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Ska’ri wollte gerade zu einem der massiven bronzenen Türklopfer greifen, die zu Füßen der beiden Skelette das Tor zierten, als plötzlich irgendjemand aus heiterem Himmel etwas sagte. Reflexartig fuhr Ska’ri herum und riss dabei das Schwert aus der Scheide – ein wenig angespannt waren ihre Nerven in dieser unwirtlichen Umgebung dann doch, und dass sich irgendwer völlig unbemerkt an sie herangeschlichen haben musste …
Aber hinter ihnen war niemand. Jedenfalls konnte sie niemanden sehen. Sie kniff die Augen zusammen und suchte genauestens die ganze Umgebung ab, aber das Plateau vor dem Kastelltor war leer – abgesehen von ihr selbst und Venom natürlich. Aber die Stimmen bildete sie sich mit Sicherheit nicht ein! Irgendwer fabulierte da etwas von Menschenfleisch essen …
„Venom? Hast …“ Aber Venoms Blick war fest auf das Tor gerichtet, den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und Ska’ri realisierte, dass die Stimmen eindeutig von hinter ihr kamen – vom Tor. Langsam drehte sie sich um und ließ ungläubig das Schwert sinken.
Die Skelette bewegten sich.
Und redeten.
Und zwar … kompletten Unsinn.
„Ein … Rätsel?“ Ska’ri traute ihren Ohren kaum. Sie hatte ja einiges erwartet am Kastell der Morra-Priesterschaft des Schöpfers, aber soetwas? Nahmen die den Herrn der Schöpfung, den Gott von Leben und Tod, überhaupt ernst?
Aber ja, die Skelette schienen es ernst zu meinen. Irgendwie. Jedenfalls starrten sie Ska’ri und Venom erwartungsvoll an – sofern man bei leeren Augenhöhlen von starren reden konnte. Noch immer völlig überrumpelt, steckte Ska’ri ihr Schwert wieder weg und kratzte sich am Kopf.
„Ein … Bauer … der vor einem Pferd verschwindet? Was soll das bitte für ein Rätsel sein?“ Sie stieß Venom mit dem Ellenbogen an: „Sag doch auch mal was!“
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Lucky 7
Venom blinzelte die Skelette an, dann warf er Ska’ri einen halb belustigten, halb genervten Blick zu. „Was soll ich sagen? Dass ich noch nie mit untoten Türstehern geredet habe?“
Er verschränkte die Arme und sah wieder zu den Skeletten hoch. „Ein Bauer, der vor einem Pferd verschwindet …“ Er dachte kurz nach. „War es vielleicht ein Schachbrett? Der Bauer wurde geschlagen und verschwand, als das Pferd – also der Springer – zog?“
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Corsika würde dieser Hausherrin trotz ihrer geringeren Körpergröße eine gewisse Hochnäsigkeit attestieren, aber ihr Spott galt Dion und darüber konnte sich nicht mal die sonst recht kühle Corsika ein erheitertes Zucken in ihrem Mundwinkel unterdrücken. Dennoch hatten sie es hier mit Schwarzmagierinnen zu tun und da war wohl bei all den Gerüchten und Schreckensgeschichten - selbst, wenn sie aus dem überdimensionalen Mund eines ehemaligen Innos-Anbeters stammten - eine gewisse Vorsicht geboten.
Sie nahm das Pergament zurück und bemühte sich, die Enttäuschung in ihrem Blick zu verbergen. Die Worte der Hausherrin blieben dennoch in Corsikas Kopf hängen.
Sie bauen keine Säulen, sondern beschwören nur Dämonen und den Tod.
Wenn dem so war, musste es dennoch jemanden geben, der dieses Gemäuer hier erbaut hatte. Vielleicht eine Art dämonischen Diener? Man konnte diese Wesen sicher zu mehr als der bloßen Zerstörung nutzen.
‚Es würde zumindest nicht schaden, sich ein bisschen umzuschauen.‘ Corsikas Blick wanderte erneut zu der leichenartigen Gestalt in Weiß.
‚Und ein paar Vorurteile abzubauen‘, fügte sie gedanklich an.
Schließlich wurden sie dazu aufgefordert, einen Tribut für ihre Anwesenheit dazulassen. Das war wohl nur fair und Corsika hätte das gleiche erbeten, denn wenn es darum ging, sich einen Vorteil herauszuschlagen, war sie recht geübt. Der dreiste und feiste Dion versenkte den goldenen Ring in der Opferschale und wäre sein Hals nicht so wulstig, wäre Corsika ihm dafür am liebsten an die Gurgel gegangen. Für dieses kleine Schmuckstück wären sie beide beinahe als Moorleiche geendet. Wieder wanderte ihr Blick zu der salzsäuligen Gestalt mit den langen, schwarzen Haaren. Ob sie wohl auch aus den Sümpfen gestiegen war, um hier zu hausen? Oder womöglich selbst beschworen wurde?
Dions Opfer wurde akzeptiert und Corsika beließ es bei einem Augenrollen. Sie konnte ihm später noch nachtragend sein. Für solche Dinge hatte sie ein gutes Gedächtnis.
„Na schön, dann bin ich wohl an der Reihe“, sprach sie und trat an die Statue heran. Sie sah erschreckend lebensecht aus, beinahe so, als ob derjenige einst zu geizig für einen Tribut war und dafür zu Stein verwandelt wurde. Dieses Schicksal wollte sie selbst nur ungern teilen.
So entschied sich Corsika schweren Herzens, ihren Kompass in die Schale zu legen. Er hatte sie auf ungeahnten Umwegen hierhergeführt und irgendetwas sagte ihr, sie bräuchte ihn nicht mehr, denn sie hatte das Ziel ihrer Reise gefunden. Jetzt müsste sie bloß noch den Grund dafür erfahren.
Der Kompass verschwand, aber sie selbst durfte bleiben. Ein kurzes Lächeln zierte ihre Lippen, fast so, als wäre erst gerade eine schwere Last von ihr genommen worden.
„Jetzt, da wir anscheinend über Nacht bleiben dürfen und einen kostbaren Tribut gezahlt haben“, begann Corsika und richtete sich an die anderen beiden Frauen. „wärt Ihr bereit, uns etwas von Euch zu erzählen? Oder von diesem Gebäude? Wer hat es errichtet?“
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»Na großartig. Das hat er ja sofort gewusst, das war anscheinend viel zu einfach«, maulte das eine Skelett.
»Anscheinend haben alle Leute heutzutage irgendein geheimes, aber weit verbreitetes Nachschlagwerk in der Tasche, das ihnen alle Rätselfragen im Handumdrehen löst, mögen sie auch noch so schwer sein.«
»Ja, das macht gar keinen Spaß mehr«, beschwerte sich das andere Skelett.
Doch da schwangen die Torflügel schon auf und überließen die beiden Torwächter jeweils allein ihren trübseligen Gedanken.
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Lucky 7
Venom ließ den Blick durch die Eingangshalle wandern, welche sich unmittelbar hinter dem Portal befand. Die Szene, die sich ihnen bot, war … eigenartig.
Das große Pentagramm auf dem Boden war nicht weiter verwunderlich – das Kastell der Schwarzmagier strahlte ohnehin genug düstere Macht aus, dass er hier eher damit gerechnet hatte als mit einem freundlichen Willkommensschild. Die Steinfigur in der Mitte des Raumes fiel ihm ebenso auf, aber noch mehr irritierte ihn die seltsame Gesellschaft, die sich hier versammelt hatte.
Vier Menschen – und eine ganze Ansammlung von … Viehzeugs.
Venom musterte sie.
Der dicke Junge mit den kleinen Schweinsaugen schaute ihn und Ska’ri an, als wäre er sich nicht sicher, ob sie eine Bedrohung darstellten. Er hielt sich leicht im Hintergrund, aber seine Blicke waren neugierig.
Die Fremdländerin mit der Sichel in der Hand wirkte nicht besonders beeindruckt von ihrer Ankunft. Ihre Haltung war locker, doch ihre Augen waren wachsam – ein Zeichen, dass sie sich ihrer Umgebung sehr bewusst war.
Die Frau im weißen Kleid mit den langen, schwarzen Haaren sah beinahe aus wie ein Geist. Sie bewegte sich kaum, beobachtete sie nur mit kühler Distanz. Irgendwie schien sie nervös zu sein.
Und dann war da noch eine dritte Frau. Sie mochte auch klein sein, aber ihre Haltung, die Art, wie sie dastand, ließ keinen Zweifel daran, dass sie hier das Sagen hatte – oder zumindest glaubte, es zu haben.
Ska’ri schnaubte leise. „Na, das ist ja eine bunte Truppe“, murmelte sie.
Venom nickte kaum merklich und versuchte, sich einen Reim auf die Situation zu machen. Waren das ebenfalls Suchende, die in das Kastell gekommen waren? Oder Bewohner? Anhänger der Schwarzmagier?
Geändert von Venom (06.03.2025 um 14:47 Uhr)
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Als Venom nach kurzer Überlegung den beiden Torskeletten die Lösung ihres Rätsels präsentierte, zog Ska’ri nur verständnislos die Augenbrauen nach oben.
„Schaschlik? Was bei Ulgaks Eiern haben ein Bauer und ein Pferd mit Schaschlik zu tun? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!“
„Schach“, verbesserte Venom, „Das ist ein beliebtes Brettspiel.“
Ska’ri schüttelte den Kopf und warf dem Skelett an dem Torflügel, bevor es aus ihrer Sichtlinie schwingen konnte, einen missbilligenden Blick zu: „Hey! Das war unfair! Woher soll ich wissen, was ihr Morras für Spiele spielt? Das war Absicht, oder? Gib‘s zu!“ Das Skelett lachte meckernd. „Na warte“, knurrte Ska’ri, „Wir sprechen uns noch!“
Ihr Disput mit dem Skelett würde allerdings warten müssen, denn wenn sie geglaubt hatte, dass sprechende Skelette, die alberne Witze machten und unfaire Rätselfragen stellten, das bizarrste sein würden, was sie im Kastell der Schwarzmagier erwartete, dann wurde Ska’ri schnell eines besseren belehrt, als die geräuschlos aufschwingenden Torflügel den Blick freigaben auf die sonderbarste Ansammlung an Individuen, die der Orkin seit langem zu Gesicht gekommen waren. Nicht zu vergessen die Gänse und Ziegen, die fröhlich die Vorhalle des ehrwürdigen Gemäuers erkundeten und hier und da einen Klecks oder ein paar Köttel als Zeichen ihrer Anerkennung hinterließen.
Ska’ri stemmte die Arme die in die Hüften, ihr Gesicht war ein Bildnis der Fassungslosigkeit: „Du willst mich doch jetzt verarschen, oder?“
Geändert von Ska'ri (06.03.2025 um 11:53 Uhr)
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Arzu hatte genaustens darauf geachtet, was Dion und Corsika jeweils auf die Schale Vabuns gelegt hatten. Besonders beeindruckt war sie nicht. Sie selbst hatte schließlich eine Schatulle voller Edelsteine abgegeben. Dafür war sie jetzt eine hohe Schwarzmagierin. Andererseits machten die beiden Neuankömmlinge auch nicht den Eindruck, als wenn bei ihnen mehr zu holen war. Da sich das Kastell außerdem gnädig zeigte und den Tribut akzeptierte, nahm auch Arzu es wortlos hin.
Gerade wollte die Nekromantin auf die Frage von Corsika eingehen, als sich schon wieder das Haupttor öffnete. Zwei weitere Gestalten traten ein. Das eine war ein hochgewachsener Kerl, dessen Gesicht von seinem Turban größtenteils verdeckt blieb. Das andere war ein Ork; eine Orkfrau sogar! Auf den ersten Blick nahmen sich beide nichts in Sachen Körpergröße und Arzu besah sich den Mann noch einmal genauer. Sie war sich ziemlich sicher, dass es sich bei ihm um einen Menschen handelte und nicht um einen weiteren Ork. Tatsächlich hatte er fast schon varantische Züge. Landsmann hin oder her, interessierte sich die Schwarzmagierin viel mehr für die Orkfrau. Seinerzeit hatten viele Orks Ishtar besucht, um Zuben die Ehre zu erweisen. Es war deshalb nicht ihre erste Begegnung mit einem Ork. Nur hatte Arzu nicht gewusst, dass es auf dieser Insel ebenfalls Orks gab. Nun, sie wusste vom Orkwald. Doch gesehen hatte sie keinen der Grünfelle. Und das Fell der Orkfrau sah auch eher nach Schlamm als nach grün aus. Irritiert wurde die Varanterin zudem von der ungewöhnlichen Frisur der Orkin. Etwas vergleichbares hatte sie selbst zuletzt getragen, als sie noch ein kleines Kind war.
»Willkommen!«, rief Arzu zu den neusten Neuankömmlingen herüber, über das Geschnatter und Geblöke der Tiere hinweg.
»Wer seid ihr und was bringt euch in meine Hallen?«, fragte sie dann. In erster Linie richtete sie ihre Worte an die Orkfrau. Nur selten kam es in ihrer Erfahrung vor, dass sich Orks und Menschen zusammentaten und die Menschen dabei die Führung übernahmen. Hier würde es gewiss auch so sein.
Geändert von Arzu (06.03.2025 um 21:13 Uhr)
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Ska’ri mustert die Frau, die das Wort an sie gerichtet hatte, misstrauisch. Es fiel ihr schwer, sich auf die Szene, die sich ihr bot, einen Reim zu machen.
Die vier Gestalten, von denen sie hier in Empfang genommen wurden, konnten unterschiedlicher kaum sein – da war die Sprecherin, deren Fummel aussah, als würde sie zur Oberschicht der Morra-Gesellschaft gehören. Ska’ri hatte solche Leute bisher nur sehr selten zu Gesicht bekommen, aber normalerweise waren sie verweichlicht und nutzlos, das wusste sie. Bei den Morras musste man die eigene Machtposition selten selbst gegen Rivalen verteidigen, sondern ließ das seine Untergebenen für sich erledigen – die dafür aber hinter den Kulissen nicht selten die eigentlichen Drahtzieher waren. Jedenfalls mochte die die schwarzgekleidete Frau vielleicht die Hausherrin sein, aber sie sah nicht aus wie eine Schamanin des Schöpfers, soviel stand fest.
Genauso wenig dürfte es sich aber bei den beiden im Vergleich sehr bäuerlich gekleideten Morras um Schamanen handeln. Vor allem nicht der dicke Junge mit seinen weit aufgerissenen Kulleraugen und der rotglühenden Triefnase. Wahrscheinlich waren das nur die Viehhirten. Ska’ri vermutete inzwischen, dass ein großes Opferritual anstand – das war jedenfalls die einzig logische Erklärung dafür, dass sich so viele Tiere im Tempel des Schöpfers tummelten.
Nachdem also drei von vier Personen ausgeschlossen waren, blieb nur noch eine übrig – die in weiß gekleidete junge Frau hinten im Raum, mit den langen, zerzaust wirkenden schwarzen Haaren, die ihr ins blasse Gesicht hingen. Sie wirkte nervös und verunsichert, beobachtete aber das Geschehen offensichtlich sehr genau. Das musste die Schamanin sein! Sie hatte nicht das protzige Anführer-Gebaren an sich wie die Schwarzgekleidete, war aber offensichtlich auch keine Viehhirtin, und ihr ganzes, etwas absonderliches Verhalten passte zu einem Geisterseher. So ziemlich alle Schamanen, die Ska’ri im Laufe ihres Lebens kennen gelernt hatte, waren auf die eine oder andere Art verschroben gewesen, also warum sollte das bei den Morras anders sein?
„Wir sind auf der Suche nach Rat“, erwiderte Ska’ri schließlich kühl, „Und zwar von einem Schamanen.“
Damit ließ sie die Hausherrin links liegen und ging zielstrebig auf besagte Schamanin zu, die beim Anblick der Orkin erschrocken die Augen aufriss und aussah, als würde sie gleich die Flucht ergreifen. Geistesgegenwärtig blieb Ska’ri ein paar Schritte vor ihr stehen und ließ sich auf ein Knie nieder – wobei sie die Schamanin wahrscheinlich noch immer um eine gute Handbreit überragte. Aber egal wie klein sie sein mochte, sie war eine Priesterin des Schöpfers und verdiente entsprechenden Respekt. Ska’ri neigte ehrerbietig den Kopf.
„Me Tscherpak n’ashgar Varrag! Ich bin Ska’ri und ich und mein Begleiter hier, Venom, wir, äh, erbitten deinen Rat! Unter dem Gebirge fanden wir das Gefängnis eines mächtigen Dieners des Schöpfers, und er hat uns gebeten, ihn zu befreien, aber wir wissen nicht, wie. Er führte uns zu diesem Buch hier …“ Ska’ri zog den Folianten aus ihrem Bündel und reichte ihn der Schamanin, die ihn mehr aus Reflex entgegennahm und dann vor sich hielt und anstarrte wie einen Fremdkörper, der nicht in diese Welt gehörte. Ungeachtet dessen fuhr Ska’ri fort: „Leider können wir die Schriftzeichen nicht entziffern! Oh, und wir haben auch noch andere Dinge gefunden, die vielleicht etwas damit zu tun haben. Kannst du uns helfen, ehrwürdige Varrag? Ich glaube, es ist eine bedeutende Angelegenheit!“
Die Schamanin blinzelte hinter ihrem Vorhang aus schwarzen Haarsträhnen und sah dabei ziemlich verwirrt aus. Das Buch hielt sie nach wie vor in den Händen, als wüsste sie nichts damit anzufangen.
„Äh … äääh … a-a-also … i-ich … i-i-ich meine, d-das … also … äh … t-t-tut mir leid!“, stammelte sie schließlich.
Nicht gerade die Antwort, auf die Ska‘ri gehofft hatte.
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Was erlauben Strunz, schoss der Nekromantin durch den Kopf, als sie einfach von der Orkfrau links liegen gelassen wurde. Zu allem Überfluss ging sie auch noch direkt auf Thara zu, als ob das dürre Mädchen irgendetwas zu melden hätte. Als wäre nicht offensichtlich, dass sie, Arzu, die hohe Schwarzmagierin Beliars wäre!
»Hey!«, rief die Varanterin laut zur Orkfrau herüber. »Ich habe hier das Sagen!«
Zügigen Schrittes ging Arzu zu Thara herüber und blinzelte die Orkfrau böse an. Das Buch schnappte sich die Nekromantin ohne ein Bitte oder Danke. Niemand würde sie ungestraft auf diese Weise übergehen. Um den Punkt unmissverständlich klar zu machen, streckte Arzu ihre Hand aus und zog augenscheinlich an einem immensen, unsichtbaren Gewicht. Es bedurfte ihrer vollen Konzentration, denn in dieser Situation musste ihr die Zauberformel auf Anhieb gelingen.
Wenn das jemand kann, dann du, feuerte sich die Varanterin in Gedanken an. Plötzlich bebte es und eine Steinpranke kam aus einem tiefschwarzen Loch im Boden empor. Dann eine weitere. Es folgte der kolossale Körper eines Golems, der sich wortlos an die Seite seiner Herrin stellte.
»Ich bin Arzu von Ishtar, hohe Schwarzmagierin dieses geweihten Kastells!«, proklamierte die Varanterin.
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Schöne Scheiße … Arschbombe in die Schmierfettwanne!, dachte Ska’ri und räusperte sich verlegen. Da hatte sie die Situation wohl vollkommen falsch eingeschätzt und damit richtig tief in die Latrine gegriffen. Das steinerne Monstrum, das die Hausherrin aus dem Nichts herbeigerufen hatte, war jedenfalls ein felsenfester (ha!) Beweis dafür, dass Arzu von Ishtar, wie sie sich nannte, über schamanische Fähigkeiten verfügte. Das stotternde Mädchen in Weiß leistete auch keinerlei Widerstand, als Arzu ihr das Buch aus den Händen riss, sondern zog wie ein geprügelter Hund den Kopf zwischen die Schultern. Offensichtlich war sie überhaupt keine Schamanin, sondern nur eine Dienerin oder Sklavin.
„Oh … äh … verzeih, verehrte Varrag Arzu von Ishtar“, entschuldigte sich Ska’ri zerknirscht, „Ich habe wohl einfach zu lange nicht mehr mit Morras zu tun gehabt, deswegen dachte ich … also … ich dachte … egal, ich entschuldige mich! Und Venom auch!“ Mit einem seitlichen Kopfnicken forderte Ska’ri ihren Begleiter auf, genau das zu tun. Genau genommen hatte er sich zwar nichts zu Schulden kommen lassen, aber es schadete sicher nichts, vorsichtig zu sein. Schamanen waren oft launisch. Zum Glück schien Arzu fürs erste zufrieden zu sein und machte keine Anstalten, ihnen das Steinwesen auf den Hals zu hetzen, so dass Ska’ri schließlich vorsichtig nachhakte: „Und … glaubst du, dass du uns mit dieser Sache helfen kannst?“
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Wie Öl lief diese Entschuldigung herunter und Arzu setzte ein selbstgefälliges Lächeln auf. Tatsächlich war sie innerlich so angespannt wie noch niemals zuvor, denn den Golem in ihrer Gewalt zu behalten, war weitaus schwieriger als es den Anschein hatte. Einem Angriff hätte der steinerne Koloss vermutlich nicht standgehalten. Zum Glück wusste das außer Arzu niemand. Auf einen Versuch ließ die Varanterin es auch nicht ankommen. Schließlich hatte sie ihren Standpunkt klar gemacht. Mit einer geschmeidigen Handbewegung gab sie dem Steinriesen den Befehl, sich aufzulösen. Knirschend und Grollend verdrehten sich die einzelnen Elemente der Kreatur gegeneinander und verschwanden dann in das schwarze Loch aus dem sie zuvor gekommen waren.
Eine Last fiel von Arzu, als das Ungetüm verschwunden war. Was für ein Kraftakt. Es stand in keinem Verhältnis zu den Beschwörungen, die sie bisher gemeistert hatte, und offensichtlich gab es für sie hier noch viel zu lernen. Zumindest hatte der Golem dieses Mal die richtige Größe. Unter Druck ließ sich eben gut arbeiten!
»Entschuldigung akzeptiert!«, erklärte die Nekromantin feierlich. Dann warf sie einen näheren Blick auf das Buch. Der Geruch allein verriet bereits, dass es nicht besonders pfleglich behandelt worden war. Fast so, als hätte es Jahre in einem modrigen Keller gelagert.
»Aus dem Gebirge kommt das?«, fragte Arzu. »Das erklärt den Zustand.«
Kurzerhand schlug die Schwarzmagierin den Folianten auf und blätterte ein wenig. Schon wie bei Corsikas Pergament konnte sie die Schrift nicht entziffern. Seltsam, dass beides fast gleichzeitig den Weg ins Kastell gefunden hat, dachte sich Arzu. Einen Zusammenhang schloss sie dennoch aus.
»Die Antworten werden wir in der Bibliothek finden.«, sagte die Varanterin schließlich, schloss das Buch und reichte es Ska’ri. »Bevor ich euch Zugang gewähre, müsst ihr aber einen Tribut entrichten.«
Zum zweiten Mal in nur wenigen Minuten trat die Schwarzmagierin an Vabuns Statue heran und tippte auf dessen Schale.
»Legt ihn dort drauf und wenn er verschwindet, seid ihr Gäste in diesen Hallen.«
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Ska’ri tat ihr Bestes, sich nicht anmerken zu lassen, wie erleichtert sie darüber war, dass Arzu offenbar nicht zur Sorte der nachtragenden Schamanen gehörten, die einen ihrer Meinung nach falschen Blick schon als Beleidigung ihrer Ehre auffassten und straften, indem sie einen mit irgendwelchen entwürdigenden Flüchen belegten – oder schlimmeres. Und sie schien auch bereit zu sein, ihnen zu helfen, obwohl sie mit dem Buch auf den ersten Blick offenbar genauso wenig anfangen konnte, wie Ska’ri und Venom selbst. Dass die Schamanin dafür einen Tribut forderte, überraschte Ska’ri nicht. Da unterschieden sich Schamanen der Morras offensichtlich nicht von ihren orkischen Kollegen…
Die Frage war nur, was war ein angemessener Tribut? Arzu hatte ihnen keinen direkten Preis genannt, und irgendwie schien sie zu erwarten, dass der Tempel – das Kastell, wie sie das Gebäude nannte – darüber entschied. Ska’ri betrachtete nachdenklich die Statue mit der silbernen Schale. Die Figur war von enormer Kunstfertigkeit, das konnte sogar sie erkennen, die von Bildhauerei nun wirklich keine Ahnung hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, schon jemals eine Statue gesehen zu haben, die derart lebensecht wirkte. Wenn man genau genug hinsah, konnte man erkennen, dass sogar die einzelnen Fasern der Robe ausgearbeitet waren! Wie das überhaupt möglich sein konnte, war Ska’ri ein Rätsel. Magie, vermutete sie.
„Ich habe so ein Gefühl, dass es hier nicht um den Wert des Tributs geht“, murmelte sie mehr zu sich selbst, „Eher um die … Bedeutung. Habe ich recht?“
Ska’ri griff an ihren Gürtel und zog ihren Dolch hervor. Die Waffe gehörte zu den wenigen Dingen, die sie noch von ihrem Bruder – nicht Krul, sondern ihrem leiblichen Bruder Rakor, der im Kampf gegen die Morras umgekommen war, als sie noch ein Kind gewesen war – besaß. Die Waffe als Andenken war ihr wichtig … sehr wichtig, um genau zu sein.
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, warf sie den Dolch in die Schale und sah zu, wie er in einer blauschwarzen Wolke verpuffte. Unwillkürlich wurde ihr heiß, sie schluckte und blinzelte eine Träne weg, die sich in ihrem Augenwinkel sammelte.
Ohne ein Wort zu sagen, trat sie ein paar Schritte zurück, damit Venom seinen Tribut entrichten konnte – und um zumindest ein paar Augenblicke für sich zu haben, soweit das gerade möglich war…
Geändert von Ska'ri (06.03.2025 um 23:09 Uhr)
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Lucky 7
Venom hielt sich im Hintergrund während Ska'ri es scheinbar mühelos geschafft hatte die Schwarzmagierin namens Arzu gegen sich aufzubringen. Die Szenerie amüsierte ihn ein wenig, insbesondere der Moment, in dem Ska’ri versucht hatte, ihn in ihre Entschuldigung mit einzubeziehen. Er hatte sich jedoch nicht beirren lassen und ließ die Situation ihren Lauf nehmen. Am Ende schien sich die Lage wieder entspannt zu haben – wenn man das so nennen konnte. Statt weiterhin über Ska’ris Worte zu diskutieren, verlangte Arzu nun eine Opfergabe.
Das steinerne Abbild in der Mitte der Halle hielt eine Schale in seinen Händen, und hier sollten wohl die Gaben dargebracht werden. Ska’ri trat als Erste vor, zog einen Dolch aus ihrer Tasche und legte ihn in die silberne Schale. Kaum hatte sie ihre Hände zurückgezogen, begann die Klinge sich in blauschwarzem Rauch aufzulösen. Dann verschwand sie ganz.
Venom trat vor, während Ska’ri sich mit einem für sie ungewohnten Gesichtsausdruck zurückzog. Er begann, seine Taschen nach einem passenden Tribut zu durchsuchen. Münzen? Nein, zu gewöhnlich. Eine Waffe? Unnötig. Dann glitten seine Finger über etwas Metallisches – einen Ring.
Sein Blick verharrte auf dem kleinen, unscheinbaren Schmuckstück mit dem eingravierten Flammensymbol. Wie lange trug er ihn schon mit sich herum? Jahre? Jahrzehnte? Einst hatte er diesen Ring als Zeichen seines Hasses auf Innos’ und seine Jünger bei sich behalten. Nun stand er hier, inmitten eines Tempels, der sich Beliar verschrieben hatte, und hielt ihn zwischen den Fingern. Ein stiller Moment verging, während er von der Statue zu Arzu blickte.
„Nun gut“, murmelte er schließlich.
Mit einer Mischung aus Entschlossenheit und Neugier legte er den Ring in die Schale. Für einen Moment hielt er den Atem an und konzentrierte sich, versuchte, in sich hineinzuhören. Würde er etwas spüren? Ein Flüstern? Eine Eingebung? Nichts. Kein Zeichen, keine Stimme aus dem Dunkeln. Stattdessen konnte er nur beobachten, wie das Metall des Rings zu glimmen begann. Die Gravur des Flammensymbols verzerrte sich, bis das ganze Schmuckstück in einer sanften Bewegung verging – als hätte es nie existiert.
Ska’ri trat näher an Venom heran und warf ihm einen prüfenden Blick zu. „War das was Besonderes für dich?“
Er sah noch einen Moment in die leere Schale, dann zu ihr. Ein kaum merkliches Lächeln zuckte über seine Lippen. „War es mal.“
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Fast als wäre sie Zuschauerin in einem Theaterstück, beobachtete Corsika mit Staunen, was sich zwischen der Hausherrin, Arzu von Ishtar, wie sie sich nun doch endlich vorgestellt hatte und den Neuankömmlingen abspielte. Der Klimax dieses Stückes war gewiss die Präsentation magischer Dominanz seitens der Schwarzmagierin gewesen, denn es schien ganz so, als ob sie Steine zum Leben erwecken könnte.
‚Sie bauen also keine Säulen?‘, ging es Corsika augenblicklich durch den Kopf, als sie den Koloss erblickte und ehrfürchtig einen Schritt zurücktrat. Arzu schien eine ziemliche Haarspalterin zu sein, aber das traf sicher auch auf dieses Wesen zu, wenn ihm irgendetwas zu Nahe kam. Die armen Gänse waren von dem Monstrum ebenso erschrocken und verloren ein paar Federn, als sie wie kirre durch den Saal flatterten. Nur Ziegenbock Timo schien die Szene völlig unbeeindruckt zu beobachten.
Als nächstes nahm Corsika wahr, wie die Orkin - eine echte Orkin(!) - sich neben das schüchterne Mädchen in Weiß stellte und beide in ein unterwürfiges Zittern verfielen. Und dann reihte sich auch noch Dion in diese Runde ein und Corsika blieb nichts anderes, als zu glauben, dass in diesen drei Wesen, so grotesk das auch sein mochte, ein gemeinsamer Herzschlag zu pochen schien. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.
Der Turbanträger hingegen war ein Mann von hohem Wuchs und wenigen Worten. Corsika konnte instinktiv spüren, dass seine Geschichte ihr Interesse weckte. Er musste eine weite Reise hinter sich haben, in deren Verlauf er sogar eine Begegnung mit einer Orkin überlebte und nun sogar mit ihr auf Reisen war. Sie würde unglaublich gern hören, wie es zu all dem gekommen war, aber dafür müsste sich die angespannte Situation erst einmal ein bisschen auflösen.
Schließlich, nachdem alle ihren Tribut in die Opferschale geworfen hatten, war es ein lautes Magenknurren, das den Fortgang dieser Begegnung entscheiden würde. Corsika konnte nicht identifizieren, ob der Laut eher von Ska’ri oder Dion kam, aber die Botschaft war eindeutig.
„Ich hätte auch nichts gegen eine Fortführung der Gespräche beim Essen“, sagte sie und blickte etwas unschlüssig zur schweren, verschlossenen Kastelltür und dann zu den Ziegen. „Gibt es hier vielleicht ein Gehege oder einen Innenhof für die Tiere?“
Da sie einen Tribut gezahlt hatten, erwartete Corsika, dass für die Unterbringung gesorgt wurde. Ob Hof, Hotel oder Kastell, so etwas gebot der Anstand. Doch plötzlich, wie aus dem Nichts, konnte sie eine Stimme vernehmen, die sich wie ein Schraubstock in ihren Kopf bohrte. Sie deutete ihr den Weg und Corsika konnte nichts anderes tun, als ihr zu folgen. Sie geleitete die junge Frau auf geradem Wege in den Innenhof des Kastells …
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Lucky 7
Venom trat von der steinernen Schale zurück, seine Finger glitten noch kurz über den Stoff seiner Kleidung, als wollte er sich vergewissern, dass nichts weiter von ihm gefordert wurde. Er ließ seinen Blick durch die Halle schweifen, vorbei an den dunklen Wänden und den flackernden Fackeln, die lange Schatten warfen. Die Anwesenden waren noch immer ein ungleiches Sammelsurium aus Fremden, und Venom fühlte sich keineswegs wohler als bei ihrer Ankunft.
Ein plötzliches, vernehmliches Knurren durchbrach die gespannte Stille. Venoms Augenbrauen hoben sich leicht – war das etwa Ska’ri? Oder hatte der dicke Junge mit den Schweinsaugen einen ebenso hungrigen Magen wie geifernden Blick? Der Gedanke war nicht abwegig, doch Venom sagte nichts. Er beobachtete nur.
Die Frau mit der Sichel – die mit den graubraunen Augen und der freundlichen Aura – war es, die als Erste das Schweigen brach. „Ich hätte auch nichts gegen eine Fortführung der Gespräche beim Essen. Gibt es hier vielleicht ein Gehege oder einen Innenhof für die Tiere?“
Ohne eine Antwort abzuwarten drehte sie sich abrupt um, als wäre sie von einer unsichtbaren Hand ergriffen worden. Ihr Gang war merkwürdig – zu steif, zu präzise, als hätte jemand das Leben aus ihr herausgesogen und durch kalte Berechnung ersetzt.
Venom fühlte, wie sich seine Muskeln unwillkürlich anspannten. Es erinnerte ihn an etwas – an das Flüstern in der Höhle, an das Gefühl, nicht allein im eigenen Kopf zu sein. Ein ungutes Ziehen breitete sich in seiner Magengegend aus, doch er hielt sich zurück, zwang sich, die Miene nicht entgleiten zu lassen.
Stattdessen warf er Ska’ri einen schnellen Blick zu. Sie hatte es bemerkt, dessen war er sich sicher. Ihre angespannten Schultern und der leichte Kniff in ihren Augenbrauen verrieten es.
Seine Aufmerksamkeit glitt von Ska’ri zurück zu den beiden Bewohnern des Kastells. Er wartete ab, wollte sehen, ob sie reagieren würden. Ob Arzu oder die Frau in dem weißen Kleid eingreifen würden.
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Erst als Corsika den Innenhof des Kastells betreten hatte, verschwanden die hämmernden Schmerzen aus ihrem Kopf wieder, und zwar genauso schnell, wie sie gekommen waren. So einen Anfall oder was auch immer ihr zugestoßen war, hatte sie noch nie zuvor erlebt; dabei war sie gerade erst glücklich darüber, ihre Kopfschmerzen mit dem Betreten dieser düsteren Gemäuer losgeworden zu sein. Vielleicht hatte Dion wirklich recht und in diesem Bauwerk spukte es. Wenn die Magierinnen hier totes Gestein zum Leben erwecken konnten, dann waren sie sicher auch in der Lage, Kopfschmerzen zu erzeugen und verschwinden zu lassen. Sie würde achtsam bleiben müssen.
Der Innenhof lud zum Verweilen ein. Eine unerwartete Wärme umfing Corsika sogleich und auch der große, sattgrüne Baum im Zentrum wirkte wie aus einer anderen Sphäre. Es gab einen Brunnen, aus dem Corsika einen Eimer voll Wasser für die Tiere schöpfte. Die eigenartigen Geräusche aus dem Inneren des Brunnens ignorierte sie dabei geflissentlich und wagte es auch nicht, einen genaueren Blick in das tiefschwarze Loch zu werfen. Corsika tauchte einige getrocknete Erbsen in das Wasser und überließ die Mahlzeit ihren Gänsen. Die Ziegen fanden einige Grashalme im Innenhof und sogar etwas Stroh, das wie Viehfutter bereitgestellt worden war. Da war entweder jemand sehr zuvorkommend oder es gab noch weitere Tiere hier im Kastell.
Corsika wanderte zu einer kleinen Brüstung auf der gegenüberliegenden Seite des Eingangs und konnte von dort aus die Freiheit erahnen. Dahinter fielen die Klippen schwindelerregend weit in die Tiefe und unten zehrten bereits Sturm und Wellen an den Felsen der Insel. Wie lange es wohl noch dauern würde, bis Zeit und Gezeiten das Kastell verschlingen würden?
Ihr Magen knurrte. Es machte keinen Sinn, sich über die ferne Zukunft Gedanken zu machen. Jetzt musste sie erst einmal dafür sorgen, dass sie nicht die Letzte beim Abendessen war. Eilig kehrte sie in die große Eingangshalle zurück.
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Thara rührte mehr in ihrem Eintopf herum, als dass sie wirklich davon aß. Viel mehr als an ihrem Essen war sie an den seltsamen Besuchern des Kastells interessiert, wobei sie zugleich hoffte, dieses Interesse ihnen gegenüber möglichst verbergen zu können, indem sie sich, wie gewohnt, hinter ihren Haaren versteckte, den Kopf gesenkt hielt und jeden Blickkontakt vermied.
Arzu hatte freilich keine solche Sorgen. Nachdem die Tiere im Innenhof untergebracht worden waren, hatte sie die ganze Mannschaft ins Ferek … Riflik … in den Speisesaal geführt und völlig selbstverständlich am Kopf einer bereits gedeckten Tafel platzgenommen. Die Gäste hatten sich anschließend zu beiden Seiten niedergelassen, so dass für Thara nur noch der Platz am anderen Ende der Tafel übriggeblieben war. Sie hätte sich zwar deutlich wohler gefühlt, wenn sie neben Arzu hätte sitzen können, aber zumindest hatte sie so einen guten Blick auf die Gäste.
Es war wirklich eine sonderbare Truppe. Der große, schweigsame Kerl, Venom, beunruhigte Thara am meisten. Er hatte dunkle, tief in den Höhlen liegende Augen und seine Hautfarbe hatte Ähnlichkeit mit der Arzus. Seine Miene war ausdruckslos, sein Blick hart und aufmerksam. Er war höflich, ruhig und hielt sich eher im Hintergrund, aber genau das machte ihn undurchschaubar und Thara hatte keinen Grund, vom Guten im Menschen auszugehen. Sie würde wachsam bleiben in seiner Nähe – auch um Arzus Willen. Thara konnte sich gut vorstellen, welche Begehrlichkeiten ihre schöne Zirkelschwester in dem Fremdling wecken mochte. Und sie wusste sehr genau, wie manche Männer dazu neigten, ihr Verlangen zu stillen.
Ein wenig fragte sich Thara, wie genau sein Verhältnis zu seiner orkischen Begleiterin eigentlich war. Jedenfalls würde er mit Ska‘ri sicherlich nichts anstellen können, was sie nicht wollte … Trotz ihres in mehrerlei Hinsicht beeindruckenden Körperbaus war die Orkin jedoch ein wenig nervös, seit Arzu ihre magischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatte. Sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen und Selbstsicherheit auszustrahlen, aber Thara war gut darin, auch kleinste Nuancen negativer Emotionen wahrzunehmen – eine Fähigkeit, die für sie in der Vergangenheit geradezu überlebenswichtig gewesen war. Und so entging ihr keineswegs, wie die Orkin sich immer wieder umschaute, als würde sie nach Gefahren suchen, oder bei unerwarteten Geräuschen kaum merklich zusammenzuckte. Zugleich aber machte sie sich auch mit einem guten Appetit über den Berg an Fleisch her, den sie sich hatte bringen lassen, sowie Arzu den Gästen die Funktionsweise des magischen Speisesaals erklärt hatte.
Erstaunlich wenig Appetit hatte hingegen der dicke Bursche, Dion. Er saß in sich zusammengesunken auf seinem Stuhl, schniefte ununterbrochen und hielt sich an einer großen Tasse dampfenden Tees fest – das war alles. Mehr wollte er offenbar gar nicht haben. Kein Hunger, hatte er auf die verwunderte Nachfrage seiner Begleiterin erklärt. Er sah erschöpft und krank aus. Offenbar hatte er sich auf der Reise eine ordentliche Erkältung eingefangen – Thara hoffte nur, dass er sie nicht ansteckte!
Und zuletzt war da noch Corsika. Sie schien sich von allen Neuankömmlingen am wohlsten im Kastell zu fühlen und sich keine Gedanken über ihre seltsame Umgebung zu machen – fast schon, als würde sie sich wie zu Hause fühlen in den alten, Beliar geweihten Gemäuern! Sie hatte braune Haare, die vom Wind noch zerzaust waren, und bemerkenswerte mandelförmige Augen, die Thara so noch nie zuvor gesehen hatte. Sie war hübsch, wenn auch nicht so hübsch wie Arzu, natürlich.
Es war wirklich seltsam, dass diese beiden Gruppen so höchst unterschiedlicher Reisender zur selben Zeit mit sehr ähnlichen Anlässen ins Kastell gekommen waren. Was das wohl bedeuten mochte? Arzu würde das bestimmt herausfinden können!
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Corsika musste sich beinahe eine Träne unterdrücken, als sie ihr Abendmahl im magischen Refektorium zu sich nahm. Die Gastgeberin hatte sie darauf hingewiesen, dass man alles bekäme, was man sich vorstellt, also hatte Corsika die Küche auf die Probe gestellt und sich Kastanienbrot, Ziegenmilchkäse und Oliven gewünscht und dazu einen Wein aus der Myrtenbeere. Die Mahlzeit, die auf ihrem Teller erschien, sah nicht nur authentisch aus, sondern schmeckte auch hervorragend. Süß und bitter, wie Heimweh.
„Das ist so köstlich, ich glaube, hier zieh ich gleich mit ein“, scherzte sie und blickte zu Dion. „Du musst mir dann nur noch mehr von diesen goldenen Ringen angeln, hörst du?“
Aber er antwortete ihr nicht. Stattdessen erhob er sich von seinem Platz, fragte nach dem Abort und dem Schlafplatz für die Gäste und verkrümelte sich so unauffällig, wie das für einen Pfundskerl wie ihn halt möglich war.
„Wünsch dir doch einfach Medizin“, rief Corsika ihm noch hinterher und zuckte dann nur mit den Schultern. Das schien ihr der logische Schluss zu sein, wenn man sich hier auch Essen einfach wünschen konnte.
Neugierig ließ Corsika ihren Blick über die Teller der anderen wandern. Da war natürlich Fleisch bei dem Orkweibchen, aber welche Sorte war es? Es könnte ihr einen gewissen Vertrauenszuschuss geben, wenn sie sich kein Menschenfleisch gewünscht hat, aber Corsika wusste nicht einmal, wie das gebraten aussehen würde.
„Das hier ist ein traditionelles Gericht meiner Heimat“, begann Corsika zu plaudern, denn traditionellerweise war der Wein dort auch recht stark. Sie ließ noch einen Korb mit Kastanienbrot erscheinen und reichte ihn herum, ebenso wie eine Käseplatte und geräucherte Wurst.
„Und was habt ihr so auf den Tellern?“
Sie schielte insbesondere zu Venom, auf dessen Teller sie ebenfalls ein Heimatgericht vermutete.
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In der Rolle der großzügigen Gastgeberin fühlte sich Arzu pudelwohl. Besonders weil die Dämonen ihr all die lästigen Arbeiten wie das Zubereiten des Essens abnahmen. So konnte sie sich darauf konzentrieren, ihre Gäste zu unterhalten. Zumindest die Mehrzahl von ihnen. Der fette Bursche machte sich ungehobelt wie er war mitten in ihrer Tafel aus dem Staub. Offenbar ging es ihm nicht gut, wenn man Corsikas Worten Glauben schenken durfte. Sollte er verschwinden. Eine Bereicherung für die Unterhaltung war Dion ohnehin nicht gewesen.
»Erlesene Leckereien aus meiner Heimat.«, antwortete Arzu auf die Frage der dunkelhaarigen Frau. Sie wusste nicht, was Kastanien waren, und gab sich natürlich auch nicht die Blöße nachzufragen. Ein Bissen von dem fremdländischen Brot machte sie allerdings neugierig. Ein wenig süß schmeckte es und etwas nussig. Hatte sie es vielleicht doch schon mal gegessen?
»Das hier nennt man Simit.«, sagte die Nekromantin und deutete auf einen mit Sesam besetzten Brotring. Danach zeigte sie auf eine Ansammlungen kleiner Schälchen, die alle unterschiedliche Inhalte besaßen. »Meze. Sehr zu empfehlen. Da sollte für jeden was dabei sein. Und das hier ist Pide; eines meiner Lieblingsgerichte.«
Arzu hielt einen länglichen Teig in die Höhe, dessen Mitte mit Hackfleisch, Käse und einer Menge Kräutern gefüllt war. Ein beherzter Biss zeugte von der Knusprigkeit des Teigs. Nachdem sie den Bissen heruntergeschluckt hatte - denn mit vollem Mund sprach nur der Pöbel - schob die Schwarzmagierin großzügig einige der Schalen in die Mitte der Tafel, damit sich auch die anderen daran bedienen konnten.
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Lehrling
Dion fühlte sich ganz und gar nicht wohl. Und das hatte mehrere Ursachen.
Zum einen war da die üble Erkältung, die er sich wohl bei der Durchquerung des Sumpfes eingefangen hatte. Seine Nase war verstopft und lief ohne unterlass, jeder Atemzug rasselte in seiner Lunge. Ihm war die ganze Zeit schwindelig und er hatte das Gefühl, als würde er seine Umgebung wie durch eine Glasscheibe hindurch wahrnehmen. Seine Haut fühlte sich an, als wäre sie nur noch hauchdünn, so dass selbst das weiche, wollene Untergewand scheuerte, und ihm taten Arme und Beine weh – wobei das auch von der anstrengenden Wanderung kommen mochte. Wie schlimm es um ihn stand, wurde offensichtlich, als Arzu ihren Gästen erläuterte, dass das Kastell sie auf magische Weise mit jeglicher Speise versorgen würde, die sie sich wünschten – und das Einzige, was Dion sich bringen ließ, eine Tasse heißen Kräutertees mit Honig war. Er hatte, man glaube es oder nicht, schlicht keinen Appetit und schon gar keinen Hunger. Außerdem tat ihm der Hals weh.
Aber die Krankheit war nicht der einzige Grund für Dions Unwohlsein, vielleicht nicht einmal der Hauptsächliche. Da war noch etwas. Ein dumpfes Gefühl, in diesen alten, düsteren Gemäuern nicht erwünscht zu sein. Geduldet – für den Moment. Aber nicht erwünscht. Und dieses Gefühl wurde immer stärker, je mehr Zeit er hier verbrachte. Eine erdrückende Gewissheit, dass ihn … jemand? etwas? … die ganze Zeit über misstrauisch beobachtete, ihm Schritt und tritt folgte, jede seiner Handlungen überwachte und ihn beim ersten Fehltritt … Dion wollte sich lieber gar nicht ausmalen, was mit ihm passieren könnte, wenn dieser Ort beschloss, dass er irgendwelche Regeln verletzt hätte.
Denn ja, es war der Ort selbst, der in Dion dieses Gefühl auslöste. Nicht Arzu, obwohl sie offensichtlich eine mächtige Schwarzmagierin war, eine Anhängerin Beliars, des Gottes des Todes und der Dunkelheit, und damit – zumindest in der Theorie – das personifizierte Böse. Auch nicht ihre blasse Begleiterin, die zwar doch kein Geist war, wie Dion zuerst geglaubt hatte, ihm aber trotzdem unheimlich blieb (konnte es sein, dass dieses blinde Auge, das sie unter ihren schwarzen Haarsträhnen zu verbergen versuchte, ihn immer wieder anstarrte?). Und nicht einmal der große, finstere Kerl und die Orkin machten ihm Angst, obwohl die beiden so aussahen, als würden sie kleine Kinder fressen – groß, finster und orkisch, wie sie waren. Nein. Es war das Kastell selbst, das ihn mit Furcht erfüllte.
Also klammerte er sich an seinen Tee und nahm vorsichtig ein paar Schlucke. Keine hastigen Bewegungen. Keine unbedachten Worte. Er war einfach nur ein harmloser dicker Junge, der keinem Kastell niemals keinen Anlass nicht bieten würde, auf ihn sauer zu sein …
Du solltest schlafen gehen, dachte er sich. Moment, dachte wirklich er sich das? Oder war es vielleicht …? Dion verzog leicht das Gesicht. Wenn auch nur der Hauch einer Chance bestand, dass das Kastell ihm diesen Gedanken in den Kopf gesetzt hatte und also wollte, dass er sich hinlegte, dann würde er sicher nicht zu streiten anfangen. Und ja, er wollte schlafen gehen. Ein warmes, gemütliches Bett – das wäre jetzt genau das Richtige!
„Ich … werde mich wohl besser mal hinlegen“, murmelte er und senkte entschuldigend den Kopf, während er seinen Stuhl zurückschob. Den Tee nahm er mit. Corsika rief ihm noch hinterher, dass er sich doch einfach Medizin wünschen solle, aber Dion hatte seine Zweifel, dass die Gastfreundschaft des Kastells so weit gehen würde.
Er trat aus dem Speisesaal auf den langen, marmorgefliesten Flur hinaus und sah sich unsicher um. Nach rechts ging es zum Eingang, das wusste er, aber wo waren die Gästezimmer? Wenn das Kastell ihn schon ins Bett schickte, sollte es ihm dann nicht auch zeigen, wo dieses Bett zu finden war? Einen Moment stand Dion ratlos da, bis er bemerkte, dass in dem Gang zu seiner linken nur eine einzige der in schmiedeeisernen Wandhalterungen befestigten Fackeln brannte, ein gutes Stück weit hinten. Ein Zeichen? Er folgte dem Gang bis zu der Fackel und stellte fest, dass sie sich neben einer stabilen Holztür befand, die einen Spaltbreit offenstand. Behutsam drückte er sie weiter auf, und siehe da – es musste sich wahrhaftig um so etwas wie ein Gästezimmer handeln. Die Möblierung bestand aus einem Bett, einer Truhe, einem kleinen Tisch und einem Stuhl, aber was wollte man schließlich mehr? Dion trat ein und schloss die Tür hinter sich. Schon allein der Anblick des Bettes mit der frischen Bettwäsche ließ seine Müdigkeit bis ins unermessliche wachsen. Er konnte kaum noch lange genug die Augen aufhalten, um sich seiner Oberkleiden zu entledigen, bevor er sich mit einem Seufzer der Erleichterung in die Federn fallen ließ, die Decke bis zum Kinn hochzog und fast augenblicklich eingeschlafen war.
Genau so, wie es das Kastell beabsichtigt hatte.
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