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Klippenschenke
„Ach, ich habe nur zufällig jemanden getroffen, der mir schon in Thorniara begegnet ist“, rief er Johanna entgegen, ehe er sich bereits umdrehte, um Meve bei ihrer Tischwacht zu unterstützen – obwohl die Riesin das wohl kaum nötig hatte, wenn man bedachte, wie manch einer ihr respektvolle Blicke zuwarf. Just in diesem Moment kam Piero die Treppe wieder herunter, drückte dem Schmied ein erstaunlich ordentlich verpacktes Geschenk in die Hand, deutete mit einem Zwinkern auf Johanna und war ebenso schnell in eine Ecke des Schankraums verschwunden, die soweit weg von ihrem Tisch war, wie irgend möglich. Verdutzt starrte der junge Mann auf das Päckchen, dann auf Johanna und dann wieder auf das Päckchen. Was bei den Göttern hatte das findige Schlitzohr ihm da eingepackt? Und sollte er es der gutmütigen, kleinen Frau etwa jetzt gleich geben vor versammelter Mannschaft? Nein, das konnte er nicht. Wer wusste schon wie sie reagieren würde. Wer wusste schon, wie er selbst auf das reagieren würde, was Piero da für ihn besorgt hatte?
Eilig lief er die Treppe hinauf und suchte das Zimmer, zu dem der Schlüssel passt, den Ingor ihm gegeben hatte. Dritte Tür, linke Seite war demnach seine Bleibe für eine Weile, nachdem er alle anderen Türen zuvor probiert hatte. Er hätte den Wirt fragen sollen.
Das Päckchen platzierte er vorsichtshalber auf einem kleinen Nachttisch, bevor er die Stube wieder verließ, abschloss und zu seinen neugefundenen Kameraden zurückkehrte, die sich bereits an dem Tisch eingefunden hatten, den Meve für sie reserviert hatte.
„Entschuldigt, ich musste kurz etwas verstauen“, erklärte Isidor seinen kurzfristigen Gang nach oben und setzte sich zu ihnen.
„Also“, fragte er, „Worüber habt ihr gerade gesprochen?“
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Die Akademie - Ariaan
„Warum ziehen wir nicht los und unterstützen die Stadtwache bei der Suche?“, fragte Ariaan verstimmt und lief bestimmt zum dutzendsten Mal den steinernen Flur entlang.
„Weil Meister Tiberon uns befohlen hat die Füße stillzuhalten. Er ist der Ansicht, dass es bloß falscher Alarm ist und die Weichbirnen von der Stadtwache sich lächerlich machen“, antwortete Caradoc gelangweilt und verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere, während er an der Wand lehnte, „Seine Worte, nicht meine!“, beeilte er sich hinzuzufügen, als er Ariaans vorwurfsvollen und wütenden Blick bemerkte.
Allerdings beruhigte das den rastlosen Krieger kein Bisschen, viel mehr schürte es nur sein Unverständnis für den Meister und dessen Methoden. Wenn der stellvertretende Akademieleiter eine mögliche Bedrohung für die Stadt so leichtfertig als Hirngespinste abtat, wollte er nicht miterleben, was geschah, wenn der Mann sich irrte.
„Leiter Raad hätte uns sicher sofort die Straßen sichern lassen“, seufzte die Klinge schließlich und hielt endlich ein in seinem Wahn den Gang so oft wie möglich abzulaufen, bis sich an der Situation etwas änderte.
„Vermutlich, allerdings hat sich der seit Ewigkeiten nicht mehr Blicken lassen. Hat mit der ganzen Scheiße wohl abgeschlossen, wenn du mich fragst“, folgte Caradoc seiner gewohnt pessimistischen Einstellungsweise.
„So ein Blödsinn. Der Leiter war immer verlässlich und hat uns seit dem Verrat von Siegmund unterstützt, wo er nur konnte!“
„Mag sein, aber wo ist er dann?“
„Mit Sicherheit versucht er das Wissen der alten Bibliothek zu bergen oder kämpft darum, dass wir bald Setarrif wieder aufbauen können.“
Hoffnungsvoller Idealismus tropfte aus jedem Wort, das Ariaans Mund verließ. Sein Kumpan ließ das lediglich abfällig schnauben.
„Hörst du dir selbst eigentlich zu? Schau dich doch um! Wir sind nicht mal mehr ein Schatten von einst, wohnen in dieser klobigen Ruine. Hier gibt es weder ausreichend Licht, noch ordentlich Platz, wo man trainieren kann. Bloß die schäbige Arena, in der sich die Aspiranten prügeln, um Aufmerksamkeit von einem der Meister – oh warte, von dem einen Meister, der noch geblieben ist – zu erhaschen. Von den paar Söldnern, die unsere Rekrutierungsversuche hier alle paar Wochen mal anspülen will ich gar nicht erst anfangen.“
Caradocs Frust war spürbar, ja fast greifbar, doch Ariaan ließ sich von dem Untergangsgewäsch nicht demotivieren. Es stimmte, dass sie die Glorie von damals eingebüßt hatten, doch das waren Äußerlichkeiten. Die Stärke und der Ruf der Akademie gingen Hand in Hand mit ihnen, den Aspiranten, Klingen und Meistern. Wenn sie nicht aufgaben, wenn sie nur festhielten an ihren alten Traditionen, ihrer alten Stärke, dann würde man sie schon bald wieder als das sehen können, was sie immer gewesen waren: Die fähigsten Krieger, die seit der großen Flut über Morgrads Antlitz wandelten. Ariaan war sich sicher, dass wenn schon nicht Meister Tiberon etwas für ihren Ruf und ihren Zusammenhalt tat, dann zumindest der König. Doch vielleicht brauchte es auch einfach einen mutigen Krieger, der diese neuen Zeiten beim Sand der Uhr nahm und sie nach seinen Vorstellungen drehte.
„Ich kenne diesen Blick. Du wirst etwas Unüberlegtes tun, oder?“, fragte Caradoc mit einem Anflug von böser Vorahnung und absolutem Widerwillen, „Lass mich bloß raus aus deinen Fantastereien! Ich bleibe genau hier, bis man mir etwas anderes befiehlt, klar?“
Doch Ariaan hatte gar nicht vor etwas zu unternehmen. Noch nicht.
Isidor
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Klippenschänke
Nanu? Was war das denn für ein schillernder Geselle, den Isidor da aufgetrieben hatte? Ein wenig dubios wirkte das ja schon, wie der Mann das ominöse Bündel an den jungen Schmied überreichte und sich dann von dannen machte. War das dieser Bekannte aus Thorniara, von dem Isidor gesprochen hatte? Was die beiden wohl für Geschäfte miteinander haben mochten? Wie ein Schmied sah der Andere nun wirklich nicht aus. Eher wie ein feiner Pinkel aus dem Reichenviertel, der sich jede Woche einen neuen Satz feinen Zwirns von seinem Hausschneider anfertigen und von seinem Diener abholen ließ. Adrett war der Mann schon, das musste sie ihm lassen. Gepflegtes Haar und rasiertes Gesicht, dazu ein in Graubraun und Gold gewirktes Hemd mit hohem Kragen von feinster Machart, auf dem golden schimmernd die Bilder von Heiligen eingewebt waren. Sie mochte die Motive und die feine Art des Mannes – mit ihm wurde es sicher nicht so schnell langweilig. Allerdings hatte er sich in eine andere Ecke des zunehmend voller werdenden Schankraums zurückgezogen, also würde sie die Webkunst auf seinem Leib wohl nicht aus der Nähe begutachten können.
Isidors Stimme riss sie aus ihren Gedanken. War er nicht gerade noch hinausgegangen, um sein Päckchen fortzubringen? Götter, es war ein langer Tag. Erst in solchen Momenten merkte sie, wie müde sie war.
„Ach, wir haben nur über früher gesprochen, während ihr das Bier holen wart.“ Johanna winkte ab. Unwichtig.
„Was hatte der feine Herr denn Hübsches für dich?“
Ohne zu fragen, griff sie sich einen der Krüge und setzte direkt an. Schluck um Schluck fand den Weg ihre Kehle herunter, an ihren Mundwinkel rann der Gerstensaft hinab. Als sie absetzte und den Krug auf den Tisch knallte, war der bereits zur Hälfte leer.
„Aaah, das hab ich dringend gebraucht!“
Geändert von Maris (10.07.2024 um 20:55 Uhr)
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Klippenschenke
Verdutzt und leicht beeindruckt schaute Isidor auf den Krug, den Johanna in wenigen Sekunden halb geleert hatte.
„Du würdest dich gut bei einigen Trinkwettkämpfen in den Vengarder Bierhäusern schlagen“, lachte er und setzte seinerseits an, wobei er jedoch Zurückhaltung walten ließ.
Er musste sich ja nicht am ersten Abend in der neuen Stadt bis zur Besinnungslosigkeit saufen, auch wenn er nach dem Tag durchaus die Lust dazu verspürte. Stattdessen setzte er seinen Krug ab und antwortete der jungen Frau, die durchaus interessiert an jemand bestimmten hier im Schankraum schien.
„Piero? Gute Frage, ich hab‘ nicht reingeschaut“, lachte Isidor und rieb sich verlegen den Hinterkopf, „Ich kenne ihn kaum länger als euch alle und weiß nicht so recht, was er mit dem Geschenk bezwecken will.“
Das war zwar nicht ganz die Wahrheit, aber doch sehr dicht dran. Immerhin konnte sich der Schmied keinen Reim darauf machen, weshalb Piero ihm ein Geschenk für Johanna gegeben hatte. Vor allem konnte er nicht einschätzen, was der gut gekleidete Gockel für angebracht hielt. Sonderlich genieren tat er sich jedenfalls nicht, wenn er an das Badehaus dachte.
Was, wenn es etwas Anzügliches war? Immerhin hatte er ihm ja vorgeworfen, oder eher zugesprochen, dass er nichts anbrennen ließe. Aber…das war doch gar nicht so! Beinahe wäre er aufgesprungen und hätte es laut gesagt. Johanna war seit sie sich kannten absolut freundlich zu ihm gewesen, teilweise sogar liebevoll, wenn er von seiner Vergangenheit gesprochen hatte. Doch er hatte es ebenso freundschaftlich erwidert. Oder?
Er wusste es nicht. Wie waren seine beruhigend gemeinten Berührungen bei ihr angekommen? Nicht, dass er die falschen Signale geschickt hatte! Oder hatte er ihre Signale etwa missinterpretiert, wobei Piero mit geschultem Blick direkt erkannt hat, was Sache war? Nein, nein, das konnte nicht sein. Sonst hätte Johanna sich wohl kaum ins Zeug gelegt ein Abendessen mit Fräulein Frieda zu arrangieren.
Oh Götter, dachte er, als er zum ersten Mal seit Stunden wieder an die zuckersüße Bäckerin dachte.
Was sollte er sagen, wenn sie sich trafen? Am liebsten hätte Isidor in diesem Moment seine Sorgen im Alkohol ertränkt, doch sein Krug war erstaunlicherweise leer.
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Klippenschänke
Ein Geschenk also? Wie kam es denn, dass Isidor sich von einem beinahe Fremden etwas schenken ließ, und das gleich an seinem ersten Tag in der Stadt? Das klang alles höchst dubios. Hatte der freundliche Schmied etwa Geschäfte, über die er nicht sprechen wollte? Verbarg er etwas? Johannas Verstand versuchte sie zu ermahnen, ein klein wenig vorsichtiger mit ihrem Vertrauen zu sein – doch ihr Bauch sagte ihr, dass Isidor ein feiner Kerl war. Und wenn sich herausstellen sollte, dass sie falsch lag, würde sie ein ernstes Wort mit ihm sprechen müssen. Immerhin hatte sie ihn mit Frieda verkuppelt, da trug sie auch eine gewisse Verantwortung dafür, dass er sie nicht schlecht behandelte.
„Götter, mein Krug ist leer“, rief sie und spürte, dass ihr Kopf bereits ein wenig schwirrte vom Alkohol auf leeren Magen.
„Deiner ja auch, was?“, sagte mit einem Blick auf Isidors Getränkesituation. „Ich gehe mal Nachschub holen. Und was zu essen.“
Sie schnappte sich ihren Krug und den von Isidor und schob sich durch den mittlerweile knackevollen Schankraum. Draußen schüttete es mittlerweile wie aus Kübeln und dicke Wolken verdeckten die Sonne, dass es dunkel wie zur Sperrstunde wurde. Der Raum war mittlerweile so warm und feucht, dass die Fenster anliefen.
„Vorsicht! Lasst mich mal durch, ja?“
Mit der Routine eines kleinen Menschen, der sich schon öfter durch Menschenmengen gedrängt hatte, fand sie ihre Lücken zwischen den Leibern der Leute hindurch und wurde auch nur einmal fast umgetrampelt, bevor sie am Tresen angelangte.
„Hey Ingor, nochmal zwei Bier bitte! Und was ist heut das Abendessen?“
„Kommt sofort, die Dame. Unser Gericht des Tages ist Stewarker Feuertopf, mit scharf angebratenem Feldräuberragout und deftiger Fleischsoße. Dazu gibt es einen Kanten Brot.“
„Nehm ich!“, rief sie freudig. Das war jetzt genau das Richtige, um wieder zu Kräften zu kommen.
Während sie auf Bier und Essen wartete, fiel ihr noch einmal der adrett gekleidete Kerl ins Auge, der sich an einem anderen Tisch mit allerlei Leuten gut gelaunt unterhielt. Nein, so Einer war doch keine Zufallsbekanntschaft, und so Einer beschenkte doch nicht einfach wildfremde Männer! Entweder hatten Isidor und er irgendwelche geheimen Geschäfte laufen, oder die beiden waren … nein, so schätzte sie Isidor nicht ein. Oder doch? Und was war dann mit Frieda?
„Zwei Bier und ein Feuertopf, bittesehr!“, riss Ingor sie aus den Gedanken.
„Schreib’s auf mich an, ja?“, rief Johanna, schnappte sich alles und wieselte sich durch den Schankraum zurück an den Tisch. Knallend stellte sie den Krug vor Isidor ab.
„So, mein Lieber“, rief sie vorwurfsvoll, und da sprach sicher nur zu zwei Dritteln der Mut des Alkohols aus ihr. „Was hast du zu verbergen, hmm? Irgendetwas verheimlichst du doch!“
Sie nahm einen tiefen Schluck vom Bier und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Der Feuertopf war ohnehin noch zu heiß – da konnte sie auch einfach weitertrinken.
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Syrias hatte sich, nachdem er einen Krug genommen hatte, mit zu Isidor und Johanna an den Tisch gesetzt. Und noch während er bei den ersten Schlucken war hatte Johanna ihren Krug in einem Zug geleert. Überrascht hatte er sie gemustert, das hätte der frühere Söldner nicht von der kleinen Frau erwartet. Und das sie kurz darauf gleich Nachschub für sich und Isidor holen wollte... Syrias schmunzelte in seinen Krug. Noch einmal so jung wie die beiden sein, dachte er wehmütig. Früher war es ihm auch leicht gefallen, sich so einfach zuzuschütten. Heute würde er sich das zweimal überlegen.
Den kurzen Zwischenauftritt mit dem komischen Schnösel hatte Syrias nur am Rande mitbekommen, doch die Geschichte mit dem Geschenk interessierte auch ihn. Isidor wirkte etwas peinlich berührt durch das Ganze, besonders da Johanna nicht wirklich locker lies.
"Vielleicht war der Kerl ja ein Verehrer von unserem großen Schmied hier?" Der Waffenschmied grinste nun unverholen. "Dieser feine Herr hat vielleicht ein Auge auf dich geworfen und will mal wieder kräftig angepackt werden?" Übertrieben hob und senkte er die Augenbrauen.
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Neue Akademie – Beim Verlängern der Bibliothekszugangsberechtigung
Der Platzregen rauschte jenseits der bleigefassten Butzenscheiben herab.
„Ihr wolltet mich sprechen?“ Der Tonfall des stellvertretenden Akademieleiters – in Abwesenheit des eigentlichen, weitgehend sein eigener Herr – klang befehlsgewohnt, der Blick aus seinen dunklen Augen auf den kleinwüchsigen in der Robe eines Novizen der Priesterschaft Adanos‘ versuchte einen voreingenommenen Hauch von Geringschätzung zu verbergen – erfolglos.
Tiberon saß hinter einem in jeder relevanten Dimension wuchtigen Sekretär – vermutlich war nur Lord Hagens Sekretär in der Zitadelle zu Thorniara wuchtiger, als dieses Exemplar. Seine nicht weniger wuchtige, muskelgestählte Gestalt, die sich über den Schreibtisch nach vorne beugte, überragte sein Gegenüber beträchtlich.
Arvideon ließ sich davon keinesfalls beeindrucken. Wie gut der stellvertretende Akademieleiter auch zu seinem Amtstisch oder umkehrt das einschüchternde Möbelstück zu seinem Besitzer passte, man merkte ihm an, wie ungern und in diesem Moment mutmaßlich wetterbedingt, er sich hier aufhielt – wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Der Wandermönch in seiner blauen Robe baute sich freimütig und erhobenen Hauptes vor dem mittlerweile wohl mindestens als kommissarisch einzustufenden Leiter der Akademie auf. Seine goldenen Augen blitzten.
„Er darf sich vorstellen: Harun Marakiel Arvideon Demar von Thermaron, vom Orden Adanos' – seines Zeichens Magister für Wortkunst und ordentlicher Lehrmeister an der königlichen Akademie zu Setarrif. Einst an der königlichen Akademie zu Setarrif, muss er nun wohl sagen.“, eröffnete er für seine Verhältnisse direkt und wenig blumig.
„Ich weiß nichts von einem Magister für Wortkunst.“, wehrte der Meister der Klingen ab.
Natürlich wusste er nichts davon. Tiberon war vielleicht ein guter Krieger und Waffenmeister, aber sicher kein motivierter Verwalter. Dieses Gespräch hier empfand er sicher als so unnötig wie einen Kropf.
„Vieles ist in den Wirren des Untergangs und des Krieges verloren gegangen. Doch man sagte ihm, die geretteten Unterlagen von Meister Raad befänden sich bei Euch in Verwahrung – darunter auch mindestens eine Abschrift der Liste der Lehrmeister zu Setarrif.“
Tiberon schien kurz nachdenken zu müssen. Es bereitete ihm sichtlich keine Freude, das hier durchexerzieren zu müssen, aber wenn Arvideons Worte stimmten, konnte er den alten Gnom nicht so einfach abweisen – das wusste er. Erst kramte er ziellos in einem Stapel Unterlagen, dann schien ihm etwas einzufallen und er suchte gezielter, bis er schließlich tatsächlich die genannte Liste hervorzog und eilig die darauf geschriebenen Namen und Fachgebiete studierte. Als er im unteren Drittel angelangt war, sah er auf.
„Offenbar stimmt, was Ihr sagt, Magister von Thermaron.“
Tiberon legte die Liste zur Seite, aber in Griffweite, und faltete die Hände vor sich. Da war sie, die gespielte professionelle Freundlichkeit eines Augen-zu-und durch. „Was kann ich also für Euch tun?“
„Zunächst möchte der Magister Euch bitten, ihm das Fortbestehen seiner Anstellung als Lehrmeister an der durch den König in Rechtsnachfolge der königlichen Akademie zu Setarrif neu errichteten königlichen Akademie zu Stewark zu bestätigen. Man hat ihn extra zu diesem Zwecke hierher entsandt, obwohl er derzeit noch von höherer Stelle mit einer Forschungsreise beauftragt ist und seine Lehrtätigkeit erst nach seiner Rückkehr wieder wird aufnehmen können. Ihm wurde jedoch befohlen, die Akademie noch vor seiner Abreise davon in Kenntnis zu setzen.“, schloss Arvideon den einfacheren Teil seines Anliegens. Nun folgte der größere Köder für den größere Fisch: „Außerdem wurde er beauftragt, bei Euch in Erfahrung zu bringen, wie der Stand der Wiedererrichtung Seiner Majestät Akademie ist. An höherer Stelle ist man besorgt ob ausbleibender Fortschritte. Es kursieren… Gerüchte im Kreise des Hofes, deren Wahrheitsgehalt festzustellen man Ihn ersucht hat.“
„Was meint Ihr, Magister?“, Tiberion klang etwas irritiert. Erste Besorgnis stahl sich in sein hartes Gesicht.
„Er wurde informiert, dass Euch die notwendigen Mittel zum Wiederaufbau von der Krone bereits übersandt wurden. Auch wurde ihm mitgeteilt, dass Ihr mit der Auswahl neuer Lehrmeister begonnen habt?“
„Ja, Yakun und Chade sind sehr fähige Waffenmeister.“, antwortete der stellvertretende Leiter in der Hoffnung, hier Punkte machen zu können.
„Ihre Auswahl wurde von höherer Stelle wohlwollend zu Kenntnis genommen. Auch dass Ihr begonnen habt, den künftigen Klingen das Waffenhandwerk beizubringen und den vielversprechendsten Aspiranten die Prüfungen wieder abzunehmen“, ließ ihn Arvideon erst aufatmen und sich auf die geglaubte Sicherheit der Brücke, die er ihm geboten hatte, einlassen, nur um sie hinter dem sich zu früh entspannenden wieder abzureißen, als er mitten darauf stand, „Doch man hat mich beauftragt nachzufragen, wie es mit den anderen Fächern aussieht, der Historie, der Jurisprudenz, der Diplomatie, der Strategie, der Staatskunst und vielerlei mehr? Euch ist bewusst, dass eine Klinge, die vielleicht einst als Schwert Ethorns dienen soll, mehr können muss, als den Umgang mit der Waffe?“
„Wir konnten nicht mit allem gleichzeitig beginnen. Auch dauert es gutes Personal zu…“
„Er weiß um Eure Bemühungen“, unterbrach ihn Arvideon nun deutlich kühler, in einem Tonfall der offen ließ, ob er von sich selbst oder von seinem vermeintlichen Auftraggeber, am Ende gar König Ethorn selbst, sprach – eigentlich letzteres sogar mehr oder weniger unverhohlen intendierte, „Doch hättet ihr nicht jemanden beauftragen können? Niemand verlangt von Euch, diese Fächer selbst zu unterrichten oder die Auswahl der geeigneten Lehrmeister selbst vorzunehmen. Ihr wisst doch, was man von Euch erwartet.“
„Die Wassermagier…“, setzte Tiberon an, doch Arvideon nahm ihm das noch gar nicht vollständig ausgesprochene Argument bereits von der Zunge: „Euer Gedanke ist absolut richtig. Aber warum habt ihr nicht längst danach gehandelt, fragt er Euch? Habt Ihr Euch denn überhaupt mit der Priesterschaft in Verbindung gesetzt? Ihr wisst, dass auch sie im Dienste des Königs stehen und angehalten sind, ihr Wissen – so sie die entsprechenden Fähigkeiten beherrschen – an die Klingen seiner Majestät weiterzugeben?“
Deutliche Schweißperlen standen nun auf der Stirn des stellvertretenden Akademieleiters. „Natürlich ist mir das bewusst, aber es ist…“
Der kleinwüchsige Adanosdiener ließ ihm keine Zeit, aus-, geschweige denn Luft zu holen: „Zu schwer einen Boten ins Haus der Magier zu entsenden und um die Abordnung erfahrener Dozenten zu ersuchen? Wisset, man betrachtet Euer Tun und Wirken an höchster Stelle. Was glaubt Ihr, warum man ihn heute zu Euch gesandt hat – außer um Euch zu unterrichten, dass er nach seiner Rückkehr seine Dienste als Lehrmeister an dieser hohen, ehrenwerten und hehren Institution wieder erbringen wird können?“
Arvideon ließ seinem Gegenüber eine kurze rhetorische Verschnaufpause, die gerade lang genug war, um Tiberons Gedanken auf die vermeintliche Bedeutung dessen zu lenken, was der stellvertretende Akademieleiter soeben nur andeutungsweise erfahren hatte. Er hatte ihn an der Angel.
„Auf Empfehlung seid Ihr in Meister Raads schon viel zu lange andauernder Abwesenheit eingesetzt worden. Ihre Majestät selbst hat die Zukunft der Akademie im Vertrauen darauf, dass Ihr den neuen Grundstein legen werdet, um dieses Haus wieder seinem Ruf gerecht werden zu lassen, in Eure Hände gelegt. Ihr wisst besser als er, dass man diese Zukunft auch wieder aus Euren Händen nehmen wird, wenn Ihr Euch dieser Aufgabe nicht gewachsen oder gar unwürdig erweist. Geduld ist am Hofe ein rares Gut, sobald einmal die Aufmerksamkeit auf Euch gerichtet ist.“
Tiberons Maske fiel und er sah mit einem Mal sehr bestürzt drein. Arvideon konnte zusehen, wie die Uhrwerkrädchen hinter der Stirn seines Gegenübers ratterten.
Offenbar hatte der gestandene Krieger wirklich vergessen oder besser verdrängt, wie umfassend die Bildung einer Klinge im Dienste Argaans auszufallen hatte. Für ihn zählte nur der Waffengang, was vielleicht auch aus persönlichem Schwertun mit und daraus erwachsener Verachtung für die nicht unmittelbar mit dem Kriegshandwerk beschäftigten Facetten des Bildungsideals der Klingen entsprang – umso mehr nach den Erfahrungen der letzten Dekade, die bis in den hintersten Winkel von Vertreibung, Flucht und Krieg durchtränkt gewesen war. Doch so nachvollziehbar es, war, dass und warum Tiberon auf diesem Auge erblindet war, es war seine Verantwortung und nun sein Fehler. Es war der wunde Punkt dieses erfahrenen Kriegers, der auf die weichen Faktoren der Ausbildung zu wenig Augenmerk gelegt hatte, und das fiel Tiberon nun siedend heiß selbst auf.
„Setarrif ist vor zehn Jahren gefallen, Meister Tiberon. An höherer Stelle fragt man sich, wann Ihr endlich damit beginnen wollt, den Ruf der Akademie Seiner Majestät wiederherzustellen und das vollständige Curriculum wieder unterrichten lassen werdet.“ Arvideon erhöhte weiter und immer weniger unterschwellig den Druck.
„Und sagt Ihm nicht, dass es Euch an den Mitteln fehle“, ergänzte der alte Gnom mit Blick auf die Akademiekasse in einer Ecke neben Meister Tiberon, einer großen schlichten mit Stahlbändern verstärkten Schatulle, die so prall mit Münzsäckchen gefüllt war, dass sie sich nicht mehr schließen ließ.
„Niemand zweifelt an Eurer Integrität, Meister Tiberon“, fuhr der kleinwüchsige Wandermönch in vermeintlich versöhnlicherem Tonfall fort, „doch dieses Geld ist nicht dafür gedacht, auf Eurem Schreibtisch Staub anzusetzen und nur in schwachen Rinnsalen an die ehrenwerten Lehrmeister zu fließen, die gemeinsam mit Euch dem Nachwuchs den Waffengang beibringt.“ Abgesehen davon, dass ihr es lausig und ungesichert aufbewahrt, fügte er in Gedanken hinzu.
“Ihr wurdet nicht beauftragt, zu sparen, Meister Tiberon. Ihr wurdet beauftragt, zu investieren.“ Zog er die Zügel des Meisters der Klingen wieder an, dessen Gedanken inzwischen unentwegt darum kreisen mussten, was ihm aufgrund seiner vermeintlichen Nachlässigkeit von höherer Stelle blühte.
„Ihr wisst, dass jedem Dozenten für die Grundausstattung der Lehre ein Handgeld in Höhe von dreißig Argaan'schen Golddinaren zusteht?“ Arvideon öffnete fast wie beiläufig, aber nicht minder fordernd die Hand in Richtung des stellvertretenden Akademieleiters. Dessen Hirn flüchtete gerade eine einsame Straße entlang ohne Entkommen und er begann, eiligst Münzen in ein Säckchen abzuzählen. Tiberon brauchte nur wenige Augenblicke, die ihm aber sicher wie eine Ewigkeit erschienen, bevor das Handgeld in der geöffneten Hand des vor ihm auf dem Stuhl stehenden Adanosdieners landete.
Gerade wollte sich etwas Erleichterung auf Tiberons Gesicht breit machen, doch der Empfänger der Akzidenzien wischte deren erhofft besänftigende Wirkung unnachgiebig und eindrücklich sofort beiseite. „Er dankt Euch, aber das war nicht seine Intension.“, sagte Arvideon mit hartem Blick.
Das brachte Tiberon vollends aus dem Konzept und er sah ihn nur noch bestürzt, verständnislos und fragend an.
„Die Bestätigung, dass er weiterhin an der Akademie unterrichtet, Ihr erinnert Euch?“
„Natürlich.“ Mit gehetztem Blick fuhr sich Tiberon sichtlich fahrig durch den kurzen graumelierten Bart.
Der stellvertretende Akademieleiter konnte nur noch nicken und setzte eilig die zwei Sätze, die Arvideon im diktierte, auf einen Pergamentstreifen, mit denen er die Stellung von
Harun Marakiel Arvideon Demar von Thermaron vom Orden Adanos' – Magister für Wortkunst, als Lehrmeister an der Königlich-Argaanischen Akademie zu Stewark bestätigte, und setzte Signatur und Siegel darunter.
Der kleinwüchsige Wandermönch wartete in Ruhe ab, bis er das Schriftstück überreicht bekam und verstaute es in seiner Tasche.
„Habt Dank und denkt daran: Man zählt an höherer Stelle auf Euch, Meister Tiberon. Adanos unterstütze Eure hehren Bemühungen, dass sie endlich von Erfolg gekrönt seien.“, sagte Arvideon, drehte sich unvermittelt um, hopste vom Stuhl und verschwand durch die Tür nach draußen, einen verdatterten stellvertretenden Akademieleiter zurücklassend.
Das Handgeld hatte er natürlich behalten.
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Klippenschänke
Kaum war Johanna mit zwei neuen Krügen Bier und einer dampfenden Schüssel an den Tisch zurückgekehrt, hatte sich ihre Laune schlagartig verändert. Nicht mehr so freundlich wie bisher nahm sie sich Isidor zur Brust und ließ keine Fluchtmöglichkeit offen, während sie auf halbem Wege war ihr zweites Bier zu vernichten.
Der prasselnde Regen vor der Tür übertönte beinahe das rege Treiben im Schankraum, als sich die ersten Töne eines Bardengespanns meldeten und eine muntere Melodie anschlugen. Alsbald sangen einige der Gäste mit, doch so richtig in Schwung kamen sie so früh am Abend wohl noch nicht. Anders als Johanna, die den jungen Blondschopf wie ein Raubtier die Beute fixierte.
Als Retter in der Not warf Syrias dann etwas ein, was beinahe dafür gesorgt hätte, dass ihm die Augen aus dem Kopf quollen.
„Also…das…nein!“, stammelte er und versuchte seine Verlegenheit mit einem großen Schluck Bier zu überspülen.
Ein, zwei, drei und der Humpen war wieder leer.
„Ah, ich glaube“, ein lauter Rülpser entwich dem Schmied, „Pardon, ich brauche wohl ein neues Bier.“
„Nichts da!“, rief Johanna und hielt ihn damit am Tisch.
Er würde wohl nicht so einfach entkommen, wie er sich das vorgestellt hatte. Und Syrias‘ Hilfe, war auch nicht gerade das gewesen, was er sich erhofft hatte.
„Also gut, ich bin mir ziemlich sicher, dass Piero nichts von mir will“, versuchte er es erneut und spürte die ersten Anzeichen eines zuvor leeren, nun mit Bier gefüllten Magens, „Er hat mir dieses Paket in die Hand gedrückt und gesagt, dass ich es einer…Frau geben soll“, gab er zu, wollte jedoch partout nicht mit der ganzen Wahrheit herausrücken, „Aber ich weiß nicht was drin ist und wer weiß schon, was jemand wie er verschenken würde?“
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Klippenschänke
Als Isidor peinlich berührt auf ihre peinliche Befragung antwortete und sich herausstellte, dass alles einen ganz und gar harmlosen Hintergrund hatte, ließ Johanna ihr erstaunlich weit geleertes Bier sinken.
„Oh.“
Dann wurden ihre Augen groß. „OH!“
Ihr schoss die Röte ins Gesicht. Sie hatte ihn mit ihrer forschen Art in eine peinliche Situation gebracht – und all das nur, weil er ein Geschenk für seine Verabredung mit Frieda besorgen wollte!
„Warum sagst du denn nicht gleich, dass du etwas für Frieda besorgt hast, du Dummerchen? Und ich dränge dich hier so in eine Ecke …“
Sie griff nach ihrem Löffel und ertränkte ihre Scham in einer schnellen Folge gelöffelten Feuertopfes, dessen Schärfe ihr die Tränen in die Augen trieb. Ob wohl ein, zwei Bissen Brot gegen den Schmerz halfen? Nein, nicht wirklich.
„Tut mir leid“, sagte sie, griff nach ihrem Krug und erhob sich. Der erste Schritt brachte sie schon ins Wanken, doch sie gewöhnte sich an die schwindelnde Taubheit und kämpfte sich erstaunlich stabilen Schrittes hinaus zum Hinterausgang.
Der Regen klatschte ihr auf die Stirn, als sie in den Hinterhof hinaustrat. So etwas Peinliches aber auch! Verdammtes Bier, im nüchternen Zustand wäre ihr das nicht passiert. Nun hatte sie ihn vor den Kopf gestoßen, und dabei war er so ein feiner Kerl und hatte nur Vorbereitungen für seine Verabredung getroffen!
„Blöde Kuh“, schalt sie sich und ließ sich gegen die Hauswand sinken. Wehmütig blickte sie in den Krug hinein, in dem das Bier nun Tropfen für Tropfen verwässert wurde, und kippte sich den Rest dann doch in den Rachen. Die Haare klebten ihr klatschnass im Gesicht. Von ihrer Nasenspitze tropfte es herab.
„Halt doch einfach mal den Mund, Mensch! So peinlich …“
Johanna warf den leeren Krug kraftlos beiseite. Ihr Blick richtete sich auf die Tür. Ob sie vielleicht einfach auf ihr Zimmer gehen sollte, bevor die zwei Sturzbiere ihre volle Wirkung entfalteten? Es würde ohnehin kaum noch besser werden.
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Klippenschänke
Das lief mal so gar nicht, wie er es sich vorgestellt hatte. Bewusst hatte er verschweigen wollen, dass Piero ihm das Päckchen für sie gegeben hatte. Aber natürlich würde Johanna davon ausgehen, dass er es für Frieda besorgt hatte. Für wen auch sonst, wenn man es aus ihrer Perspektive betrachtete. Etwas ratlos schaute er zu Syrias und Meve, die ihn beide mit Blicken bedachten, die in seinen Augen nur eines bedeuten konnten: „Toll gemacht, du Trottel.“
Von Mungu fehlte noch immer jede Spur, aber vermutlich hätte er ihn auf ganz ähnliche Weise angesehen. Und wenn sie ihm das stumm mitteilen wollten, dann hatten sie absolut recht, denn wie sich herausstellte, hatte er immer noch keine Ahnung wie man mit Frauen reden oder umgehen sollte. Das waren ja beste Aussichten auf die Verabredung mit Frieda. Wenn er Johanna nicht auf seiner Seite hatte, dann konnte er auch gleich jetzt eine formelle Entschuldigung einreichen oder sich vorzeitig krankmelden.
„Ich werde mal nach ihr sehen“, kündigte er an, nachdem er die eingetretene Stille nicht mehr ertragen konnte und stützte sich am Tisch ab, um aufzustehen.
Noch spürte er den Alkohol nicht sehr stark, doch etwas zu Essen hätte ihm sicher nicht geschadet. Doch das musste warten. Vorher musste er Johanna finden und ihr zu verstehen geben, dass sie sich für nichts entschuldigen und sich schon gar nicht zu schämen brauchte. Auf dem Weg nach draußen stieß er mit mehreren Leuten zusammen, die sich durch das plötzliche Unwetter alle ins Innere der nicht sehr geräumigen Schänke gedrängt hatten. Glücklicherweise hielten die meisten sich auf Abstand, wenn sie seine Größe und die Narben sahen. Manchmal war es eben doch gut wie ein überdimensionierter Kaminvorleger auszusehen.
Allerdings wunderte sich Isidor mit jedem Schritt mehr, dass es scheinbar in dieser Richtung, in die Johanna verschwunden war, nur eine weitere Tür gab, die wohl in einen Hinterhof oder sogar hinunter auf den Festplatz führte, an dem die beiden etwas früher am Tag vorbeigekommen waren. Vorsichtig öffnete er sie und spähte in den äußerst nassen Abend hinaus. Der Regen prasselte lautstark auf das steinerne Pflaster, doch von der kleinen Frau war keine Spur.
Nach kurzem Zögern trat der Hüne ins Freie und blickte sich um.
„Da bist du!“, rief er gegen den Lärm des Unwetters an, als er die zusammengesunkene Gestalt Johannas an der Hauswand entdeckte, „Was machst du denn? Du holst dir noch den Tod hier draußen!“
Er wollte sie auf die Füße ziehen, doch sie wehrte sich erstaunlich vehement für ihre Größe.
„Wenn du nicht mitkommen willst, bleibe ich eben hier“, drohte er trotzig und setzte sich neben seine erste Freundin, die er in Stewark gefunden hatte.
„Es ist meine Schuld, ich hätte ehrlich sein sollen“, griff er gleich in die Vollen, „Das Paket, was Piero mir gegeben hat, habe ich weder bei ihm bestellt, noch danach gefragt. Er hat es mir gegeben und gesagt, dass ich es dir geben soll.“
Er wartete einen Moment bis die pitschnasse Johanna ihn ungläubig anschaute.
„Darum habe ich es schnell nach oben gebracht, weil ich es dir nicht vor den anderen geben wollte und weil ich wirklich nicht weiß, was sich darin befindet. Soll ich es holen? Oder willst du mit raufkommen?“
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Marktplatz – Letzte Besorgungen unter platzenden Regentropfen
Arvideon zog die Kapuze über und den Mantel enger, bevor er durch die mit einem Glöckchen versehene Ladentür auf den Marktplatz Stewarks trat. Die Schleusen der Himmelssee hatten sich geöffnet und Platzregen ergoss sich über die Pflastersteine der Treppen und Plätze.
Für nicht ganz zwei Drittel der dreißig Dinare hatte er drei Stück türkiser Setarrifer Seide mit jeweils sechzehn Setarrifer Aunes – was etwa zweiunddreißig myrtanischen Ellen entsprach – bei einem der ansässigen Tuchhändler gekauft, der gerade seinen Laden hinter seinem letzten Kunden für den Tag abschloss. Zusammengefaltet lagerten sie nun, vor dem Regen geschützt, in einem Beutel aus Firnistuch, den der Vater der falschen Bescheidenheit beim Feilschen gleich miterworben hatte und an einem kurzen Strick über den Rücken trug.
Kurz erstand er noch eine Handvoll frischer Äpfel an einem überdachten Marktstand, der auch bereits dabei gewesen war, die Segel vor der hereinbrechenden Dunkelheit zu streichen, wobei er dem schon reichlich durchnässten Burschen, der den Handel betreute, erfreute, indem er ihn das Wechselgeld behalten ließ.
Ingor der Wirt der Klippenschenke hatte ihn bereits am Mittag vorgewarnt, dass es wegen der Eselszuchtmesse für die langsam hereinbrechende Nacht in der ganzen Stadt kaum ein freies Zimmer geben würde – vermutlich im Bestreben, ihn zu einer vorzeitigen Buchung bei ihm zu bewegen. Doch Arvideon hatte eigentlich nie vorgehabt, über Nacht in Stewark zu bleiben, und, dass er im Tempel keinen Erfolg gehabt hatte, machte ihn zusätzlich etwas rastlos.
Jetzt nachdem er alle Besorgungen erledigt und auch ein angemessenes Mitbringsel besorgt hatte – Larah würde die Seide sicher erfreuen, sie würde ausgezeichnet zu ihrem blonden Haar, ihren saphirblauen Augen und ihrem bronzenen Teint passen – stieg er zum Torplatz ab, umging mehrere Pfützen und entrichtete den am Stadttor Wache Stehenden aus den Münzen, die er beim Tuchhändler als Rückgeld erhalten hatte, freiwillig ein leicht verfrühtes Torgeld, was den zuvor über ihren Dienst im Regen recht sauertöpfisch dreinblickenden Männern ein fröhliches Grinsen aufs Gesicht zauberte.
Dann ließ der kleinwüchsige Wandermönch die Stadt der Türme über die steinerne Brücke hinter sich und machte sich auf den Rückweg in Richtung Bluttal.
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Hinterhof der Klippenschänke
Da stand er plötzlich neben ihr – Isidor, der eigentlich im Schankraum sitzen und den Ausklang seines ersten Tages in Stewark genießen sollte. Und nun wurde er pitschnass, nur weil er nach ihr schauen kam.
„Geh weg! Lass mich hier sitzen. Ich war ein Arsch“, murrte sie, doch der prasselnde Regen schlug so laut auf’s Pflaster, dass er sie vermutlich nicht einmal hörte. Als er dann nach ihrem Arm griff und sie auf die Beine ziehen wollte, zog sie den Arm zurück.
„Lass mich! Ich hab’s verdient, hier nass zu werden.“
Doch Isidor ließ nicht locker. Nun setzte er sich auch noch neben sie! Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Fahrig wischte sie sich das nasse Haar aus dem Gesicht.
„… das Paket … bei ihm bestellt …“, hörte sie ihn durch den Regen sagen. Sie sah ihn an. Trotzig zunächst – er musste sich doch für nichts rechtfertigen! Doch als er fortfuhr, wurden ihre Augen immer größer.
„… hat es mir gegeben … es dir geben …“
Sie glotzte ihn ungläubig an. Hatte sie ihn gerade richtig verstanden? Er hatte das Geschenk gar nicht für Frieda besorgt, sondern für sie? Etwas in ihrem Bauch machte einen gehörigen Sprung, und sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, dass es die Melange aus Bier und Feuertopf war. Warum bei Beliar sollte er ihr etwas schenken wollen?
„… schnell nach oben gebracht … nicht vor den anderen … willst du mit raufkommen?“
Johanna öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Ein Teil von ihr schrie „Ja, ich will mit dir kommen!“, doch der Rest ihres vom Alkohol betäubten Verstandes erinnerte sie daran, dass sie Frieda verraten würde, wenn sie … ja, wenn sie … was eigentlich?
„Na gut“, murmelte sie, sodass er es vermutlich kaum hören mochte, und drückte sich vom Boden ab. Doch noch bevor sie sich ganz aufgerichtet hatte, kippte sie zur Seite weg. Nur mit Mühe entging sie einer Vermessung des Pflasters mit ihrem Gesicht. Isidor war sofort zur Stelle und stützte sie.
„Tschuldigung. Geht schon.“
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Er hatte doch nur einen Scherz gemacht? Syrias hätte nicht gedacht, dass Isidor so peinlich berührt wäre, nachdem er den Geck als heimlichen Verehrer bezeichnet hatte. Lag es daran, dass sich der Schmied nichts aus Männern machte oder eher daran, dass er durch seine Jugend noch nicht so viel Erfahrung mit sowas hatte? Syrias hätte gern nachgefragt, doch Johanna gab ihm keinerlei Möglichkeit dazu. Stattdessen bohrte sie weiter. Und nach Isidors Antwort zog wurde sie Rot und wirkte peinlich berührt.
War da zwischen den Beiden jungen Menschen vielleicht mehr als nur freundschaftliches Interesse? Denn Johannas Reaktion nach zu urteilen, schien es ihr nicht wirklich zu gefallen, dass das Geschenk für eine gewisse Frieda war. Ein unangenehmes Schweigen breitete sich am Tisch aus, als die kleine Frau eilig ihren Eintopf verschlang und dann schwankend vom Tisch aufstand. Zwei Bier und schon so betrunken? Syrias war nicht überrascht. Bei ihrer Statur war das zu erwarten gewesen.
Fast schon fluchtartig verlies sie den Tisch, lies einen verdatterten Isidor zurück, dessen Blicke sich hilfesuchend an Ihn und Meve wandten. Syrias starrte nur zurück und hob die Schultern. Es brauchte Jahre um das Mysterium der Frauen auch nur ansatzweise zu verstehen. Und selbst dann konnten sie einen immer noch überraschen.
Isidor tat das einzig richtige und ging Johanna nach.
Syrias schüttelte nur den Kopf und nahm einen großen Schluck aus seinem Krug. Junge Liebe. Götter, war er damals auch so unbeholfen gewesen? Wahrscheinlich schon. Schließlich wurde niemand mit Weisheit geboren. Und gerade wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen ging, musste jeder von ihnen wohl stolpern und auf die Nase fallen. "Immer das gleiche mit euch jungen Leuten," sprach er in Richtung Meve. "Lass mich dir nen Rat geben: wenn du wen magst, sag es ihm. Entweder mag der dich auch oder nicht, aber so ein Eiergetanze tut niemandem gut." Der Waffenschmied stand auf und wandte sich Richtung Tresen. "Ich hol Nachschub. Und was zu futtern. Willst du auch was?"
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Klippenschänke
Reflexartig hatte Isidor nach Johanna gegriffen, um sie vorm Stürzen zu bewahren, dabei war er selbst noch gar nicht wieder aufgestanden und hatte sie dennoch an der Hüfte greifen können.
„Tschuldigung. Geht schon.“
Ihre Worte waren so leise und bei dem lautstarken Fall des Himmelswassers kaum wahrnehmbar. Doch immerhin meinte er ihre vorige Zustimmung mitbekommen zu haben, dass sie bereit war mit ihm hoch zu kommen, um das Päckchen und dessen mysteriösen Inhalt zu ergründen.
Mittlerweile selbst völlig durchnässt hievte sich der Schmied auf die Beine und wollte schon vorlaufen, als er bemerkte, wie bedenklich die kleine Frau schwankte. Offenbar konnte sie zwar schnell trinken, wurde aber in vergleichbarer Zeit auch betrunken von verhältnismäßig wenig Bier.
„Komm, ich helf‘ dir“, bot er an und stützte sie wie er es schon etliche Male zuvor bei Trinkkumpanen getan hatten, die sein Tempo hatten halten wollen.
Sie murmelte etwas Unverständliches, doch der Hüne schleifte sie mehr oder weniger einfach mit sich.
Wieder im Schankraum angekommen, schob er sich mit Johanna erneut durch die Leiber der Gäste, die dieses Mal nicht nur wegen seines Äußeren zurückwichen, sondern auch wegen des durchaus großen Anteils an Regenwasser in ihren Kleidern und Haaren.
„Tut mir leid, wir müssen hier durch“, drängte er sich zur Treppe durch und erklomm mit der kleinen Gestalt im Schlepptau die Stufen, wobei er direkt auf sein Zimmer zusteuerte.
Es dauerte einen Moment bis er den kleinen Schlüssel mit seinen feuchten Fingern zu fassen bekam, doch schlussendlich klickte das Schloss zufriedenstellend und sie betraten den kleinen Raum gemeinsam.
„Hier, setz dich ruhig“, bot er ihr den einzigen Stuhl in der Unterkunft an, „Willst du vielleicht deine nassen Klamotten ausziehen?“, fragte er dann noch, da er sich Sorgen machte und griff nach dem Paket, welches auf dem Bett lag, wo er es platziert hatte.
Er betrachtete es und wunderte sich erneut über den unbekannten Inhalt. War es wirklich klug Johanna dieses Paket zu geben?
Geändert von Isidor (12.07.2024 um 14:05 Uhr)
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Klippenschänke
Ihr ging es nicht gut. Ihr war kalt und sie war ziemlich schwach auf den Beinen. Nur gut, dass Isidor sie stützte, durch den Schankraum und schließlich die Treppe hinauf geleitete. Johanna stand das Wasser in den guten Snapperlederstiefeln, dass jeder Schritt ein schmatzendes Geräusch verursachte. Sie verlieh ihrem Unmut durch regelmäßiges Ächzen Ausdruck, ließ sich aber einfach von Isidor mitziehen. Während er an dem Schlüsselloch herumnestelte, umfasste sie ihre Ellenbogen und lehnte sich gegen die Wand. War es die Erschöpfung, der Alkohol oder das Gefühlschaos, das sie so aus der Bahn warf? Eigentlich hätte sie sich am liebsten in einer Ecke zusammengerollt und den Tag Geschichte sein lassen, aber er hatte ihr doch dieses Geschenk besorgt! Sie konnte ihn doch jetzt nicht einfach hier stehen lassen!
Endlich bekam er die Tür zu seinem Zimmer auf. Sie ließ sich auf sein Geheiß hin auf dem Stuhl nieder und ließ sich kraftlos darauf herabsinken.
„Willst du vielleicht deine nassen Klamotten ausziehen?“
Johanna hinterfragte nicht einmal, was er da sagte. Sie quälte sich murrend auf die Beine und band ihre Hose auf, als Isidor sich gerade auf das Bett kniete, um das Geschenk herunterzuklauben. Ächzend schälte sie den nassen Stoff über ihren Hintern und von ihren Schenkeln herunter, dann fiel sie auf den Stuhl zurück und zog und zerrte, bis sie sich der Stiefel und der Hose entledigt hatte. Sie packte ihr Oberteil, versuchte es umständlich hochzuziehen, doch der nasse Stoff klebte so sehr an ihrer Haut! Mit überkreuzten Armen wand sie sich hin und her, ächzte und stöhnte bei dem mühseligen Versuch, sich zu entkleiden. Schlussendlich ließ sie es bleiben und zog eine mürrische Schnute. Dann fiel ihr Blick auf Isidor, der unschlüssig mit dem Paket in der Hand vor ihr stand. Sie raffte sich und stand auf.
„Ich weiß zwar nicht, wofür du mir das gibst, aber danke.“ Ihre Aussprache war wirklich schwammig. Sie war genervt von sich selbst, weil die zwei Bier ihr so zusetzten und sie so einen schlechten Eindruck machen musste.
„Darf ich?“, sagte sie und streckte die Hände aus. Isidor zögerte einen Herzschlag lang, doch schließlich überreichte er ihr das kleine Päckchen. „Hier.“
Johannas Finger mühten sich zittrig an der formschönen Schleife ab. Dieses Geschenk machte sie wirklich nervös. Was mochte er nur für sie besorgt haben – und dann noch extra von so einem reich aussehenden Kerl, bei dem man vermutlich nur spezielle Dinge erstehen konnte? Hatte sie überhaupt das Recht, sich etwas von ihm schenken zu lassen? War nicht eher Frieda diejenige, die etwas von ihm hätte bekommen sollen?
Endlich löste sich der Knoten. Johanna schlug das verhüllende Tuch zu Seite – und erstarrte. Ihre geweiteten Augen waren voller Entsetzen auf das Geschenk gerichtet. Sie schnappte nach Luft und lief so rot an wie eine Tränenpfefferschote.
„Aber Isidor …“, hauchte sie erschüttert. „Das geht doch nicht!“
Mit einem Schlag war ihr Alkoholrausch wie weggeblasen. Er wurde verdrängt durch einen ganz anderen Rausch – und der überlastete sie so sehr, dass sie selbst das Atmen vergaß.
„Was ist mit Frieda?“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. „Das ist ungehörig!“
Johanna stolperte zurück zu dem Stuhl, raffte ihre Hose und Stiefel und stürzte aus dem Zimmer. Wo war nur der verdammte Schlüssel? Sie musste aus diesem Gang raus! Endlich erwischte sie ihn in der Tasche ihrer nassen Hose. Nervös stocherte sie an dem Schlüsselloch herum, bis sie es traf.
Dunkle Stille verschlang sie in der Einsamkeit ihres Zimmers. Johanna ließ ihre nassen Sachen und das ungehörige Geschenk fallen wie ein glühendes Stück Kohle. Schwarze Spitzen-Unterwäsche von edelster Machart, und dann auch noch in einer passenden Größe! Als ihr bewusst wurde, dass er sie dazu aufgefordert hatte, sich auszuziehen, lief sie gleich noch einmal rot an. So hatte sie ihn wirklich nicht eingeschätzt!
Nein, sie konnte nicht hier in der Einsamkeit bleiben, allein mit ihren Gedanken. Sie musste wieder unter Leute und sich ablenken! Eilig kramte sie ihre alten Stiefel und eine Ersatzhose hervor, quälte sich aus ihrem immer noch nassen Oberteil und suchte sich auch dafür Ersatz. Dann hastete sie die Treppe hinunter, bevor sich etwa noch die Tür von Isidors Kammer öffnete, zurück in den Schankraum.
„Ingor, ich brauch noch was“, rief sie atemlos.
„Noch ein Bier?“, fragte der Wirt.
„Was Stärkeres!“
Mit drei Gläsern Apfelbrand kehrte sie zu Syrias und Meve an den Tisch zurück und setzte sich wortlos hin. Sie gab keines der Gläser ab.
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Syrias hatte sich gerade wieder hingesetzt, einen neuen Krug vor sich und eine Portion von dem Eintopf, welchen der Wirt zubereitet hatte, da war Johanna auch schon wieder da und hatte sich zu ihm und Meve gesetzt. Dazu drei Gläser Schnaps. "Das ging aber schnell..." murmelte der frühere Söldner verwundert und musterte die junge Frau mit kritischem Blick. Obwohl ihre dunklen Haare immer noch nass zu sein schienen, hatte sich die junge Frau wenigstens schon wieder in trockene Sachen geworfen. Doch ihre Miene, fast schon puppenhaft starr, wirkte betroffen. Oder verletzt? War es das vielleicht?
Als sie den ersten Schnaps runter stürzte, zuckte Syrias innerlich mit den Schultern und nahm einen Bissen seines Eintopfs. Doch während er noch kaute, kippte sich Johanna schon Glas zwei und drei hinterher. Anscheinend war es mit Isidor nicht ganz so verlaufen, wie die junge Frau vielleicht gehofft hatte? Oder hatte sich der junge Schmied völlig daneben benommen und so Johanna vertrieben? Vielleicht waren auch seine Qualitäten als Liebhaber nicht wirklich herausragend, bedachte man die kurze Zeit in der Johanna wieder unten war. Aber da sprachen Sowohl Mimik als auch Gestik dagegen.
Oder hatte Syrias doch recht gehabt und Isidor mochte den Fremden mehr und Johanna war davon ausgegangen, dass er sie mochte? Hatte die junge Frau nicht was von einer Friede erzählt? Oder war es Frieda gewesen? Und was war überhaupt in dem Geschenk gewesen? Alles Fragen, die sich Syrias stellte. Doch Johannas Miene hielt ihn sehr davon ab, nachzuhaken.
"Vorsicht, Mädel." warf er stattdessen ein, nachdem Johanna mit einem lauten Knallen das dritte leere Glas auf den Tisch geknallt hatte. "Das ist starkes Zeug. Und du siehst nicht grad so aus, als solltest du dir gleich drei Stück davon hinter die Birne knallen." Syrias nahm noch einen weiteren Löffel seines Eintopfs, doch bevor er ihn zum Mund führte, redete er weiter.
"Egal, was das da zwischen euch grade war, das Zeug hilft dir da nicht weiter." Er wies mit seinem vollen Löffel auf die drei leeren Gläser. "Besonders nicht bei ner kleinen Person wie dir."
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Klippenschänke
„Ja ja, ich knall dir gleich eine hinter die Birne“, lallte Johanna und zog eine Schnute. Sie stützte sich auf ihre Ellenbogen und schubste das letzte Gläschen unwirsch auf dem Tisch herum. „Und fang nich‘ schon wieder mit klein an, ja? S’is echt ätzend mit euch Ries’n … ich fang doch auch nich‘ immer an, wie alt du bist. Und du bist alt, Mann!“
Das Glas stürzte sich über die Tischkante und flitschte in die Freiheit des Schankraumes davon, ohne zu zerbersten. Stabiler Scheiß. War wohl in weiser Voraussicht so robust gebaut.
„Weiß’u, der Arsch-“, sie zeigte zur Tür, „-der Arsch weiß genau, dass er mit Frieda gehen soll. Schwärmt mir die ganze Zeit vor, ‚Oh ich bin so nervös‘, ‚Oh wie soll ich mich nur richtig verhalten?‘. Und dabei is‘ er auch noch so scheiße süß! Also …“
Sie zeigte auf ihren Hals. „Nich‘ das da, s’klar. Sieht aus wie zerlaufener Pudding, oder? Aber die Augen! Da guckt er dich an wie ein Hündchen und is‘ so tollpatschig und doof und süß, und dabei hab ich ihn für meine Freundin klargemacht!“
Johanna zerfloss auf dem Tisch und streckte die Arme lang, während sie ein langgedehntes, leidvolles Ächzen von sich gab. Mit der Wange spürte sie, wie klebrig das Holz eigentlich war. Es scherte sie gerade nicht allzu sehr.
„Nein, Alkohol is‘ genau das Richtige für solche Momente“, resümierte sie kraftlos.
Eine ganze Weile starrte sie einfach nur so daliegend durch den Schankraum. Dann schoss sie wieder hoch. Sie war doch gar nicht fertig mit erzählen!
„Jedenfalls!“ Sie taxierte die zwei Syriasse – oder Syrien? – und blinzelte ein paar Mal, bis sie wieder zu einem wurden (was auch definitiv genug war). „Da schenkt der mir so’n scharfen Scheiß? Is‘ der dumm? Das soll doch nich‘ zwischen uns, und so! Hornochse …“
Sie schüttelte vehement den Kopf, ließ es aber schnell wieder bleiben, als sie merkte, was ihr Gleichgewichtssinn davon hielt.
„Ich – ich hab immer so’n scheiß Glück mit den Kerlen, sag ich dir. Georg war mein Erster, wär vielleicht auch der Letzte geblieben, aber NEIN! Mein Ziehvater, die dumme Sau, hat ihn umgebracht. Ja, und Rudra! Der is‘ der Beste! DEN lieb ich, aber mit dem kann ich nicht – naja, weißt schon – weil er …“ Sie hob die Hand, um zu zeigen, wie groß er war. „Und dann kommt der Arsch und soll eigentlich für meine Freundin sein, und dann macht er mich an? Und ich bin auch so dumm und steh auf ihn! Scheiße …“
Sie spürte, dass die drei Apfelbrände immer mehr Wirkung entfalteten. Wenigstens fühlte sich jetzt alles so taub und weit weit weg an, dass ihr alles egal sein konnte. Besser so, als vor Scham im Boden zu versinken.
„Weiß’u, du has‘ b’stimmt auch ma‘ nich‘ schlecht ausgesehen. Bevor du alt geworden bis‘, mein‘ ich. Vor hundert Jahren, da wär‘ch bestimmt mit dir statt mit dem auf die Schnauze geflog’n.“
Sie lachte dreckig auf. „Näää, du bis‘ so’n schlecht gelaunter Stinker, das wär mir nich‘ passiert! Aber das mag ich an dir, weiß’u? Du bis’n Stinker, aber‘n ehrlicher. Wenn du die Fresse aufmachs‘, stimmt das, was rauskommt.“
Johanna drückte sich mit beiden Händen hoch und wollte zur Seite heraustreten, doch ihre linke Hand rutschte von der Tischkante. Viel zu schnell kam der Tisch näher, küsste ihre Stirn und schickte sie zu Boden. Sie ächzte, rappelte sich aber umgehend wieder auf.
„Mir geh’s gut, all’s gut.“
Sie torkelte zu Syrias und Meve hinüber und warf sich zwischen die beiden auf die Bank.
„Wiss‘ ihr, ich sollt’s lieber mit Frauen halten, ‘s is‘ viel einfacher! Blöd, dass ich nich‘ auf die steh‘! Aber die versteh ich wenigstens …“
Sie lehnte sich an Meve an – nun es war mehr ein Umfallen an ihre Seite.
„Du bis‘ so schön fest un‘ kuschelig! Ich sag dir, wenn ich’n Kerl wär, ich würd dich nehmen, Süße! An der Wut könn’ wir arbeit’n, ‘s krieg’n wir hin. Aber wenigst’ns würd’st du keine Unterwäsche schenk’n, sondern ‘ne Keule oder so was! Un‘ du könnt’st selbst Sü-ras über die Schwelle trag’n.“
Johanna sank an Meves enormer Flanke herab und kam mit dem Kopf auf ihrem Schoß zum Liegen, wo sie sich zusammenrollte und die Augen schloss.
„Scheiß drauf, ich heirate einfach dich, Süße“, murmelte sie und schmatzte. „Scheiß auf Isi- Dings! Un‘ scheiß auf Rudra, der kommt ja nich’ ma‘ her. Feigling …“
Erneut schmatzte sie und umschlang ihre Schultern und den Händen. Es war so ein wohliges Gefühl von Schweben, wenn man sturzbetrunken die Augen schloss und sich treiben ließ. Alles war gut – naja, fast alles.
„Ich muss mal …“
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Im Regen
Der Wolkenbruch verdunkelte den bis dahin schönen Sommertag und ließ Sturzbäche auf den kleinen Felsen an der See hinunterstürzen. Rudra nahm keinen großen Anteil daran. Seine Kleidung war schließlich bereits durch und durch vollgesogen mit Wasser, jeder weitere Tropfen machte also keinen Unterschied. Vor allem sein Turban war so schwer, dass er mehr als nur einmal befürchtete, ihn bei einer unbedachten Bewegung zu verlieren. Doch die Wicklung war eng genug, dass nichts verrutschte.
Die behandschuhten Pranken schoben den Handwagen über das Pflaster, der mittlerweile nicht mehr ganz so leer wie noch zu Beginn seines Stadtaufenthalts war. Ja, er hatte Johanna erklärt, er würde nur den Wagen holen. Doch es war besser für alle, wenn er sich fernhielt von ihren Freunden – ganz besonders von diesem Syrias, der zweifelsohne irgendeinen wie auch immer gearteten Verdacht gegen ihn hegte. Also hatte er sich dazu entschlossen, stattdessen bei dem weiterzumachen, weshalb er überhaupt gekommen war. Nun, da die Händler vor dem Platzregen und der einsetzenden Dunkelheit geflohen waren, konnte er immerhin schon Nägel, Werkzeuge und Proviant für ein paar weitere Wochen vorweisen. Für Bretter jedoch würde er sich an eines der Holzfällerlager außerhalb der Stadt halten müssen. Da kam er wohl nicht drumherum.
Seine schweren, stapfenden Schritte führten ihn geradewegs über den Torplatz, als er etwas Ungewöhnliches erblickte. Er hielt an, änderte seine Richtung und hielt geradewegs darauf zu.
„Keine Angst“, murmelte er auf Orkisch. „Ich tu dir nichts.“
Ein schneller Blick sagte ihm, dass es ein Männchen war. Ein deutlich mehr durch Reisen und Strapazen geprüftes Tier als all die anderen, die ihn auf der Brücke passiert hatten. Dann gehörte er wohl nicht zur Zuchtmesse. Ob er aus irgendeinem Stall ausgebrochen war? Ein Besitzer schien jedenfalls nicht in der Nähe zu sein. Das Tier harrte wacker im strömenden Regen aus, doch es zitterte so sehr, dass Rudra es nicht hier stehen lassen wollte.
Er stellte den Handkarren ab, ergriff die Zügel des Esels und legte die freie Pranke sanft auf die Stirn des Tieres. „Komm.“
Der Esel löste sich aus seiner Starre, machte zunächst einen unsicheren Schritt zurück, dann wieder einen vor. Rudra strich ihm über den Kamm, dann über die Seite des Halses. Dann raffte er die Zügel in einer Pranke, sodass der Esel nah bei ihm blieb, und griff wieder nach den Handläufen seines Karrens. Sein Weg führte ihn vor dem Torhaus rechts, am Rand des südlichen Festplatzes entlang, auf den Innenhof der Klippenschänke. Hier gab es auch einen Verschlag für Nutztiere. Rudra ließ den mit einer Plane abgedeckten Karren an einer Seite des Innenhofs stehen und führte den Esel in den Verschlag.
Er strich dem Tier sorgfältig den Regen aus dem Fell. Es ließ die Pflegeprozedur klaglos über sich ergehen. Dann führte Rudra den Esel an eine freie Stelle der Futterkrippe.
„Ruh dich aus, Freund“, sagte er, diesmal in der Sprache der Menschen – nur für den Fall, dass jemand im Stroh lag und aus seinem Nickerchen erwachte. Er wandte sich ab und trat hinaus. Hoffentlich hielt sich Johanna nicht mehr mit ihren Freunden im Schankraum auf, dachte er. Auf weitere Gespräche, in denen er seine Identität verschleiern musste, hatte er für heute keine Lust.
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Tempel des Wassers
Ruhe. Frieden. Gleichgültigkeit.
Leidenschaftslos betrachtete Kisha das Gespräch zwischen Aniron und den beiden Fremden. Gerade noch war sie drauf und dran gewesen, diesem arroganten Mann das Gesicht zu brechen, um ihm etwas Anstand beizubringen, doch dann hatte sie das Flüstern überrollt und ertränkt wie eine Welle.
Kimya …
Die Ruhe und Geborgenheit, die darin lagen, waren so umfassend, dass man sich ihrer nicht entziehen konnte. Wie ein Tuch legte sich der Zauber um ihre Gedanken, hüllte sie ein und löschte das Feuer in ihrem Herzen. Doch das Flüstern der Vizuka verschwand nicht einfach – es klebte an ihrem Verstand wie das betörend duftende Harz des Windoke-Baumes. Das Flüstern wurde leiser, ja, doch es nahm kein Ende.
Kisha starrte mit kraus gezogener Stirn auf das Fenster zur See. Es war zu viel! Doch es war in Ordnung, denn das Flüstern sagte ihr, dass es in Ordnung war. Es war falsch! Doch es fühlte sich gut und richtig an.
Kisha wusste, dass sie nicht vollständig war. Diese Gelassenheit war nicht normal. Das war nicht sie. So war sie noch nie gewesen, war ihr ganzes Volk nie gewesen. Gefühle waren dafür da, gelebt zu werden. Sie wollte nicht, dass es ihr egal war. Der Mann hatte es nicht verdient, dass es egal war, wie er sich verhielt!
Langsam, schwankend, unsicher tat sie einem Schritt um den anderen zurück. Verschwand aus dem Zentrum der Szene. Sie wollte hier nicht sein, wenn es sie so unnatürlich veränderte. Ihr erster Gedanke war, aus dem Tempel zu flüchten, doch das Flüstern von Anirons Zauber hätte sie weiter verfolgt. Es gab nur einen Ort, an den sie fliehen konnte, um wieder zu ihrem Selbst zu finden.
Ihre Schritte hatten sie quer durch die Tempelhalle geführt, noch bevor der Gedanke feste Formen in ihrem Kopf angenommen hatte. Wie eine Verdurstende vor einem Brunnen schleppte sie sich zu dem Siegel unweit des Felses, das sie schon einmal gerettet hatte vor der allumfassenden Übermacht des Flüsterns der Vizuka an diesem Ort.
Als sie in das Innere trat, verstummte das Flüstern auf der Stelle. All die fortgespülten Gefühle kehrten zurück, machten sie wieder ganz. Kishas Hand ballte sich zur Faust. Da war er wieder, der Zorn, aber auch Enttäuschung. Aniron hatte sie zum Ziel ihrer Magie gemacht, in ihren Geist eingegriffen und sie verändert. Geschah genau das, wovor sie immerzu Angst gehabt hatte, wenn sie dem Flüstern der Vizuka zu viel Raum in ihrem Leben schenkte und selbst zur Sikyo ya Roho würde. Was war dann noch sie selbst und was nur das Ergebnis dessen, was die Vizuka mit ihr anstellten?
„Ich will das nicht“, sagte sie sich mit fester Stimme.
Ihr Blick ging hinüber zum Felsen. Sila behielt immer noch im Auge, was am anderen Ende der Halle geschah, doch sie machte keine Anstalten, aktiv zu werden. Diese Disziplin und Aufopferung! Tagein, tagaus an diesem verfluchten Felsen zu stehen und sich dem Flüstern auszusetzen! Doch sie wich nicht ein Iota von ihrer Aufgabe ab, trat nicht einen Fingerbreit fort von dem, was ihr zu schützen befohlen war, solange die Fremden es nicht gefährdeten.
Kisha erschrak, als sie bemerkte, dass Sila sie ansah. Ruhig, kühl, abwägend. Diese Frau war ein faszinierendes Geheimnis.
„Nicht jeder Kampf ist deiner“, sprach die Hüterin des Felses. Kisha staunte, dass sie die Worte aus dieser Entfernung hören konnte – war sie es doch gewohnt, dass die Stimmen im Tempel von allen Seiten auf sie einflüsterten. Doch im Inneren des Siegels war der Tempel für sie so still und friedlich, dass sie selbst eine Stecknadel fallen gehört hätte.
„Woher weiß ich, welchen Kampf ich kämpfen soll?“, fragte sie.
„Erinnere dich stets daran, was für dich wirklich zählt. Weshalb du dort bist, wo du bist. Dann wirst du die Antwort allein finden.“
Kisha legte die Stirn in Falten. Der Zorn war fast vergessen, ganz ohne Zauber. Das, was für sie wirklich zählte?
„Ich verstehe nicht“, gab sie zu.
„Weshalb bist du nach Stewark gekommen? Nach Argaan?“
Kisha sah Sila mit großen Augen an. „Oh …“
Sie setzte sich inmitten des Siegels der Neutralisation nieder. Sie musste nachdenken.
Ihre Wangen waren tränenfeucht. Wie hatte sie es nur vergessen können?
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Klippenschänke
Ungläubig starrte Isidor noch immer auf die Innenseite seiner Zimmertür. Was bei den Göttern war da gerade geschehen? Nicht nur war er scheinbar äußerst lapidar mit seiner Wortwahl gewesen, denn als er gesehen hatte, wie Johanna sich aus ihren nassen Klamotten geschält hatte, wollte er sie noch aufhalten und ergänzen, dass sie es in ihrem Zimmer tun sollte, um sich Wechselkleidung anzuziehen. Doch ihr Anblick hatte ihn davon abgehalten und noch immer hing ihm das Bild der von Regenwasser durchnässten, halb bekleideten jungen Frau, die allein mit ihm in seiner Stube war, nach.
„Du verdammter Idiot“, knurrte er sich selbst an.
Doch das war bei Weitem nicht das Schlimmste gewesen. Dieser verdammte Piero hatte ihm tatsächlich Reizwäsche für Johanna eingepackt. Reizwäsche! War der Kerl von allen guten Geistern verlassen?
Der Schmied klaubte die Verpackung vom Boden auf und war drauf und dran in den Schankraum zu stürmen und dem herausgeputzten Paradiesvogel alles samt schicker Schleife so tief in sein Maul zu schieben, dass es dort landete, wo Johanna es seiner Meinung wohl tragen sollte.
„Dieser Wichtigtuer!“, grollte Isidor und trat den Stuhl mit Wucht um, auf dem Johanna eben noch gesessen hatte.
Das Holz war noch feucht an den Stellen, wo ihr Hintern das Material berührt hatte und aus unerfindlichen Gründen machte es den jungen Mann noch wütender. Wie sollte er das wieder geradebiegen? Es war egal, dass er mehrfach betont hatte, dass er nicht wusste, was in dem Päckchen war. Johannas Reaktion hatte dahingehend keine Fragen offengelassen.
Und Fräulein Frieda? Ja, was war mit Fräulein Frieda? Dieses Geschenk hatte nichts daran ändern sollen wie die nächsten Tage abliefen, doch was war jetzt? Er konnte wohl kaum noch auf die Hilfe des kleinen Energiebündels hoffen, nachdem der Abend so verlaufen war. Sollte er die süße Bäckersfrau also überhaupt noch treffen? Immerhin war sie mit Johanna befreundet und was die Dunkelhaarige für sie beide eingestielt hatte, konnte sie wohl ebenso schnell wieder zunichtemachen. Nicht, dass Isidor ohne sie überhaupt eine Chance gehabt hätte. Aber es war auch wieder typisch, dass dem Kerl, der fürs Leben entstellt war, keinen Funken Glück verdiente.
„Das ist alles die Schuld von diesem Mordbrenner!“, schrie der Unglücksrabe seinen Frust heraus und suchte in dem karg eingerichteten Raum nach weiteren Sachen, die er umtreten oder werfen konnte, „Nur wegen ihm bin ich überhaupt auf diese götterlose Insel gekommen, habe Vengard verlassen und stattdessen dieses Kaff am Ende der Welt besucht. Verflucht!“
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