den gruseligen Wald zu setzen. Fast wünschte er sich, sie würden tatsächlich Orks begegnen, denn das waren ja auch irgendwie intelligente Lebewesen, zwar nicht so intelligent wie Menschen, natürlich, aber sie hatten eine Art von Zivilisation, was bedeutete, sie waren nicht der Wald …
Plötzlich blieb Alois stehen, sah sich um und kratzte sich am Hinterkopf.
„Was ist?“, wollte Corsika wissen. Der Bauer zuckte mit den Schultern.
„Ich glaub, die haben hier was verändert“, murmelte er und deutete auf einen Baum vor ihnen, dessen Stamm so dick war, dass sie ihn höchstens zu dritt vielleicht umfassen könnten, aber auch das nur knapp. „Der Baum da war beim letzten Mal noch nicht da!“, behauptete er.
„Aber das kann nicht sein!“, ächzte Dion und nutzte die kurze Verschnaufpause, um den noch immer regungslosen Alfons zumindest für einen Moment abzusetzen. Wieso hatte er als Zombie eigentlich Muskelkater? „So ein dicker Baum wächst doch nicht über Nacht!“
„Ahaha!“ Alois lachte auf und schlug sich auf den Oberschenkel, als hätte Dion gerade einen besonders guten Witz gemacht. „Mein Junge, du hast ja keine Ahnung, wozu die im Stande sind! Die wollen uns offenbar verwirren! Wahrscheinlich, weil sie uns mit ihren kack Orks nichts mehr anhaben können!“ Nicht ohne Stolz hielt der das Stück Kernseife in die Höhe, das er die ganze Zeit über in der Hand trug. „Aber da haben die sich geschnitten, das sag ich euch! Corsika, es ist Zeit, die Rute auszupacken!“
Die junge Frau verzog im ersten Moment angeekelt das Gesicht und machte einen Schritt rückwärts, als Alois sich an die Hose griff, aber der Bauer zog nur den seltsamen Y-förmigen Stab aus seinem Gürtel, den er ihnen vor Betreten des Waldes gezeigt hatte: „Damit finden wir Wasser. Und wo wollen wir hin? Zum Sumpf! Was gibt es im Sumpf? Genau, Wasser! Wir sind also auf der sicheren Seite – keine Orks, kein Verlaufen! Hehe, da müssen die schon früher aufstehen!“
Geändert von Dion (03.10.2024 um 17:20 Uhr)
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Lehrling
Caarelia schreckte leicht hoch, als der Fremde sprach. Und dann hielt es nicht mehr aus. Mit einem Ruck schlug sie die Plane weg und sog mit einem lauten japsenden Geräusch ihre Lungen mit der frischen Luft ein. Es fühlte sich an, als würde sie wieder zum Leben erweckt werden. Ganz im Gegenteil zu dem Kerl neben ihr. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie lange er schon das zeitliche gesegnet hatte. Dem Geruch nach zu urteilen mindestens einen Monat! Wenn nicht sogar zwei!
Obwohl sie dem Fremden (sie meinte den Namen „Henderson“ bei einem Gespräch rausgehört zu haben) sehr dankbar war, dass er sie nicht an die Wachen ausgeliefert hatte, fragte sie sich, wie weit seine Großzügigkeit gehen würde. Und vor allem, welchen Preis sie wohl haben würde.
Sie hatte schon überlegt, einfach von dem Karren zu flüchten, nachdem sie das Westtor passiert hatten, doch ihrem Fluchtplan standen zwei Hindernisse entgegen.
Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Waren sie bereits weit genug aus der Stadt? Oder wäre sie beim Abspringen vom Karren vielleicht noch der einen oder anderen patrouillierenden Stadtwache in die Arme gelaufen?
Sie war sich ganz gewiss: sie hätte sich auf die Geräusche der Umgebung konzentrieren können, wenn nicht ein unfassbar grausam stinkender Leichnam neben ihr gelegen hätte! Ein Glück hatte sie das Luftanhalten üben können, als ihre Brüder sich damals einen Spaß daraus gemacht hatten, ihren Kopf nach Belieben in den nahegelegenen Fluss neben ihrem Haus zu drücken. Doch, da sie ab und zu nun Mal Luft holen musste, blieb ihr der Gestank des Toten nicht erspart.
Das zweite Hindernis war (mal wieder) Lord Streifenwind. Er war während der Fahrt aus ihrer Tunika gekrochen und lief irgendwo im Karren herum. Sie war so erleichtert, dass er die Fahrt über keine Geräusche von sich gegeben hatte, dass sie schon fast den Göttern dafür gedankt hätte! Aber nur fast.
Obwohl das kleine Streifenhörnchen ihr mehr Ärger einbrachte, als dass es ihr nützlich war, wollte sie sich unter keinen Umständen davon trennen.
Es wäre unmöglich gewesen, unter der Plane nach Lord Streifenwind zu suchen. Nicht nur, weil Caarelia den Toten neben sich unter keinen Umständen zu Nahe treten wollte (dass sich ihre Nasenspitzen schon fast berührte, reichte ihr vollkommen), sondern weil auch das Rascheln und Bewegen der Plane jeden wachsamen Soldaten auf sie aufmerksam gemacht hätte. Doch, wo war das Hörnchen nun?
Caarelia warf einen Blick über den Toten und fand ihr Streifenhörnchen neben dem Teller abgestandener Grütze, die Henderson zum Leichnam gelegt hatte. Bei dem Gedanken, dass er tatsächlich vorhatte, das noch zu essen, kam ihr die Galle hoch.
So, als ob Lord Streifenwind die suchenden Augen der Diebin auf sich spürte, drehte er sich schwungvoll mit dicken Wangen zu ihr um, wobei noch ein bisschen Grütze an seinem Mundwinkel herablief.
Was auch sonst, dachte Caarelia mit einem Seufzen und betrachtete den halb geleerten Teller. Das mit dem Teilen hat sich schon mal erledigt…
Die Diebin drehte sich Henderson um, der sie mit seinem Löffel in der Hand erwartungsvoll ansah. Sie rückte ein bisschen zur Seite, damit sie das Streifenhörnchen mit den prallen Wangen voll Grütze vor dem ihr Fremden verdeckte.
„Nun ja… die Wachen haben mich mit einer flüchtigen Diebin verwechselt! Sie wollten mir nicht glauben, dass ich unschuldig bin, also haben sie mich durch die Stadt gejagt“, log Caarelia mit gespielter verzweifelter Miene.
„Und danke, dass du mich nicht verraten hast“, murmelte die Diebin kleinlaut und versuchte die wärmende Röte in ihren Wangen zu verdrängen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann ihr jemand das letzte Mal aus einer brenzligen Situation helfen musste. Caarelia wollte gerade wieder zum Reden ansetzen, als Lord Streifenwind mit seinen dicken Wangen, die fast zu platzen drohten, auf ihre Schulter kletterte.
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Lehrling
Südlich von Thorniara - märchenhaft
Hendersons für gewöhnlich schläfrige Augen öffneten sich für einen Augenblick so weit, als wäre er gerade Zeuge eines wahrhaftigen Wunders geworden. Zunächst fürchtete er, dabei handelte es sich um das Wunder der Totenauferstehung – eine der berüchtigtsten Gaben der Diener Beliars. In seinem Beruf als Abdecker hatte er schon unzählige Gerüchte und Geschichten gehört, von Toten oder Totgeglaubten, die plötzlich wieder ihren Gräbern entstiegen und die Lebenden heimsuchten. In den allermeisten Fällen handelte es sich aber entweder um hungrige Tiere oder gierige Grabräuber. Einmal hatte sein Bruder Anderson erwähnt, dass er beinahe jemanden begraben hätte, der nur viel zu tief ins Glas geschaut hatte. Als derjenige plötzlich eine Schaufelladung voll Erde im Gesicht hatte, war er plötzlich hellwach gewesen. Dennoch war Henderson kein Tor, er wusste, dass auf jede zehnte gespenstische Gruselgeschichte auch eine kam, die der Wahrheit entsprach. Untote existierten und die heiligen Paladine waren diejenigen, die sie in ihre Gräber zurückführten. Sie machten Hendersons Arbeit wirklich um einiges sicherer, auch wenn er persönlich noch nie einen dieser geweihten Krieger kennengelernt hatte. Vielleicht war das auch besser so.
Das Wunder, welchem er hier allerdings beiwohnte, war fast noch wundersamer als die Auferstehung des toten Henning. Unter der Plane seines Karrens krabbelte nämlich plötzlich eine junge Frau hervor. Das war ja fast wie im Märchen! Einen tierischen Begleiter hatte sie auch an ihrer Seite, ein Streifenhörnchen. Ja, diese Frau war eine Märchenprinzessin. Aber er hatte noch nie von einem Märchen gehört, in dem ein Abdecker zum Prinzen wird und ehrlich gesagt hatte er auch nicht die Motivation dafür. Ein Held zu sein, das war ein gefährliches Leben. Er war schon dreiunddreißig, ein Alter, das die wenigsten Möchtegernhelden erreichten. Nein, nach ihrem Prinzen würde die junge Frau anderswo suchen müssen.
„Das ist ja eine fürchterliche Verwechslung“, murmelte Henderson, als sie ihn darüber aufklärte, dass die Stadtwache sie völlig zu Unrecht verfolgt hatte. Sowas geschah immer wieder und es war wirklich eine Tragödie, denn jetzt würde sie erst einmal ein paar Tage Gras über die Sache wachsen lassen müssen, bis sie sich wieder an den Stadttoren blicken lassen konnte. Wenn sie Glück hatte, gab es noch keinen Steckbrief von ihr.
„Das tut mir vom Herzen leid. Meine Großmutter hat immer gesagt, dass alles aus einem Grund geschieht. Vielleicht wollten die Götter ja, dass ich Euch aus der Stadt geleite. Mein Name ist übrigens Henderson.“
„Caarelia“, stellte sie sich vor, wenngleich sich bei der Erwähnung der Götter ein Runzeln auf ihrer Stirn abzeichnete. „Und das ist Lord Streifenwind!“
Henderson führte die behandschuhte Hand etwas näher an das Streifenhörnchen. Es schnüffelte kurz und schien nicht gerade schüchtern zu sein. Sie hatte dieses wilde Tier wahrlich gut konditioniert. Doch es hatte sich auch bereits über Hendersons Grütze hergemacht. Mit einer kleinen Träne in den Augen blickte er den Rosinen hinterher.
„Lord Streifenwind und Lady Caarelia“, sagte er und schenkte den beiden ein warmes Lächeln. „Ihr seid herzlich eingeladen, mich zu begleiten, bis Gras über die Sache in der Stadt gewachsen ist. Meine Behausung liegt am Rand des Bluttals, nicht weit von hier. Die Hütte ist schlicht, aber immerhin hättet Ihr ein Dach über den Kopf. Ihr müsstet mir aber einen Gefallen tun.“
Er deutete auf seinen Karren.
„Wie Ihr seht, muss ich noch einen alten Kameraden zu Grabe tragen. Keine Sorge, das kann ich allein machen, aber Ihr könntet mir in der Zwischenzeit bei etwas anderem helfen. Hier in der Gegend gibt es einige wilde Obstbäume. Sammelt mir einen Sack voll Äpfel und ich lasse Euch bei mir nächtigen. Aber passt auf, dass Ihr den Bauern nicht versehentlich die Ernte von den Plantagen mopst. Zum Sonnenuntergang kann ich Euch dort vorn an der Weggabelung abholen. Was sagt Ihr dazu?“
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Lehrling
„Nun gut, Henderson. Ich hole die Äpfel“, willigte Caarelia ein und nahm den Beutel an sich, den Henderson ihr reichte. Sie blickte noch einmal in sein zufriedenes Lächeln, ehe sie vom Karren hüpfte und mit Lord Streifenwind von dannen zog.
Die junge Diebin mochte zwar gesagt haben, dass sie die Äpfel holt. Aber, dass sie sich dann an der Weggabelung treffen würden, hatte sie absichtlich nicht erwähnt. Es mochte zwar sein, dass sie sich vermutlich eine Weile nicht mehr in Thorniara blicken lassen konnte, doch sie würde ganz gewiss nicht noch weitere Hilfe eines Fremden annehmen und sich keinesfalls auf sein Angebot einlassen! Obwohl sie bei seiner Bemerkung unweigerlich schmunzeln musste.
Lady Caarelia klang wie Musik in ihren Ohren! Daran könnte sie sich gewöhnen. Augenblick schüttelte die junge Diebin den Kopf und schüttelte somit auch das Grinsen aus ihrem Gesicht.
Ich schaffe das auch alleine, dachte sich die junge Frau während Lord Streifenwind es sich auf ihrer Schulter gemütlich machte.
Äpfel sind ja schon mal ein guter Anfang, dachte Caarelia sich und betrachtete den Beutel, den Henderson ihr mitgegeben hatte. Die junge Diebin spürte einen seichten Stich in ihrem Herzen. Schließlich hatte er ihr den Beutel nur mitgegeben, weil er dachte, dass er auch etwas von den Äpfeln abbekommen würde…
Caarelia haute sich zwei Mal gegen den Kopf.
Schluss damit!, dachte sich die Diebin, während Lord Streifenwind, erschrocken von den Schlägen, über Caarelias Rücken auf ihre andere Schulter flüchtete.
Du hast schon andere Fremde über’s Ohr gehauen. Stell dich nicht so an, versuchte die Diebin sich einzureden, bis sie schließlich bei einem der besagten wilden Apfelbäume ankam.
Und auf der anderen Seite hat dir noch nie ein Fremder ein Dach über dem Kopf geboten, meldete sich Caarelias verkümmertes Gewissen.
Die Diebin seufzte ausgiebig, während Lord Streifenwind sich auf ihrer Schulter klein machte und sich auf einen Sprung vorbereitete. Mit einem Mal stieß er sich von der Diebin mit aller Kraft ab, nur, um den Ast des Baums mit seinen kleinen Pfötchen zu streifen und schließlich auf den Boden in das weiche Gras zu plumpsen.
Caarelia seufzte beherzt und hob das Hörnchen auf.
„Versuch aber dieses Mal nicht wieder den Apfel in einem Happen zu essen“, bat die Diebin ihren Begleiter, der nur noch Augen für einen der saftigen Äpfel vor sich hatte. Caarelia platzierte Lord Streifenwind auf einem der Äste, während sie sich auf der anderen Seite des Baumes zu schaffen machte und einen Apfel nach dem anderen pflückte.
Was hätte Henderson davon ihr zu helfen? Welchen Hintergedanken hatte er? Oder gab es vielleicht keinen? Bei der letzten Frage blickte Caarelia in den Himmel. Dieser Gedanke ist neu.
Jemand wie er, der einfach so herrenloses Geld einem Tempel spenden wollte (Caarelia weinte innerlich und malte sich aus, was sie alles mit dem Geld hätte anstellen können), konnte doch kein so übler Kerl sein, oder?
Die Diebin warf einen sehnsüchtigen Blick in Richtung Thorniara. Hätte doch nur ein gewisser jemand sie nicht auffliegen lassen. Sie warf einen Blick auf ihr Streifenhörnchen, das sie mit prallen Wangen schief ansah.
Immer rund und immer hungrig, dachte die Diebin sich mit einem Lächeln im Gesicht und begab sich in die entgegengesetzte Richtung der Weggabelung, an der Henderson sie später treffen wollte. Sie würde ihn morgen schon wieder vergessen haben und mit ihrem Leben einfach so weiter machen wie bisher.
Sie war ein paar Schritte gelaufen, als sie ein vertrautes Quieken hörte.
„Na los, komm mit“, versuchte die Diebin ihren Gefährten zu motivieren, welcher aber nur an Ort und Stelle im Apfelbaum sitzen blieb. Caarelia rollte genervt mit den Augen.
„Wir schaffen das schon! Was sind schon zwei oder drei Tage in der Wildnis?“, fragte die Diebin, während Lord Streifenwind nur den Kopf schief legte. „Wir haben schon ganz andere Sachen überstanden, da werden wir das auch überleben.“
Lord Streifenwind blinzelte zwei Mal.
„Ja, ja, du hast ja recht“, gestand Caarelia seufzend ein und warf noch einen letzten Blick in Richtung Thorniara. „Er hat uns nicht nur aus der Stadt geholfen, sondern uns auch noch eine Unterkunft angeboten… und verlangt dafür noch nicht einmal etwas nennenswertes!“ Caarelia warf einen Blick über die Wiesen und genoss den Wind, der ihr sanft über das Gesicht strich.
Lord Streifenwind fuhr sich mit seinen kleinen Pfötchen über seine winzige Nase und die Diebin seufzte resigniert.
„Na schön. Aber wir bleiben nur drei Tage! Allerhöchstens!“, bestimmte die junge Frau, woraufhin Lord Streifenwind zufrieden weiter an seinem Apfel knabberte. Caarelia schüttelte nur den Kopf, bis ein Schatten auf den Wiesen vor ihr ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Überrascht rieb sie sich die Augen, doch im nächsten Moment war der Schatten auch schon wieder verschwunden.
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Lehrling
Rand des Bluttals - fruchtbarer Boden
Noch etwa zwanzig Minuten marschierte Henderson mit einem rumpelnden Karren und einem rumpelnden Magen einen am Waldrand verlaufenden, immer schmaler werdenden Trampelpfad entlang, zu dessen Entstehen er selbst maßgeblich beigetragen hatte. Der Transport des Toten fiel ihm jetzt etwas leichter, immerhin karrte er keine junge Frau und ihr Streifenhörnchen mehr durch die Gegend, doch die schnell wieder eingekehrte Ruhe war auch etwas erdrückend. Er fragte sich, ob er Caarelia wohl noch einmal wiedersehen würde oder ob er jetzt einfach nur um einen leeren Lederbeutel ärmer war. Er hoffte es sehr, doch seine Menschenkenntnis war nicht die Beste. Hoffnungsvoll optimistisch wurde er schon oft genannt und dabei ausgelacht. Er lachte dann immer mit, denn er gab sich damit zufrieden, dass, wenn andere Leute auf seine Kosten ihren Spaß hatten, er irgendwie auch zum Frieden in der Welt beigetragen hatte. Immerhin gab es dann keinen Streit, keine Schlägereien, keine Toten.
Dennoch, den eigenen Seelenfrieden fand er fast ausschließlich dann, wenn er allein war. Wenn er nicht verurteilt wurde, für das, was er war oder seine kleinen Macken, die ihn für andere Menschen etwas merkwürdig erscheinen ließen.
„Aber die wissen gar nicht, was ihnen entgeht, nicht wahr, alter Freund?“
Er zog die Plane vom Karren und betrachtete den toten Henning von oben bis unten. Würdevoll sah er ja nicht gerade aus, aber das würde die Maden und Käfer nicht davon abhalten, ihm bald innige Gesellschaft zu leisten.
„Schau nur, ich habe zwar keinen Ahornbaum für dich, aber zumindest scheint die Sonne hier auf dein Grab. Ich werde dich nicht zu tief einbuddeln, dann wird dir tagsüber nicht ganz so kalt werden, was sagst du dazu?“
Henderson nahm seinen Spaten zur Hand, den er immer an einer seitlichen Halterung des Karrens befestigt hatte. Dann begann er zügig mit dem Ausheben eines flachen Grabes. Er kannte die Gegend hier ziemlich gut, hatte schon etliche Tierkadaver hier verbuddelt. Der Boden war relativ locker, es gab ein wenig Sonne und die Lage war ideal zwischen der Stadt Thorniara, dem Jägerlager im tieferen Bluttal und seiner eigenen Hütte. Außerdem wuchsen hier ein paar hübsche Blumen. Angeblich sollen die Toten einen ziemlich guten Dünger abgeben. Ein natürliches Geben und Nehmen.
Er wuchtete den alten Henning in sein Grab und legte ihm eine gelbe Blüte der Flammenbeere auf die Brust. Dann deckte er ihn mit Erde, erst seine Beine, dann den Torso und zuletzt das Gesicht. Kurz bevor er fertig war, musste Henderson schmunzeln.
„Vielleicht war es ja deine Bestimmung, den Löffel abzugeben, damit ich eine neue Bekanntschaft mache. Die Kleine wirkt nett, findest du nicht auch? Tut mir natürlich leid, dass es auf dein Kosten ging.“
…
„Ja, das ist eine gute Idee. Ich werde ihr auch ein paar Blumen mitbringen.“
…
„Jetzt reicht es aber. Sie viel zu jung für mich, du Lustmolch! Und sie hat ganz sicher etwas Besseres verdient.“
Die letzte Schippe warf Henderson dem Toten geradezu enthusiastisch ins Gesicht und klopfte noch mal gründlich mit dem Spaten nach, damit es die wilden Tiere nicht ganz so leicht mit ihm hatten.
„Innos möge dir deine Ferkeleien austreiben, was andere zu Lebzeiten nicht geschafft haben.“
Damit war auch sein Gebet gesprochen. Nicht gerade andächtig, aber Henning hatte auch wirklich ein fauliges Mundwerk riskiert.
Dann sammelte Henderson einen kleinen Strauß verschiedener Blumen und legte ihn auf seinen Karren. Irgendjemand würde sich schon darüber freuen. Sei es Caarelia, sein Lehrling Hempel oder einfach nur er selbst. Es sprach nichts dagegen, sich auch als Mann über einen schönen Blumenstrauß zu freuen. Den Rückweg zur Kreuzung beging er jedenfalls mit ungeahnter Leichtigkeit und pfiff dabei in krummen Tönen ein Lied aus Kindertagen.
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Lehrling
Irgendwo an der Westküste, Stewarker Baronie
Der ehemalige Schiffbrüchige ging langsam über den knirschenden Sand an der Westküste Argaans, Meilen von der Stadt Stewark entfernt, deren Lichter im Dunkel zu sehen waren. Ein vorüber gegangener Regenschauer sowie die Gischt der unruhigen See hatten ihn durchnässt, so sehr, dass selbst der Mantel – ein Geschenk der Feshyrer Fischer – nicht mehr half. Alsbald waren der Saum als auch die Stiefel mit Sand verklebt, während der Mann einen Schritt nach dem anderen machte und sich dabei auf die Krücke stützte, die ihm Alma – die Heilerin von Feshyr – mit gebieterischer Stimme verordnet hatte.
Verständlich, denn sie hatte die letzten Monate damit verbracht, ihn vor dem Tod zu bewahren und am Leben zu behalten. Da hatte sie ein gutes Recht, ihm solche Vorschriften zu machen. Mit warmem Lächeln hatte er ihre letzten Ratschläge und Verordnungen aufgenommen, die lederne Umhängetasche gepackt, in der etwas Medizin und Proviant wasserfest verstaut war, und dann mit ehrlicher Dankbarkeit ihre Arbeit gewürdigt. Alma hatte nur geschnaubt, sich etwas Staub aus dem Augenwinkel gewischt und ihn dann zum Fischer Ergol gescheucht, der ihn nach Argaan gesegelt hatte.
Nun ging der Mann langsam zu der Kate, auf die Ergol gezeigt und die er ihm beschrieben hatte. Aufgrund der Konkurrenz zwischen Stewarker Fischern und ihren Rivalen von Feshyr, hatten die Inselbewohner angefangen, an manch einer eher ruhigen Bucht der Westküste von Argaan Unterschlupfe anzulegen, wenn die Tage auf See zu lang und der Weg zurück nach Feshyr zu weit waren. Spartanisch eingerichtet, aber dennoch das Wichtigste beinhaltend: Eine Feuerstelle und trocken gelagertes Holz. Als der Mann den grobledernen Vorhang beiseiteschob, fand er ein trockenes, staubiges Örtchen vor, das ihn erst einmal husten ließ. Dann nahm er die Einrichtung der Kate in sich auf. Utensilien zum Flicken von Netzen und Segeln, ein paar Ruder, an einer Wand eine sauber aufgeschichtete Reihe Holz und eine Grube in der Mitte der Kate, über der eine Öffnung in der Decke war, die so konstruiert war, dass sie den Rauch herausließ, dieser sich aber verteilte. Außerdem schützte ein gespanntes Stück Leder, das etwas über der Öffnung gespannt war, vor dem Regen.
Der junge Mann seufzte, fast fühlte er sich heimisch. In seiner Heimat, in Nordmar, wo er groß geworden war, hatten sie bei Jagdausflügen auch in ähnlichen Hütten geschlafen. Mal besser, mal schlechter eingerichtet. Er trat auf die Krücke gestützt ein, richtete den ledernen Vorhang und zog den Mantel aus, legte die Umhängetasche beiseite. Dabei spürte er das Ziehen im Rücken, wenn er sich über ein gewisses Maß hinaus bückte, die Schmerzen in den Gliedmaßen. Ein altes Lied summend, das seine Mutter ihm vorgesungen hatte, als er noch klein war, entzündete er ein kleines Feuer. Wärmend, aber nicht Gefahr laufend, die ganze Kate in Brand zu setzen.
Als alles in warmen, orangeroten Lichtschein getaucht war, breitete der Mann umständlich den Umhang auf dem Boden aus, setzte sich und legte die Krücke beiseite. Während er ein kleines Abendmahl zu sich nahm – von dem Jungspund, der früher gerne Met getrunken und geschlemmt hatte, war nicht mehr viel übrig -, dachte er über die Windungen nach, die das Schicksal in seinem Falle genommen hatte.
„Ja, Necomar“, sprach er leise zu sich selbst, „Dein Überleben verdankst du weder Innos, dessen Sonne auf dich scheint, noch Beliar, dessen Nacht dich umhüllt. Adanos, Gott des Gleichgewichts, hat dich in seinen Fluten überleben lassen.“
Ein Beobachter hätte gesehen, dass in den Augen des Mannes namens Necomar ein Funke des Glaubens zu sehen war. Früher hatte er, wie jeder junge Mensch, nur an sich selbst geglaubt. Grenzen des Möglichen waren eine Unmöglichkeit gewesen. Nachdem ihr Langboot aber versenkt worden war, nachdem … Necomar blickte auf seine Hände, die verständlicherweise zitterten. Das Seltsame war jedoch, dass es nicht die Schreie der Sterbenden, die blutgetränkten Äxte, die orkischen Fratzen waren, die ihn verfolgten, sondern die fast anderweltliche Ruhe und Stille, die ihn umhüllt hatte, als er ins nächtliche Meer gestürzt war, als er einige Fuß tief gesunken war. Die Geräusche von oberhalb hatten schnell abgenommen und dann war da nur noch … Schwärze gewesen. Unendlich, undurchdringlich, unheimlich.
Natürlich kannte Necomar die Geschichten der Götter. Adanos‘ Flut, die er im Zorn – eine Regung, die er den Priestern nach so gut wie nie verspürt – über die Schöpfungen seiner Brüder gebracht hatte … der junge Mann hatte sie stets als Allegorie oder mystischen Mantel für ein wahres Geschehnis verstanden. Aber als er so herabgesunken war, erst strampelnd, dann so ruhig wie im Angesicht eines jagenden Schattenläufers, da hatte er erkannt, dass dieser Zorn immer da war. Tief unter der Meeresoberfläche, so tief, das Adanos selten daran denkt.
Beliars Nachthimmel, Innos‘ Sonne? Fern, eine Frage von Dunkelheit und Licht. Aber Adanos‘ Macht, seine Schöpfungen, seine Elemente, waren da. Existierten.
„Demut hat mich das gelehrt“, flüsterte Necomar, „Angst macht es mir. Aber nur, weil ich es nicht verstehe.“
Er beugte sich über die Umhängetasche, kramte eine Karte aus Ziegenleder hervor. Sie zeigte die Insel Argaan. Einen Ort – Stewark – hatte ihm Ergol mit einem Kohlestift markiert.
„Da wirst du die finden, die du suchst“, hatte der Fischer erklärt und auf den Punkt gedeutet, „Einen Tempel Adanos‘, seine Diener.“
Der Mann hatte einen Moment gestockt, dann leicht gelächelt. „Ich bin da gewesen, vor Monden, als sie diesen Tempel eingeweiht haben … Necomar, ich sag’s dir … das ist ein Wunder. Anders kann man es nicht beschreiben. Als Fischer glaube ich so oder so an Adanos, aber in dem Moment“ – erneut hatte er gestockt – „hat mein Glaube an Kraft gewonnen.“
Ein Anblick, den Necomar auch in sich aufnehmen wollte. Er war gespannt, ja fast aufgeregt, eine Regung, die er seit seinem Überleben gar nicht mehr so kannte. Er lächelte. Vielleicht würde Stewark sein sicherer Hafen werden, der Tempel Adanos‘ ein Platz, an dem er seiner neuen Gottheit huldigen konnte.
Dem Gott, der Frieden und Zorn vereint und in Waage hält. Der Licht und Dunkelheit in Einklang existieren lässt.
„Adanos, mein Herr …“, begann der junge Mann, schloss die Augen und betete.
Geändert von Necomar (11.10.2024 um 04:38 Uhr)
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Lehrling
„So, das sollte jetzt reichen“, schnaufte Caarelia und packte den letzten Apfel in den Lederbeutel. Sie hatte keine Ahnung, was Henderson mit den Äpfeln vorhatte, doch sie war sich sicher, dass er mindestens zwei Monate davon essen konnte! So schien es ihr jedenfalls, als sie den prall gefüllten Beutel betrachtete, den sie nur mit Mühe und Not zusammenknoten konnte. Caarelia lächelte, als sie einen kleinen Windhauch spürte, der ihren Hals streifte.
Lord Streifenwind lag mit geschlossenen Augen seelenruhig eingerollt auf der Schulter der Diebin und schnaufte vor sich hin. Er hatte schließlich zweieinhalb Äpfel gegessen und nutzte die Zeit nun für ein kleines Schläfchen. Caarelia war jedes Mal wieder darüber erstaunt, wie viel Essen in so einen kleinen Magen passte.
Mit einem Ruck (darauf bedacht, sich nicht allzu viel zu bewegen um Lord Streifenwind nicht zu wecken) hob die junge Diebin den Beutel voll Äpfel hoch und lief mit gemischten Gefühlen im Bauch auf die Weggabelung zu, an der Henderson sie abholen wollte.
Mit jedem Schritt, schoss Caarelia ein anderer Gedanke durch den Kopf. War das wirklich eine gute Idee? Würde Henderson überhaupt auftauchen? Sollte sie nicht doch lieber die paar Tage versuchen alleine klar zu kommen?
Die Diebin schüttelte den Kopf. Sie hatte mit Lord Streifenwind bereits besprochen, dass sie mit Henderson mitgehen würden. Sich nun doch umzuentscheiden, während ihr treuer Gefährte schlief, kam ihr selbst für ihre Verhältnisse recht schäbig vor.
Und noch ehe sie es sich versah, hatten ihre Füße sie bereits zu der Weggabelung getragen.
Caarelia ließ ihren Blick durch die Gegend wandern. Sie hatte schon ganz vergessen, wie ruhig die Welt außerhalb der Tore Thorniaras sein konnte. Und vor allem, wie sauber sie riechen konnte!
Die Diebin wollte Ausschau nach Henderson halten, als ihr etwas auf den Wiesen ins Auge fiel. Ein Teil des saftigen grünen Grases färbte sich dunkel. Caarelia rieb sich die Augen, doch der Schatten blieb weiterhin bestehen. Ungläubig sah sie dabei zu, wie das Dunkle immer größer wurde und sich sogar zu bewegen schien.
Nicht hier auch, dachte die Diebin mit wild klopfendem Herzen und ging einen Schritt zurück. So, als ob der Schatten ihre Gedanken gehört hatte, waberte er sich immer weiter vor zu ihr. Über das Gras, einen Felsen und schließlich über den Trampelpfad.
Augenblicklich ließ Caarelia den Beutel mit den gesammelten Äpfeln los und hechtete zu dem Baum, der hinter ihr stand. Mit aller Kraft sprang sie hoch und krallte sich im alten Holz des Baumstammes fest. Die Diebin zog sich mit einem Ruck hoch und setzte sich auf einen Ast, der so aussah, als könnte er ihr Gewicht aushalten. Noch einmal warf Caarelia einen Blick auf den Schatten hinab, der unten auf dem Boden auf sie lauerte.
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Lehrling
Irgendwo an der Westküste, Stewarker Baronie
Am nächsten Morgen und mit wesentlich besseren, wetterlichen Bedingungen, räumte Necomar die Unterkunft der Feshyrer Fischer und hinterließ sie so, wie er sie vorgefunden hatte. Auf die Krücke gestützt, humpelte er ins Freie, zog den schweren Vorhang zu, schloss die Tür und hängte das mit grünen und braunen Stoffblättern bedeckte Gestell vor, welches zwar auf die Entfernung gar nicht natürlich wirkte, im Verbund mit der übrigen Flora in größerem Abstand so gut wie gar nicht auffiel.
Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass Hass oder Feindseligkeiten zwischen den beiden Fischergruppen bestand, aber ein wenig Vorsicht und Heimlichtuerei unter Freunden war auch nichts, was schaden konnte. Zumindest in der Hinsicht verstand der junge Mann seine Retter. In den Mantel gehüllt, mit trockener Kleidung dank des nächtlichen Feuers und einem von einem kleinen Morgenmahl besänftigten Magen, bewegte sich Necomar vorsichtig ins Innere der Insel, grün bewachsene Hänge hinauf, auf denen Laub lag, braun und orange und gelb, ein deutliches Zeichen für den Herbst, in dem die Welt sich befand. In Nordmar, seiner „Heimat“, würde jetzt schon kalter Wind toben, Schnee fallen und je weiter nördlich man käme, ein Klima fast wie in der Tundra herrschen. Die letzten Jagden würden abgehalten, um die Vorratslager zu füllen. Denn im tiefsten Winter, das weiß jeder Jäger, geht man nicht auf die Jagd. Zu gefährlich sind dann die großen Rudel der Eiswölfe, die Schattenläufer, Trolle und Eisbären. Und weit, weit im Norden bei den Gebirgen, die Menschen- und Orklande trennten, würde man sogar noch gefährlichere Wesen treffen.
Necomar erinnerte sich daran, wie er aus der Ferne mit seinem Mentor auf das Gebirgsmassiv gestarrt hatte, dass unter dem Schein von grünen Nordlichtern fast lebendig gewirkt hatte, seine Form stets und ständig verändernd.
Dort lauert der Tod, hatte er nur gesagt, die Heimat der Orks, Junge. Angeblich liegt ihr Land in den Wintermonaten fast durchgehend in der Dunkelheit, als würde ihr Gott einen Schleier über sie legen. Nur die Ahnen wissen, was sie da treiben. Aber es kann nichts Gutes sein.
Sein Mentor war ein erfahrener, ein versierter Orkjäger gewesen. Necomar räusperte sich, als er an den gespaltenen Schädel dachte, das Blut, das über Gesicht und Bart sprudelte, ehe ihn ein Tritt in die Wellen schickte.
Alsbald erreichte Necomar einen befestigten Weg, der Karrenspuren zeigte. Schwer beladene Wagen mussten hier regelmäßig unterwegs sein. Er sah sich um. Wald, Lichtungen, in einiger Entfernung eine weitere, offene Ebene, die zu Steilküsten hinführte. Eine kleine Bergregion. Eberstein, so hieß die Spitze, die sich aus dem Grün der Wälder erhob. Als musste Stewark – Necomar drehte sich humpelnd um, sah den Weg entlang – dort liegt. Am Ende dieser Straße.
Der Mann setzte sich in Bewegung, verzog immer wieder das Gesicht, wenn Schmerzen seine Glieder durchzuckten. Er würde damit leben müssen, das hatte Alma ihm betrübt mitgeteilt. Einer der großen Magier, die die Heilmagie beherrschten, hätten ihn wesentlich besser zusammenflicken können, aber sie war am Ende des Tages nur in der ‚normalen‘ Heilkunst bewandert.
Aber es lehrt mich Demut. Achtung. Vor dem Leben, vor dem Tod. Eine Lektion, die ich gelernt habe. Ich könnte wehklagen, ich könnte den Kopf in den Sand stecken. Könnte fluchen und toben. Aber das eine wie das andere hat keinen Sinn.
Necomar sah es als eine Prüfung. Was brachte es ihm, die Orks für das zu hassen, was passiert war? Oder die Menschen, die ihn überredet hatten, mit auf Fahrt zu gehen?
Am Ende musste er damit leben. Und das würde er.
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Lehrling
Rand des Bluttals - bei Sonnenuntergang
Das Lied auf Hendersons Lippen endete jäh, als er die Weggabelung erreichte - den Treffpunkt, den er mit Caarelia abgemacht hatte. Sie war nicht gekommen. Seine Mundwinkel fielen leicht nach unten, aber noch war es zu früh, um Trübsal zu blasen. Vielleicht war sie einfach noch nicht fertig mit dem Apfelpflücken. Womöglich war sie vom Weg abgekommen und suchte jetzt fieberhaft nach dem Treffpunkt. Oder aber sie war deutlich schneller als er gewesen und war des Wartens müde geworden. Sie hatten Sonnenuntergang gesagt und die Sonne … ja, die Sonne stand bereits tief. Sie war aber noch nicht ganz am Horizont verschwunden. Ein wenig konnte er noch warten.
‚Nanu?‘
Ihm fiel plötzlich ein dunkles Bündel auf, das mitten auf dem Weg lag. Neugierig näherte er sich dem Stück und stellte überrascht fest, dass es sich um den Lederbeutel handelte, den er Caarelia vermacht hatte. Noch besser, dieser Beutel war randvoll mit Äpfeln! Ein paar von ihnen lagen bereits verstreut auf dem Weg. Was hatte das zu bedeuten? Bedächtig hob er die Äpfel auf und verstaute sie auf seinem Karren. Dann suchte er den Weg nach Spuren ab. Caarelia musste den Beutel hier abgelegt haben und gegangen sein. Bestimmt hatte sie es sich anders überlegt und wollte ihm nur den Beutel zurückgeben, damit sie nicht mehr in seiner Schuld stand. Sie war wirklich herzensgut. Andere wären mit dem Beutel und den Äpfeln sicher durchgebrannt, aber nicht Lady Caarelia.
Er konnte ihre Fußspuren entdecken und folge ihnen ein paar Meter, doch sie endeten abrupt vor einem großen Baum. Man musste keine Schule besucht haben, um zu wissen warum.
Henderson blickte nach oben.
„Caarelia? Huhu! Vielen Dank für die Äpfel.“
Noch rief er in die Leere, doch er war ganz sicher, dass sie nur auf den Baum geklettert sein konnte. Vielleicht war ihr ja Lord Streifenwind entwischt und sie versuchte ihn wieder einzufangen.
„Versteck dich!“, rief sie und ihr Kopf lugte dabei vorsichtig hinter einem Ast hervor. Das Streifenhörnchen keckerte aufgeregt an ihrer Seite.
„Warum? Sind die Soldaten vorbeigekommen?“
Sie deutete auf das Gebüsch bei der Wegkreuzung. „Dieser Schatten dort! Da lauert irgendetwas im hohen Gras.“
„Oh, ach so ist das.“ Henderson kratzte sich am Hinterkopf und lief zu seinem Karren zurück. Von dort bewaffnete er sich mit seinem Spaten und drei Äpfeln. Die Äpfel warf er ins Gebüsch und erwartete eine Reaktion. Doch nichts regte sich.
„Ist wahrscheinlich schon wieder weg“, sagte er und wartete, bis Caarelia wieder vom Baum geklettert kam. „Hier in der Gegend kommen manchmal Molerats vorbei. Die mögen Äpfel. Hast du ein Grunzen gehört?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Na gut, dann nimm das hier. Nur zur Sicherheit.“ Er reichte ihr sein Hackmesser zur Selbstverteidigung. „Und die hier, die fand ich einfach nur hübsch.“
Auch der Blumenstrauß fand einen Weg in Caarelias Hände.
„Das war großartige Arbeit. So viele Äpfel, davon können wir tagelang zehren. Ich bin zwar nicht der größte Freund von rohem Obst, aber gebacken schmecken die toll, wirst schon sehen.“
Dennoch griff er beherzt in den Sack und aß nun doch einen rohen Apfel. Der Hunger musste endlich gestillt werden, zumindest ein bisschen.
„Und jetzt geht’s hier entlang. Es ist nicht mehr weit.“
Hendersons Hütte lag an einem kleinen Bach am Waldrand. Ein selbstgezimmerter Holzzaun umgab das Grundstück, er besaß auch einen kleinen Kräutergarten und einen Lehmofen. Die Hütte war schon etwas morsch und schief, aber das passte zu ihm. Aus dem Kamin stieg noch kein Rauch auf.
„Mein Lehrling Hempel scheint noch nicht zuhause zu sein“, sagte Henderson und öffnete das kleine Tor. „Fühl dich wie zuhause. Da drüben steht das Plumpsklo und das ist das Haupthaus. Wir haben zwei Zimmer, die Küche und die Schlafnische, aber wenn du möchtest, kannst du gern die Schlafnische haben und Hempel und ich legen uns in die Küche.“
So hatten es seine Eltern jedenfalls immer gemacht, wenn sie Besuch bekamen. Da mussten Henderson und Anderson auch immer aus ihrer Schlafnische in die Küche umziehen.
Er wollte ihr gerade die Tür öffnen, da erblickte er plötzlich einen Schatten der sich vom Abort aus bis hinter die Hausecke bewegte.
„Oh, ach ja. Du solltest vielleicht ein Auge auf Lord Streifenwind haben. Das da ist Knorpel, Hempels Kater. Ich hoffe, die beiden Tiere vertragen sich.“
Henderson bückte sich und wartete geduldig, bis die orangene Katze sich zeigte. Knorpel war ein bisschen schüchtern, aber wer konnte es ihm verübeln? Das war das erste Mal, dass sich ein Weibchen auf ihr Grundstück verirrte.
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Lehrling
Richtung Stewark, Baronie Stewark
„Hooo! Haaaalt!“, hörte Necomar hinter sich und wandte verwundert den Kopf, als in wenigen Metern Entfernung ein Ochsengespann zum Stehen kam. Die Tiere stampften und zerwühlten mit den Hufen die Erde, während vom Kutschbock aus der Fuhrwerker zu ihm hinschaute, den Hut aus dem Gesicht schob und ihn musterte, als wüsste er nicht, ob Fisch oder Fleisch. Der junge Mann war innerlich ein wenig schockiert, dass seine Wahrnehmung – früher mal gestählt durch die Jagden in Nordmar – gelitten hatte, arg sogar. Er hatte den Karren ehrlich nicht gehört, ehe dieser ihn fast übern Haufen gefahren hatte. Eine zweite Gestalt sprang nach einem Handzeig des Kutscher ab und lief zu Necomar hin.
„Komm, Alterchen“, ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren wollte ihn behände am Ellenbogen packen. Als sie in das Gesicht starrte, wirkte sie überrascht. Sie wandte den Kopf zum Kutschbock. „Vater, der ist noch jung! Das ist kein Opa!“
„Dann verpass ich ihm eins mit der Gerte, dem Dämlack!“, fluchte der Vater des Mädchens über die Ochsen, „So’n scheiß Gespann übersieht doch nur’n Blinder, der auch noch taub is‘, verdammt!“
Das Mädchen grinste Necomar an. „Nimm’s ihm nicht übel“, sagte sie, „Er ist ein wenig schlecht gelaunt. Die Holzfäller haben ihm wieder die Taschen leer gemacht.“
Necomar lächelte zurück, drehte sich humpelnd um, hob die Hand.
„Entschuldigt“, sagte er heiser, „Ich erhole mich noch von einer Verletzung. Bisschen schwach auf den Beinen“
Er hob die Krücke zum Beweis. Das Gesicht unter dem Hut wurde rot, über die Ochsen hinweg kam eine halblaute Entschuldigung.
„Siehst du“, sagte das Mädchen, „eigentlich ist er nett. Hat nur einen schlechten Tag. Wo willst du hin?“
Der junge Mann blickte die Straße entlang, auf der er sich befand.
„Da ist Stewark, oder?“, fragte er.
„Ja.“
„Dann da hin.“
Erneut strahlte die Jugendliche. „Dann steig auf. Papa ist Schreiner, baut Stühle und Tische und so Zeug. Wir nehmen dich mit.“
„Ich habe aber leider kein Gold“, Necomar lächelte entwaffnend, „Proviant, eine Karte, etwas Medizin … nur kein Gold.“
Das Mädchen winkte ab. „Egal, drauf auf den Karren und los geht’s. Papa wird dir schon nicht die Krücke wegnehmen oder dir die Medizin als Zahlung stibitzen. Hat selber als Soldat beim Baron gedient, der weiß wie’s is‘, wenn man nach’m Kriegszug zerschlagen zuhause unterwegs ist.“
Und tatsächlich, im Näherkommen wirkte der Vater des Mädchens gar nicht mehr wütend oder bedrohlich. Er sah Necomar nur in die Augen, erkannte da vielleicht etwas, das er selber kannte, was ihn vielleicht auch einmal aus dem Spiegel angestarrt hatte, und nickte. Als sich der junge Mann umständlich auf den Karren gequält hatte, fuhr das Gespann weiter. Und in der Zeit – nachdem das Mädchen gemerkt hatte, dass Necomar gar nicht von hier stammte – lernte der Nordmarer das Leben in der Baronie Stewark kennen.
Wenn auch nur vom Hörensagen …
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Lehrling
„Ja, danke“, hörte Caarelia sich selber sagen, nachdem Henderson ihr angeboten hatte, dass sie in seiner Schlafnische nächtigen könne. Mit einem glücklichen Grinsen verschwand der nun nicht mehr ganz so Fremde in seine Hütte und die Diebin betrachtete das Gebäude vor sich.
Obwohl sie Henderson kaum kannte, war sie der Meinung, dass die kleine Hütte ganz gut zu ihm passte. Sie wirkte recht einladend und irgendwie gemütlich. Caarelia schreckte jäh hoch, als Lord Streifenwind sie mit einem angsterfüllten Quieken aus ihren Gedanken riss. Als ob sie wüsste, was los war, drehte sie ihren Kopf nach rechts. Hinter der Hausecke lugte ein orangener Katzenkopf hervor, der die Diebin und das Streifenhörnchen scheu betrachtete.
„Na, Knorpel?“, fragte Caarelia mit einem Lächeln. Sie mochte Katzen. Und diese hier schien besonders niedlich zu sein. Zumal sie wahrscheinlich (hoffentlich) nicht allzu viele Flöhe und Krankheiten beherbergte, wie die eine oder andere streunende Straßenkatze in Thorniara.
Langsam ging die Diebin auf die Katze zu, die sie immer noch wie gebannt anstarrte. Selbst Lord Streifenwind traute sich aus Caarelias goldenen Dutt hervor und wagte es einen Blick zu riskieren. Die junge Frau ging in die Hocke und streckte die Hand aus. Knorpel sah abwechselnd von Caarelias Augen zu ihrer Hand, bis er sie schließlich beschnupperte.
Erst da fiel der Diebin auf, dass sie Hendersons Blumenstrauß noch fest umklammert in der anderen Hand hielt. Sie betrachtete die bunten Blumen mit etwas Wehmut. Sie hatte noch nie Blumen geschenkt bekommen! Sie hatte es schon ein paar Mal gesehen, wie Männer ihrer Angebeteten Blumensträuße geschenkt hatten… wobei ihr bei diesem Anblick eher die Galle, als Schmetterlinge im Bauch hochgekommen waren.
Und nun hockte sie dort, vor der Hütte eines nicht mehr ganz so Fremden, der ihr Essen, ein Dach über dem Kopf und nun auch noch Blumen schenkte. Hätte ihr das jemand mal vor ein paar Wochen erzählt, hätte sie denjenigen ausgelacht! Und zwar aus tiefster Kniekehle! Caarelia war nicht gerade für ihre gesellige Art bekannt. Und schon gar nicht dafür, irgendetwas von auch nur irgendwem anzunehmen!
„H-Hey!“, rief Caarelia plötzlich, als sie sah, wie Lord Streifenwind auf Knorpel zu hechtete. Gerade rechtzeitig packte sie das Hörnchen, das einen japsenden Ton von sich ab.
„Wusste ich’s doch, dass du es auf den Krümel abgesehen hast!“, warf die Diebin ihrem Begleiter vor, der sich leicht murrend wieder in ihrem Dutt verstecken ließ. Der Krümel, der schepp am Mund der Katze hing, war kaum zu übersehen und ein wortwörtliches Fressen für das kleine Hörnchen gewesen.
Caarelia richtete sich auf und sah sich um. Es war so friedlich hier. Nicht zuletzt durch den kleinen Bach, der sanft neben ihr her plätscherte. Obwohl ihr Flüsse und große Wassermengen eher Angst machten, hatte sie hier das ungewohnte Gefühl, dass ihr nichts passieren konnte.
Es sah wie gemalt aus, als die letzten goldenen Sonnenstrahlen ihr Licht durch die Baumkronen auf das Wasser des Bächleins warfen und es zum Glitzern brachte. Der Gesang der Vögel und das leise Pfeifen des Windes machten das Bild perfekt.
Caarelia betrachtete den Kräutergarten vor der Hütte. Einige davon kannte sie tatsächlich. Sie erinnerte sich vage an das abendliche Kochen mit ihrer Mutter, die ihr das ein oder andere Mal eins mit dem Kochlöffel übergezogen hatte, wenn sie die Kräuter „falsch“ geschnitten hatte.
Die Diebin kratzte sich instinktiv am Hinterkopf und betrachtete die Feuerschale, die nicht unweit vom Eingang der Hütte stand. Wofür Henderson sie wohl benutzte? Caarelia betrachtete die Schale, als sei es das interessanteste Ding der Welt.
„Ja, ja, ich geh‘ ja schon rein“, murrte die Diebin, als Lord Streifenwind ungeduldig in ihrem Dutt quiekte. Welch eine Ironie, dass eine Diebin so viel Respekt vor dem Eigentum eines nicht mehr ganz so Fremden hatte! Oder lag es daran, dass diese Hütte sie an ihr altes Zuhause erinnerte?
Caarelia atmete tief ein und setzte einen Fuß in das kleine Häuschen. Und sie lebte immer noch. Die Diebin atmete aus und trat direkt in die Küche ein, in der sie ihren Impuls, zu überprüfen, ob sie etwas an Wert finden konnte, schon fast zwanghaft unterdrücken musste.
„Möchtest du die Äpfel schneiden oder das Feuer machen?“, fragte Henderson aus heiterem Himmel, was die Diebin vor Schreck hochspringen ließ. Als ob man sie bei etwas Verbotenem erwischt hätte, schoss ihr die Röte in die Wange.
„Ich kann gerne die Äpfel schneiden“, haspelte Caarelia, woraufhin Henderson ihr erklärte, wo sie Messer und Schalen finden konnte. Caarelia machte sich sofort ans Werk und schnibbelte einen Apfel nach dem anderen, während sie versuchte, nicht daran zu denken, wo Henderson wohl sein Geld aufbewahrte.
Du kennst ihn doch nicht. Am dritten Tag nimmst du mit, was nicht niet- und nagelfest ist, haust einfach ab und wirst nie wieder einen Gedanken an ihn verschwenden. So wie bei den anderen auch. Diese Gedanken schlichen sich immer und immer wieder in Caarelias Kopf, die sie mit Kopfschütteln alleine nicht mehr loswurde.
Die Diebin schnitt die Äpfel immer schneller und grober, bis sie schließlich ein lautes Geräusch hinter sich hörte, nach der nächstgelegenen Pfanne griff und ausholte.
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Waldstück nahe Thorniara
Die Novizen durchkämmten den Wald weiter, immer auf der Suche nach den charakteristischen Dunkelpilzen, die sie so dringend benötigten. Der Boden unter ihren Füßen war feucht und federnd, bedeckt von einer dicken Schicht Laub, Moos und Wurzeln. Die Bäume standen eng zusammen, und das Licht der Morgensonne kämpfte sich nur spärlich durch das dichte Blätterdach, was den Wald in ein sanftes Halbdunkel tauchte. Die Schatten um sie herum schienen lebendig, als der Wind die Blätter rauschen ließ, und die feuchte Luft trug den erdigen Duft der Pflanzen zu ihnen.
Thelyron ließ seine Finger vorsichtig über die feinen Blätter von Farnen und niedrigen Sträuchern gleiten, während er den Waldboden nach den Dunkelpilzen absuchte. Ab und zu stieß er auf eine Gruppe von Pilzen, doch keiner entsprach der gesuchten Sorte. "Die hier haben zu helle Lamellen..." murmelte er vor sich hin und schob einen Pilz zur Seite. "Und diese... die Stiele sind zu dünn."
Lucan, der einige Meter entfernt suchte, rief leise herüber: "Ich habe hier ein paar interessante Pflanzen, aber keine Dunkelpilze. Es muss doch irgendwo welche geben." Auch Emir war nicht erfolgreicher, während er sich zu einem kleinen, schattigen Bachlauf hinunterbeugte. "Die Bedingungen scheinen ideal zu sein, aber bisher nichts."
Die Gruppe drang weiter in den Wald vor, die Augen auf den Waldboden gerichtet. Dann, plötzlich, hielt Thelyron inne. "Wartet!" flüsterte er aufgeregt. Vor ihm, in einer besonders dunklen und feuchten Mulde zwischen zwei großen Felsen, sah er etwas. Dunkle Pilze mit einem breiten, grau-schwarzen Hut ragten zwischen dem Moos hervor. "Das müssen sie sein! Dunkelpilze!" rief er, und ohne zu zögern, machte er einen Schritt nach vorne, um die Stelle genauer zu betrachten.
Doch kaum hatte Thelyron den Fuß auf den weichen Boden gesetzt, spürte er, wie dieser unter ihm nachgab. Ein lautes Knacken ertönte, als der Boden plötzlich einstürzte. Er verlor das Gleichgewicht, und seine Füße rutschten weg, während der Untergrund unter ihm zusammenbrach. "Thelyron!" schrie Lucan und sprang nach vorne. Im letzten Moment packte er seinen Freund am Kragen und zog ihn mit einem kräftigen Ruck nach hinten. Der Waldboden vor ihnen gab vollständig nach und enthüllte eine tiefe, dunkle Grube, in die Thelyron beinahe gefallen wäre.
Beide atmeten schwer, als der Ordenskrieger Calis mit schnellen Schritten zu ihnen trat. "Was ist passiert? Seid ihr in Ordnung?" fragte er streng, aber mit einem Hauch Besorgnis in der Stimme. Thelyron, noch benommen von dem Schreck, nickte zögernd. "Ja... danke, Lucan." stammelte er. "Ich hätte fast..."
Calis blickte hinunter in die Grube, die nun vor ihnen klaffte. Sie war tief und dunkel, und der Einsturz hatte eine unterirdische Höhle freigelegt. Die Ränder der Grube waren brüchig, und lose Erde rieselte weiterhin nach unten. "Eine Höhle." stellte Calis fest, als er sich bückte, um einen besseren Blick hineinzuwerfen. "Vermutlich ein natürlicher Einsturz. Der Boden hier ist nicht stabil."
Lucan, immer noch mit erhöhtem Puls, trat näher heran und schaute in die Tiefe. „Das scheint mir doch der perfekte Ort zu sein, um endlich diese Dunkelpilze zu finden!. Wenn es so feucht und schattig ist, könnten sie dort gut wachsen. Es wäre sicher einen Versuch wert."
Doch Calis schüttelte entschieden den Kopf. "Zu gefährlich!" erklärte er scharf. "Der Boden hier ist instabil, und wer weiß, wie tief die Höhle reicht. Wenn noch mehr einbricht, könnten wir uns ernsthaft verletzen. Wir suchen weiter oberhalb." Er warf den Novizen einen prüfenden Blick zu. "Ihr werdet auf den Wegen bleiben, wie ich es gesagt habe."
Widerwillig stimmte Lucan zu, und die Gruppe trat einen Schritt von der Grube zurück. Während Thelyron sich sammelte und Lucan ihm beruhigend auf die Schulter klopfte, setzte die Gruppe ihre Suche fort, diesmal mit noch mehr Vorsicht.
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Lehrling
Hendersons Hütte - Hempel
„Ah, die habe ich gesucht, vielen herzlichen Dank!“
Henderson nahm Caarelia die Pfanne aus der Hand, die sie ihm netterweise entgegengestreckt hatte. Ob sie bereits wusste, was auf dem Essensplan stand? Dann sollte sie es ihm sagen, denn Henderson improvisierte gerade einfach nur. Er dachte an Backäpfel, vielleicht sogar in einem Kuchen. Dafür bräuchte er Mehl, Eier, Milch und Wasser. In seinem Keller hatte er sogar noch etwas Mehl, aber Eier und Milch hätte er aus der Stadt mitbringen müssen. Wie gern hätte Henderson ein Huhn oder eine Kuh. Wie wohl die Milch eines Streifenhörnchens schmeckte? Ne, das spielte keine Rolle, schließlich war das Lord Streifenwind, nicht Lady Streifenwind. Das Männchen war nur dazu da, possierlich auszusehen und sich kugelrund zu füttern. Die Milch kam von den Weibchen, so war das in der Natur, auch wenn viele männliche Tiere ebenfalls Nippel hatten. Hatten männliche Streifenhörnchen Nippel? Fragen für später, denn genau in diesem Augenblick kam sein Lehrling Hempel durch die Tür getreten.
„Hempel!“, rief Henderson mit strahlenden Augen und breitete die Arme zur Begrüßung aus. Er mochte diesen Jungen einfach, diesen überdimensionierten, kastenförmigen Jungen, dessen Körper der eines Mannes und dessen Gesicht das eines Milchbuben war. Sogar mit blondem Milchbärtchen.
„Die ham scho widder nich ufjepasst, diese Knallköppe! Scavengerkeule hab ich jesacht, nich Brust, aber nee, Keule hammer nich. Sin ja kee Zuchtbetrieb, ar kannste ja nix sagen, die denken halt ne weiter als der eigne Pfeil fliecht. Na, wasmer hat des hatmer, ne?“
Hempel knallte ein blutiges Bündel auf den Küchentisch, das randvoll mit Scavengerfleisch war. Die großen Laufvögel schmeckten lecker, besonders die Keulen. Das Brustfleisch war eher zäh und schwer zu rupfen. Trotzdem war Henderson glücklich, dass sein Lehrling Fleisch von den Jägern der Gegend abbekommen hatte. Das war hier der Deal: die Abdecker räumten die Leichen der erlegten Tiere weg und die Jäger gaben ihnen dafür immer was von der Beute ab.
„Hempel, darf ich dir Caarelia vorstellen? Caarelia: mein Lehrling Hempel. Das viele Fleisch ist super. Da machen wir einen Eintopf draus, ich habe noch ein paar Zwiebeln im Keller. Die Äpfel verleihen dem Ganzen dann eine exotische Note.“
Hempel kniff die Augen zusammen und betrachtete die viel kleinere Frau von oben bis unten. Er hatte eine sehr gründliche Art und eine gute Menschenkenntnis, darum kam Henderson auch so gut mit ihm aus.
„Sach ma Henny, hat dir der Leichenjestank widder des Hirn vernebelt oder was? Du hast doch ne Macke, einfach ne Frau hier anzuschleppen?! Wo haste die denn aufjegabelt hä? Die muss doch kriminell sein, sonst kommt die doch nich mit dir mit!“
„Wirklich? Nein, da musst du dich irren.“
Er erzählte Hempel von dem Missverständnis mit der Stadtwache und dass Caarelia nur für ein paar Tage hierbleiben würde, bis Gras darüber gewachsen war. Aber Hempel schien davon nichts wissen zu wollen.
„Du hast ihr aber nich schon unser Sparschwein jezeicht oder? Das aufm Dachbalken mein ich.“
„Nein, warum sollte ich?“
„Na besser isses. Da komm nur ich ran oder du mit ner Leiter. Nenene.“
Dann verließ Hempel die Hütte wieder.
„Wo willst du denn hin?“
„Ich hol die Leiter und versteck sie! Ich bin doch nich so hohl wie du!“
Ein vorausschauender Plan, fand Henderson. Auch wenn ihm nicht ganz klar war, warum Hempel nicht einfach das Sparschwein nahm und anderswo versteckte. Oder überhaupt vor aller Ohren davon sprach.
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