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„D-d-das war ich nicht!“, stammelte Thara und starrte ungläubig auf die zerfledderten Überreste des Goblins, die nach der unerwarteten Explosion des Kadavers überall an den Wänden klebten.
Und an Sinistro.
Der Hohepriester war den anderen in würdevoll hohepriesterlicher Manier gemächlich schreitend gefolgt, was sich als Fehler erwiesen hatte. Jetzt war es ausnahmsweise einmal er und nicht Thara, der von oben bis unten mit Blut und Innereien besudelt war. Wie unerwartet und schwerwiegend diese Begebenheit sein musste, merkte man schon daran, dass es ihm glatt die Sprache verschlagen hatte.
„Also, so kommst du mir nicht in die Karre!“, schnaubte Vabun, „Du würdest mir ja die Polster komplett einsauen! Oh, und ich habe sowieso nicht genug Platz für uns alle. Hm, am besten, du machst dich erstmal sauber und bereitest dann schonmal das Labor vor… Hier in dem Buch steht alles drin. Und wir besorgen inzwischen die Rune und das Lichtschwert. Alles klar? Bestens! Na, dann hopp, alles einsteigen und ab die Post!“
„I-ich war das w-wirklich nicht!“, versicherte Thara noch einmal, „Also … glaube ich …“
„Vielleicht etwas residierender Äther, der durch das arkane Umfeld autoinduziert wurde, bis es zu einer hypermetischen Überladung gekommen ist“, meinte Vabun, „Oder jemand dachte einfach, es wäre lustig, das so zu schreiben. Einerlei. Festhalten, es geht los!“
Vabuns pferdelose Kutsche gab einen lauten, jaulenden Ton von sich und machte einen Satz nach vorn, als sie losraste.
Da Vabuns seltsame pferdelose Kutsche nach wie vor nur über zwei Sitze verfügte, hatte sich Thara wieder auf Arzus Schoß setzen müssen. Wobei ‚müssen‘ zumindest aus Tharas Sicht nicht die zutreffende Beschreibung war. Sie hatte ihre Arme um Arzus Hals geschlungen und hielt sich an der Varanterin fest, um während der rasanten Fahrt nicht hin- und her geschleudert zu werden, aber wenn sie ehrlich war, dann schmiegte sie sich vielleicht etwas enger an Arzu, als das notwendig gewesen wäre …
Das Gefühl von Arzus warmem, weichen Körper weckte Erinnerungen an ihr gemeinsames Bad … Wie schön Arzu war! Da war nichts an ihrem Körper, das nicht perfekt wäre. Ihr langes, volles Haar, die großen, ausdrucksvollen Augen mit den langen Wimpern, die Grübchen in ihren Wangen, wenn sie lachte, ihre perfekte Sanduhrfigur, ihr straffer, runder Po und ihre wohlgeformten Brüste, ihre samtweiche Haut … Und sie roch so gut! Wie konnte jemand nur so gut riechen?
Tharas Herz sprang in ihrer Brust auf und ab wie ein Kaninchen in einem zu engen Käfig und ihre Wangen glühten, während sie sich nicht zum ersten Mal vorstellte, wie es sein müsste, Arzu zu küssen. Sie war so nah … ob sie …?
Nein! Sie wusste ja nicht einmal, ob Arzu genauso empfand! Die Varanterin war nett zu ihr, ja, aber … mehr?
Wieso hatte sie überhaupt solche Gedanken? Immerhin war Arzu eine Frau, und das war doch nicht normal, oder? Jedenfalls hatte Thara noch von keiner Geschichte gehört, in der die Prinzessin von einer anderen Prinzessin wachgeküsst wurde. Was war nur los mit ihr? Konnte das mit ihrer Vergangenheit zu tun haben? War sie durch das, was ihr Vater ihr angetan hatte, noch verrückter geworden als sie bislang angenommen hatte? Oder war sie schon verrückt zur Welt gekommen? Hatten die Götter die verflucht oder war es das Mondkastell, das ihr solche Gedanken und Gelüste in den Kopf setzte?
Thara schloss die Augen und biss sich fest auf die Unterlippe in der Hoffnung, dadurch auf andere Gedanken zu kommen – leider nur mäßig erfolgreich…
Erst als Vabun sein Gefährt mit quietschenden Rädern zum Stehen brachte, wurde Thara aus ihrer Grübelei gerissen. Als sie von Arzus Schoß herunterrutschte, um aus der Kutsche zu steigen, wusste sie nicht recht, ob die darüber froh sein sollte, aus ihrer unangenehm angenehmen Lage befreit zu sein, oder ob sie sich gewünscht hätte, dass die Fahrt ewig weitergegangen wäre? Etwas von beidem. Versteckt hinter ihren Haaren warf sie Arzu noch ein schüchternes Lächeln zu, bevor Vabun die Aufmerksamkeit der beiden Magierinnen für sich beanspruchte.
„Da sind wir“, erklärte er, „In dem nächsten Quergang hat Fladnag sein Lager aufgeschlagen, und am Ende des Ganges befinden sich die antimagischen Räume, in denen er seine Schätze lagert. Dort werden sicherlich ein Haufen Goblins herumlaufen und Wache schieben. Arzu, du wirst also wieder für Ablenkung sorgen müssen, damit … anderes Mädchen sich hineinschleichen kann. Hat ja bisher gut funktioniert, also warum altbewährtes ändern, nicht wahr?“ Grinsend schaute er von einer zur anderen. „Noch Fragen?“
„D-d-der Schlüssel …?“, warf Thara ein.
Vabun sah sie verständnislos an. „Schlüssel? Was für ein Schlüssel?“
„N-na für die … d-die Truhe!“
„Oh. Ja. Vielleicht hast du Glück und findest den Schlüssel irgendwo. Aber wenn nicht – hier!“ Er griff in eine erstaunlich tiefe Tasche an seiner Robe und zog ein seltsam gebotenes Stück Metall hervor, das er Thara reichte. Sie betrachtete es von allen Seiten, konnte aber nichts damit anfangen. Vabun rollte mit den Augen.
„Das ist ein Dietrich, Mädchen. Damit kann man Schlösser öffnen, wenn man den Schlüssel nicht hat. Es ist ganz einfach: Du schiebst den Dietrich mit dem abgebogenen Ende voran in das Schloss und drehst ihn vorsichtig nach links oder rechts. Wenn es klick macht, warst du richtig, wenn nicht, muss du wieder von vorn beginnen, bis du die Kombination raushast. Oh, und verwende nicht zu viel Kraft, sonst bricht der Dietrich ab! Hm, ich glaube, ich gebe dir besser noch ein paar Ersatzdietriche mit … hier. Aber verschwende sie nicht, die Dinger sind teuer! Zehn Erz das Stück!“
„Links und rechts drehen …“, murmelte Thara, nicht überzeugt, „Wirklich? I-i-ich glaube nicht, dass das so … s-so einfach ist!“
„Ach, quatsch!“ Vabun winkte ab. „Im Spiel hat’s funktioniert, also warum sollte es hier nicht auch funktionieren? So, und nun lasst uns loslegen, je eher wir die Artefakte wiederhaben, um so eher können wir Meraton in seinen fetten Hintern treten, und darauf warte ich schon seit fast zwanzig Jahren!“
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»Du willst die beste, dann sollst du auch die beste bekommen!«, sagte Arzu, nachdem Vabun ihr die Aufgabe übertragen hatte, für Ablenkung zu sorgen. Die Anwesenheit des untoten Hohepriesters war nicht von Nöten, so selbstsicher fühlte sich die Nekromantin inzwischen in ihren Fähigkeiten. Nur eine Frage stand noch im Raum: was sollte sie beschwören? Als erstes war ihr eine weitere skelettierte Raubkatze in den Sinn gekommen. Schnell und tödlich. Nach einem Blick um die Ecke erkannte Arzu jedoch, dass sich dort zu viele Goblins herum tummelten. So viele Keulen und verrostete Schwerter würden über kurz oder lang Knochenmehl aus dem Raubtierskelett machen. Es musste etwas standhafteres her.
Natürlich hatte die Schwarzmagierin auch dafür eine Antwort parat. Zombies mochten langsam sein, hielten dafür eine Menge aus. Dieses Mal würde sich Arzu auch an einem humanoiden Zombie versuchen. Kein Mensch. Das war zu einfach. Ein Ork sollte es sein. Groß und bullig. Das würde Thara bestimmt genug Zeit verschaffen, um sich an der kleinen Horde vorbei zu schleichen.
Dennoch fühlte sich das ganze ein wenig seltsam an. Arzu erinnerte sich sehr gut daran, wie damals eine Gruppe von Orks in Ishtar angekommen war, um mit dem großen Zuben zu sprechen. Besonders die Schamanen in ihren prachtvollen weißen Fellroben waren eine beeindruckende und machtvolle Erscheinung gewesen. Doch das traf inzwischen auch auf die Schwarzmagierin zu.
Wenn es ihr gelang, einen Orkzombie zu beschwören, dann war es auch ihr gutes Recht genau das zu tun. Ohne viel Federlesens machte sich die Varanterin ans Werk. Sie streckte ihre Hände nach vorn und rief die magischen Ströme an. Ein Griff in die Unterwelt, langsam und methodisch, bis die Nekromantin gefunden hatte, wonach sie suchte. Scharlachrotes Licht begann ihre Finger zu umspielen. Die Anstrengung war groß, wie Arzu feststellen musste. Viel größer als zuvor bei den untoten Tieren, die sie beschworen hatte. Jetzt galt es dran zu bleiben.
Die Schwarzmagierin ballte ihre Hände zu Fäusten und hob sie Stück für Stück in die Höhe. Fast so, als zöge sie eine gewaltige Last aus dem Boden empor. Und so war es auch. Zwar kein physisches Gewicht, dafür ein magisches. Umgeben von einem gespenstischen roten Schein erhob sich aus dem Boden ein bulliger Körper. Ein Orkzombie!
Ein breites Grinsen zeichnete sich auf Arzus Gesicht ab. Sie hatte es geschafft! Neugierig umrundete die Nekromantin ihren Diener. Der Zombie war wesentlich größer und breiter als sie. Seinem Fell fehlte der Glanz seiner lebendigen Artgenossen und war statt dessen gräulich matt. Auch die abgerissene Rüstung, die er trug, erinnerte nur sehr entfernt an die übliche Tracht von Orks. Selbst einen Helm trug der untote Krieger, etwas, dass Arzu noch niemals bei anderen seiner Rasse gesehen hatte. Er musste wahrlich uralt sein. Arzu hoffte nur, dass sich das nicht auf seine Kampfkraft auswirkte.
Nach einem wortlosen Befehl der Nekromantin, setzte sich der Zombie in Bewegung. Kaum hatte er den Quergang betreten, in dem sich die Goblins niedergelassen hatten, da hatte er bereits die Aufmerksamkeit der kleinen Horde auf sich gezogen. Vorsichtig lugte Arzu um die Ecke, um das Treiben ihres untoten Dieners im Auge zu behalten. Nach kurzem Zögern rief ein Goblin in schwerer Rüstung zum Kampf. Seine Kumpanen ließen alles stehen und liegen, schnappten sich ihre Keulen und Schwerter und stürmten dem untoten Ork entgegen. Dabei wurde die Langsamkeit des Zombies deutlich. Er hatte kaum ein Drittel der Länge des Ganges hinter sich gebracht, da waren die flinken Goblins bereits von der gegenüberliegenden Seite herbei gestürmt. Sollten sie nur, dachte sich die Schwarzmagierin.
Schläge von allen Seiten prasselten auf den Orkzombie ein und es wirkte beinahe wie ein Tanz, den die Goblins um ihren riesigen Gegner vollführten. Mit einem Hieb seiner Pranke fegte der Untote gleich drei der kleinen Krieger hinfort. Zwei davon rappelten sich kurzerhand wieder auf und rannten zurück in den Kampf. Der dritte blieb mit gebrochenem Genick tot am Boden liegen. Einen anderen Goblin hob der Zombie mühelos empor und brach auch ihm den Hals. Wie ein Fels stand der untote Ork im Sturm der Goblins. Spurlos ging der Kampf an ihm jedoch nicht vorüber. Im Gegenteil. Wenn die schartigen Schwerter das Fell des Orkzombies überwunden hatten und auf die graue Haut darunter trafen, bildeten sich Risse im untoten Fleisch. Kein Tropfen Blut trat daraus hervor, sondern blauweißes Licht. Man sah buchstäblich, wie die Magie aus dem geschundenen Körper des Zombie entwich. Arzu hatte eine weise Wahl mit der Beschwörung des Orks getroffen. Doch so standfest der untote Körper auch war, früher oder später würde ihn alle magische Kraft verlassen.
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Wie so oft, hatte Thara nichts als Bewunderung für ihre Zirkelschwester übrig. Dieses untote Riesenvieh, das Arzu da beschworen hatte – was für ein Anblick! Und es roch nur ein ganz klein wenig. Beschämt musste Thara daran denken, wie abartig die winzige Maus gestunken hatte, die bei ihrem eigenen Beschwörungsexperiment herausgekommen war …
Aber, darüber nachzudenken blieb jetzt keine Zeit. Sie musste sich beeilen – der große Zombie hielt den auf ihn einprasselnden Schlägen der Goblinbande zwar noch Stand, ohne sich sonderlich beeindrucken zu lassen, aber die Waffen hinterließen doch Spuren, und am Ende brachten unzählige Nadelstiche selbst einen Troll zu Fall.
Thara nutzte die Tatsache, dass der breite Gang, wie auch der Rest des Mondkastells, nur sehr spärlich beleuchtet war, und schob sich im tiefen Schatten an der Wand entlang. Vielleicht wäre das nicht einmal nötig gewesen, die Goblins waren vollauf mit dem Zombie befasst und schenkten ihrer Umgebung praktisch keine Aufmerksamkeit, aber sicher war sicher. Ihr Ziel, die antimagischen Räume, mussten irgendwo hinter der Biegung liegen, die der Gang in einiger Entfernung machte.
Plötzlich stießen die Goblins lauten Jubel aus. Als Thara einen Blick hinter sich warf, sah sie, dass der Zombie in die Knie gegangen war. Ein Goblin in einer kantigen, dornenverzierten Rüstung reckte siegesbewusst eine schartige Streitaxt in die Höhe, die mit geronnenem Blut verklebt war – offenbar hatte er dem Zombie ein Bein derart beschädigt, dass er es nicht mehr verwenden konnte. Schmerzen oder Angst verspürte der Untote zwar keine, aber die Verletzung schränkte seine ohnehin schon nicht überragende Mobilität noch weiter ein.
So ein Mist, dachte Thara, Wenn sie ihn erledigen, und sich dann wieder auf den Rückweg machen …
Sie musste dafür sorgen, dass die Goblins noch eine Weile länger beschäftigt blieben! Eine Säule bot ihr dafür eine gute Gelegenheit, sich zu verstecken, während sie sich daran machte, Arzus Zombie einen Kollegen zur Seite zu stellen.
Sie erinnerte sich daran, wie sie die Zombiemaus beschworen hatte, und wiederholte ihren Versuch. Nur in größer. Nicht so groß wie Arzus Kreatur, aber ein menschengroßer Zombie konnte es schon sein. Vor ihrem inneren Auge sah sie die buchstäblichen Tore der Unterwelt sich öffnen, bläulich schimmernder Nebel stieg aus dem Boden hervor und formte sich langsam, aber sicher zu einer humanoiden Gestalt. Der Nebel verdichtete sich und nahm Form an – graue, schleimige Haut, ein aufgeblähter Körper mit wachsartigem, glibberigem Fleisch, das Gesicht aufgebläht mit milchig-weißen, hervortretenden Augäpfeln und seltsam vollen Lippen wie denen eines Fisches. Und der Gestank! Bei allen Göttern! Eine Mischung aus strengem, süßlichem Verwesungsgeruch, muffigen Faulgasen, etwas, das stechend roch wie faulige Eier, und das alles unterlegt mit einer leichten Salznote – sogar Thara, die nun wirklich einiges gewohnt war, musste würgen, als ihr die widerwärtigen Ausdünstungen ihrer Kreation in die Nase stiegen.
Dieses … Ding … troff vor Nässe und bei jedem Schritt hinterließ es Spuren gräulich-schleimiger Suppe auf dem Boden. Was hatte sie da nur herbeigerufen? Es sah aus wie … wie der Körper, den sie einmal gesehen hatte, der aus dem Hafenbecken gefischt worden war! Ein Matrose, der einige Tage zuvor wohl besoffen ins Wasser gefallen und ertrunken war. Die Leiche, die dann von ein paar Arbeitern und Milizsoldaten an Land gezogen worden war, hatte ähnlich ausgesehen. Und, fiel es ihr wieder ein, auch ähnlich gerochen. Man neigte wohl dazu, zu beschwören, was man kannte …
Zumindest erfüllte der Wasserleichen-Zombie seine Aufgabe ganz hervorragend. Die Goblins mochten nicht gerade Vertreter einer ausgewachsenen Badekultur sein, aber die aufgedunsene, erbärmlich stinkende Monstrosität, die da auf die zugewankt kam, ließ auch sie nicht kalt. Arzus Zombie war vermutlich der gefährlichere von beiden im Kampf, aber sich der Wasserleiche zu nähern, brachte selbst von den Goblins kaum einer über sich. Die kleinen Biester beschränkten sich größtenteils darauf, sie aus sicherer Entfernung mit allerlei Gegenständen zu bewerfen, während sie aus Nasenreichweite zu entkommen versuchten, wobei der Zombie ihnen ungelenk hinterherstolperte. Thara lächelte zufrieden. Mit diesen beiden Zombies würden die Goblins eine ausreichende Weile beschäftigt sein!
Sie beeilte sich, weiter den Gang entlang zu huschen und gelangte schließlich zu der Biegung, hinter der Fladnags persönliche Gemächer und seine Schatzkammer liegen mussten. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass dieser Abschnitt unbewacht war – sie hatte schon befürchtet, dass einige der Goblin-Wachen trotz des Lärms ihre Posten nicht verlassen würden, aber das war nicht der Fall. Jetzt galt es nur noch, die richtige Tür zu finden, und dann – Thara zog den Dietrich hervor, den Vabun ihr gegeben hatte, und betrachtete das gebogene Eisenstück. Einfach ins Schloss schieben und nach links und rechts drehen? Sie runzelte zweifelnd die Stirn. Ob das mal klappen würde …
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Als Arzu den Zombie sah, den Thara beschworen hatte, war sie froh über die Unterstützung. Ihrer mochte mächtig sein, bloß gegen die Vielzahl von Goblins konnte er alleine nicht viel länger bestehen. Die Nekromantin tat von ihrer Position aus alles, um ihren Zombie nicht auseinander brechen zu lassen. Eine wirklich anstrengende Übung. Wenn sich jeder Kampf so kräftezehrend gestaltete, könnte sie genauso gut Schattenflammen werfen. Nun, einen großen Vorteil hatte die beschworene Kreatur. Arzu war aus dem eigentlichen Getümmel fein raus.
Von einem Augenblick auf den nächsten, änderte sich alles. Wie eine Walze kam ein Schwall faulig stinkender Luft über sie und verschlug Arzu den Atem. Sie hielt sich die Hand fest über Mund und Nase, obgleich das nicht ansatzweise half. Ihre großen Augen begannen zu tränen. Dies war schlimmer als Tharas Zombiemaus. Tausendfach schlimmer. So musste eine Mischung aus Schlachthaus und Friedhof riechen.
Das schlimmste an dem ganzen war, dass Arzu sich nicht länger auf ihre Kreatur konzentrieren konnte. Angeschlagen wie er war, würde der Orkzombie ohne ihre Führung alsbald zerstört werden. Doch die Schwarzmagierin konnte nicht mehr. Der Gestank übermannte ihre elegante Nase und der Würgereflex setzte ein. Sie drehte sich vom Kampfgeschehen fort, stützte sich gerade noch rechtzeitig mit den Händen auf den Knien ab und erbrach sich über den schachbrettartigen Boden.
Aus dem angrenzenden Gang dröhnte unmittelbar ein klagendes Gebrüll, das durch Mark und Bein ging. Der Orkzombie war gefallen. Arzu konnte es spüren. Dagegen tun konnte sie nichts. Zwar war sie bereits einige Schritte vom Gang zurückgewichen, aber selbst hier überwältigte der Gestank die Sinne der Schwarzmagierin. Erst als Arzu bis zum nächsten Quergang gelaufen war, hatte sie genug Abstand zwischen sich und das Übel gebracht. Sehen konnte sie von dem Kampf natürlich nichts mehr. So leid es Arzu tat, musste Thara für den Moment alleine zurecht kommen.
Um nicht völlig unvorbereitet zu sein, nahm sich die Nekromantin zusammen und beschwor eine weitere Kreatur. Das Skelett eines Krokodils! Es lag an der Ecke zum anderen Quergang auf Lauer. Alles, was in diesen Flur wollte und nach Goblin aussah, würde Bekanntschaft mit dem großen Maul voller Zähne machen.
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Bevor Thara sich Gedanken darüber machen konnte, wie sich das Schloss zu Fladnags Schatzkammer öffnen ließ, sah sie sich zunächst mit dem Problem konfrontiert, die Schatzkammer überhaupt zu finden! Vor ihr erstreckte sich ein weiterer Gang mit mindestens zehn Türen auf beiden Seiten. Sie konnte kaum versuchen, alle zehn nacheinander aufzubrechen, so lange würden nicht einmal zwei Zombies die Goblins beschäftigen können!
Aber, schoss es ihr auf einmal durch den Kopf, warum sollten unwichtige Türen überhaupt verschlossen sein? Ohne zu Zögern ging sie einfach zur ersten Tür, drückte die Klinke herunter – und siehe da, die massive Tür schwang knirschend und quietschend, aber ohne großen Widerstand auf. Und wie nicht anders zu erwarten, lag dahinter nicht die Schatzkammer, sondern nur etwas, das aussah wie ein Raum, in dem Müll gelagert wurde. Erst als Thara in dem Chaos an zerstörten Möbeln, Lumpen, abgenagten Knochen, schimmligen Essensresten und sonstigem Unrat die Stroh-Schlafstätten und stockfleckigen Matratzen bemerkte, wurde ihr klar, dass es sich um eine Goblin-Unterkunft handeln musste. Bei Beliar, das sah ja schlimmer aus als in ihrer alten Hütte im Armenviertel!
Ohne sich noch lange aufzuhalten, fuhr Thara damit fort, weitere Türen auszuprobieren. Hinter jeder von ihnen bot sich ein ähnliches Bild der Verwahrlosung. Die Goblins hausten wohl tatsächlich gern in diesem Chaos und Müll …
Schließlich aber gelangte Thara tatsächlich zu einer Tür, die sich nicht öffnen ließ. Sie wirkte auch etwas stabiler als die anderen, war durch zusätzlich angenagelte Bretter verstärkt worden – oder zumindest war es wohl das, was die Goblins glaubten, dass ein paar planlos an eine perfekt erhaltene Tür gezimmerte Bretter tun würden. Das musste die Schatzkammer sein!
Thara holte einen Dietrich hervor und betrachtete das kleine Instrument noch einmal zweifelnd. Was, wenn es nicht funktionierte? Wenn sie zu ungeschickt war oder einfach nicht verstand, wie man damit ein Schloss knacken sollte, auch wenn es laut Vabuns Aussagen ganz einfach sein sollte?
Thara warf verunsichert einen Blick zurück in den Gang, durch den sie gekommen war. Hinter der Biegung drang noch immer das Geräusch des Kampfes zwischen Goblins und Untoten hervor, die kleinen Biester waren also noch beschäftigt. Aber wie lange noch? Was, wenn sie nicht schnell genug wäre? Was, wenn …
Verflucht, halt endlich die Klappe!, schimpfte sie sich selbst und verpasste sich dabei eine Ohrfeige, Du hast es doch noch nicht einmal probiert! Arzu … zählt auf dich! Also stell dich nicht so an, du Feigling!
Thara atmete noch einmal tief durch und versuchte, ihre inneren Zweifel zu ignorieren. Sie musste es einfach probieren. Was blieb ihr auch anderes übrig?
Vorsichtig schob Thara den Dietrich in das Schloss und drehte ihn behutsam nach links, bis er blockierte. Sonst tat sich nichts. Also drehte sie ihn nach rechts. Wieder blockierte er, aber sonst … nichts! Musste sie ihn weiter hineinschieben? Oder war sie zu weit? Musste sie stärker drücken? Ziehen? Ruckeln? Wie um alles in der Welt benutzte man so ein Ding?
Thara fluchte leise und schob das Werkzeug ein wenig in dem Schloss herum. Vielleicht konnte sie auf diese Weise irgendetwas ertasten, was ihr weiterhelfen würd? Aber wenn es da etwas gab, wie konnte sie dann erkennen, wie oder ob sie es gefunden hatte?
Wieder drehte sie den Dietrich nach links, bis er blockierte. Aber statt aufzuhören, wandte sie diesmal einfach etwas mehr Kraft auf. Vielleicht reichte ja…
Es knirschte, knackte, und Thara hielt den abgebrochenen Stiel des Dietrichs in der Hand.
„Mist!“, zischte sie und warf das kaputte Metallstück davon, nur um sich gleich darauf für ihre Unvorsichtigkeit zu verfluchen, als es klirrend über den Marmorboden rutschte. Angespannt lauschte Thara ein paar Sekunden lang, aber die Goblins waren wohl noch immer mit den Zombies beschäftigt, jedenfalls drang nach wie vor lautes Goblin-Geschnatter, unterlegt vom gurgelnden Stöhnen ihres Zombies, aus dem Gang herüber. Glück gehabt! Sie konnte also noch einen neuen Versuch wagen.
Nachdem sie den Rest des abgebrochenen Dietrichs aus dem Schlüsselloch gepfriemelt hatte, blieb Thara diesmal vorsichtiger. Hochkonzentriert versuchte sie, zu erfühlen, wo und wie sie den Dietrich drehen musste, um das Schloss zu öffnen. Da! Hatte sich da nicht eben etwas bewegt? Wenn sie noch ein klein wenig weiter drückte – nur ein bisschen… >klick!<
„Ha!“, rief sie erfreut aus. Es funktionierte also doch! Die Erleichterung darüber ließ sie beinahe schwindeln. Jetzt durfte sie nur nicht nachlassen! Es galt, sie nächste Position zu finden. Sie schob den Dietrich ein wenig tiefer ins Schloss und drehte ihn behutsam … >Knirsch!<
Sie biss die Zähne aufeinander. Das war offensichtlich die falsche Richtung gewesen! Aber wenigstens war diesmal der Dietrich nicht abgebrochen. Trotzdem, was hatte Vabun gesagt? Jetzt musste sie wieder von vorn beginnen. Thara seufzte. Also gut …
Es kostete das Mädchen im Ganzen acht Versuche und zwei weitere Dietriche, bis es zum letzten Mal ein vernehmliches >klick!< gab und das Schloss tatsächlich aufsprang. Thara verlor keine Zeit, ihren Erfolg feiern konnte sie später – jetzt galt es, die Artefakte zu finden! Sie schob die Tür einen Spaltbreit auf und schlüpfte in den Raum dahinter …
Und mit einem Mal schien ihre ganze Kraft sie zu verlassen. Bevor sie verstand, was mit ihr los war, fiel sie hin. Ihre Gedanken waren auf einmal so träge, als wäre ihr Kopf voller zähflüssigem Sirup, und ein plötzliches Gefühl von Einsamkeit und Hilflosigkeit überkam sie. Aus der Ferne, vom Gang her, hörte sie ein lautes, unmenschliches Brüllen, gefolgt von einem ekelhaften Geräusch, als würde Fleisch unter großem Druck reißen. Zugleich verschwand die subtile Verbindung, die sie zu ihrem Zombie gespürt hatte …
Thara rappelte sich auf und sah sich gehetzt um, ohne ihre Umgebung wirklich wahrzunehmen. Was geschah mit ihr? Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Natürlich – der magiegedämmte Raum! Ihrer Eingebung folgend, versuchte sie, ihre geistigen Fühler nach der Magie auszustrecken, die sie sonst überall spüren konnte – mal stärker, mal schwächer, aber immer vorhanden. Doch hier, in diesem Raum – nichts! Sie konnte nicht einmal ein Schattenkerzenflämmchen erzeugen. Bei Betreten der Kammer war auch die magische Verbindung zu der von ihr beschworenen Kreatur gekappt worden, was dem Zombie ein schnelles, unschönes Ende bereitet hatte. Und das bedeutete … Dass die Goblins vielleicht gleich hier auftauchen würden!
Erschrocken warf Thara die Tür hinter sich zu und lehnte sich schwer atmend dagegen. Hoffentlich hatten die Biester sie noch nicht bemerkt und Arzu beschäftigte sie weiterhin! Auf jeden Fall blieb ihr nicht viel Zeit. Sie musste die Artefakte finden!
Als Thara ihren Blick durch den Raum schweifen ließ, hätte sie beinahe losgelacht vor Erleichterung. Die Kammer war voll mit Gerümpel, Truhen, Säcken und Fässern, die vermutlich größtenteils völlig wertlosen Krempel enthielten – also genau, wie man sich die „Schatz“kammer eines Goblins vorstellen mochte – doch mitten darin stand eine Kiste, die in grellem Pink bemalt war. Die pinke Truhe!, hatte der tote Goblin behauptet, den sie befragt hatte, weil pink sieht man nicht!
Thara musste grinsen, so lächerlich und absurd war die Situation. „Und w-wie ich dich sehe!“, flüsterte sie und ging langsam auf die Truhe zu, einen Dietrich in die Höhe haltend wie ein Messer.
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Thara biss die Zähne zusammen und versuchte, nicht vor Schmerz zu schreien. Dieser verfluchte hinterlistige Goblin! Ja, die pinke Truhe war offensichtlich gewesen – ganz im Gegensatz zu den Fallen, die zwischen all dem anderen Gerümpel auf dem Boden versteckt waren!
Und so war Thara in eine davon blindlings hineingetappt. Ein grobes, rostiges Fangeisen, das mit einem lauten Klacken zugeschnappt war und in dem sie jetzt mit dem rechten Bein feststeckte. Die eisernen Zähne der Falle hatten sich tief in ihr Fleisch gegraben, Blut rann über ihre Knöchel und jede noch so kleine Bewegung fühlte sich an, an würde jemand heiße Klingen in ihr Bein bohren.
Auf dem Boden hockend versuchte Thara, sich aus der Falle zu befreien. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, sie sie konnte die metallenen Kiefer nie mehr als wenige Millimeter auseinanderbiegen, bevor ihre Kraft nicht mehr ausreichte und der Mechanismus wieder zuschnappte, wobei er eine erneute Welle der Schmerzen durch ihren bereits übel zugerichteten Unterschenkel sandte. Durch den Schleier aus Tränen blinzelnd, den ihr die Qualen in die Augen trieben, verfluchte sich Thara selbst für ihre Unachtsamkeit. Warum war sie nicht vorsichtiger gewesen? Warum musste sie nur immer alles vermasseln?
Nach einem weiteren fehlgeschlagenen Befreiungsversuch, bei dem ihr beinahe schwarz vor Augen geworden war, gestand sie sich ein, dass sie die Falle nicht würde aufbiegen können. Erschöpft ließ sie sich auf den Boden sinken und versuchte, ihr Bein so wenig wie möglich zu bewegen.
Ihr Blick wanderte zu der verfluchten pinken Truhe, die so nah und doch so unerreichbar fern zwischen all dem Gerümpel stand und sie auszulachen schien. Das Fangeisen war mit einer schweren Kette an einem Ring in der Wand befestigt. Sie konnte also nicht einmal versuchen, sich aller Tortur zum Trotz mit der Falle am Bein weiterzuschleppen. Sie war gefangen. Ohne ihre Magie war sie wehrlos. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Goblins sie finden würden. Sie hatte versagt …
„Nein!“, zischte sie plötzlich, „Nein!“
Nein, sie durfte und konnte jetzt nicht aufgeben! Es gab andere, die sich auf sie verließen. Sie konnte Arzu und Sinistro und sogar Vabun nicht im Stich lassen! Sie musste irgendeinen Weg finden, sich zu befreien! Irgendwie!
Vorsichtig, ihr Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse verzerrt, zog sie den gefangenen Fuß heran und begann, den Mechanismus zu untersuchen. Wer die Falle aufstellen wollte, musste sie schließen auch irgendwie öffnen können, ohne dafür übermenschliche Kräfte zu benötigen – ein Goblin musste in der Lage sein, sie zu öffnen, und so ein Goblin war sogar noch kleiner als sie!
Behutsam tastete sie das Fangeisen ab und versuchte, die Funktion jeder Sprungfeder, jedes Hebels und Hakens zu ergründen. Und tatsächlich gewann sie bald eine Vorstellung davon, wie der Mechanismus funktionieren musste. Es war keine komplizierte Konstruktion: Ein Eisenbügel an der Seite, an dem auch die Kette befestigt war, diente als Hebel, um die Sprungfedern zusammenzudrücken und damit die Kiefer der Falle zu öffnen. Ein kleiner Bolzen verhinderte dann ein versehentliches Zuschnappen der Falle, so dass man die Druckplatte einhaken konnte. Zum Schluss musste man nur noch den Bolzen herausziehen und das Fangeisen damit scharfstellen.
So weit die Theorie. Problematisch war allerdings, dass man auch den Eisenbügel noch mit nicht ganz unerheblichem Kraftaufwand herunterdrücken musste. Thara war nach dem ersten Versuch klar, dass sie es mit den Händen nicht schaffen würde. Sie musste irgendwie versuchen, ihr ganzes Gewicht auf den Bügel zu verlagern – und das konnte ihr nur gelingen, wenn sie mit ihrem gesunden Bein darauf stieg …
Mühsam rappelte sich Thara auf und hielt sich an einer Kiste fest, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor. Mit geschlossenen Augen atmete sie langsam ein und aus, um sich auf die kommenden Schmerzen einzustimmen. Sie zögerte noch, aber nur einen Augenblick – letztlich blieb ihr ohnehin keine Wahl: Mit zusammengebissenen Zähnen verlagerte sie ihr Gewicht auf den verletzten Fuß. Die groben Zähne der Falle bissen noch tiefer in ihr Fleisch und Thara hatte das Gefühl, als müssten sie bereits am Knochen entlangschaben. So höllisch waren die Schmerzen, dass es ihr nur mit Mühe gelang nicht zu schreien und das Gleichgewicht zu bewahren. Mit einem gequälten Stöhnen fuhr sie damit fort, den anderen Fuß auf den Metallbügel zu setzen und ihn langsam herunterzudrücken …
Es funktionierte! Mit einem protestierenden Knirschen öffneten sich die blutigen Stahlkiefer und gaben endlich ihren Fuß frei. Sowie sie konnte, zog Thara ihr Bein aus der Falle.
Nachdem sie sich befreit hatte, blieb Thara eine Weile einfach nur auf dem Boden sitzen, um sich wieder zu sammeln. Sie konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen, die pochenden Schmerzen in ihrem Bein legten sich wie ein Schleier über ihr Bewusstsein und allein über ihren nächsten Schritt nachzudenken, kostete sie große Mühe.
Schließlich aber rappelte sie sich auf und kroch zu der verfluchten pinken Truhe, wobei sie jeden Quadratzentimeter Boden erst nach Fallen absuchte, ebenso wie das Schloss der Truhe, bevor sie sich an ihm zu Schaffen machte.
Thara hätte nicht sagen können, wie viele Versuche sie brauchte, bis der Schnapper endlich mit einem vernehmbaren Klicken zurücksprang und die Kiste sich öffnen ließ. Es waren jedenfalls viele gewesen, und von Vabuns Dietrichen war nur noch ein einziger übrig, die restlichen waren ihr irgendwann während des Herumprobierens abgebrochen. Viel zu oft hatte sie die Kombination vergessen, abgelenkt durch ihr verletztes Bein, und es war kaum mehr als Glück, dass sie am Ende doch noch Erfolg gehabt hatte.
Zumindest wurde sie jetzt nicht enttäuscht. Die Kiste war zwar mit diversem Kram gefüllt, den näher zu untersuchen Thara sich nicht die Mühe machte, aber obenauf lagen unverkennbar die Dinge, die sie gesucht hatte: Das Lichtschwert und die Weiße-Magie-Rune!
Ihre Beute fest an sich pressend, machte sich Thara auf den langen, schmerzhaften Rückweg. Mit einer Hand stützte sie sich am Gemäuer ab, um ihr verletztes Bein möglichst wenig belasten zu müssen, und hinkte mühsam den Gang entlang. Zumindest war diesmal ihr Gelenk verschont geblieben – die Zähne der Falle hatten ein Stück oberhalb ihres Knöchels zugebissen –, so dass sie mit dem Fuß auftreten konnte. Trotzdem war jeder Schritt eine Qual. Die Blutspur, die Thara hinter sich herzog, kündete davon.
Schließlich erreichte sie die Biegung und spähte vorsichtig um die Ecke. Und was sie sah, ließ sie beinahe die Besinnung verlieren: Die Goblins scharten sich um ihren gepanzerten Anführer, während von Arzu, Vabun oder irgendwelchen Zombies nichts zu sehen war! Der Gang war blockiert! Und sobald die Goblins sich entschlossen, sich wieder in ihre Behausungen zu verziehen, war sie geliefert …
Gegen die kalte Wand gelehnt versuchte Thara, einen neuen Zombie heraufzubeschwören, aber es gelang ihr kaum, sich zu konzentrieren. Zudem gewann sie den Eindruck, dass die Weiße-Magie-Rune ihre eigene Magie zu stören schien. Immer, wenn sie die Verbindung zu Beliars Reich zu öffnen versuchte, brach diese nach wenigen Augenblicken wieder zusammen. Es war, als wollte sie eine Tür öffnen, die jemand von innen gewaltsam wieder zuzog. Der Riss zwischen den Sphären, den sie herbeirufen konnte, reichte nicht im Geringsten aus, um eine untote Kreatur in die Welt zu bringen – nicht einmal eine Maus hätte dort hindurch gepasst!
Erschöpft und frustriert gab Thara nach dem sechsten oder siebten missglückten Versuch auf. Noch einmal wagte sie einen vorsichtigen Blick um die Ecke. Die Goblins versperrten natürlich noch immer den Weg. Was konnte sie nur tun? Und warum waren Arzu und Vabun nirgendwo zu sehen? Wo waren die beiden? Hatten sie sie etwa im Stich gelassen? Nein, das konnte nicht sein! Schließlich brauchten sie die Artefakte … Es gab also nur zwei Möglichkeiten – entweder, die beiden waren noch in der Nähe, hatten sich nur zurückgezogen, oder sie waren von den Goblins überwältigt worden.
Egal, was von beidem zutraf – für Thara bedeutete es, dass sie nur eine Wahl hatte: Die Flucht nach vorn. Sie musste versuchen, ihre Gefährten auf sich aufmerksam zu machen und hoffen, dass die beiden tatsächlich nur um die nächste Ecke verschwunden waren. Wenn nicht… dann konnte sie nur noch darauf setzen, wieder in dieselbe Zelle geworfen werden wie Arzu.
Falls die Goblins sie nicht direkt umbrachten, natürlich …
Kurzentschlossen stieß sich Thara von der Wand ab und hinkte den Gang hinein. Mit der freien Hand versuchte sie, eine Schattenflamme heraufzubeschwören, um zumindest nicht gänzlich wehrlos zu sein, aber selbst dieser einfache Zauber wollte ihr kaum gelingen – nur eine winzige Ätherkugel flackerte kläglich über ihrer Handfläche.
Es dauerte kaum einen Augenblick, bis die Goblins auf die aufmerksam wurden, aufgeregt zu schnattern begannen und in freudiger Erwartung mit ihren groben Waffen herumfuchtelten.
„ARZUUU?“, rief Thara und ihre von Panik erfüllte Stimme hallte durch die Gänge, „ARZU, WO BIST DU? Bitte …“
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Nach wie vor hatte sich Arzu keinen Schritt näher an den Quergang gewagt. Der Gestank war schlicht und ergreifen zu abstoßend. Selbstverständlich machte sich die Nekromantin Gedanken um ihre Zirkelschwester. Genauso musste sie allerdings auf das Wohl ihrer Nase achten. Es galt Prioritäten zu setzen. Zumal Arzu in weiser Vorraussicht das Krokodilskelett als Wächter an den Eingang postiert hatte.
Es kam trotzdem wie es kommen musste. Thara schrien panisch nach Arzu und jene konnte das dürre Mädchen einfach nicht im Stich lassen. Nase zu und durch, buchstäblich. Mit zugekniffenem Gewürzprüfer lief die Schwarzmagierin zur Ecke und befahl ihrem Krokodil in den Gang hinein. Wie nicht anders zu erwarten, stank die Luft dort immer noch nach Tod und Verwesung. Ganz zu schweigen von den sterblichen Überresten des Zombies, welche an Wänden und Decke klebten.
Am entgegengesetzten Ende des Ganges erspähte Arzu ihre Zirkelschwester. Dazwischen eine immer noch beträchtliche Gruppe von Golbins. Dabei fiel der Nekromantin auf, dass sich Vabun mal wieder verzogen hatte. Das sah ihm ähnlich! Wobei es ihm zuzutrauen gewesen wäre, wenn er mit einer völlig abgefahrenen Rettungsaktion plötzlich die Bühne betrat. Er hatte einen Hang zum Theatralischen.
»HEY!«, rief Arzu mit lauter Stimme und stemmte die Hände in die Hüfte, nur es direkt wieder zu bereuen. »Legt euch gefälligst mit mir an!«
Die Varanterin tat ihr bestes, keine Miene zu verziehen, als sie anschließend einatmete. Welch eine Überwindung es sie kostete! Zumindest hatte es den gewünschten Effekt gehabt und die Aufmerksamkeit der Goblins auf Arzu gezogen.
Schließlich deutete die Schwarzmagierin mit dem Zeigefinger auf die Goblins. Das Krokodilskelett verstand und setzte sich in Bewegung. Zu Lebzeiten waren diese Tiere blitzschnell. Zumindest auf kurzer Distanz. Der Untod beeinträchtigte diese erstaunliche Fähigkeit nicht. Mit klappernden Knochen raste das Krokodil auf die Meute Goblins zu. Den kleinen Biestern reichte das skelettierte Raubtier natürlich fast bis zum Kopf. Entsprechend machte sich Terror unter ihnen breit. Einige tapfere unter ihnen stellten sich ihrem Feind trotzig in den Weg. Eine Entscheidung, die sie schnell zu bereuen lernten.
Das lange Maul des Skelettkrokodils öffnete sich Augenblicke bevor es die Goblins erreicht hatte. Mit einem lauten Knall schnappte es wieder zu und teilte den bedauernswerten Goblinhelden entzwei. Der zweite folgte sogleich. Zwischen die Kiefer geraten, gab es kein Endkommen. Mit heftigen Bewegungen rüttelte und schüttelte Arzus untotes Getier sein Opfer so lange, bis es leblos zur Seite flog.
Trotz dieser phänomenalen Vorstellung befanden sich die Goblins immer noch in der Überzahl. Und wenn sie nicht gerade direkt vor der Schnauze des Krokodils standen, hatten die Biester sogar genug Mumm, um ihren Gegner anzugreifen. Es lag auf der Hand, dass sie früher oder später über das Skelett triumphieren würden. Aus diesem Grund winkte Arzu ihre Zirkelschwester herüber. Sie mussten den Moment der Unachtsamkeit nutzen, um zu fliehen. Wenn sich Thara bloß beeilte! Aus irgendeinem Grund humpelte das dürre Mädchen nur langsam durch den Gang. Hatte sie sich verletzt? Arzu wusste es nicht. Nur so viel, dass es wirklich der schlechteste Zeitpunkt war, um verletzt zu sein!
Ein großer Hieb mit dem Schwanz des Krokodils beförderte gleich mehrere Goblins gegen die Wand. Ja, beide Enden des Tiers waren gefährliche Waffen. Doch Splitter flogen hier und da und wie es aussah, hatte die beschworene Kreatur bereits eines ihrer kurzen Beine eingebüßt.
»Beeil dich doch!«, formte Arzu mit den Lippen und gestikulierte wild. Ein lautes Knacken kündigte das Brechen eine dicken Knochens an. Was auch immer es da getroffen hatte, es schränkte das Krokodilskelett erheblich ein. Die Zeit war abgelaufen.
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Thara fiel ein gewaltiger Stein vom Herzen, als Arzu auf ihr Rufen hin aus einem Quergang trat und mutig die Aufmerksamkeit der Goblins auf sich lenkte. Durchaus hilfreich dabei war das seltsame Skelettwesen, das die Varanterin beschworen hatte. Thara hatte keine Ahnung, was dieses längliche Ding mit dicken Stummelbeinen und einem Maul, das lang genug war, damit ein kompletter Goblin zwischen die scharfen Zähne passte, darstellen sollte – aber solange die untote Kreatur die Goblins beschäftigte, war ihr das auch vollkommen egal.
Als die Kreatur mit überraschender Schnelligkeit zum Angriff überging, sich mitten in die Goblinhorde stürzte und in schneller Folge zwei der kleinen grünen Plagegeister mehr oder weniger entzweibiss, brach Chaos unter den Goblins aus. Einige versuchten zu fliehen, andere, die entweder besonders mutig oder besonders dumm waren, gingen zum Angriff über – aber keiner von ihnen schenkte Thara noch irgendwelche Beachtung.
Das Mädchen zögerte nicht lange, sondern humpelte, so schnell es ihr höllisch schmerzendes Bein zuließ, den Gang entlang, wobei sie sich an der Wand abstützte. Ein ekelhafter Verwesungsgeruch stieg ihr in die Nase. Kein Wunder, lagen und klebten doch überall die Überreste der Zombies, die sie und Arzu zuvor beschworen hatten. Verrottete Eingeweide, halb verflüssigte Organe, gräuliche Fleischstücken, wächserne Hautfetzen und Knochensplitter waren alles, was von der wandelnden Wasserleiche noch übrig war. Dies, und eben der Gestank …
Aber Thara hatte keine Zeit, auf solche Nebensächlichkeiten zu achten. Der Geruch war nun wirklich ihr geringstes Problem. Arzu rief ihr zu, sie solle sich doch beeilen, und die Varanterin hatte einen guten Grund: Die Goblins hatten mittlerweile ihren ersten Schrecken überwunden und gingen nun gezielt gegen das Skelett vor. Sie wussten, dass sie dich vor dem Maul in Acht nehmen mussten, nutzten aber ihre Überzahl aus, um das untote Tier von hinten und von der Seite her anzugreifen und sich wieder in Sicherheit zu bringen, bevor es reagieren konnte. Einige der Knochen waren bereits gebrochen, und es wurden mal zu mal mehr. Vor allem der Anführer der Goblins, derjenige, der eine Art Rüstung trug und mit einer alten Axt kämpfte, die fast so groß war, wie er selbst, tat sich hervor, indem er dem Skelett glatt ein Bein abtrennte. Seine Goblinkumpane jubelten und verstärkten ihre eignen Bemühungen. Thara musste sich beeilen, lange würde das Skelett nicht mehr durchhalten!
Tharas fing an, zwischen jedem Schritt mehrere Hopser auf dem gesunden Bein zu machen, um so vielleicht etwas schneller voranzukommen. Währenddessen presste sie das Lichtschwert und die Rune eng an ihren Körper. Sie durfte sie auf keinen Fall verlieren, sonst wäre alles umsonst! So rasch es ihr möglich war, verkürzte sie die Entfernung zu Arzu, die sie ungeduldig heranwinkte …
Doch dann passierte es. Das Skelett kämpfte zwar noch, war aber bereits so beschädigt, dass es für die Goblins keine große Gefahr mehr darstellte und die kleinen Biester anfingen, sich einen Spaß daraus zu machen, es zu piesacken. Einer von ihnen wurde zwar übermütig und fand ein unschönes Ende zwischen den Kiefern des Skeletts, aber das schien die anderen Goblins eher noch zu amüsieren und weiter anzuheizen.
Der Anführer in der Rüstung hingegen war fertig mit dem Untoten – und wandte seine Aufmerksamkeit stattdessen auf Thara …
Er hob seine Axt und deutete auf sie. Eine eindeutige Herausforderung. Thara erstarrte mitten in der Bewegung. Der Goblin kam mit schweren Schritten auf sie zu, und einige seiner Kumpane folgten ihm. Thara schüttelte den Kopf, als könnte diese einfache Geste der Verneinung den Goblin davon abhalten, ihr besagten Kopf einzuschlagen. Was natürlich nicht der Fall war.
Der Goblin baute sich vor ihr auf, genau so, dass sie keine Möglichkeit hatte, an ihm vorbeizukommen. Arzu beobachtete die Szene mit vor Schreck geweiteten Augen, konnte aber nichts unternehmen, da ihre Magie noch an das Skelett gebunden war. Und Thara – sie schleuderte dem Goblin die klägliche Schattenflamme entgegen, zu der sie im Stande war, doch das Geschoss verpuffte wirkungslos an seiner kruden Rüstung.
Der Goblin grinste hämisch und sagte irgendetwas auf seiner krächzenden Sprache. Man musste kein Goblinisch können, um zu verstehen, dass er die junge Magierin verspottete. Thara wich zurück, aber die anderen Goblins hatten sich so postiert, dass sie ihr jeglichen Fluchtweg abschnitten. Sie konnte nichts weiter tun, als sich gegen das kalte Gemäuer zu pressen, als ob sie hoffen würde, mit ihm verschmelzen zu können.
Der Goblin ließ sich Zeit. Er war sich seiner Beute sicher. Spielerisch ließ er seine Axt hin und her pendeln und kam Schritt für Schritt näher. Thara suchte panisch nach einem Ausweg, aber es gab keinen! Sie war umzingelt, ihre Magie war wirkungslos, sie war unbewaffnet …
Nein! Sie war nicht unbewaffnet, schoss es ihr durch den Kopf! Das Lichtschwert! Auch wenn es noch nicht mit wieder mit der Rune verbunden war, es handelte sich trotzdem um eine Waffe!
„L-l-lass mich in Ruhe!“, rief sie und hielt dem Goblin das Schwert entgegen. Der Goblin blickte verdutzt drein, denn was Thara in den zitternden Händen hielt, war nichts als ein Schwertgriff, dem die Klinge fehlte. Sein breiter Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen, das eine Reihe gelbschwarzer Zähne entblößte, und seine Augen blitzten boshaft.
Bis Thara den Daumen auf die kleine Rune gleiten ließ, die vor der kurzen Parierstange angebracht war.
Aus dem Nichts materialisierte sich die schmale, silbern glänzende Klinge des Lichtschwertes – und bohrte sich genau in das linke Auge des Goblin-Anführers, der auf kaum mehr als eine Schrittlänge herangekommen war. Er hatte nicht den Hauch einer Chance, zu reagieren. In einem Augenblick war da nur ein Schwertgriff, im nächsten Moment steckte ihm die Klinge im Kopf und rührte ihm das Hirn um. Eine Sekunde lang stand er wie versteinert da, dann entglitt die Axt seinen Händen und fiel polternd zu Boden. Sein verbliebenes Auge rollte nach oben, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und er kippte nach hinten wie ein nasser Sack.
Die anderen Goblins erstarrten mitten in der Bewegung und warfen sich verunsicherte Blicke zu, als sie sahen, wie ihr Anführer plötzlich tot auf dem Marmorboden lag. Thara erkannte, dass sie diesen kurzen Augenblick nutzen musste – mit aller Willenskraft, die sie aufbringen konnte, sammelte sie die Magie um sich herum, und auch wenn sie den Widerstand spürte, der von der Rune ausging, ließ sie sich davon nicht aufhalten. Sie unsichtbaren Fühler der arkanen Kraft schlängelten sich in die Erbsenhirne der Goblins und sie verstärkte den Schrecken und die Angst, die sie wegen des Todes ihres Anführers empfanden, um ein Vielfaches. Die Augen der Goblins weiteten sich, und wie auf Kommando wandten sie sich von ihr ab und rannten panisch schreiend den Gang hinunter.
Thara selbst humpel-hopse in die entgegengesetzte Richtung, und endlich erreichte sie Arzu, die in dem Quergang auf sie wartete. Mit einem erleichterten Schluchzten ließ sich Thara in die Arme ihrer Zirkelschwester fallen, und schnellstmöglich brachten sich die beiden Magierinnen in Sicherheit, während das inzwischen arg ramponierte Skelett die letzten Sekunden seines Unlebens damit verbrachte, ihren Rückzug zu decken.
„Da seid ihr ja endlich!“, empfing sie Vabun, der lässig gegen seine Kutsche gelehnt hinter der nächsten Säule auf sie wartete, „Was hat denn da schon wieder so lange gedauert?“
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Mit voller Wucht landete die Faust punktgenau auf der Nase des im Augenblick unversteinerten Vabuns. Dieser stolperte nach hinten und verlor beinahe vollständig sein Gleichgewicht. Arzu zerrte unterdessen Thara in die Kutsche. Ihre Hand schmerzte von dem Schlag, doch ließ die Varanterin es sich nicht anmerken.
»Wofür war das denn?«, fragte Vabun empört.
»Wir sind beinahe draufgegangen, du Depp!«, polterte Arzu. »Und jetzt steig endlich ein! Wir müssen weg!«
Vabun ließ sich das nicht zweimal sagen und sprang auf der anderen Seite in das Gefährt. Rasant beschleunigte die pferdelose Kutsche und brachte ihre Insassen in Sicherheit. Von den Goblins war indes nichts mehr zu sehen.
»Zeig mir mal deinen Knöchel!«, sagte Arzu zu ihrer Zirkelschwester. Aufgrund der sportlichen Größe der Kutsche, war das leichter gesagt als getan. Dennoch überraschte Thara die Varanterin durch ihre Flexibilität. Als ob sie dafür gemacht gewesen wäre, so wenig Platz wie möglich einzunehmen. Schließlich gelang es dem dürren Mädchen, sich so hinzudrehen, dass Arzu einen Blick auf das Bein werfen konnte.
Es sah alles andere als gut aus. Geronnenes Blut klebte am Fuß und Unterschenkel und tiefe Einstichwunden klafften im Fleisch, als ob ein wildes Tier hinein gebissen hatte. Dass der Fuß überhaupt noch mit dem Rest des Beines verbunden war, grenzte an ein Wunder.
»Wir müssen zu einem Heiler!«, sagte Arzu in einem kommandierenden Ton. »Sofort!«
Vabun guckte zu ihnen herüber, sah die Verletzung und machte ein angewidertes Gesicht.
»Versaut mir nicht die Sitze!«
»Willst du noch eine gelangt bekommen?«
»Schon gut, schon gut. Du hast gewonnen!«
Die Kutsche bog an der nächsten Kreuzung ab und rauschte an einer Vielzahl von Türen und Seitengängen vorbei. Wie sie sich angesichts der wahnsinnigen Geschwindigkeit überhaupt noch im Kastell befinden konnten, war der Nekromantin vollkommen schleierhaft. Doch es ging immer weiter, bis Vabun plötzlich an einem Hebel zog, unter dem ein Schild mit folgender Aufschrift hing:
EMERGENCY STOP
NEVER USE
Abrupt hielt die Kutsche an. So abrupt sogar, dass Arzu ihren Mageninhalt über die große Scheibe vor sich verteilt hätte. Nur hatte sie sich bereits so häufig während dieses Abenteuers übergeben, dass sich jetzt kein einziger Tropfen mehr in ihrem Bauch befand. Schlecht wurde der Varanterin trotzdem. Überstürzt sprang sie aus dem schwarzen Gefährt und schnappte nach Luft. Nach ein paar Augenblicken ging es Arzu wieder besser.
Sie hatten vor einer weiteren Tür Halt gemacht. Ein Schild hing daran mit einem kleinen h und drei Punkten darüber.
»Da sind wir!«, sagte Vabun und trat ein. Thara und Arzu folgten ihm in den Raum. Wie die Kammer eines Heilers sah es nicht aus, dachte sich die Schwarzmagierin, als sie sich im Inneren befanden. Gitarren und Schlagzeuge befanden sich hier, statt Tränken und Verbänden.
»Du solltest uns zu einem Heiler bringen!«, protestierte Arzu.
»Das hat er doch.«, sagte eine Stimme. Drei Männer traten aus den Schatten. Ein hochgewachsener Blonder, einer mit einem schmalen Gesicht und schwarzen Haaren und einer mit einem runden Gesicht und ebenfalls schwarzem Haar.
»Wir sind die Heiler!«
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Tharas Verletzung brachte zumindest etwas Gutes mit sich: Einen ausgezeichneten Vorwand, weshalb sie sich an Arzu festhalten musste. Die stützende Umarmung ihrer Zirkelschwester – der Arm um ihre Hüfte, die Wärme von Arzus Körper und der Duft ihres Haars, wenn Thara den Kopf gegen ihre Schulter lehnte – war die Qualen beinahe wert.
Beinahe.
Seit sie den Goblins entkommen waren, hatte Thara das Gefühl, als würden die Schmerzen sogar noch schlimmer werden – ein heißes, dumpfes Pochen ging von dem zerfleischten Unterschenkel aus, das mit jedem Pulsschlag ein wenig intensiver zu werden schien. Trotz Arzus Hilfe musste sie bei jedem humpelnden Schritt so sehr die Zähne zusammenbeißen, dass ihre Kiefermuskeln krampften, und durch den Tränenschleier, den ihr die Schmerzen in die Augen trieben, konnte sie kaum etwas erkennen. Sie bekam nur mit, dass Vabun sie in irgendeinen Raum führte, der auf den ersten verschwommenen Blick kaum Möbel zu enthalten schien.
Umso überraschter war sie, als plötzlich ihr völlig unbekannte menschliche Stimmen ertönten. Dieses Kastell wies wirklich eine erstaunliche Anzahl an Bewohnern auf, wenn man bedachte, in welchem Zustand sich die meisten Teile des Gemäuers befanden!
Thara wischte sich die Tränen aus dem Auge und blinzelte. Was sie sah, trug nicht dazu bei, ihre Verwunderung zu verringern: Der Raum war vergleichsweise groß, aber nur sehr spärlich möbliert. An einem Ende befand sich eine lange Theke wie in einer Kneipe, komplett mit Hockern davor und einem mit tönernen Flaschen gefüllten Regal dahinter, allerdings war sie erstaunlich niedrig, als würden die üblichen Gäste kaum größer als, nun, Goblins sein. Wirklich, eine Goblin-Bar?
Aber das war noch nicht einmal das Merkwürdigste, denn gegenüber der Theke standen drei Männer, einer blond, zwei schwarzhaarig, auf einer aus Kisten und Brettern improvisierten Bühne, und klimperten beziehungsweise schlugen auf irgendwelchen seltsamen Musikinstrumenten herum! Waren das etwa die Typen, die sich gerade als Heiler vorgestellt hatten? Heiler mit Instrumenten? Das ergab doch gar keinen Sinn! Es sei denn, sie waren sowas wie Barbier-Barden. Gab es das? Barden-Barbiere? Barbierden? Bardenbiere…? Oder konnten sie etwa magisch heilen, so wie Sinistro? Aber zumindest nach Schwarzmagiern sahen sie nicht gerade aus. Wobei, so wirklich viele Schwarzmagier hatte Thara in ihrem Leben ja auch noch nicht kennen gelernt, und bis vor einigen Wochen hätte sie sich unter einem Schwarzmagier auch sicher keine so wunderschöne junge Frau wie Arzu vorgestellt. Also wieso nicht? Dann stellte sich aber die Frage, wieso sie Vabun nicht mit der Lichtschwert-Sache geholfen hatten …
„Ihr seid also Heiler?“, verlangte Arzu von den drei Gestalten zu wissen und unterbrach damit Tharas wie so oft konsequent im Kreis fahrende Gedankenpferdebahn. Der verkniffene Gesichtsausdruck der Varanterin verriet deutliche Skepsis und sie warf Vabun, der peinlich genau darauf achtete, außerhalb ihrer Reichweite zu bleiben, einen warnenden Blick zu. Der Semi-Versteinerte zog die Schultern hoch und wendete die Handflächen nach vorn: Was denn? Ich habe nur gemacht, was ihr verlangt habt!
„Nein, nein“, antwortete der Blonde, „Wir sind die hëiler! Und ich muss sagen, wir freuen uns wirklich, dass wir endlich mal wieder vor einem richtigen Publikum spielen können! Sonst kommen hier immer nur diese seltsamen grünen Männlein vorbei, aber die wissen unsere Musik überhaupt nicht wirklich zu schätzen.“
„Könnt ihr denn heilen?“, fragte Arzu ungeduldig, „Das ist eigentlich alles, was ich wissen will!“
Der Blonde lächelte verschmitzt. „Und wie! Mit Musik kann man die Seele heilen! Und ich glaube, ich weiß auch ganz genau, welches Lied das Richtige ist … “ Er sah plötzlich Thara an und zwinkerte ihr zu, was die Verwirrung des Mädchen nicht gerade verringerte. „Jungs?“, wandte er sich schließlich an seine Kollegen, „‚Wie es geht‘, zwo, drei …“
Ohne sich noch länger einstimmen zu müssen, legte das Bardentrio los. Der Rundgesichtige gab mit seinen Trommeln den Takt vor, und die anderen beiden griffen in die Saiten ihrer seltsam geformten Lauten, und der Blonde fing mit lauter, klarer Stimme an zu singen:
„Woo-hoo!
Woo-hoo!
Woo-hoo!
Ich schau' dich an und du bist unbeschreiblich schön
Ich könnte ewig hier sitzen und dich einfach nur anseh'n
Doch plötzlich stehst du auf und du willst geh'n
Bitte geh noch nicht, ich weiß, es ist schon spät
Ich will dir noch was sagen, ich weiß nur nicht, wie es geht
Bleib noch ein bisschen hier, und schau mich nicht so an
Weil ich sonst ganz bestimmt überhaupt gar nichts sagen kann
Ich weiß selber nicht, was los ist, meine Knie werd'n weich
Im Film sieht es so einfach aus, jetzt bin ich kreidebleich
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, mein Gott, jetzt gehst du gleich
Bitte geh noch nicht, bleib noch ein bisschen hier
Ich muss dir noch was sagen, nur die Worte fehlen mir
(Ah-ha-ha) Bitte geh noch nicht, ich weiß, es ist schon spät
(Ah-ha-ha) Ich will dir noch was sagen, ich weiß nur nicht wie es geht
Wie es geht
…
Ich dachte immer, dass es leicht wär
Ich dachte immer, das ist doch kein Problem
Jetzt sitz' ich hier, wie ein Kaninchen vor der Schlange
Und ich fühl' mich wie gelähmt
Ich muss es sagen, ich weiß nur noch nicht wie
Ich muss es dir sagen, jetzt oder nie
Bitte geh noch nicht, am best'n gehst du nie
Ich hab's dir schon so oft gesagt, in meiner Fantasie
Bleib noch ein bisschen hier, bitte geh noch nicht
Was ich versuche, dir zu sagen ist: ‚Ich liebe dich!‘
Ich weiß nicht
Wie es geht
Wie es geht
Wie es geht
Woo hoo!“
Als mit jeder Strophe die Bedeutung des Liedtextes ein wenig klarer wurde, wünschte sich Thara zunehmend nichts sehnlicher, als im Boden zu versinken. Tief, wirklich tief! So tief, dass sie niemand jemals wieder finden würde! Oder einfach tot umfallen. Oder sich in Nichts auflösen. Irgendetwas davon! Sie krallte sich geradezu mit der Hand an Arzus Schulter fest und starrte konsequent auf den Boden, versteckte sich hinter ihrem zerzausten Haar, während sie das Gefühl hatte, dass ihr gesamtes Blut sich gerade ein ihrem Kopf befinden musste. Wie konnte es sein, dass diese seltsamen Typen einfach so Bescheid wussten? Konnten diese hëiler etwa Gedanken lesen? Oder … oder waren ihr ihre Gefühle einfach so deutlich anzusehen? Aber warum hatte Arzu dann nie etwas gesagt? Spielte sie etwa mit ihr? Nein, das würde Arzu nicht tun! Oder etwa doch?
„Thara? Alles in Ordnung? Wieso zitterst du?“, fragte Arzu plötzlich besorgt, „Was ist mit deinem Bein? Hat es funktioniert?“
„W-w-was?“, stammelte Thara und hob zögerlich den Kopf, wagte es aber nicht, Arzu in ihre wunderschönen, dunklen Augen zu sehen, „F-funk– …?“ Sie brauchte einen Moment, bis ihr einfiel, dass es ja eigentlich um ihr verletztes Bein ging! Aber der Schmerz war noch immer da und hatte auch nicht nachgelassen, obwohl sie ihn tatsächlich für einen Moment fast vergessen hatte. „Äh … n-nein … es tut noch immer … a-a-aber Arzu, ich … i-i-ich …“
„Ja?“, fragte Arzu und hob die Augenbrauen. Thara biss sich auf die Unterlippe und senkte voller Scham den Kopf.
Ich liebe dich!
Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Nein, sie konnte das nicht! Schon gar nicht hier, wo sie die Blicke der drei Musiker und Vabuns auf sich spürte. Plötzlich wünschte sie sich nichts sehnlicher, als einfach fort zu sein, weg, an einem anderen Ort! Egal wo! Hauptsache, sie stand nicht im Rampenlicht und machte sich vor Publikum zum Narren. Ihre Lippen bebten und sie versuchte, irgendwelche sinnvollen Worte zu finden, aber ihr Kopf war leer. Sie fühlte sich wie ein gehetztes Tier – alles, woran sie noch denken konnte, war Flucht!
Als sie begann, ein leichtes Ziehen zu spüren, schenkte Thara dem in ihrer Aufgewühltheit keinerlei Beachtung. Plötzlich fing ein ominöses blaues Licht an, sie einzuhüllen, und das Ziehen wurde stärker – viel stärker! Es fühlte sich an, als wäre sie von einer unsichtbaren Strömung erfasst worden, die viel zu stark war, um ihr Widerstand zu leisten. Überrascht und entsetzt zugleich riss Thara die Augen auf.
„Wa–“, brachte sie noch hervor – dann war sie verschwunden.
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Davon, dass Thara verschwunden war, nahm Arzu keinerlei Notiz. Sie hatte nur noch Augen für den blonden Sänger. Kaum hatten die Heiler ihr Lied zu Ende gespielt, gab es für die Schwarzmagierin kein Halten mehr. Sie sprang hinauf auf die Bühne und schmiegte sich an die Seite des Blonden mit dem breiten Grinsen. Es war wirklich ausgesprochen breit!
Der Musikstil hatte der Nekromantin unglaublich gut gefallen und etwas ähnliches hatte sie auch noch nicht zu Ohren bekommen. Dass es sich um ein Liebeslied speziell für Arzu handelte, machte die Sache perfekt. Obwohl es ein wenig seltsam war. Schließlich kannte der blonde Sänger sie erst einige Minuten! Nun, es war offensichtlich Beliars Wille, der hier geschah. Mal davon abgesehen, dass er nicht der erste war, der sich beim ersten Anblick der Varanterin Hals über Kopf in sie verliebte. Überall wo sie hinging, hatte Arzu zahllose Verehrer. Es war der Preis der Schönheit.
»Spielt ihr auch im anderen Kastell?«, säuselte die Schwarzmagier dem Blondschopf ins Ohr. Er schien ob ihres offensiven Vorgehens leicht verwirrt zu sein. Auch das überraschte sie nicht. Nun, vielleicht doch. Immerhin hatte er mit seinem Liebeslied die ganze Sache erst ins Rollen gebracht. Was auch immer es war, es hatte keine Bedeutung.
»Oh, ihr wisst gar nichts vom anderen Kastell!«, spekulierte Arzu. »Da gibt es keine von den grünen Männchen. Sobald wir zurück sind, werde ich schon einen Weg finden, euch rüberzuholen! Thara und ich müssen nur noch ein paar Kleinigkeiten klären.«
Die Varanterin drückte sich fester an die Seite des Sängers und blickte ihn mit ihren großen Augen gierig an. Dabei fiel ihr auf, wie lange sie schon ohne brauchbare männliche Begleitung unterwegs war. Klar, Vabun war da, aber der war eindeutig zu alt. Die beiden Brüder hatte Arzu natürlich nicht vergessen. Bloß wo die abgeblieben waren, wusste auch niemand. So gesehen kam ihr der hochgewachsene Sänger im Augenblick genau recht! Zu schade, dass sie bald wieder weg müsste.
Während Arzu ihre Arme um den Hals des Blondschopfs legte und ihm tief in die Augen blickte, fiel ihr Tharas Verletzung wieder ein.
»Ist es schon besser geworden, Thara?«, fragte die Schwarzmagierin ohne sich von ihrem neuen Liebling abzuwenden. Erst als keine Antwort kam, drehte die Varanterin sich um. »Wo ist Thara?«
Vabun, der in einem sicheren Abstand zur Nekromantin stand, zuckte mit den Schultern.
»Sie hat sich in blaues Licht aufgelöst?«, antwortete der Unversteinerte nonchalant.
»Blaues Licht? Was tut das?«
»Es leuchtet blau!«
Arzu neigte den Kopf leicht und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Schon gut, schon gut, du hast gewonnen!«, rief Vabun schnell ein. »Sah mir nach einem Teleport aus.«
»Und das sagst du mir jetzt erst?!«
Wieder hob er die Hände abwehrend vor seine Brust. Arzu rollte mit den Augen.
»Die Pflicht ruft!«, sagte die Nekromantin wehleidig zum blonden Sänger. »Vergiss mich nicht!«
Zum Abschluss gab sie ihm einen Kuss direkt auf seinen überaus breiten Mund.
»Ciao!«, säuselte sie den drei Heilern noch zum Abschied zu und packte Vabun dann an der Gardine. »Komm, wie gehen!«
Ihre Worte an den Unversteinerten waren herrisch und ließen keinerlei Widerworte zu.
»Wohin bring der Teleport Thara? Und vor allem, wie konnte sie sich überhaupt teleportieren? Das ergibt doch alles keinen Sinn!«
»Teleportieren kann man sich überall hin. Bis vor kurzem durfte man nicht in überdachte Räumlichkeiten und auch nicht unter Bäume teleportieren, aber das haben die zum Glück abgeschafft.«
Arzus große Augen funkelten in der Dunkelheit des Ganges.
»Zum Pentagramm. Da wird sie bestimmt sein.«, fügte Vabun schnell hinzu. »Die zweite Stufe hat sie bestimmt noch nicht erreicht.«
»Weniger Blödsinn labern und mitkommen!«
Vabun widersetzte sich nicht länger und hielt für seine Verhältnisse lange den Mund. Ohne Zwischenfälle erreichten sie bald die große Eingangshalle in der sich auch das Pentagramm befand. Zu Arzus Erleichterung entdeckte sie dort auch Thara, zusammengerollt zu einem kleinen Bündel am Fuße des leeren Podests.
»Hey! Du kannst doch nicht einfach abhauen!«, sagte die Schwarzmagierin in einer sanften Stimme zu ihrer Zirkelschwester. Sie hockte sich neben Thara und legte die Hand auf ihre Schulter. In der Zwischenzeit war Vabun auf das Podest geklettert.
»Gar kein schlechter Platz!«, erklärte er, doch dafür interessierte sich Arzu nicht.
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„T-t-tut mir leid! B-bitte entschuldige …“, stammelte Thara und fing sich dafür sogleich wieder einen strafenden Blick Arzus ein. Beschämt senkte sie den Kopf und versuchte, sich zu erklären: „Ich w-wollte nicht … a-also, ich meine … ich w-w-weiß g-gar nicht, was p-p-passiert ist, ich war einfach a-auf einmal … hier!“
„Möglicherweise hast du eine subtile Verbindung zu dem Teleportations-Pentagramm aufgebaut, als ich euch beide aus den Labyrinth hier her teleportiert habe“, mutmaßte Vabun, während er auf dem Podest stehend verschiedene Posen ausprobierte, als würde er für einen Bildhauer Modell stehen. „Und irgendetwas vorhin hat dafür gesorgt, dass du unbewusst diese Verbindung reaktiviert und die Teleportation durchgeführt hast. Mach dir nichts draus, sowas passiert – ungewolltes Teleportieren ist momentan so eine Art Modeerscheinung. Den Leuten fällt wohl einfach nichts Besseres ein, um sich den Skill beizubringen. Die Kreativität bei der heutigen Jugend lässt eben auch einfach zu wünschen übrig…“
„Wie geht es deinem Bein?“, fragte Arzu, ohne Vabuns sonderbaren Ausführungen große Beachtung zu schenken, „Ist es besser geworden?“
Thara schüttelte den Kopf. Nein, es war kein bisschen besser geworden. Die tiefen Wunden bluteten noch immer und schmerzten wie die Hölle. Keine Chance, dass sie allein auch nur einen Schritt würde laufen können. Deswegen hatte sie sich auch nicht von der Stelle bewegt, als sie sich plötzlich in der Vorhalle wiedergefunden hatte. Zum Glück hatte Beliar ihre verzweifelt zusammengestotterten Gebete wohl erhört und es hatte nicht lange gedauert, bis Vabun und Arzu mit der pferdelosen Kutsche aufgetaucht waren.
Arzu seufzte genervt und sah wieder zu Vabun: „Ich hatte gesagt, wir brauchen einen Heiler, und nicht …“ Sie ließ den Satz unvollendet.
Vabun zog die Augenbrauen hoch: „Nicht was? Ich hatte den Eindruck, es gefiel dir!“
„Es war trotzdem nicht das, wonach ich dich gefragt hatte!“, erwiderte Arzu und stemmte die Arme in die Hüften. „Wir brauchen jemanden, der Tharas Bein heilen kann, und dann müssen wir diese Lichtschwert zusammensetzen, und dann … wo kommen diese Heiler gleich nochmal her?“
Vabun zuckte mit den Schultern. „Die? Tja, wenn ich das wüsste ... Wahrscheinlich hab‘ ich mich da mal wieder betrunken an ‘nem Weltenriss probiert. Da kommt alles Mögliche durch. Manchmal sogar ein Sukkubus!“ Er grinste debil bei dem Gedanken. „Also, zumindest in der Theorie … Aber hier scheint irgendwas seltsam zu sein, der Weltenriss macht …“
„Tharas Bein?“, unterbrach ihn Arzu streng, bevor er weiter ins Schwafeln kommen konnte. Vabun glotzte die Varanterin einen Moment lang verwirrt an, winkte dann aber ab: „Kein Problem, ich habe noch den einen oder anderen Heiltrank bei mir im Labor. Da müssen wir sowieso hin, um das Lichtschwert zusammenzusetzen. Ich hoffe, Smaragdäuglein hat inzwischen alles vorbereitet! Zeit genug hatte er ja!“
Nach einer kurzen Spritztour in Vabuns Rennkutsche über diese seltsamen, langgestreckten Korridore mit glattem schwarzen Untergrund, die nur dann zu existieren schienen, wenn sie in dem Gefährt des nicht ganz versteinerten Magiers unterwegs waren, kamen sie mit quietschenden Rädern vor einer rußgeschwärzten Tür zu stehen.
„Da wären wir!“, verkündete Vabun. Als sie aus der Kutsche stiegen, schlug Thara und Arzu ein scharfer Brandgeruch entgegen, vermischt mit allerlei anderen, oft noch weniger angenehmen Gerüchen.
„Was stinkt hier denn so?“, wollte Arzu wissen und kräuselte dabei auf so außerordentlich niedliche Art ihre Nase, dass Thara sie beinahe gestupst hätte.
„Es ist ein Labor“, antwortete Vabun trocken und zuckte mit den Schultern, „Was erwartest du? Rosenduft?“
Er drückte die Klinke herunter und wollte die Tür öffnen, aber sie bewegte sich nicht. „Was zum…“, fluchte er und probierte es erneut. Aber die Tür war verschlossen. „Was soll das denn jetzt? Hey, Smaragdäuglein! Wir sind’s!“ Mit einer Faust, die sich passenderweise just in diesem Moment kurzzeitig zu Stein verwandelte, hämmerte Vabun gegen die Tür. Aber nichts geschah, niemand öffnete ihnen und es waren auch keine Geräusche von innen zu vernehmen. „Innos Arschhaare!“, fluchte Vabun, „Wo steckt dieser Kerl mit den grünen Augen? Laut Liste ist der doch aktiv! Oder stehen da nur noch Karteileichen drauf?“
„Was ist das Problem?“, fragte Arzu.
„Das Problem ist, dass ich eurem Kumpel mit den Smaragdäuglein den Schlüssel zu meinem Labor gegeben habe! Den einzigen Schlüssel!“ Sein Blick fiel auf Thara. „Warte mal, du kannst doch jetzt Schlösser knacken, oder?“
„Äh … naja, i-ich … e-e-ein bisschen? A-aber bestimmt nicht so gut w-wie du!“ Sie zog den letzten noch intakten Dietrich hervor und hielt ihn Vabun hin, der das filigrane Werkzeug aber nur anschaute, als käme es von einem anderen Planeten.
„Was soll ich denn damit? Ich hab‘ den Skill nicht! Nur weil ich über transzendentes Metawissen aus der vierten Dimension verfüge, kann ich deswegen noch längst nicht alles anwenden!“
„W-was?“
„Nicht so wichtig. Sieh einfach zu, dass du die Tür öffnest, ja?“
Thara blieb einen Moment lang unschlüssig und verwirrt stehen, aber als Arzu, die wohl auch nicht länger als nötig warten wollte, sie schließlich mit sanftem Druck zur Tür lenkte, fügte sie sich. Links – rechts – links … *knirsch!* Links – rechts – rechts – link…*knack!*
„Oh nein …“ Betreten zog Thara den abgebrochenen Dietrich aus dem Schlüsselloch. „Tut mir leid! I-i-ich k-kann das doch n-nicht! Ich … D-d-das war der letzte …“
Vabun seufzte. „Mach dir einfach einen neuen!“
„E-einen … neuen?“
„Aus Knochen! Einfach herzaubern! Ich dachte, du willst mal eine richtige Magierin werden? Man braucht inzwischen auch keine vorhandenen Knochen mehr, also muss ich dich nicht einmal auf die tote Ratte hinweisen, die sehr gelegen gerade rein zufällig da drüben in der Ecke liegt! Brauchen wir nicht! Du kannst einfach Knochen aus Beliars Reich herbeirufen und sie formen, so wie du sie brauchst.“
Thara sah Vabun zweifelnd an, aber dann fiel ihr wieder ein, wie sie dieses Tierskelett, diese von Arzu beschworene Üjähne, nunja, vielleicht nicht gerade verbessert, zumindest aber nach ihren Vorstellungen umgestaltet hatte. Sie hatte die Knochen geformt, in ihrer Struktur verändert und ihrem Willen gemäß angepasst. Also, ja, warum sollte es nicht möglich sein, dasselbe mit Knochen zu tun, die sie selbst heraufbeschwor?
Sie schloss kurz die Augen und sammelte sich. Der heiße, pochende Schmerz in ihrem Bein machte es schwierig, sich zu konzentrieren, aber sie hatte in ihrem Leben schon schlimmeres ertragen müssen. Fast schon unbewusst ließ sie ihren Geist wandern, als wäre er überhaupt nicht mit ihrem Körper verbunden, und die Schmerzen wurden zu nichts weiter als einem undeutlichen Hintergrundrauschen, während sie sich auf die Ströme der Magie konzentrierte. Eine Beschwörung, wie bei einem Zombie, nur eben … kleiner, viel kleiner.
Thara streckte die Hände aus, mit den Handflächen nach oben, als würde sie eine Gabe entgegennehmen wollen. Ein dunkler Nebel bildete sich und begann, sich langsam zu verfestigen und Gestalt anzunehmen, bis ein Knochen wenige Fingerbreit über ihren Handflächen schwebte. Jemand mit Erfahrung in Anatomie hätte ihn als menschlichen Radius, einen Unterarmknochen, identifizieren können, aber für Thara war es einfach nur irgendein Knochen, der ihr als Rohmaterial diente. Der Knochen begann, weich zu werden wie Ton, und sich von selbst zu verformen, überflüssiges Material tropfte herab wie von einer Wachskerze, die man über ein Feuer hielt, und verschwand im Nichts. Es dauerte kaum eine Minute, bis Thara eine nicht ganz perfekte, aber doch brauchbare Nachbildung eines Dietrichs in den Händen hielt. Vabun nickte anerkennend, und Arzu lächelte, wobei sie zugleich erleichtert aussah, als hätte sie erwartet, dass der Knochen jederzeit einfach Explodieren würde.
Mit ihrem selbsterschaffenen Werkzeug machte sich Thara daran, das Schloss zu öffnen, wobei sie darauf achtete, mit größter Vorsicht vorzugehen. Schließlich gelang es ihr tatsächlich, das Schloss zu öffnen, ohne dass ihr der Knochendietrich abbrach, trotz einiger Fehlversuche.
„Na also! Ich wusste doch, ich hab‘ euch für irgendwas mitgebracht!“, verkündete Vabun und stieß die Tür auf, „Dann mal rein in die gute Stube!“
Im Labor herrschte pures Chaos. Ein aus massivem Holz gefertigter Alchemietisch nahm die Stirnseite des Raumes ein, flankiert von Regalen, deren Fächer sich unter dem Gewicht der darin gestapelten Bücher und Instrumente schon durchbogen. Ein Skelett – kein beschworenes, sondern eines, das an einer Stange befestigt war und dessen Knochen mit Draht und Schnüren zusammengehalten wurden – stand in einer dunklen Ecke, auf dem Schädel lag ein speckiges Handtuch. Auf dem Alchemietisch selbst waren Apparate aus Glaskolben, Tongefäßen und Kupferspulen zusammengebaut, über deren Sinn Thara nicht einmal beginnen konnte zu spekulieren, aber die Arbeitsfläche lag unter Unmengen an Kram und Sammelsurium vergraben – Flaschen, Dosen und Beutelchen mit unbekannten Inhalten, Bücher, bekritzelte Zettel, möglicherweise funktionstüchtige ebenso wie eindeutig kaputte Werkzeuge, Knochen, getrocknete Pflanzen, bunte Steine, Kerzenstummel, angesengte Kienspäne, Amulette und Medaillen mit seltsamen Zeichen darauf und vieles mehr. Die Regale links und rechts waren mit vergleichbaren Dingen vollgestopft und quollen so sehr über, dass vieles einfach auf dem Boden lag. Bücherstapel türmten sich in die Höhe, und auf einem davon, der besonders wackelig aussah, stand eine kostbar wirkende, goldfunkelnde Sanduhr.
„Willkommen in meinem Laboratorium!“, verkündete Vabun stolz und breitete die Arme aus, „Ist es nicht herrlich? Dieser Hort des Wissens!“
Er ergriff einen Stuhl, auf dessen Sitzfläche sich Bücher, Töpfchen und ein paar hübsch aussehende Kristalle stapelten, und kippte das alles kurzerhand auf den Boden.
„Setz dich“, forderte er Thara auf und begann dabei, sich durch eines der Regale zu wühlen, „Ich suche inzwischen den … ah! DA ist das verdammte Ding also!“ Triumphierend hob er ein silbernes Amulett an einer einfachen Lederkordel in die Höhe, „Ich dachte schon, diese verdammten Goblins hätten es mir geklaut!“
„Was ist das?“, fragte Arzu, woraufhin Vabun ihr einen Blick zuwarf, als wäre sie leicht beschränkt.
„Wonach sieht es denn aus? Ein cooler Anhänger natürlich!“ Er hängte sich das Amulett um den Hals und breitete die Arme aus. „Na? Cool, oder? Was? Heiltr… ach ja, natürlich!“
Seufzend kramte Vabun weiter in dem allumfassenden Chaos herum, bis er schließlich ein kleines Fläschchen zwischen zwei Büchern hervorzog. Es beinhaltete sirupartige, dunkelrote Flüssigkeit.
„Hier, trink das“, forderte er Thara auf und reichte ihr das Fläschchen, „Es wird deine Wunde zwar nicht einfach so verschwinden lassen, aber es wird die Heilung deutlich beschleunigen und die Schmerzen lindern. Glaube ich.“
Obwohl Thara gewisse Zweifel hegte, leistete sie Vabuns Aufforderung folge. Das Gebräu schmeckte nicht einmal schlecht, es war süß und hatte ein Aroma von Waldbeeren. Als Thara das Fläschchen geleert hatte, schaute Vabun sie erwartungsvoll an.
„Und? Spürst du etwas? Ein Kratzen im Hals vielleicht? Beschleunigter Herzschlag? Ziehen oder Stechen in der Lunge?“
„Äh … n-nein …“
„Gut! Sehr gut! Dann war es tatsächlich der Heiltrank und nicht der Rote Würger. Warte einfach ein wenig, die Wirkung braucht ein paar Minuten, um sich einzustellen.“
Thara nickte nur. Und tatsächlich spürte sie wenig später, wie die verletzte Stelle ihres Beines langsam wärmer zu werden begann. Es war nicht die schmerzhafte, fiebrige Hitze einer Entzündung, sondern eine sanfte Wärme, als würde jemand ihr einen weichen, mit heißem Wasser getränkten Umschlag um das Bein wickeln. Und zugleich begannen die Schmerzen nachzulassen, erst langsam, aber dann merklich, bis sie bald nur noch ein leises Echo waren – nicht gänzlich verschwunden, aber wesentlich erträglicher. Auch äußerlich setzte der Heilprozess sichtbar ein. Die Wunde hörte auf zu bluten und man konnte fast zusehen, wie sich Fleisch und Haut zu regenerieren begannen. Der Effekt hielt zwar nur kurzzeitig an und hinterließ längst kein gänzlich gesundes Bein, aber zumindest die Wundränder hatten sich geschlossen. Ein konstantes Kribbeln kündete davon, dass der Genesungsprozess fortdauerte, und es kostete Thara einiges an Willenskraft, nicht an der Verletzung herumzukratzen.
„Besser?“, fragte Vabun.
„Äh, j-ja, viel besser … d-d-danke!“
Vabun winkte ab. „Nichts zu danken, man hilft doch, wo man kann! So, und jetzt zu den wirklich wichtigen Dingen …“
Irgendwo unter seiner Gardinenrobe holte er plötzlich den Folianten hervor, in dem angeblich das Ritual zur Verbindung des Lichtschwerts und der Weißen Magie-Rune beschrieben stand. Achtlos wie eh und je wischte er einfach so viel Krempel von der Arbeitsplatte seines Alchemietisches, dass er das Buch darauf aufschlagen konnte.
„So“, verkündete er, „Wir brauchen die hier abgebildeten Gegenstände, und die befinden sich irgendwo in diesem Wimmelbil … äh, hier im Labor! Wer sie zuerst findet, hat gewonnen!“
Geändert von Thara (13.12.2024 um 19:59 Uhr)
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Der Zustand des Laboratoriums passte perfekt zu Vabun. Es gab kein Konzept von Ordnung und die Hälfte der Teile konnte man ohne viel Federlesens als Schrott bezeichnen. Tatsächlich stand es im starken Kontrast zum bequemen Quartier, welches er den beiden Schwarzmagierin vor einer Weile zur Verfügung gestellt hatte. Obwohl das auch nicht stimmte, denn die Zimmer hatten sich am Ende auch als ein heruntergekommenes Drecksloch entpuppt. Insofern blieb Vabun seiner Linie treu. Ob die Kutsche am Ende auch ein solches Geheimnis verbarg? Dabei hatte Arzu Gefallen an dem Gefährt gefunden. Es war unglaublich schnell, die Sitze verflucht bequem und es besaß ein zeitloses Äußeres. Nur schade, dass es keinem adretten, jungen Mann gehörte, sondern einem halbversteinertem Kerl, der in einer Gardine herumrannte.
Nun war erst einmal Suchen angesagt. Von all den Dingen, die im Folianten abgebildet waren, wählte Arzu zuerst das größte. Es war ein Runentisch. Etwas ähnliches hatte sie bereits im Nachlass ihres Großvaters gesehen. Niemand in ihrer Familie hatte Verwendung dafür und so hatten sie es am Ende verkauft. So hatte Arzu auch nicht den blassesten Schimmer, wie man den Tisch wirklich benutzte. Sie hoffte darauf, dass Vabun sich darauf verstand. Eine Wette darüber hätte sie trotzdem nicht abgeschlossen. Am Ende lief es bei ihm meistens darauf hinaus, dass er sagte: »Ich dachte, ihr wisst wie das geht!?«
Begleitet von lautem Getöse zog die Nekromantin den Runentisch aus dem restlichen Gedöns. Er bestand auf einem breiten Ständer, der in vier großen Gänsefüßen endete. Darüber montiert saßen eine ganze Reihe von ineinander gesetzten Ringen. Hätte sich ein Spiegel in der Mitte der Ringe befunden, hätte man es auch für einen Schminktisch halten können. Mit dem Finger stupste Arzu einen der Ringe an, der sich daraufhin in Bewegung versetzte und auch keine Anstalten machte, langsamer zu werden. Als er in einem rechten Winkel zum nächst größeren Ring befand, begann auch dieser sich zu drehen. Das ging so weiter, bis sämtliche Ringe des Runentischen rotierten und ein seltsames Summen dabei von sich gaben. Es mutete mehr nach einem Kinderspielzeug an, als nach dem Instrument eines Magiers.
Arzu zuckte mit den Schultern und warf einen Blick in den Folianten, um herauszufinden, was sie noch benötigten. Eine Zange; die hatte Thara bereits aufgespürt. Das nächste war laut Bildunterschrift Sumpfkrautöl und befand sich in einer kleinen und - wie konnte es anders sein - sumpfgrünen Flasche.
Die Suche danach gestaltete sich um einiges schwieriger. Flaschen gab es im Laboratorium zu Hauf. Viele davon unbeschriftet, viele bereits zerbrochen. Arzu hoffte nur, dass das Öl sich nicht in einer der letzteren befunden hatte. Wo auch immer sie allerdings suchte, fündig wurde die Varanterin nicht.
»Hat einer von euch schon das Sumpfkrautöl gesehen?«, fragte Arzu und fügte für Thara noch hinzu, dass es sich um das mit der sumpfgrünen Flasche handelte. Leider waren ihre Begleiter genauso erfolglos. Jedenfalls was das Öl anbelangte. Sowohl das dürre Mädchen, als auch der Mann in der Gardine hatten schon einigen anderen Kram ausfindig gemacht. Unbeirrt suchte Arzu weiter und stieß hinter einem besonders großen Haufen von Gerümpel auf eine Tür.
»Ha! Da ist die!«, rief Vabun. »Ich hatte mich schon gewundert, wo die Tür abgeblieben ist!«
Die Nekromantin drückte die Klinke, doch etwas auf der anderen Seite versperrte die Tür. Vermutlich hatte der Unversteinerte den Nebenraum genauso mit Kram zugeschüttet und am Ende einfach die Tür zugemacht. Aus den Augen, aus dem Sinn! Statt sich selbst möglicherweise noch einen Fingernagel abzubrechen, beschwor Arzu kurzerhand einen Zombiewidder und befahl der Kreatur die Tür aufzurammen. Wenn das Getöse vorher bereits laut gewesen war, nahm es nun ohrenbetäubende Dimensionen an. Ohne Unterlass hämmerte der untote Widder mit seinen Hörnern gegen die Tür. Es bedurfte gewiss ein halbes Dutzend Anläufe, bis das, was auf der anderen Seite im Wege stand, nachgab und mit einem lauten Knall umfiel. Ein Schnippen ihres Fingers genügte, um Arzus Kreatur wieder in die andere Sphäre zu schicken. Statt dessen manifestierte sie nun ihren berühmten Schattenfresser und trat in das Dunkel des Nebenraums.
Als der Zauber die Finsternis in sich aufnahm, gab er den Blick auf ein noch größeres Chaos frei, als im ersten Raum herrschte. Arzu hatte sich nicht getäuscht: Vabun hatte hier noch viel mehr Zeug hineingestopft. So viel, dass man nicht mal mehr klar erkennen konnte, was überhaupt vor einem lag. Der Mann in Gardine stellte sich neben die Nekromantin und blickte sich um.
»Ziemlicher Saustall.«, bemerkte er.
»Ist das dein Ernst?«
»Oh, guck mal! Die hatte ich schon die ganze Zeit gesucht!«, fuhr Vabun fort und griff in den erstbesten Haufen. Zum Vorschein holte er, was aussah wie eine kleine, gelbe Ente mit orangem Schnabel. Als Vabun sie drückte quietschte sie laut.
»Schaumbad nur original mit Quietscheentchen.«
Arzu fasste sich an die Stirn und erklomm dann den nächsten Berg mit Krempel. Auf seiner Spitze angelangt, entdeckte sie zu ihrer Erleichterung eine kleine Kiste, in der sich sechs Fläschchen des gesuchten Öls. Es war schon fast zu einfach. Zur Sicherheit öffnete Arzu eine der kleinen Flaschen und roch vorsichtig daran. Eindeutig Sumpfkrautöl! Gerade als die Varanterin im Begriff war zu gehen, fiel ihr die Rückwand des Raumes auf. Oder vielmehr das Fehlen derselbigen. Sie war sich nicht sicher, was genau sie dort sah. Beinahe wirkte es wie ein weiterer, aber wesentlich größerer Raum. Fast schon ein Saal. Reihen von Stühlen standen dort dicht an dicht.
»Vabun, was ist das?«, fragte die Schwarzmagierin.
»Ach, das ist die vierte Wand.«, antwortete der Mann in Gardine.
»Ja, das ist mir schon klar.«
»Nein, nein, es ist DIE vierte Wand.«
Fragend blickte Arzu den Unversteinerten an. Der deutete nur auf die Stuhlreihen. Und dann sah die Nekromantin ihn. Eine einzelne Person saß dort. Vollständig in rot gekleidet, selbst mit einer roten Maske, die bis zur Nase hochgekrempelt war. An der Stelle von Gucklöchern saßen große, weiße Dinger, die wie stilisierte Augen aussahen. In seinem Arm hielt der Unbekannte einen großen Eimer, aus dessen Inhalt er sich hin und wieder bediente. Als sich ihre Blicke trafen, winkte der rot Gekleidete.
»Ihr macht das super!«
Der Verstand der Nekromantin setzte für einen Moment lang aus. Sie wusste nicht, was sie dort sah, wie es sich in ihre Realität einordnete und überhaupt!
»Was auch immer.«, sagte Arzu schließlich und winkte ab.
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Thara, die es längst aufgegeben hatte, nach irgendeinem Sinn hinter den Dingen zu fragen, denen sie im Mondkastell begegneten, winkte dem seltsamen Mann hinter der fehlenden vierten Wand kurz zu. Nach Erfüllung dieser Pflicht widmete sich wieder der Suche.
Inzwischen hatten sie die meisten Zutaten beisammen, aber was sie noch brauchten, war ein Auge. Ein Auge am Stiel, zumindest sah es auf der etwas kruden Zeichnung in dem Buch danach aus. Vabun erklärte, es handele sich um das Auge eines Betrachters, denn darin liege bekanntlich die Schönheit. Was das Lichtschwert mit Schönheit zu tun hatte, war Thara zwar schleierhaft, aber das sollte nicht ihre Sorge sein.
„Oh! D-d-das hier?“, fragte Thara und zog ein großes Einmachglas zwischen all dem Gerümpel hervor. Es war voller Augäpfel, die in einer unappetitlich aussehenden, leicht gelblichen Flüssigkeit schwammen. Aber Vabun schüttelte den Kopf.
„Nein, das sind Solaugen“, erklärte er, „Die sind zum Essen für zwischendurch. Aber nimm dir ruhig eines!“
„Ich … äh … d-d-danke, aber i-ich habe gerade k-k-keinen Hunger …“, log Thara und schob die Solaugen zurück ins Chaos, so, dass sie nicht mehr zu sehen waren.
„Was ist das hier?“, rief Arzu, die gerade den Gipfel eines Gerümpelbergs erklommen hatte und nun ein Kästchen in die Höhe hielt, auf dessen Deckel ein stilisiertes Auge gemalt war.
„Hühneraugen, für die Suppe!“, antwortete Vabun. Arzu verzog angeekelt das Gesicht ließ das Kästchen fallen.
„Es muss hier irgendwo sein!“, murmelte Vabun und schaufelte mit beiden Armen Gerümpel bei Seite. Thara tat es ihm gleich. Plötzlich stieß sie auf etwas weiches, nachgiebiges. Es fühlte sich ein wenig an wie sehr, sehr glattes Leder und wobbelte, wenn sie dagegen stupste. Neugierig legte sie mehr von ihrer Entdeckung frei. Der wobbelige Ledersack lag in etwas wie einem Holzrahmen.
„Was hast du denn da gefunden?“, wollte Vabun wissen. Thara zuckte nur ratlos mit den Schultern und Vabun drückte gegen das Leder. Es blubberte und schwappte leicht, und plötzlich grinste der Magier breit: „Ein Wasserbett! Ich wusste gar nicht mehr, dass ich ein Wasserbett habe! Vielleicht sollte ich wirklich mal wieder aufräumen …“
Nach der Entdeckung des Wasserbettes dauerte sich sicher noch eine ganze Weile, bis Arzu endlich triumphierend das Auge des Betrachters in die Höhe recken konnte, das sie unter dem Bett gefunden hatte. Damit hatten sie alle nötigen Zutaten beisammen.
Vabun schaffte etwas Platz im Hauptlabor, um den Runentisch darin aufstellen zu können, und fuhr leise vor sich hin murmelnd mit dem Finger Zeile für Zeile der Anweisung in dem Folianten nach, einen Schritt nach dem Anderen befolgend, auch wenn einige dieser Schritte für Thara keinen Sinn ergaben. Die Rune in die Mitte der herumwirbelnden Apparatur auf dem Runentisch einzuhängen und den Schwertgriff darunter zu platzieren, das sah vernünftig aus. Aber warum musste der Schwertgriff auch noch mit Sumpfkrautöl eingerieben werden, wozu musste das Auge des Betrachters so platziert werden, dass es die Apparatur anzuschauen schien, mit einem Spiegel auf der anderen Seite, und warum zog sich Vabun irgend so ein weißes Pulver in die Nase, bevor er mit dem eigentlichen Ritual begann? Der nicht gänzlich versteinerte Magier hielt sich jedoch nicht mit Erklärungen auf, und so blieb das, was auch immer er da veranstaltete, für Thara im Großen und Ganzen ein Rätsel. Aber am Ende zählte ohnehin nur das Ergebnis.
Als er schließlich die Vorbereitungen abgeschlossen hatte, kontrollierte Vabun noch einmal alles auf seine Richtigkeit und nickte zufrieden: „Gut, das sollte reichen! Tretet zurück, gleich geht es los!“ Theatralisch hob er die Arme über dem Runentisch und sprach die geheimen arkanen Worte: „Abrakadabra, Hokuspokus Fidibus! Dreimal schwarzer Kater, und vereint seist du!“
Die Reifen des Runentisches setzten sich langsam in Bewegung und drehten sich schneller und schneller, bis sie irgendwann völlig zu verschwimmen schienen und kaum noch zu sehen waren, aber ein lautes Brummen von sich gaben wie ein Schwarm wütender Insekten. Die Weiße-Magie-Rune schwebte in ihrem Inneren und strahlte ein sanftes Leuchten aus, das ebenfalls nach und nach an Intensität zunahm. Auf einmal schoss ein gleißender Lichtstrahl aus dem Auge des Betrachters, traf auf die Rune und fächerte sich dahinter in mehrere Strahlen auf, die die Farben des Regenbogens hatten. Sie wurden wiederum von dem Spiegel so reflektiert, das sie auf den Schwertgriff fielen und ihn mit einer schillernden Aura umgaben. Es war ein beeindruckendes Spektakel – aber dann geschah nichts mehr. Der Runentisch surrte, die Rune, das Auge und der Schwertgriff leuchteten in allen möglichen Farben und die Luft um die Apparatur schien zu knistern, als wäre sie mit kaum zu bändigender Energie geladen, aber dabei blieb es.
„Was ist los?“, wollte Arzu wissen, „Warum geht es nicht weiter?“
„Geduld, junge Padawan!“, beschwichtigte Vabun und nahm die reich verzierte Sanduhr von dem bedenklich schiefen Bücherstapel, drehte sie um und stellte sie auf den Runentisch. „Der ganze Vorgang braucht eine Weile. Wenn der Sand zweimal oder dreimal durchgelaufen ist, sollte alles so weit sein.“ Er überlegte kurz. „In der Zwischenzeit könnt ihr ja mal zeigen, was ihr in den Monaten, in denen Smaragdäuglein euch hätte ausbilden sollen, bevor er ohne ein Wort verschwunden ist, so gelernt habt! Lichtschwert hin oder her, Meraton ist kein Gegner, den man unterschätzen sollte.“ Er verschränkte die Arme und sein Blick wanderte zwischen den beiden jungen Magierinnen hin und her. „Nun, wer von euch will anfangen?“
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Arzu ließ ein gespielt langes Seufzen von sich. Wenn sie etwas hasste, dann war es warten zu müssen. Ja, klar. Das Spektakel war in der Tat ganz ansehnlich. Doch für eine talentierte Schwarzmagierin befand sich das Ganze auf dem Niveau eines typischen Dienstags.
»Seit wann interessiert dich denn, was wir gelernt haben?«, fragte Arzu und stemmte die Hände in die Hüfte.
»Von Anfang an habe ich eure Karrieren mit großem Interesse verfolgt!«, antwortete Vabun und schien es sogar ernst zu meinen. »Außerdem brauche ich euch, um Meraton fertig zu machen. Wisst ihr, wie lange ich hier auf neue Leute warten muss? Dass sich überhaupt mal jemand an das Mondkastell erinnert, war bereits eine große Überraschung. Diese Chance will ich nicht verspielen!«
Die Varanterin legte ihren Kopf schief.
»Oh bitte!«
»Wirklich!«
»Was auch immer!«, stöhnte die Nekromantin. »Ich habe sowieso im Augenblick nichts besseres zu tun.«
Arzu suchte sich den am wenigsten zugemüllten Platz in Vabuns Laboratorium und streckte beide Arme vor sich aus. In einer Vorstellung, die eines Theaters würdig gewesen wäre, zog sie wie an Seilen eine Kreatur aus dem Boden hervor. Selbstverständlich bedurfte es keiner körperlichen Anstrengung, auch wenn es sich bei dem Wesen um einen muskelbepackten Zombie handelte. Es stellte sich die Frage, inwieweit diese Muskeln überhaupt noch zur Stärke des Untoten beitrugen. Doch das könnten sie später noch herausfinden. Der Zombie wirkte imposanter, als irgendein schmales Hemd. Darauf kam es an.
Mit einem Fingerzeig bedeutete die Nekromantin ihrem Diener, sich ein unhandliches Teil aus einem der Gerümpelberge zu nehmen und es zu zertrümmern. Nichts hier schien irgendeinen Wert zu besitzen, wenn es so unachtsam auf dem erstbesten Müllberg gelandet war. Weit gefehlt!
»Mmmmmmmoment! Das ist antik!«, warf Vabun geschwind ein und rettete was auch immer der Zombie sich geschnappt hatte.
»Wie soll ich dir denn zeigen, wie toll meine Beschwörung ist, wenn der Zombie nichts anrühren darf?«, fragte Arzu.
»Ein berechtigter Einwand!«, antwortete Vabun und rieb sich nachdenklich am Kinn. »Ich habe keine Ahnung!«
»DAS ist offensichtlich.«
Der Mann in der Gardine zuckte mit den Schultern.
»Ha! Ich weiß es! Lass ihn Liegestütze machen!«, sagte Vabun schließlich.
»Das ist doch nicht dein Ernst! Wie sollen Liegestütze dabei helfen, Meraton zu besiegen?«
»Auf die Frage komme ich später zurück. Und jetzt, hopp, hopp. Ich will zwanzig sehen!«
Arzu seufzte schwer und befahl ihrem untoten Diener, die gewünschten Liegestütze zu machen. Tatsächlich erledigte die Kreatur die Aufgabe ohne zu murren. Ein wenig langsam vielleicht, aber darum ging es ja auch nicht.
»Du bist schon besser geworden!«, sagte der Unversteinerte, nachdem der Untote fertig war.
»Danke.«, antwortete Arzu mit einem Anflug von Sarkasmus. Mit einem Schnippen zerfiel der Zombie in blauen Dunst.
»Was hast du sonst noch auf Lager?«
»Siehe und staune!«
Die Nekromantin hob die Hände vor ihre Brust und ein tiefschwarzer Nebel entstand zwischen ihren Handflächen. Anschließend streckte sie ihre Arme zackig zu beiden Seiten aus und die Nebelwolke füllte das Laboratorium rasant in undurchdringliche Finsternis.
»Ich seh überhaupt nichts, wenn ich ehrlich bin.«, sagte Vabun.
»Das ist ja auch der Sinn dahinter.«
»Verstehe! Kannst DU denn was sehen?«
»Was ist das für eine Frage? Natürlich kann ich was sehen!«
»Na gut. Dann will ich das mal akzeptieren.«
Ein Schnippen in der Dunkelheit und die Schwärze löste sich wieder auf.
»Und was ist der dritte Zauber?«
Arzu setzte ein selbstgefälliges Grinsen auf. Diese letzte Zauberformel hatte sich die Nekromantin von ihrer Zirkelschwester abgeguckt, die sie mit erstaunlich großer Effektivität eingesetzt hatte. Es verstand sich von selbst, dass Arzu ihr nicht nachstehen konnte.
Die Schwarzmagierin konzentrierte sich und formte das magische Gewebe ihrer Umgebung. Das Ziel würde Vabun sein. Er hatte einen guten Schrecken mehr als verdient. Eine finstere Silhouette formte sich um Arzu und ein bedrohliches Rot verzerrte ihr wunderschönes Gesicht zu einer angsteinflößenden Fratze - die trotz allem immer noch überdurchschnittlich gut aussah.
»Wie gefällt dir das?!«, fragte Arzu in einer dämonisch klingenden Stimme.
Eine Antwort gab Vabun nicht mehr, denn von einem Moment auf den nächsten verwandelte er sich vollständig zu Stein. Ganz offensichtlich seine Art der Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Übel nehmen konnte es die Schwarzmagierin ihm nicht. Als sie sich selbst in einem Spiegel sah, erkannte sich Arzu nicht wieder. Es war die perfekte Kreuzung ihrer Schönheit und Beliars Schrecklichkeit.
Es dauerte einen Augenblick, nachdem die Varanterin ihren Zauber aufgehoben hatte, bis Vabun wieder aus Fleisch und Blut bestand.
»Mach das bloß nicht noch mal! Da kriegt man ja Angst.«
»Deine Fähigkeit, das Offensichtliche zu erkennen, ist wirklich phänomenal.«
»Ich hoffe, DU hast dir bessere Zaubersprüche ausgesucht, Thara.«, sagte Vabun und wandte sich an das dürre Mädchen. Natürlich erst, nachdem Arzu ihm noch kräftig gegen die Schulter boxte.
»Aua! Das tut doch weh!«
»Gut!«
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„I-i-ich? B-bessere …?“, stotterte Thara, überrumpelt von der plötzlichen Anforderung, bessere Sprüche wirken zu können als Arzu. Wie sollte sie das denn jemals hinbekommen? Arzu war viel schlauer und talentierter, das musste Vabun doch auch längst gemerkt haben! Sie schüttelte den Kopf und betrachtete dabei eingehend ihre Füße. „N-nein, bestimmt nicht!“
„Was hast du denn gelernt?“, fragte Vabun und rieb sich die Schulter, an der Arzu ihm ein paar bemerkenswert kräftige Hiebe verpasst hatte. „Lass sehen!“
Thara kämpfte gegen den Drang an, sich unter dem Wasserbett zu verkriechen, und nickte zaghaft. Dann hob sie die Arme und begann, wie Arzu zuvor, mit der Beschwörung eines Zombies. Es sah aus, als ob sich auf dem Fußboden plötzlich ein schwarzer Strudel auftäte, aus dem sich eine knochige Hand herausreckte, an der noch Fetzen bleichen, verwesenden Fleisches hingen. Zugleich breitete sich auf der Stelle ein dumpfer, süßlicher Gestank in dem ganzen Raum aus, der nur um so stärker wurde, als der Kopf es Zombies zum Vorschein kam – ein wächsernes, aufgedunsenes Gesicht mit hervortretenden, milchigen Glubschaugen und wulstigen, geschürzten Lippen, die seinem Aussehen etwas fischartiges verliehen.
„Igitt, das ist genug! Ich glaub’s dir ja!“, rief Vabun und wedelte mit den Armen, um Thara zu signalisieren, dass sie die Beschwörung abbrechen sollte. Arzu hielt sich die Nase zu, ihre Gesichtsfarbe wechselte dabei zwischen grau und grün.
„T-t-tut mir leid!“, entschuldigte sich Thara und ließ die Magie verpuffen, bevor sie sich überhaupt richtig manifestiert hatte. Der Zombie, der gerade damit beginnen wollte, aus Beliars Reich endgültig in die Realität des Mondkastells zu klettern, wurde wieder in den schwarzen Strudel zurückgesaugt und verschwand mit einem heiseren Brüllen, das jäh verstummte, als das Tor zur Hölle sich unspektakulär wieder schloss.
Vabun öffnete sämtliche Fenster an der Stirnseite des Laboratoriums, bevor er sich wieder an Thara wandte, die wie angewurzelt auf der Stelle stand, auf den Boden starrte und ihre Finger ineinander verknotete, während sie sich wünschte, sie könnte genauso einfach im Boden verschwinden, wie ihr stinkender Zombie. Der halbversteinerte Schwarzmagier räusperte sich: „Nun gut, vielleicht solltest du versuchen, deine Zombies nicht in geschlossenen Räumen herbeizurufen. Auf der anderen Seite, der Gestank kann schon auch nützlich sein, wenn nicht gerade wir davon betroffen sind.“ Er überlegte kurz und neigte dann den Kopf leicht zur Seite: „Wenn du es schaffst, nur den Gestank heraufzubeschwören, ohne den Zombie, und ihn gezielt auf einen Gegner zu lenken, dann kann das einen ähnlichen Effekt haben, als würdest du einen Feind in Angst versetzen …“
Thara hob zweifelnd die Augenbrauen, verstand Vabuns laute Überlegung aber als Aufforderung, genau das zu versuchen. Jemandem Furcht einzuflößen, hatte sie ja bereits gelernt – eher zufällig, als sie entdeckt hatte, dass sie ihre eigenen tiefsitzenden Ängste auf andere übertragen konnte. Ob das mit ihren Erinnerungen an alten, in der Sonne vor sich hin gammelnden Fisch genauso funkionierte? Kurzerhand konzentrierte sie sich genau darauf und auf Vabun, um seine Sinne mit ihrer Magie zu überwältigen. Der Halbversteinerte riss plötzlich die Augen weit auf, schlug die Hände vor den Mund und begann zu würgen – gerade so schaffte er es noch, zum Fenster zu sprinten und sich hinauszulehnen, bevor er sich sein Mittagessen noch einmal durch den Kopf gehen ließ.
Es dauerte ein wenig, bis sich Vabuns Magen wieder beruhigt hatte, und Thara entschuldigte sich in dieser Zeit sicher ein dutzend Mal. Als sich Vabun ihr wieder zuwandte, lächelte er zu ihrer Überraschung – gequält, aber auch anerkennend.
„Das … Heiliger Bimbam, ich glaube, ich hatte noch nie so einen ekelhaften Geruch in der Nase! Wo bei Beliar nimmst du nur die Inspiration dafür her?“ Er schüttelte Kopf. „Einerlei, sieh nur zu, dass du das nächste Mal Meraton oder so als Ziel auswählst und nicht ausgerechnet mich! Und, kannst du sonst noch etwas? Am besten nichts, wo ich wieder als Ziel herhalten muss? Knochen formen vielleicht?“, fragte er mit einer gewissen Nervosität in der Stimme.
„E-e-entschuldige, ich w-wollte nicht …“, stammelte Thara, obwohl Arzu es ihr verboten hatte.
Vabun winkte jedoch ab: „Jaja, ist schon gut. Nun?“
Thara nickte gehorsam und breitete wieder ihre Hände aus, als würde sie eine Gabe empfangen wollen. Ein Knochen materialisierte sich aus dunkelblauem Nebel und sie begann, ihn zu formen. Tatsächilch empfand sie es als keine allzu schwere Übung, und nach kurzer Zeit hielt sie einen simplen, aber gleichmäßig geformten Dolch aus Knochen in der Hand. Als sie mit dem Daumen vorsichtig über die Schneide fuhr, war sie selbst überrascht von deren Schärfe – es fühlte sich kaum anders an als Stahl und schien sogar eine ähliche Härte zu besitzen!
„Sehr gut!“, lobte Vabun, offensichtlich erleichtert darüber, nicht schon wieder als Versuchskaninchen herhalten zu müssen. „Es schadet nie, sich Waffen und Werkzeuge erschaffen zu können. Man weiß schließlich nie, wann man mal wieder seinen Schlüssel vergisst! Tjaaaa …“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und maß Arzu und Thara mit einem kritischen Blick. Schließlich nickte er. „Gut, gut, ich denke, ihr habt euch das nötige Wissen und die Fähigkeiten angeeignet, dass ihr euch als Meisterinnen des Zweiten Kreises der Magie betrachten könnt. Aber bildet euch nicht zu viel drauf ein, es gibt noch eine Menge zu lernen! Nachdem wir Meraton in den Arsch getreten haben. Das Lichtschwert dürfte bald fertig sein. Wie passend!“
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Wie es inzwischen üblich war, hatte sich Arzu schon beim ersten Zeichnen einer Beschwörung ihrer Zirkelschwester die Nase fest zugehalten. Eine wohlüberlegte Vorsichtsmaßnahme, wie sich schnell herausstellte. Selbst mit zugehaltener Nase und nur einem Teil des Zombies in der hiesigen Sphäre, war der Geruch überwältigend. Arzus empfindlicher Magen drehte sich gleich mehrfach um. Glücklicherweise erging es Vabun ganz ähnlich. Ohne dass sie ihre Kreatur vollständig manifestieren konnte, unterbrach der Mann in Gardine das olfaktorische Desaster. Der anschließend im Raum hängende, süßliche Gestank konnte nach dem Dafürhalten der Varanterin, gar nicht schnell genug aus den Fenstern abziehen. Es war einer der Momente in denen sich Arzu wünschte, Feuermagierin zu sein. Entweder um einfach alles zu verbrennen oder die verpestete Luft sonst wo hinzuschicken.
Bei der ganzen Angelegenheit drängte sich der Schwarzmagierin ein Gedanke auf: aus welchem Grund stanken Tharas Beschwörungen immer so? Absicht konnte es kaum sein. Oder vielleicht doch? Das dürre Mädchen tat immer so unscheinbar. Hatte Arzu etwa eine Nebenbuhlerin und wusste nichts davon?
Mit neuem Argwohn beobachtete die Nekromantin, wie Thara ihre nächste Zauberformel vorführte. Interessanterweise war es abermals ein Angriff auf die Geruchsnerven. Dieses Mal traf es jedoch nur Vabun und nicht die Varanterin. Amüsiert sah Arzu dabei zu, wie mal jemand anderes kurz davor war, sich zu übergeben. Offensichtlich hatte der Zauber volle Wirkung erzielt. Im Gegensatz dazu war der dritte und letzte Zauber ihrer Zirkelschwester wohl der banalste. Insgeheim fragte sich Arzu, wozu man solch eine Zauberformel überhaupt lernen sollte. Alles, was sie jemals begehrte, kaufte sich die Varanterin. Und zwar nicht als knochiges Faksimile.
Nach der Vorführung ihrer magischen Fähigkeiten hieß es warten für die drei. Es war eine gute Gelegenheit für Arzu, eine Bestandsaufnahme ihres Aussehens zu machen. Für ihre Verhältnisse eine absolute Katastrophe! Ihr schwarzes Kleid hatte mehr Löcher als ein Fischernetz, ihre Haare ließen den üblichen Glanz vermissen, ihre Haut war längst nicht mehr so geschmeidig und unter ihren Fingernägeln hatte sich Dreck angesammelt. Wann hatten sie noch mal das Bad genommen? Es musste inzwischen Jahre her sein. So fühlte es sich zumindest für Arzu an.
Notdürftig befreite die Varanterin ihre Fingernägel von dem Dreck, als plötzlich ein lautes Geräusch ertönte.
»Endlich! Es ist vollbracht!«, rief Vabun und trat an die Apparatur mit dem Lichtschwert. Der Mann in der Gardine zückte die Waffe und hielt sie in die Höhe. Ein grelles Licht trat aus dem Heft des Schwertes. Mit jedem Schwung, den Vabun damit machte, gab es ein sehr einprägsames Surren.
»Kannst du überhaupt mit Schwertern umgehen?«, fragte Arzu neugierig. Weder sie noch Thara hatten Erfahrung darin, so dass es in ihren Händen nahezu wertlos war.
»Na klar! Und selbst wenn nicht. Donnie weiß doch gar nicht mehr, welche Skills mein anderes Ich damals in seiner Tabelle hatte. Tun wir einfach so, als wäre ich ein Schwertmeister!«, sagte Vabun, immer noch völlig fixiert auf die Waffe.
»Was auch immer du sagst.«, antworte die Nekromantin und sah zu ihrer Zirkelschwester herüber. Thara zuckte nur mit den Schultern. Offensichtlich hatte der Gardinenmann nicht nur herumgeblödelt, als er gesagt hatte, dass die beiden den Umgang mit ihrer Magie für den anstehenden Kampf sicher beherrschen mussten.
»Können wir dann los?«, fragte die Nekromantin.
»Oh ja! Darauf habe ich so lange gewartet!«, erwiderte Vabun und ließ die leuchtende Klinge der Waffe verschwinden. »Zum Vabunmobil!«
Kurze Zeit später saßen sie wieder in der schwarzen Kutsche. Statuen, Wandteppiche, Goblins und vieles mehr rauschte an ihnen vorbei.
»Was genau ist eigentlich unser Plan?«
»Wir besiegen Meraton und retten damit den Mond!«
»Wie genau besiegen wir ihn denn?«
»Mit dem Lichtschwert! Sag mal, hast du die letzten eineinhalb Jahre nicht aufgepasst?«
Endlich hielt die Kutsche an. Der Eingang zum Thronsaal war unverkennbar. Zu ihrer Überraschung hatten die Wachen des Goblinkönigs bereits alle Hände voll zu tun. Sie waren alle da: das kleine Männchen mit dem Spinnrad, der muskelbepackte Mann, das Kind und die gigantische Hand, die beiden nackten Männer mit dem Quietscheentchen, der Kleine mit dem Schnurrbart und der Fette mit dem Hinkelstein und natürlich auch der Mann mit dem Bard und der Kapitänsmütze. Sie waren alle da, nur nicht die Drachen. Wie genau Vabun diesen koordinierten Angriff auf Meratons Hauptquartier auf die Beine gestellte hatte, war Arzu vollkommen schleierhaft. Zu ihrem großen Erstaunen setzte diese bunte Ansammlung von Charakteren den Goblins erheblich zu. Die gigantische Hand zerquetschte gleich eine handvoll der kleinen Plagegeister. Der Hinkelstein und auch das Spinnrad wurden zu Prügeln umfunktioniert. Und die Quietscheente... Nun, das blieb besser für immer ungesagt. So oder so bot sich den beiden Schwarzmagierinnen um Vabun eine Schneise durch das Chaos und hin zum großen Tor des Thronsaals. Ohne weitere Zeit zu verlieren, rannten die drei an der Schlacht vorbei und betraten den weitläufigen Saal, der als Arena für ihren Endkampf dienen sollte.
Am anderen Ende des Raums saß Meraton auf seinem Thron. Offenbar hatte er ihre Ankunft bereits erwartet.
»Sieh an, wer gekommen ist!«, sprach der Goblinkönig. »Mein alter Erzfeind. Und die beiden Möchtegernmagierinnen hast du auch gleich mitgebracht. Das trifft sich ausgezeichnet. Aber sag mir, Vabun, was hat dich nach all der Zeit dazu bewogen, dich mir zu stellen, hm?«
»Ich dachte, ich komm mal vorbei, kaue Kaugummi und tret' 'n paar Leuten in den Arsch. Ich hab nur leider kein Kaugummi.«
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Meraton rollte mit den Augen. „Ein witziger Kerl“, knurrte er, „Ich mag keine witzigen Kerle!“
Dann stemmte er sich von seinem Thron hoch, und Thara wurde zum ersten Mal bewusst, wie groß dieser ‚Goblin‘ tatsächlich war. Selbst Vabun wirkte einen Augenblick lang verunsichert. Meraton überragte ihn sicher um mindestens zwei oder drei Haupteslängen, und obwohl sich sein Bauch beachtlich vorwölbte, haftete seinen Bewegungen nichts Unbeholfenes an, sondern er strotzte vor brutaler Kraft.
Mit gemessenen Schritten stieg Meraton die Treppenstufen von dem Podest, auf dem der Thron stand, herunter, und hinter ihm sammelte sich seine Gefolgschaft aus Goblins. Es waren sicherlich mehrere dutzend, wenn nicht sogar hundert oder mehr dieser kleinen Plagegeister, die Thara im Schatten hinter und neben dem Thron ausmachen konnte. Sie wirkten besser bewaffnet als die meisten, die ihnen sonst im Kastell begegnet waren – offenbar Meratons persönliche Leibgarde. An Meratons Seite erkannte Thara auch Fladnag, der noch immer das magische Licht bei sich trug, das er den Feuerstock-Brüdern abgenommen hatte. Thara schluckte schwer. Das waren wirklich ganz schön viele Gegner! Hoffentlich hatte Vabun sich nicht überschätzt und sie geradewegs in den Tod geführt …
Meraton stemmte die Arme in die Hüften und richtete den Blick seiner kleinen roten Augen auf Arzu und Thara: „Als ich euch aufgetragen habe, Vabun herzubringen, meinte ich damit eigentlich, dass ihr ihn vorher unschädlich macht! Ich hatte euch für fähiger gehalten … und für motivierter!“ Er deutete auf den armen Tausendfüßler Fußßie, der noch immer über seinem Thron an Ketten von der Decke hing. Er hatte in der Zwischenzeit noch eine ganze Reihe weiterer Beine eingebüßt, die Meraton ihm in seinem Sadismus ausgerissen haben musste. „Sieht nicht gut aus für euer Haustier … und für euch, da ihr ernsthaft glaubt, ihr könntet euch mir widersetzen! Der kleine Tumult vor dem Thronsaal ist wohl auch euer Werk?“
„Oh ja!“, rief Vabun, „Die Leute haben einfach die Nase voll von den miesen Arbeitsbedingungen hier! Nieder mit dem Kapital!“
Meraton zog die Augenbrauen hoch und grinste belustigt, wobei er Reihen gelber, spitzer Zähne zur Schau stellte: „So ein Pech aber auch. Ich frage mich nur, Vabun, mein alter Freund, wie du dir das vorgestellt hast. Glaubst du etwa, du könntest mir mit deiner lächerlichen Magie zusetzen? Oder gar die beiden Küken, die du mitgebracht hast?“
„Nein, aber ich habe die Waffe, um dich zu bezwingen, du aufgeblasene Kröte!“ Vabun zog das Lichtschwert hervor und ließ theatralisch die weißglühende Klinge ausfahren. Die Waffe summte leicht, als wenn ihre Kraft und Energie nur mit Mühe in dem Griff zusammengehalten werden könnten.
„Das Lichtschwert!“, keuchte Meraton und für eine Sekunde lang lag so etwas wie Unsicherheit in seinem Blick, die jedoch rasch von Zorn ersetzt wurde. „Fladnag!“, bellte er, „Du hast mir erzählt, du hättest dich um die Artefakte gekümmert und sie vernichtet!“
Der angesprochene Goblin trat mit unterwürfig gesenktem Haupt einen Schritt vor und warf sich vor Meraton auf die Knie: „Das … äh … sie waren einfach nicht kaputt zu kriegen, oh großzügiger Herr, also habe ich sie sicher in meiner unsichtbaren Kiste versteckt!“
„Sicher? SICHER?“, tobte Meraton, „Und wie kommt dieser verlauste Witz von einem Schwarzmagier dann an das komplettierte Lichtschwert, hä? Du hast mal wieder auf ganzer Ebene versagt, Fladnag! Und meine Geduld mit dir ist am Ende!“
Ehe Fladnag noch etwas erwidern konnte, streckte Meraton die Hand aus und ballte sie zur Faust, als würde er zudrücken. Fladnag riss die Augen auf, umklammerte seinen Hals mit den Händen und fing an nach Luft zu schnappen wie ein Fisch auf dem Trockenen, als er plötzlich von einer unsichtbaren Kraft in die Höhe gehoben wurde. Seine Füße strampelten in der Luft, nach wenigen Sekunden lief sein Kopf rot an und seine Augäpfel schienen bald aus ihren Höhlen springen zu wollen, während er würgende und krächzende Geräusche von sich gab. Meraton beobachtete den Todeskampf seines einstigen Dieners ohne jedes Zeichen von Mitgefühl. Erst, als Fladnag nur noch als lebloses Bündel da hing, löste Meraton seinen telekinetischen Griff und der tote Goblin plumpste wie ein nasser Sack zu Boden.
„Namuras, du bist gerade befördert worden!“, bellte Meraton, und einer der Goblins kam dienstbeflissen herangewuselt. Er schleifte Fladnags Leiche davon und war sich auch nicht zu schade, sie um einige Besitztümer zu erleichtern, bevor er sich wieder an Meratons Seite begab.
Vabun, der das ganze Geschehen mit mäßigem Interesse beobachtet hatte, rollte mit den Augen: „Jaja, die gute alte ‚Töte deine Gefolgsleute‘-Szene, damit auch alle wissen, wie böse du bist … Herzlichen Glückwunsch! Ich hau dir trotzdem gleich volles Pfund aufs Maul!“
„Ach, tust du das?“ Meraton grinste. „Dafür musst du aber erst einmal an mich herankommen … Und weißt du, was der Vorteil daran ist, der Goblinkönig zu sein? Richtig: Viele, viele Goblins! Los, macht sie kalt!“
Die Goblins fackelten nicht lange. Namuras, der frisch beförderte Anführer, reckte den magsichen Leuchtstab in die Höhe, den er von der Leiche seines Vorgängers geplündert hatte, und stieß einen heiseren Kriegsschrei aus, in den seine zahlreichen Cousins und Cousinen einstimmten, kurz bevor sie losstürmten.
„Verdammter Feigling!“, rief Vabun über den Tumult hinweg, „Ich fordere dich zum Duell! Trau dich gefälligst!“
Maraton lachte nur, tief und kehlig, und hielt sich dabei den wackelnden Wanst. „Warum sollte ich, kleiner Mann? Ich bin der Bösewicht hier, ich muss mich nicht an irgendeinen Ehrencodex halten! Und auch wenn es einige meiner kleinen Diener hier das Leben kosten mag – das ist ein Preis, den ich zu zahlen bereit bin!“ Er grinste und stieg wieder zu seinem Thron hoch, wo er sich mit einem zufriedenen Seufzer hinsetzte und die Hände auf dem Bauch verschränkte, während er dem sich entfaltenden Chaos zuschaute.
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Arzu war drauf und dran auf dem Absatz kehrt zu machen und aus dem Thronsaal zu rennen. Hätte sie gewusst, dass eine ganze Armee von Goblins auf das Trio wartete, wäre sie gar nicht erst mitgekommen. Doch jetzt war der Ausgang durch die Horde versperrt. Sie hatten keine andere Wahl, als sich den Weg in die Freiheit zu erkämpfen. Zu ihrem großen Erstaunen stellte die Nekromantin fest, dass Vabun sich von dieser Aussicht nicht abschrecken ließ. Er hatte es auf Meratron abgesehen. Egal wie viele Golbins sich dem Unversteinerten dabei in den Weg stellten. Mit einem fulminanten Sprung landete Vabun inmitten der heranstürmten Plagegeister und säbelte sie mit dem Lichtschwert nieder. So etwas hatte Arzu ihm gar nicht zugetraut, suchte er sonst bei Gefahr immer das Weite.
Ganz ohne Unterstützung könnte der Mann in der Gardine trotzdem nicht gewinnen. Die beiden Schwarzmagierinnen nickten sich zu und beschwörten ihre Kräfte herauf. Ein Orkzombie kletterte aus einem Riss im Boden hervor. Es war die stärkste Kreatur, die Arzu rufen konnte. Schon beim letzten Mal hatte sie der Nekromantin gute Dienste geleistet. An Vabuns Seite würde der Zombie gewiss auch länger dem Ansturm standhalten. Plötzlich erinnerte sich die Varanterin, was noch beim letzten Mal geschehen war. Etwas blass um die Nase sah sie zu Thara herüber. Zu Arzus Erleichterung schleuderte ihre Zirkelschwester eine Schattenflamme nach der anderen in die Menge. Zweifellos würde ein Zombie des dürren Mädchens viele der Goblins in die Flucht schlagen. Gleichzeitig waren dessen Ausdünstungen für Vabun und Arzu genauso unerträglich. Insgeheim verfluchte sich die Varanterin, ihrer Zirkelschwester nicht zu einem Skelett oder dergleichen geraten zu haben. Nicht nur hätte das ihre Nase in Frieden gelassen, es hätte auch mehr zu Tharas Figur gepasst.
Mit heftigen Schritten stellte sich der Orkzombie der Flut von Goblins entgegen. Die riesige Pranke hämmerte auf die kleinen Kerle ein, brach Knochen und riss Extremitäten aus. Es war kein schöner Anblick für die Schwarzmagierin, jedoch erfüllte er sie mit Stolz. Stolz auf sich selbst und wie weit sie es gebracht hatte. Sie allein hatten diesen mächtigen Orkzombie heraufbeschworen. Sie allein lenkte ihn nach ihrem Gutdünken. Hatte Arzu zu Beginn der Schlacht noch gezweifelt, schöpfte sie nun Zuversicht.
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Konzentrier dich … konzentrier dich! Thara biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Angst an, die sie angesichts der angreifenden Goblinhorde zu übermannen drohte. Es waren so viele! Warum nur waren es so viele? Warum hatte Vabun sie in diese offensichtliche Falle geführt? Hatte er wirklich geglaubt, zwei unerfahrene Schwarzmagierinnen könnten einen Unterschied machen im Kampf gegen ein Wesen wie Meraton?
Aber Flucht war keine Option, der Rückweg versperrt. Sie würden den Thronsaal über Meratons Leiche verlassen, oder gar nicht. So unangenehm dieser Gedanke auch sein mochte, er half Thara zumindest ein wenig dabei, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und darauf, das Einzige zu tun, was noch zu tun blieb: kämpfen.
Sie hielt sich dicht an Arzu. Ihre Zirkelschwester hatte einen großen, breitschultrigen Zombie beschworen, der mit langsamen, aber weitausholenden Schlägen seiner gewaltigen Fäuste unter den Goblins wütete. Wenn er eines der kleinen Biester erwischte, brachen Knochen wie trockene Zweige. Thara überlegte kurz, ob sie selbst ebenfalls einen Zombie beschwören sollte, entschied sich aber rasch dagegen – eine beschworene Kreatur war nützlich, wenn man sich selbst in gebührendem Abstand zum Kampfgeschehen aufhalten konnte, aber hier waren sie mittendrin, und da wollte Thara in der Lage sein, auf unmittelbare Bedrohungen direkt reagieren zu können. Also nutzte sie ihre Fähigkeiten lieber, um Arzus Zombie zu unterstützen – Schattenflammen fuhren zischend aus ihren Fingerspitzen und hinterließen verkohlte, zerfetzte Leiber, oder sie bahnte sich ihren Weg in die Gedanken der Goblins und zerrte die dunkelsten Ängste der kleinen Biester ans Tageslicht, so dass sie vor Panik ihre Waffen fallen ließen und die Flucht ergriffen. Angesichts dessen, dass sie von Natur aus eher feige waren, war das keine große Kunst, und jeweils die entstehende Unordnung verschaffte den beiden Magierinnen und ihrem Zombie ein wenig Raum.
Es gelang ihnen auf diese Weise, sich erstaunlich gut zu behaupten, und Tharas anfängliche Furcht wich langsam einer fokussierten Konzentration, die ihr sonst selten vergönnt war. Das Wirken der Magie erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit – sie durfte ihre Kräfte nicht verschwenden, sonst würden die Goblins sie am Ende doch noch überrennen!
Ein Grund, warum Arzu und Thara die Horde abwehren konnten, war jedoch schlicht – Vabun. Ein großer Teil der Goblins konzentrierte sich auf ihn und schenkte den beiden jungen Magierinnen darüber kaum Beachtung. Vabun aber spielte in einer völlig anderen Liga. Das summende Lichtschwert wirbelte in weiten Kreisen um ihn herum und durchtrennte mühelos Holz, Stahl, Fleisch und Knochen gleichermaßen, und darüber hinaus entfesselte er zerstörerische Magie, die die Fähigkeiten seiner beiden unfreiwilligen Begleiterinnen weit übertraf. Ein bösartiger, rötlicher Nebel breitete sich vor ihm aus, und die Goblins, die darin gefangen waren, japsten nach Luft wie Fische auf dem Trockenen. Wenn sie versuchten, aus dem Bereich des Zaubers zu entkommen, schien es, als würde sie etwas festhalten, während es ihnen unweigerlich das Leben aussaugte. Einer nach dem anderen sackte tot in sich zusammen.
Und trotzdem reichte es nicht. Meraton saß auf seinem Thron, das Kinn auf eine Faust gestützt, und übersah das Geschehen mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht.
„Du verdammter Feigling!“, brüllte Vabun über den Kampfeslärm hinweg, „Komm endlich her und stell dich!“
Doch Meraton lachte nur. Seine Goblins drangen auf Vabun ein, und obwohl er viele von ihnen tötete, kam er keinen Schritt näher an seinen eigentlichen Gegner heran. Hin und wieder vollführte Meraton kleine, beiläufige Gesten mit der Hand, die seine Untergebenen zu einer regelrechten Raserei anzustacheln schienen, in der sie ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit auf Vabun losgingen. Der Magier konnte sich nur verteidigen und wurde Schritt für Schritt zurückgedrängt …
„Was war gleich nochmal dein Plan?“, rief Arzu ihm zu. Die Frustration in ihrer Stimme war unüberhörbar.
„Na reingehen und Meraton töten!“, erklärte Vabun, als wäre es die größte Selbstverständlichkeit der Welt, und enthauptete dabei einen Goblin, der keck genug war, sich ihm auf Lichtschwertlänge zu nähern. Kein Blut spritzte aus der Wunde, stattdessen brutzelte und qualmte es nur ein wenig. Der Geruch von verbranntem Fleisch hing inzwischen wie ein dicker Teppich in der Luft.
Arzu stieß irgendetwas auf einer Sprache aus, die Thara nicht verstand – aber sie musste die Worte auch nicht verstehen, um zu wissen, dass die schöne Varanterin gerade eine Triade von vermutlich nicht sehr schmeichelhaften Schimpfworten auf Vabun losließ. Der Gardinenmagier zog kurz die Mundwinkel nach unten: „Hey! Das war jetzt aber gemein!“
Thara hätte den beiden Zänkern gern vermittelt, dass jetzt ein denkbar schlechter Zeitpunkt war, sich gegenseitig in die Haare zu bekommen (auch wenn Vabun es zweifellos verdient hatte), aber da sie nicht wusste, wie sie das hätte anstellen sollen, suchte sie stattdessen nach einem Ausweg. Irgendwie mussten sie die Goblins loswerden, so dass Vabun Meraton erreichen und dem Ganzen endlich ein Ende setzen konnte! Aber wie?
Fußßie! Ihr Blick fiel auf den riesigen Tausendfüßler, der noch immer über Meratons Thron hing. Schwere Ketten waren um seinen Körper geschlungen oder mit Haken grausam zwischen den einzelnen Segmenten seines Chitinpanzers befestigt, und an einigen Stellen waren ihm Beine ausgerissen worden, aber er lebte und der Tumult veranlasste ihn, gegen seine Fesseln anzukämpfen. Bislang vergeblich. Aber mit etwas Hilfe …
Thara stiftete mit einem Furchtzauber noch einmal Verwirrung unter den Goblins und konzentrierte sich dann darauf, die Magie für eine starke Schattenflamme zu sammeln. Es fiel ihr leicht, die Kraft für ihre Zauber zusammenzubekommen, denn Meratons Thronsaal summte geradezu vor magischer Energie. Ob das an der Präsenz des Goblinkönigs lag? Oder war es einfach eine Eigenheit des Thronsaals? Einerlei. Zwischen Tharas Händen wuchs die dunkelviolett schimmernde Kugel zerstörerischer Nicht-Materie immer weiter heran, bis sie fast so groß war wie ihr Kopf und sie die Magie kaum noch in Zaum halten konnte. Dann erst ließ sie sie los, gezielt auf die zentrale Verankerung der Ketten in der Decke.
Das magische Geschoss raste fauchend durch die Luft und Meraton duckte sich erschrocken. Gerade, als er sich wieder aufrichtete und über Tharas mangelhaften Zielkünste spotten wollte, hörte er über sich ein lautes Knirschen. Er legte den Kopf in den Nacken und riss die Augen auf – Fußßie wand sich in seinen Ketten, und die Verankerung, deren umliegendes Mauerwerk durch Tharas Schattenflamme wie weggeätzt war, löste sich.
Mit einem hasserfüllten Fauchen und dem Klirren der schweren Ketten stürzte Fußßie auf Meraton. Der Goblinkönig bewies jedoch eine Schnelligkeit und Mobilität, die man ihm niemals zugetraut hätte, indem er mit einer einzigen fließenden Bewegung vom Thron hechtete und sich abrollte, bevor der erboste Tausendfüßler auf seiem Kopf hätte landen können. Die Zeit, die Fußßie benötigte, um endgültig die Ketten abzuschütteln, nutzte Meraton, um einen Trupp Goblins um sich zu scharen.
„Worauf wartet ihr?“, schimpfte er, „Macht das Mistvieh platt!“
Namuras, Fladnags kürzlich ernannter Nachfolger, nickte eifrig und schwenkte den Zauberstab der Feuerstock-Brüder über seinem Kopf. Siegessicher kletterte er die Stufen zum Thron hoch, auf dem jetzt Fußßie saß. Der riesige Tausendfüßler richtete sich auf und zischte bedrohlich, aber Namuras ließ sich davon nicht einschüchtern. Mit einer lässigen Bewegung hob er den Zauberstab und ließ das grelle, weiße Licht aufblitzen.
Fußßie zuckte kurz, als der Lichtkegel ihn ins Gesicht traf, aber mehr auch nicht. Einen Augenblick lang sah es aus, als würden sich der Goblin und der Tausendfüßler gegenseitig anstarren, bevor Namuras‘ Siegesgewissheit einem Ausdruck des Schreckens wich, als er gewahr wurde, dass sein mächtiger Zauberstab nicht das geringste bewirke – er war keine Waffe, sondern nichts weiter als eine Lampe!
Fußßie ließ dem Goblin keine Zeit, seinen Fehler zu bereuen. Blitzartig stieß er auf ihn herab, die Mandibeln schlossen sich um Namuras Kopf und bissen ihn ohne Mühe von den Schultern. Der Körper des Goblins stand noch einen Moment aufrecht, die nutzlose Lampe in der Hand, als bräuchte er einen Moment, um zu registrieren, dass er tot war, bevor er in sich zusammensackte.
Fußßie zögerte nicht. Kaum war Namuras aus dem Weg geräumt, stürzte er sich ins Getümmel. Die ein Rammbock pflügte er zwischen die Goblins, die versuchten, ihn aufzuhalten, und hinterließ eine Spur aus toten, verstümmelten und bald auch versteinerten Körpern, während er versuchte, zu Meraton zu gelangen.
Der Goblinkönig war nun zwischen zwei Feinden gefangen – Vabun und Fußßie. Seine Goblins versuchten zwar, beide von ihm fern zu halten, aber es wurde rasch klar, dass sie damit trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit überfordert waren. Er fletschte die Zähne und funkelte Thara böse an, die zu ihrer eigenen Überraschung seinem Blick standhielt, wandte sich dann aber Vabun zu.
„Also gut, Gardinenmann“, knurrte er, „du sollst deine Chance bekommen.“
Mit einem einfachen Kopfnicken befahl er seinen Goblins, den Weg freizumachen und sich auf Fußßie zu konzentrieren. Dann zog er einen Gegenstand hervor, der Thara beunruhigend bekannt vorkam – einen Schwertgriff ohne Klinge. Wie das …
Mit einem Zischen materialisierte sich eine blutrot leuchtende Schwertklinge. Meraton führte ein paar schnelle Schläge durch die Luft, und seine Waffe summte ebenso vor kaum gebändigter Magie wie das Lichtschwert. Er nahm eine Kampfhaltung ein und fixierte Vabun.
„Dein Weg endet hier und jetzt, alter Mann! Und danach gönne ich mir deine beiden Küken und den Riesenkäfer zum Abendessen!“
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