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    [Story]Auris Weihnachtsburg


    Auris Weihnachtsburg





    Eine Wichtelgeschichte
    für
    Laidoridas

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    Ehrengarde Avatar von El Toro
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    Das erste Mal, als ich sie sah, regnet es in Strömen. Ein eisiger Wintertag schien die ganze Insel mit seinem Wolkenmaul verschluckt zu haben. Der Himmel, schwer und grau von Wolken, ließ nadelspitze Regentropfen auf das graue Pflaster der Vorstadt prasseln. Pfützen standen auf den Straßen, die schaumig und grau den Himmel widerspiegelten. Obwohl ich meinen dicksten Wollmantel trug, fühlte ich mich nach wenigen Augenblicken so kalt und nass, als kröche mir der Regen direkt durch meine Haut in die Knochen. Sofort begannen meine Schläfen zu pochen, der Schmerz zog sich durch die Kieferknochen den Hals hinab und ließ meine Schultern verkrampfen.
    Ich war auf dem Weg durch den äußeren Ring, wohin ich meinen Wohnsitz hatte verlegen müssen, seitdem… nun, seitdem es nicht mehr so gut lief für mich. Früher mochte der äußere Ring noch den rauen Charme eines Arbeiterviertels verströmt haben, der wie der Duft von Fleischwanzeneintopf und Schürferschweiß in den verwinkelten Gassen hing, aber diese Zeiten waren längst vorbei. Heute war er ein hässliches Geschwür am Arsch einer heruntergekommenen Vorstadt, nach deren verkommenen Mauern bereits die Tentakel der Großstadt Khorinis griffen, um sich die Burg, wie man die Vorstadt nannte, bald vollständig einzuverleiben. Nicht, dass irgendwer der Burg eine Träne nachgeweint hätte.
    Die beiden Gründe, warum ich mich in den äußeren Ring verlegt hatte, waren der lächerlich geringe Preis, den ich für meine Unterkunft im feuchten Gemäuer der ehemaligen Gladiatorenarena hinlegen musste, und der Umstand, dass ich damit die größtmögliche Entfernung zu Piranha Financial erreicht hatte, zumindest räumlich, und zu deren operativen Mitarbeitern, die sich speziell um Kunden wie mich kümmerten – Kunden, die sich zu viel zugetraut und zu wenig Gedanken gemacht hatten, bevor sie ihre Kreuze unter einen himmelschreiend sittenwidrigen Vertrag gesetzt hatten. Ich hatte mich in der, nun, nennen wir es Unterhaltungsbranche versucht, mit einer ganzen Wagenladung frischer Ideen und einem gewieften Geschäftsplan, doch hatte weder ich noch sonst irgendjemand die Energiekrise kommen sehen, die ihre kalte Fratze aus den Trümmern hob, die der Überfall der Nordmarorks auf Myrtana hinterlassen hatte. Brennstoffe aller Art transportierten die Schwarzpelze aus dem Mittelreich nach Norden ab, um die unersättliche Gier ihrer düsteren Schmieden zu stillen, in denen sie Tag und Nacht neuartige Waffen und unheilige Technologien produzierten. Während Nordmar nun alles verschlang, was nur irgend brennbar war und die einstmals schneebedeckten Gipfel in öligen Qualm hüllte, begannen die Menschen in Myrtana – und mit ihnen die Menschen auf den Inseln – vor Kälte mit den Zähnen zu klappern, seit die blaue Herbstherrlichkeit der Kälte des nahenden Winters gewichen war. Der Brennholzpreis rang mit dem Erzpreis um immer neue Jahrhunderthöchststände, was den Khorinern die Lust auf kostspieliges Vergnügen verhagelte, so dass ich mich gezwungen sah, meine Bleibe im Hafenviertel zu kündigen, in der Vorstadt abzutauchen und einen Job bei Elvrich Pack anzunehmen, einer Firma, die Khorinis und das halbe Festland mit Paletten, Holzkisten und Industrieverpackungen versorgte. Die Arbeit war eintönig, trostlos und mäßig bezahlt, aber immerhin unauffällig. Der Himmel schien mit der allgemeinen Depression über Khorinis gemeinsame Sache zu machen, daran änderten auch die ersten zaghaften Lichterketten und –sterne nichts, die die Bewohner der Stadt in die Fenster zu hängen begannen.
    Als ich an jenem Tag auf dem Weg durch die schwellenden Pfützen des äußeren Rings stapfte, mit eingezogenem Kopf und dem dumpfen Pochen meiner Nervenschmerzen im Kiefer, materialisierte sich aus dem Regen eine Wand, die zuvor bestimmt nicht mitten auf einem der Hauptverkehrswege der Burg gestanden hatte. Die Wand streckte eine Hand aus und ließ sie mir schwer auf die Schulter fallen.
    „Wir beide müssen uns mal unterhalten.“
    „Ach, Bullco, hallo“, sagte ich lahm. Meine Lippen fühlten sich taub an.
    Sie hatten mich gefunden.
    „Glaubst wohl, das könnte ewig so gehen.“ In Bullcos linkem Mundwinkel klemmte ein Zahnstocher. Offenbar versuchte er, von den Stängeln wegzukommen.
    Ich wollte zu einer beschwichtigenden Antwort ansetzen, aber als ich den Mund öffnete, schlug mir Bullco mit dem Handrücken ins Gesicht. Kleine schwarze Punkte flimmerten vor meinen Augen. Deeskalation war nicht sein Ding.
    „Ich hab‘ einen Job“, stammelte ich. In meinem Mund breitete sich ein metallischer Geschmack aus. „Bald habe ich genug zusammen, um Gabriel auszubezahlen.“
    „Wie bald?“, fragte Bullco und schob den Zahnstocher in den rechten Mundwinkel. Dass er mir nicht auf offener Straße das Genick brach, konnte nur daran liegen, dass auch Piranha Financial den Gürtel enger schnallen musste. Ein toter Schuldner war ein schlechter Schuldner, vor allem dann, wenn er so tief in den Miesen steckte wie ich.
    „Spätestens in vier Wochen“, behauptete ich.
    Bullco lachte gutmütig, wie ein Vater über einen bemühten Scherz seines Kindes lacht. Dann schlug er mir auf die andere Wange.
    „Nur damit das klar ist: Gabriel will seinen Mädchen was Schönes zu Weihnachten schenken. Wenn du deine Schulden nicht zurückzahlst, geht die eine oder andere vielleicht leer aus, und das würde Gabriel sehr traurig machen. Willst du, dass Gabriel traurig ist?“
    Ich schluckte und schüttelte den Kopf.
    Bullco klopfte mir mit seiner Pranke auf den Rücken. „Guter Junge. Wäre auch schade um deine Zähne, wenn du verstehst. Hast ja ein hübsches Lächeln. Ende nächster Woche komme ich bei dir vorbei und hole die erste Rate ab, sagen wir… die Hälfte dessen, was noch aussteht. Weil bald Weihnachten ist. Die andere Hälfte dann…“ – er tat, als würde er nachdenken – „…in zwei Wochen.“
    „Aber ich…“, fing ich an, doch ehe ich begriff, was geschah, schoss die Straße auf mich zu und mein Gesicht tauchte in eisiges Wasser, das mir in Augen und Nase drang. Ich rappelte mich auf die Knie, hustete und spuckte Schmutzwasser - mit Blutschlieren - aufs Pflaster. Das erste, was mir auffiel war, die tief die Schlaglöcher in der verdammten Straße waren. Das zweite war Bullcos Zahnstocher, der in der Pfütze schwamm, in der mein Gesicht gerade eben noch ein überraschendes Bad genommen hatte.
    Das Mädchen war das dritte. Sie hockte in einer Nische der zwischen zwei Hütten, die ein wenig Schutz vor dem Regen bot, und sah mich an. Hatte sie die ganze Zeit dort gesessen und mich bei dem kleinen Plausch mit meinem alten Kumpel Bullco beobachtet? Das Mädchen war fast unwirklich schön. Ihr Haar umgab ihr Gesicht wie eine silbrige Wolke und fiel über die Schultern eines abgetragenen Umhangs, ihre Haut war schneeweiß, und nur ein Hauch von Röte verriet, dass sie schon eine ganze Weile in der Kälte saß. Ich musste an eine dieser spitz zulaufenden Hornmuscheln denken, die an der Küste lagen, sich spiralförmig nach innen windend, als hätten sie etwas zu verbergen, die Innenseite geheimnisvoll rosa schimmernd. Wenn man sie ans Ohr hielt, konnte man den Tiefen des grenzenlosen, tosenden Ozeans lauschen.
    Peinlich berührt kam ich auf die Füße und versuchte, meinen Mantel glattzustreichen. Von einem schrankwandgroßen Kerl verprügelt zu werden war eine Sache, eine andere war es, wenn es vor den Augen eines hübschen Mädchens geschah.
    Sie erhob sich ebenfalls und lächelte scheu.
    Ich überlegte, ob ich irgendetwas sagen konnte, was die Situation ein kleines bisschen weniger unangenehm machen könnte, aber mir fiel nichts ein. Ich wollte einfach nach Hause, also nickte ich ihr knapp zu und setzte meinen Weg fort. Ein merkwürdiges Gefühl saß mir dabei im Nacken, wie Augen, die mich verfolgten. Mehrmals blieb ich stehen und sah mich um – war es denkbar, dass Bullco mir so geschickt nachschlich, dass er sich immer wieder meinem Blick entzog? Stand er in einer Nische zwischen den ärmlichen Hütten und ließ die Fingerknochen knacken, bereit, mir vor meiner Haustür eine weitere Erinnerung an meine Verpflichtungen zu verpassen? Ich verlangsamte meine Schritte, tat so, als würde ich ein aufgeweichtes Plakat betrachten, das für ein Konzert warb, das bereits letztes Jahr stattgefunden hatte, ging weiter, blieb wieder stehen, bis ich irgendwann meine Unterkunft in der alten Arena erreichte. Ich trat ein und streifte den nassen Mantel ab. Drinnen war es kaum wärmer als draußen. Ich zwang mich, langsam bis zehn zu zählen. Dann riss ich die Tür wieder auf, in der Gewissheit, Bullcos fiese Visage vor mir zu sehen, doch das einzige, was ich sah, war ein silbriges Huschen, nur der Hauch einer Bewegung, und dann war dort nichts mehr als der strömende Regen.
    Auch die nächsten Tage über hatte ich das Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden, was mich zunehmend nervös machte. Vielleicht war das eine der neuartigen Zermürbungstaktiken von Piranha Financial, die man sie auf brancheninternen Weiterbildungen lehrte – sauber, spurlos und dennoch effektiv. Nach wenigen Tagen war ich ein Wrack mit Kopfschmerzen und Spasmen im linken Augenlid. Ich träumte von Zahnstochern.
    Am Ende der Woche - ich hatte bei Torben, dem Seniorchef der Fabrik, gerade meine Lohntüte abgeholt und im Geiste die Kosten für Brot und Brennholz abgezogen, so dass mir die drängende Frage blieb, ob sich Bullco mit ein paar Kupfermünzen als Anzahlung zufriedengeben würde – sah ich Juarez, einen der Vorarbeiter, Aushänge am schwarzen Brett der Kantine befestigen. Jemand hatte das Brett mit einem spärlich benadelten Tannenzweig geschmückt. Eine rote Glaskugel, die bereits einen Sprung hatte, baumelte daran. Eine gelungene Repräsentation der allgemeinen Vorweihnachtsstimmung.
    Ein gutes Dutzend Kisten sei abhandengekommen, Diebstahl sei kein Kavaliersdelikt, Hinweise bitte an Elvrich, verkündete der schreiend orangefarbene Zettel. Ein weiterer Aushang, in grün gehalten, gab bekannt, dass aufgrund hoher Krankheitsraten für die kommende Nachtschicht Verstärkung gesucht wurde, mit leistungsgerechter Bezahlung.
    „Ich bin dabei“, sagte ich zu Juarez und fühlte mich sofort ein wenig besser. Möglicherweise konnten einige Münzen mehr mir meine Zähne retten, fürs Erste zumindest. Juarez nickte und warf mir einen Schlüssel am Band zu. Das Band war dunkelblau, bedruckt mit winzigen Sternen und Mondsicheln.
    „Wir brauchen jemanden, der im Keller der alten Lagerhalle mal nach dem Rechten sieht. Ein paar von den Jungs haben seltsame Geräusche gehört. Vielleicht haben sich Ratten eingenistet oder anderes Ungeziefer. Schau dich nach deiner Schicht mal da unten um. Eine Lampe kannst du dir im Büro abholen. Falls du was findest, schicken wir den Kammerjäger runter.“
    Nachdem ich meine reguläre Schicht in der Fertigung beendet hatte, holte ich mir eine Lampe und machte mich über den stillen Hinterhof auf den Weg zur alten Lagerhalle. Sie wurde nur noch dazu benutzt, Fehlproduktionen, Gerümpel oder kaputte Maschinenteile unterzustellen, denn das Dach hatte Schäden, die Wände waren feucht und stockfleckig und der Boden hatte sich stellenweise ein wenig abgesenkt, was die Statik des Gebäudes in Mitleidenschaft zog. Unter der alten Lagerhalle befand sich eine Art Gewölbe, das einmal Teil der Kanalisation gewesen war. Wir nannten es den Keller, aber meines Wissens wurde dort nichts eingelagert. Im Laufe der Woche war es kälter geworden, der Winter hatte nun wahrhaftig Einzug gehalten, und wo vor einigen Tagen noch Pfützen gewesen waren, spannte sich nun eine feine Decke von Raureif über den löchrigen Asphalt. Der Mond stand kalt und bleich am Himmel und ließ die winzigen Eiskristalle funkeln wie Diamanten. Der Anblick war so traumhaft und unwirklich, dass ich mich gar nicht wunderte, dass auf den Stufen zum Eingang der Lagerhalle eine schmale Gestalt saß, mit silbrig schimmerndem Haar, als sei es ebenfalls von Reif überzogen. Ihr blasses Gesicht leuchtete im Mondlicht.
    „Hallo“, sagte sie mit einer Stimme, die sanft und melodisch klang wie ein Windspiel aus Glas.
    Nun erschrak ich doch.
    „Was machst du hier?“ Etwas Besseres fiel mir nicht ein.
    Sie lachte leise. „Ich wohne hier.“
    „Du wohnst in Elvrichs Kistenfabrik?“
    Sie schien zu überlegen, dann nickte sie.
    „Wie heißt du?“, fragte ich.
    Wieder sah sie mich nachdenklich an, dann schüttelte sie leicht den Kopf. „Sag du es mir.“
    Ich fragte mich, was ihr zugestoßen sein mochte, dass sie sich in diesem Zustand befand. Ein Schicksalsschlag vielleicht, bei dem sie alles verloren hatte, die Familie, ihr Heim. Vielleicht. Sie hatte ein helles Kleid mit demselben abgetragenen Mantel darüber an, den sie bei unserer ersten Begegnung im Äußeren Ring getragen hatte. Ich wusste nicht, wie ich ihr helfen konnte, aber sie erst einmal vor der Kälte zu schützen, schien mir das Wichtigste zu sein.
    Ich zeigte auf die Lagerhalle. „Lass uns doch erst einmal reingehen.“
    Für einen Moment befürchtete ich, das Falsche gesagt zu haben. Möglicherweise glaubte sie nun, ich wollte ihr im Schutze der dicken Mauern etwas antun. Doch dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Das wollte ich dir gerade auch vorschlagen.“
    Sie stand auf und fasste nach der Türklinke. Dabei sah ich, dass ihre Handflächen dunkel waren.
    „Warte“, sagte ich, „Ich habe den Schlüssel.“
    Die Tür sprang auf. Offenbar hatten die Jungs, die die Geräusche bemerkt hatten, vergessen abzuschließen.
    In der Lagerhalle war es finster, nur die Notbeleuchtung tauchte alles in schwaches kaltes Grün. Es roch nach Staub, Motoröl und feuchtem Holz. Es war auch nicht nennenswert wärmer als draußen.
    Das Mädchen glitt lautlos durch die Halle, ein silbriggrüner Schimmer im Dunkeln. Ich ging hinter ihr her, meine Schritte waren deutlich auf dem Betonboden zu hören.
    „Dort unten wohne ich“, sagte sie und zeigte auf die Treppe, die zum Gewölbe hinabführte.
    Das versetzte mir einen Stich ins Herz. Nicht einmal ich hatte es so schlimm getroffen, dass ich im Keller eines Lagerhauses wohnen musste. Meine Bleibe in der alten Arena war dagegen geradezu luxuriös.
    Immerhin hatte ich gerade das Geheimnis der seltsamen Geräusche aus dem Kellergewölbe gelöst.
    „Seit wann wohnst du da?“
    Sie zuckte die Schultern. „Schon immer, glaube ich. Oder seit Weihnachten.“ Sie machte eine einladende Bewegung mit der Hand. Die Notbeleuchtung enthüllte, dass die dunkle Farbe ihrer Handflächen ein tiefes Rot war. „Komm mit!“
    Sie mochte verwirrt sein, aber für gefährlich hielt ich sie nicht, so klein und schmal wie sie war. Vielleicht konnte ich irgendetwas für sie tun.
    Ich folgte ihr die Treppe hinunter. Es hätte stockfinster sein müssen, doch ein sanftes Glimmen schien in der Luft zu schweben. Es beleuchtete fünf Kisten in der Mitte des Gewölbes, eine größere und vier kleinere, die wie ein gleichseitiges Kreuz aufgestellt waren, mit der großen Kiste als Mittelpunkt, die rot bemalt war. Ich sah genauer hin und stellte fest, dass die vier anderen Kisten ebenfalls Dekorationen trugen, grob gemalte Steine eines alten Gemäuers, braune Schiffsplanken. Hier unten war es immer noch kühl, aber weniger kalt als im oberen Geschoss. Vielleicht verliefen hier irgendwo Zuleitungen mit warmen Wasser. In den Nischen und Ecken des Raumes konnte ich Dutzende quadratische und rechteckige Schatten ausmachen, die auf weitere Kisten hindeuteten. Innerhalb weniger Minuten hatte ich auch das zweite Rätsel gelöst, das die Chefetage der Kistenfabrik beschäftigte. Hier also waren die verschwundenen Kisten. Ob das Mädchen sie heimlich hier hinuntergebracht hatte? Aber wie hätte das vor sich gehen sollen, ohne dass sie jemand dabei beobachtete?
    Sie stellte sich vor ihre kleine Kistenburg und breitete triumphierend die Arme aus.
    „Hast du dich verletzt?“, fragte ich vorsichtig und deutete auf ihre blutroten Handflächen.
    „Oh nein“, sagte sie, sah auf ihre Hände und kicherte, als hätte ich etwas sehr Dummes, aber auch sehr Liebenswertes gesagt.
    „Ich bemale sie mir, damit ich die Geräusche besser fühlen kann.“
    „Achso“, sagte ich, und fühlte mich tatsächlich ein wenig beruhigt.
    „Ich heiße Lucas“, fuhr ich fort. Vielleicht fiel ihr ihr eigener Name wieder ein, wenn ich nicht direkt fragte.
    „Und ich?“, fragte sie.
    „Auri“, sagte ich, ohne zu wissen, warum.
    Sie klatschte in die Hände und strahlte mich an. „Auri!“
    Dann wandte sie sich ihrem Kistenverschlag zu. „Ich werde jetzt schlafen gehen. Gute Nacht, Lucas.“
    „Warte“ sagte ich. „Brauchst du etwas? Etwas zu essen vielleicht?“ Bevor man sie am nächsten Morgen, wenn ich Meldung im Büro gemacht hatte, auf die Straße setzen würde, sollte sie zumindest noch eine Nacht hier verbringen können, und das am besten mit vollem Magen.
    Sie sah mich erstaunt an, als verstünde sie nicht ganz, worauf ich hinauswollte. Dann lächelte sie. „Nein, ich habe hier alles, was ich brauche.“ Sie maß ihre kleine Burg mit so liebevollem Blick, dass ich ins Wanken geriet. Ihr Geist war mit Sicherheit verwirrt, aber es schien mir falsch, ihr diese Behausung zu nehmen, wie schäbig sie auch sein mochte. Auri war gerne hier, sie hatte niemandem etwas zuleide getan – wenn man von ein paar gestohlenen, nein, wohl eher verräumten Kisten absah -, und wo sollte sie hin, mitten im eisigen Winter?
    „Eines noch“, sagte ich. „Wenn du hierbleiben willst, musst du ganz leise sein, verstehst du?“ Sonst kommen sie und werfen dich raus, oder sie lassen dich gleich in die Heilanstalt einweisen, fuhr ich in Gedanken fort.
    Auri sah mich nachdenklich an. „Ich verstehe. Sag ihnen, dass du dich darum gekümmert hast.“ Sie ließ sich auf alle Viere sinken und kroch durch den Eingang in eine der Kisten.
    „Darf ich wiederkommen?“, fragte ich. Ich würde ihr Brot und Tee mitbringen, vielleicht noch eine warme Decke. Es war hier zwar nicht so beißend kalt wie draußen, aber eine menschenwürdige Unterkunft schienen mir ein paar Holzkisten auch nicht gerade zu sein, egal, wie hübsch sie bemalt waren.
    „Natürlich“, drang ihre Stimme aus dem Kistenverschlag, gefolgt vom leisen Klingeln winziger Glöckchen.
    Es sei ein Nest von Riesenratten gewesen, sagte ich tags darauf zu Juarez, und ich hätte mich bereits darum gekümmert. Juarez verzog anerkennend die Mundwinkel.
    „Hätte ich dir gar nicht zugetraut“, erwiderte er. „Bist ein fähiger Kerl. Damit sparst du Elvrich den Kammerjäger.“
    Ich wartete, in der Hoffnung, dass Juarez für meine Mühe noch etwas drauflegen würde.
    „Fletcher hat die Grippe, das hast du bestimmt schon gehört“, fuhr er fort. „Wenn du es einem ganzen Nest Riesenratten aufgenommen hast, dann kannst du übers Wochenende und die kommende Woche Fletchers Dienst übernehmen, wenn du willst. Im Grunde musst du nichts Anderes tun, als nachts hier herumzuhängen und ab und zu nach dem Rechten zu sehen. Wenn du deine Sache gut machst, überträgt dir Elvrich den Job vielleicht ganz. Er war echt sauer, dass Fletcher die Kistendiebstähle nicht bemerkt hat. Und jetzt fällt er auch noch eine ganze Woche aus.“ Er nannte mir eine Zahl – die Summe der Goldmünzen, die mir die Woche Doppelschicht einbringen würde -, und ich sah, plötzlich und erwartet, eine realistische Chance, mein karges Weihnachtsmahl mit meinen eigenen Zähnen kauen zu können. Ich schlug ein.
    Nachdem mir Auri mehr oder weniger diese Zulage verschafft hatte, nahm ich mir vor, zumindest in dieser Woche auf sie aufzupassen.
    Bevor ich am Samstag Fletchers Sicherheitsrundgang antrat, kaufte ich auf dem Markt eine Tüte Spekulatius, die verheißungsvoll in meiner Tasche knisterte. Mehr konnte ich mir nicht leisten, wenn ich Bullco in einer Woche mit einer einigermaßen ernstzunehmenden Summe beschwichtigen wollte. Die Marktstände waren mit bunten Lichtern geschmückt, und statt Regen schwebten vom dunkler werdenden Himmel die ersten Schneeflocken. Ich spürte, wie mit jeder Flocke, die herniederfiel, ein wenig von der Beklemmung abfiel, die ich verspürt hatte seit dem Moment, in dem ich bemerkte, dass ich meinen Verbindlichkeiten Piranha Financial gegenüber nicht mehr nachkommen konnte. Erst in diesem Augenblick wurde mir bewusst, wie sehr mir meine Sorgen die Luft genommen hatten. Zum ersten Mal seit Wochen schien ich wieder richtig atmen zu können. Ich blieb stehen und sog die kalte Winterluft tief in meine Lungen. Dabei umflutete mich ein warmes Leuchten, das mich wieder an Auri denken ließ. Ich drehte mich um und fand mich vor einem Marktstand wieder, der Lampen anbot, gefertigt aus großen klaren Kristallen. Im Inneren der Kristalle trieben bunte Lichtblasen in einer zähen, bernsteinfarbenen Flüssigkeit, stiegen auf, sanken wieder hinab, gewannen erneut Auftrieb. Ich rechnete nach, wie viel ich in der kommenden Woche für mein Mittagessen in der Kantine ausgeben würde, halbierte die Summe und kaufte davon einen der kleineren illuminierten Kristalle. Man musste ja nicht jeden Tag zu Mittag essen.

    Auri bekam ich in dieser Nacht nicht mehr zu Gesicht, und ich wollte mir nicht ungefragt Zutritt zu ihrem Keller verschaffen. So stellte ich am Ende meiner Wachschicht die Tüte mit den Keksen in der Lagerhalle ab, und als ich am Sonntag wieder meinen Dienst antrat – die Fabrik lag still und einsam da, während der Schnee die Dächer mit einer glitzernden Schicht überzog -, war die Tüte verschwunden. In einer Stofftasche hatte ich auch die Kristalllampe wieder mitgebracht, in der Hoffnung, sie Auri heute geben zu können. Ich blieb einen Moment stehen und lauschte ins Dunkel, als ich, sehr fern, sehr leise, ein ersticktes Schluchzen hörte. Mit einem Satz war ich am Fuß der Treppe uns spähte hinab.
    Auri saß in gekrümmter Haltung unten auf den Stufen, die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen, ihr ohnehin blasses Gesicht unnatürlich weiß, eine ihrer rot bemalten Handflächen gegen die Stirn gepresst. Als ich die Treppen hinunterstieg, erschrak ich über ihre schweißnassen Wangen und den dunklen Fleck, der sich auf dem Rücken ihres hellblauen Kleids abzeichnete. Ich wollte gerade ihren Namen rufen, als sie mir den Kopf zuwandte. Als sie mich erkannte, entspannte sich ihre Haltung ein wenig.
    „Was ist denn los?“, fragte ich. „Geht es dir nicht gut?“
    „Doch“ sagte sie tonlos. „Ich war nur eine Weile woanders. Verirrt.“
    Sie deutete mit ihrer Hand, oben weiß, unten rot, auf ihre Kisten. Dort, wo vor zwei Tagen noch ihr kleiner Verschlag gestanden hatte, war im schwachen Licht etwas Anderes, Größeres zu erkennen.
    Ich starrte die Festung an, die Auri errichtet hatte. Sie bestand aus etwa einem Dutzend verschieden großer Holzkisten, die zu einem Quadrat angeordnet waren. Die Kisten waren an den Außenseiten mit gelber und roter Farbe bemalt, die obere Seite war tiefschwarz und bedeckt mit fortlaufenden goldenen Schriftzeichen, die fremd und altertümlich aussahen.
    Auri hatte in jede dritte Kiste Fenster geschnitten, die von innen mit einem hauchdünnen Stoff bespannt waren. Dahinter waren vereinzelt schwache Lichter zu sehen, vielleicht Kerzen. Manche Fenster waren rund, andere hatten die Form von Blütenkelchen. Auf jeder Seite des großen Quadrats befand sich ein Eingang, durch den man in die Festung hineinkriechen konnte.
    Auri mochte zweifellos ihre Probleme haben, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie in dieser streng geometrischen Festung so sehr die Übersicht verlor, dass sie sich verirrte.
    „Warum bist du nicht zu einem der Fenster gekrabbelt und hast rausgeschaut?“, fragte ich.
    „Da waren keine Fenster mehr“, hauchte sie. „Nur diese Stimme. Ich habe versucht herauszufinden, woher sie kommt, aber dabei habe ich mich verirrt.“
    „Was für eine Stimme?“, fragte ich. Ich machte mir Sorgen, weniger um Auris Verstand als darum, dass vielleicht einer der Jungs aus der Kistenfabrik ihre Festung entdeckt hatte.
    „Sie hat meinen Namen gesagt und dass ich weiterkriechen soll. Damit ich ans Ende finde. Aber ich habe Angst bekommen und wollte nicht ans Ende und näher an die Stimme heran, also habe ich mich umgedreht. Aber plötzlich waren keine Fenster mehr da, ich konnte den Ausgang nicht mehr finden.“
    Obwohl ich nun doch vermutete, dass die Stimme nur in Auris Kopf gesprochen hatte, bot ich ihr an, die Festung für sie zu durchsuchen, aber sie schüttelte stumm den Kopf und begann, durch den Eingang in zurück ins Innere der Kistenburg zu krabbeln.
    „Warte“, rief ich und hielt ihr die Tasche entgegen. Neugierig schlug sie den Stoff auseinander und hob den leuchtenden Kristall heraus. Die bunten Lichtblasen vollführten ihren trägen Tanz darin. Auris Wangen gewann etwas an Farbe zurück, oder es war das warme Licht der Lampe, das sie ihr ins Gesicht zauberte. Sie lachte erfreut und schien mich völlig vergessen zu haben. Sie klemmte sich den Kristall unter den Arm und kroch in ihre Festung. Das Fenster der ersten Kiste glomm farbig auf. Ich erwog, ihr zu folgen, aber ich wagte nicht, ohne Einladung in ihre Behausung einzudringen. Also setzte ich mich auf die Stufen, die nach oben in die alte Lagerhalle führten und behielt die Festung im Auge. Nach einer Weile machte ich mich daran, den Keller zu durchsuchen, Nische für Nische, aber es war niemand dort. Der einzige Ort, an dem sich jemand hätte verbergen können, war die Kistenburg, und so setzte ich mich wieder auf die Treppe, lehnte den Kopf gegen die raue Wand und lauschte der Stille, bis ich, ganz leise, das Tosen des fernen Ozeans zu hören glaubte, und, noch leiser, eine sanfte Stimme, die eine Melodie summte. Als ich wieder erwachte, durchgefroren und mit steifem Nacken, und auf meine Uhr sah, war es bereits früher Morgen. Das Licht in den Fenstern der Burg war erloschen. Leise schlich ich die Treppe hinauf, ging über den Hinterhof in die Produktionshalle und stempelte mich für die Frühschicht am Montag ein.

    Das Mittagessen am Montag fiel aus, und zwischen dem Ende der Frühschicht und dem Beginn meines temporären nächtlichen Wachdienstes lagen viel zu wenige Stunden, um mich zu erholen, aber eine Woche lang würde ich das schon durchhalten. Die körperliche Erschöpfung war unangenehm, aber die Erleichterung darüber, Bullco am Ende der Woche einen prall gefüllten Beutel in die Hand drücken zu können, hatte mehr Gewicht. Dreimal sah ich nachts in die Lagerhalle und fand alles ruhig. Ich hinterließ Auri einige Mandarinen aus dem Obstkorb, den Elvrich der Belegschaft jeden Montag spendierte, und ich brauchte dabei kein schlechtes Gewissen zu haben, denn die Jungs aus der Kistenfabrik wussten mit Früchten wenig anzufangen. Freitags war der Korb meistens noch zur Hälfte gefüllt mit ausgetrockneten Zitrusfrüchten und braunen Bananen.
    Dienstags fand ich auf den Stufen der Lagerhalle ein winziges silbernes Glöckchen, das ich in meine Brusttasche stecke, wo es eine gewisse Wärme auszustrahlen schien.
    Als ich Mittwoch zum zweiten Teil meiner Doppelschicht antrat, hungrig, da ich statt des Mittagsessens nur etwas Obst aus dem Korb zu mir genommen hatte, beschloss ich, vorsichtig nach Auri zu sehen. Aber es zeigte sich, dass es gar nicht nötig war, sie zu rufen, denn sie saß bereits auf den Stufen vor der Lagerhalle und schälte eine Mandarine. Der süße Duft umgab sie wie ein Schleier, und als sie meine Schritte hörte, hob sie ihren Blick. Mir war, als würde sich das Glöckchen in meiner Brusttasche regen, aber es war nur mein Herz, das ein wenig schneller schlug.
    „Ich habe ein neues Haus“, rief sie erfreut. „Das letzte war mir unheimlich geworden. Ich will es dir zeigen.“
    Ich nickte und folgte ihr in den Keller. Ich hatte ein deutlich verkleinertes Heim erwartet, in dem sich auch ein verwirrtes Mädchen keinesfalls verirren konnte, aber ich hatte mich getäuscht.
    Auri hatte in der Zwischenzeit drei Dutzend Kisten zu einem Labyrinth in Gestalt eines riesigen Kraken zusammengefügt. Acht Ausläufer schlängelten sich auf eine große, quadratische Kiste in der Mitte zu, auf der in blutroter geschwungener Schrift Alis Import-Export Faring zu erkennen war. Auri hatte links und rechts jeweils ein bedrohlich dreinblickendes Auge aufgemalt und aus Hühnerdraht zwei windschiefe Hörner geformt, die über den starren Augen aufragten, und einige der Tentakel, die aus diesem grimmigen Kopf zu wachsen schienen, waren mit grünen Tüchern bedeckt. Andere Arme waren aus Teilen ihrer letzten Festung zusammengesetzt und zeigten noch die ursprüngliche Dekoration. Mein Blick blieb immer wieder an den unfassbaren Hörnern des Kraken hängen. Dieses Detail ließ erkennen, dass es sich nicht um einen Spielplatz handelte, den sich ein kleines Mädchen aus Langeweile erbaut hatte, sondern dass es das Werk eines Menschen war, der völlig den Verstand verloren hatte. Aber es gefiel mir. Es gefiel mir außerordentlich. Vielleicht verlor ich auch den Verstand. Ich lachte laut, und das alte Gewölbe warf den Ton unheimlich verzerrt zurück.
    Auri rief begeistert: „Es gefällt dir!“
    Dann raffte sie den Saum ihres hellblauen Kleides ein wenig, vollführte einen etwas gezierten Knicks und sagte: „Ich bitte dich einzutreten.“
    Sie ließ sich auf die Knie sinken und verschwand in einem der Tentakel, ohne sich noch einmal umzublicken,
    Ich zögerte einen Moment, doch dann schob ich mich ebenfalls hinein. Enge Bauten, schmale Tunnel, niedrige Decken, das alles verursachte mir für gewöhnlich Unwohlsein. Doch ich wollte Auri nicht kränken, und ich war mir sicher, dass sie sich, wenn ich ihre Einladung nun ablehnte, wieder von mir zurückziehen würde. Also kroch ich so entschlossen hinter ihr her, als gehörte es zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, durch Kistenlabyrinthe zu robben. Auri war mir ein ganzes Stück voraus, ich konnte nur hin und wieder noch ihren Schatten sehen, wenn sie um eine Ecke bog. Durch einen hölzernen Tunnel nach dem nächsten kroch ich, mal in Düsternis, mal in sanftem Licht. Innen schien der Riesenkrake noch viel geräumiger zu sein, als es von außen den Anschein hatte. In einer der Kisten, durch die ich krabbelte, befand sich ein kleines Holzregal, auf dem eine verschlossene Flasche stand. Fliegen surrten darin herum und flogen leise und ein wenig panisch gegen das Glas. Die beengte Akustik der Kiste verstärkte und verzerrte das Geräusch auf unheimliche Weise, so als würden die Fliegen direkt in meinem Kopf summen. Wieso und wo hatte Auri sie eingefangen? Sie würde sie doch nicht etwa in dieser Flasche sterben lassen? Ich schlängelte mich weiter, durch einen breiten Durchlass, dessen Wände, Decke und auch Boden mit Sternen, Monden und lachenden Katzengesichtern verziert waren, die im Dunkeln leuchteten. Das Holz war schwarz bemalt, so dass ich den verstörenden Eindruck hatte, es gäbe gar keine Wände und ich würde auf einer schmalen Rampe durch den Weltraum kriechen. Über und unter mir erstreckte sich das grenzenlose Nichts. Sollte ich von der Rampe fallen, würde nichts meinen Sturz aufhalten. Noch immer hörte ich die Fliegen im Glas surren, weit entfernt, aber durchdringend. Mit einem Mal wurde mir schwindelig, und ich presste meine Hand gegen die Kistenwand. Sofort verschwand das beklemmende Gefühl, durch den leeren Raum zu kriechen.
    Die nächste Kiste war die kleinste, engste und dunkelste von allen, und als ich mich flach auf den Bauch legte, um hindurchzukriechen, streifte ich mit meinem Rücken eine Reihe winziger Glöckchen, die einen verträumten, silbrigen Ton erzeugten, erschreckend und entzückend zugleich. Dann sah ich vor mir eine schmale Öffnung, hinter der ein pastellfarbenes Licht in der Luft zu schweben schien. Ich zwängte mich hindurch.
    Während ich den erstaunlich langen Weg durch die Festung gekrochen war, war es mir vorgekommen, als sei ich geschrumpft und nicht größer als ein Molerat. Und auch die Kiste in der Mitte von Auris Kraken schien mir mit einem Mal groß genug, um einer zehnköpfigen Goblinrotte ausreichend Platz zu bieten. Der Kristall leuchtete in der Mitte. Auri hatte die Innenwände mit Silberfolie tapeziert. Lichtfunken und –fäden zuckten die Wände entlang, goldene, himbeerrote und hellgrüne Wellen verliefen ineinander und verschwanden wieder. Meine Schläfen begannen von den umherhuschenden Lichtern sacht zu pochen. Auri kauerte mit dem Rücken zu mir neben der Kristalllampe, neben ihr ein Comicheft und eine Schere. Sie hatte die hintere Umschlagseite abgetrennt und mit einem weißen Papierrahmen versehen, den sie gerade an der silbernen Wand befestigte. Sie drehte sich kurz zu mir um, lächelte und wandte sich wieder dem Bild zu. Es zeigte einen Troll, der von zwei Männern, einer mit einer gewaltigen Axt, einer mit Bogen und Crawlerplattenrüstung, angegriffen wurde.
    „Meine Familie“, sagte Auri. „Ich habe sie gern bei mir.“
    Darauf wusste ich nichts zu sagen, was sie nicht verletzt hätte. Also begann ich, ein wenig benommen von den Eindrücken und den träge blubbernden Lichtkugeln, von mir zu erzählen, von meiner Familie, die weit, weit weg lebte, von meinem Versuch, mich im Vergnügungssektor von Khorinis zu etablieren und vom katastrophalen Ausgang dieses Unterfangens. Auri hörte aufmerksam zu und sah mich mit ihren großen Augen an, die in diesem Licht goldfarben glänzten.
    „Dank dir kann ich jetzt immerhin einen Teil der ersten Rate bezahlen“, schloss ich ein wenig verlegen darüber, mich einem fast fremden Menschen so geöffnet zu haben. „Vielleicht habe ich noch ein zweites Mal Glück“, fuhr ich fort, und in diesem Moment glaubte ich meinen eigenen Worten. Ich saß mit Auri im silbernen Inneren eines hölzernen Riesenkraken unter der Kistenfabrik, was sollte mir da noch Schlimmes widerfahren können? Mir war ganz leicht zumute, und diese Leichtigkeit blieb mir erhalten, als ich Auris Festung längst wieder verlassen hatte.
    Es war Freitag, und ich hatte von Juarez eine prall gefüllte Lohntüte bekommen. Elvrich war zufrieden, dass unter meiner Aufsicht keine weiteren Kisten verschwunden waren – Auri hatte zum Glück genügend Material zusammengesucht, solange Fletcher Dienst gehabt hatte – und hatte auch noch etwas draufgelegt, weil er nicht die Kammerjäger hatte kommen lassen müssen. Zusammen mit den Ersparnissen der letzten Wochen war es nicht ganz das, was ich heute an Piranha Financial bezahlen sollte, aber es war sehr viel mehr, als ich bei der letzten Begegnung mit Bullco zu hoffen gewagt hatte.
    Bullco kam pünktlich zum Abendessen. Er schob mich zur Seite und trat ein. Seine Stiefel hinterließen eine Spur aus Splittkörnchen und Eisbröckchen auf meinem Fußboden, winzige Inseln aus schwarzem Vulkanstein in einem schmutziggrauen Ozean.
    Bullco setzte sich breitbeinig an den Holztisch, auf dem ein Teller mit einigen trockenen Mandarinen und zwei braunen Bananen stand – mein Abendbrot – und ein spärlicher Adventskranz, ebenso trocken wie die Zitrusfrüchte. Drei Kerzen brannten, in zwei Tagen würde auch die vierte brennen. War in einer Woche tatsächlich schon Heiligabend?
    Bullco schob seinen Zahnstocher vom rechten in den linken Mundwinkel und streckte wortlos die Pranke aus. Seine Nase war gerötet, seine Augen blutunterlaufen. Ich kramte den Lederbeutel mit dem Geld aus meiner Truhe und legte ihn in die ausgestreckte Hand, froh über das beeindruckende Gewicht, das er hatte.
    Bullco verzog keine Miene. Er schüttete den Beutel auf den Tisch aus, ordnete die Münzen geschickter und routinierter zu Stapeln, als man es seinen groben Fingern zutraute und sah mich dann ausdruckslos an.
    „Ich weiß, es ist nicht ganz die Summe, die…“, hob ich an, doch er hatte mir wieder eine Ohrfeige versetzt, die mich zum Verstummen brachte.
    „In einer Woche ist die volle Summe fällig, plus Verzugszinsen. Wenn nicht, dann wird jemand darunter leiden, der dir am Herzen liegt.“ Bullco grinste, während sich meine Eingeweide mit eisigem Wasser zu füllen schienen. „Ich denke da an deine kleine Freundin.“ Meine Finger krallten sich in meine Oberschenkel. Bullcos Grinsen wurde noch breiter. Er hatte ins Blaue geschossen und ins Schwarze getroffen.
    „Jetzt guck nicht so“, fuhr er fort. „Einer von Gabriels Jungs hatte ein Auge auf dich, damit du nicht einfach abhaust. Er hat dich neulich nachts im Hof der Kistenfabrik mit einem Mädchen gesehen.“ Er stieß mit seiner Zunge anzüglich in seine rechte Wange. „Hast dir wohl die Zeit während der Nachtschicht vertreiben müssen, was? Unser Mann sagt, dass sie keine Professionelle ist, und du kannst dir sicher sein, dass er alle verfügbaren Mädels der Stadt kennt. Er ist ein echter Experte.“ Bullco lachte dröhnend, dann wurde er wieder ernst. „Wir werden schon rauskriegen, wer sie ist und wo sie wohnt, wenn du nicht zahlst. Aber…“ – er machte eine kleine Pause und tätschelte mir den Handrücken – „…soweit muss es ja gar nicht kommen, dass wir uns in eine junge Liebe einmischen. Du musst nur zahlen.“
    Mir wurde vor Erleichterung schwindelig. Bullco wusste nicht, dass Auri in der Fabrik wohnte. Ich durfte keinesfalls riskieren, dass er es herausfand. Auch wenn mir die Erkenntnis das Herz zerschnitt: Ich musste mich in Zukunft von Auri fernhalten.
    „Natürlich zahle ich“, brachte ich heraus, aber ich konnte nichts gegen die Bilder tun, die vor meinen Augen aufstiegen.
    „Guter Junge“, sagte Bullco und hustete. Er spie einen dicken Klumpen Schleim auf den Fußboden und erhob sich. „Nächsten Freitag komme ich wieder. Wir wollen doch beide Gabriel glücklich sehen, oder?“
    Bullco nieste. Nun erst fiel mir auf, wie blass sein fleischiges Gesicht unter der hektischen Röte war, die seine Wangenknochen überzog. Die Grippe machte offenbar auch vor operativen Inkassokerlen nicht Halt.
    Die kommende Woche war wie von einem dunkeln Schleier bedeckt. Fletcher war wieder genesen und hatte Elvrich davon überzeugt, ihm noch eine Chance zu geben. Ich kehrte wieder in meine gewöhnliche Schicht zurück und stand den ganzen Tag in der Fertigungshalle, mit der Aussicht auf den üblichen mickrigen Lohn. In den Nächten wälzte ich mich bald frierend, bald schwitzend in meinem Bett herum, und wenn ich hin und wieder tatsächlich einschlief, fuhr ich nach kurzer Zeit aus irgendeinem schlimmen Traum wieder hoch. Mein Kopf rechnete mir ununterbrochen die Summe vor, die ich in wenigen Tagen auf den Tisch würde legen müssen. Auch wenn ich mir das Mittagsessen sparte und mich von den täglich schrumpeligeren Mandarinen ernährte, würde ich meine Ausstände nicht einmal ansatzweise bezahlen können. Meine wenigen verbliebenen Münzen gab ich für kleine Tüten mit Lebkuchen, Spekulatius und gebrannte Mandeln aus, die ich beim Gang zum Toilettenhäuschen auf dem Hinterhof unauffällig in einer kleinen Nische vor der alten Lagerhalle platzierte. Ansonsten hielt ich mich von der Halle fern, was vielleicht das Schlimmste war. Einmal fand ich auf dem Weg über den Hinterhof ein kleines silbernes Glöckchen auf dem gefrorenen Boden, das ich zu dem anderen in die Brusttasche steckte.
    Was würde Gabriel mit mir anstellen, wenn ich nicht zahlte, und ich würde nicht zahlen, wie auch? Um mich selbst war es nicht schade, dachte ich in diesem Moment, aber was, wenn sie aus mir herausprügelten, wo sie Auri finden konnten? Ich hatte weder die körperliche Kraft, um mich zu verteidigen, noch das Rückgrat, um eine Befragung zu überstehen, wenn die Jungs von Piranha Financial die Ärmel hochkrempelten, um ein paar Antworten zu bekommen. Sollte ich Auri warnen? Oder würde ich sie dadurch nur umso mehr in Gefahr bringen? Und überhaupt, wo sollte sie hingehen? Bei mir konnte ich sie ja schlecht unterbringen. Und was, wenn sie ihre Kisten gar nicht verlassen wollte? Sollte ich sie mit Gewalt aus ihrer Burg zerren? Zudem hatte ich ununterbrochen das Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden, die jeden meiner Schritte aufmerksam verfolgten.
    Während rings um mich herum immer mehr Weihnachtslichter entzündet wurden, wurde es in meinem Herzen immer dunkler und trüber.
    Als ich am Donnerstagabend, nach einer schier endlosen Schicht, in meiner Unterkunft ankam, war das Gefühl, beobachtet zu werden, so stark, dass es in meinem Kiefer pochte wie ein entzündeter Zahn. Jemand war mir Tag und Nacht auf den Fersen. Ich stütze mich auf den wackeligen Holztisch und legte meinen Kopf auf den Händen ab. Die Grenzen meiner Belastbarkeit waren erreicht.
    Vor Erschöpfung musste ich eingenickt sein, denn während ich so über den Tisch gebeugt lag, schien es mir, als hörte ich eine leise Stimme aus einer Ecke meines Zimmers, eine Stimme wie ein Glöckchen, die sagte: „Ich möchte dir helfen.“
    „Mir kann niemand helfen“, murmelte ich mit geschlossenen Augen. In diesem Moment wurde mir klar, wie sehr ich damit recht hatte, und das raubte mir die letzte Kraft.
    „Ich bin mit meiner neuen Burg fast fertig“, antwortete sie. „Ich baue sie für dich. Weil ich will, dass es dir bessergeht.“
    Ich atmete aus und musste fast ein wenig lachen. Ich träumte von Auri, und sogar in meinem Traum war die Wirklichkeit für sie etwas, worauf sie nur hin und wieder, wie durch Nebelschwaden, einen Blick erhaschte. Für Auri bestand die einzig angemessene Reaktion auf ein Unglück darin, eine Festung aus Kisten zu errichten.
    „Danke, Auri“, sagte ich in mein leeres Zimmer hinein. „Du bist eine echte Freundin.“
    Ich blieb noch eine Weile auf dem Tisch liegen, und es ging mir tatsächlich ein wenig besser. Als ich den Kopf hob, sah ich, dass alle vier Kerzen auf meinem Adventskranz brannten. Ich konnte mich nicht erinnern, sie angezündet zu haben, so übermüdet war ich. Mein kurzes Nickerchen und der Traum von Auris Stimme wirkten auf mich wie eine kühle Hand auf fieberheißer Stirn. Ich zog mich um und legte mich ins Bett, wo ich bis zum nächsten Morgen tief und traumlos schlief.
    Der Freitag verging wie ein ereignisloser, sich in unendlichen Schleifen wiederholender Traum. Ich tat meine Arbeit wie eine der mechanischen Figuren, die im Vergnügungspark von Khorinis die Kinder begeisterten, während hinter meiner Stirn nur weißes Rauschen herrschte. Als ich mir einmal an die Brusttasche griff, um die zwei silbernen Glöckchen zu betasten, spürte ich darin einen dritten Gegenstand, genauso klein und rund wie die beiden anderen, doch ich kam gar nicht auf den Gedanken, mich zu wundern. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen trottete ich nach meiner Schicht ins Büro und ließ mir meinen Lohn auszahlen. Ich sah in die braune Tüte hinein, in der sich genau das befand, was zu erwarten gewesen war. Hatte ich etwas Anderes erwartet? Ein Weihnachtswunder vielleicht?
    „Frohe Weihnachten dann“, sagte Torben und schüttelte mir die Hand. „Mach’s dir schön mit deinen Lieben!“
    Ich sah ihn verwirrt an, bis ich begriff, dass er den Heiligabend morgen meinte.
    „Danke, du auch“, murmelte ich.
    „Die gute Gritta lädt zum Scavengeressen ein, wie immer“, schmunzelte Torben. „Wir machen ausnahmsweise übers ganze Wochenende dicht. Und Montag wieder in alter Frische, was?“
    Ich war mir nicht sicher, wie frisch ich am Montag sein würde, nachdem Bullco mit mir neue Zahlungsmodalitäten vereinbart hatte – immerhin würde er mich nicht umbringen, dessen war ich mir ziemlich sicher, jedenfalls nicht, solange noch die Hälfte meiner Schulden zu bezahlen war -, aber ich nickte.
    „Klar, Montag in alter Frische.“
    Draußen hatte es wieder zu schneien begonnen. Dicke Flocken fielen vom dunklen Himmel, ein leichter Wind ließ sie tanzen. Ich fühlte mich immer noch wie betäubt. Was sollte ich Bullco sagen, wenn er nachher vor der Türe stand? Im Grunde war es mir egal.
    Ich setzte mich an den Tisch, zündete die Kerzen an und wartete. Es dauerte lange, bis es klopfte.
    Innosergeben stand ich auf und öffnete die Tür; das Lamm Innos‘, bereit zum Opfergang.
    „Gabriel“, entfuhr es mir. Damit, dass der Kopf von Piranha Financial sich heute höchstpersönlich um seine Kunden kümmerte, hatte ich nicht gerechnet.
    Gabriel stampfte sich auf der Schwelle den Schnee von den Stiefeln und trat ein. Er trug einen eleganten, schmal geschnittenen Mantel aus feiner Wolle mit hohem Kragen, über dem sein blasses, feinknochiges Gesicht schwebte wie die Blüte einer seltsamen und gefährlichen Pflanze. Einer fleischfressenden Pflanze. Seine hellen Augen musterten mich durch halbmondförmige, randlose Brillengläser.
    Er wischte etwas imaginären Staub von einem der Stühle und ließ sich darauf nieder, wobei sich sein Mantel ein wenig öffnete. Ich sah klar und deutlich eine Reihe blitzender Messer an seinem Gürtel.
    „Die meisten meiner Jungs haben die Grippe“, sagte Gabriel und zog einen Zettel aus seiner Tasche. Seine Stimme war sanft und melodisch. Er entfaltete ihn, strich das Papier glatt und studierte die wenigen Zeilen, die darauf geschrieben standen. „Dein lieber Sachbearbeiter, Bullco, ist ebenfalls krank. Da dachte ich, ich komme einfach mal selbst bei dir vorbei, Lucas. Ganz persönliche Weihnachtsgrüße sind doch die schönsten, findest du nicht?“
    Ich schluckte trocken und nickte.
    Gabriel betrachtete die ruhig brennenden Kerzen und fuhr mit dem Finger durch die Flammen, nicht zu schnell, nicht zu langsam, so dass der Luftzug, der seinem Finger vorausging, das Feuer für ihn teilte. Ein alter Trick, aber immer wieder eindrucksvoll.
    „Aber kommen wir zur Sache, mein lieber Lucas“, fuhr Gabriel fort und sah noch einmal auf seinen Zettel. „Letzte Woche hast du ja einen Schritt in die richtige Richtung getan, und ich hoffe, ja wünsche mir, dass es heute so weitergeht. Ich würde mich freuen, wenn wir Freunde bleiben könnten.“
    Ich zog die Lohntüte aus meiner Tasche heraus. Ich dachte an Auri und daran, dass vielleicht doch ein Wunder geschah. Dass sie mir geholfen hatte. Dass die Lohntüte voller Gold war. Schließlich war morgen Heiligabend. Ich schüttete den Inhalt auf die Tischplatte.
    Gabriel betrachtete die Münzen auf dem rohen Holz.
    „Lucas, Lucas, Lucas, du bist ja ein richtiger Spaßvogel“, sagte er und kicherte. „Ich würde zu gerne den ganzen Abend mit dir scherzen, aber ich habe noch einige Kunden zu besuchen, wo mich meine Jungs im Stich gelassen haben, so kurz vor dem Fest.“ Er sah mich an wie ein schmollendes Kind. „Also, wo ist das Geld?“
    Ich hörte, ganz zart, ganz leise, irgendwo ein silbernes Glöckchen läuten.
    „Ich habe es nicht hier.“
    „Wie bitte?“
    „Ich habe es in der Fabrik. Hier im äußeren Ring wird ständig eingebrochen. In der Fabrik habe ich ein sicheres Versteck dafür gefunden.“
    „Das ist doch nicht dein Ernst“, sagte Gabriel. „Was sitzt dann noch hier herum? Auf, auf, mein Lieber, hol das Geld her.“
    Ich erhob mich, unsicher, was ich tun sollte. Ich wusste nicht, wie mir diese Lüge über die Lippen gekommen war. Was würden mir einige Minuten geschundener Zeit schon nützen? Gabriel sah mich mit einem Mal misstrauisch an. „Weißt du was, Lucas? Ich werde dich begleiten. Nicht, dass du auf dumme Ideen kommst und den Weg nach Hause nicht mehr findest mit deinem Geld. Da wärst du nicht der Erste. Der nächste liebe Klient wohnt sowieso in dieser Richtung.“
    Ich zog mir meinen Mantel über und wir gingen durch die Vorstadt auf das Gelände von Elvrich Pack zu. Schneeflocken wirbelten um uns herum. Gabriel plauderte den ganzen Weg, doch ich hörte kaum zu. War ich wahnsinnig geworden, ihn in Auris Nähe zu bringen? Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Fabrik lag still vor uns, die Schornsteine ragten stumm in den nächtlichen Himmel. Mir fiel auf, dass ich nicht einmal einen Schlüssel hatte, doch als wir uns dem Tor näherten, sah ich, dass es offenstand. Wir wurden erwartet. Auf dem Hof lag eine dünne Schicht frischen Schnees, der unter unseren Stiefel knirschte.
    „Geradezu malerisch“, stellte Gabriel fest. „Pittoresk! Ich habe eine Schwäche für Kunst, weißt du? Dieser Hof gäbe ein grandioses Motiv für ein Stillleben ab. Diese Tristesse, das Gespenst der Melancholie…“
    „Dort hinten“, sagte ich, „in der Lagerhalle, da habe ich das Geld versteckt.“
    „Na dann, frischwärts, mein Lieber! Ich würde sehr gerne noch etwas den – wie sagt man? –genius loci atmen, aber du weißt ja, die Geschäfte rufen.“ Er fasste in seinen Mantel, etwas blitzte auf im schwachen Licht, und ich spürte, wie sich mit etwas spitz und schmerzhaft an den Hals drückte und meine Haut ritzte.
    „Nur, damit du nicht auf die Idee kommst, mich überrumpeln zu wollen, lieber Lucas.“
    Ich wollte etwas erwidern, aber Gabriel brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Nein, sag jetzt nichts. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Wir alle haben manchmal dumme Ideen. Ich kann diese dummen Ideen förmlich riechen.“
    Wir gingen schweigend über den schneebedeckten Hof, Gabriel dicht neben mir, das Messer immer noch an meine Kehle gepresst. Ich legte die Hand auf die Klinke des Hallentors, und es sprang auf. Der Schein der Notbeleuchtung fiel auf den Hof und ließ den Schnee dort ungesund grünlich schimmern. Aus der Halle drang ein seltsamer Geruch, nach Leim, frischer Farbe und Gips.
    Wir gingen hinein, und der Geruch wurde stärker.
    „Wo soll das Geld sein?“, fragte Gabriel. Er klang zum ersten Mal ungehalten. Das Messer ritzte mir tiefer in die Haut, und ich spürte warmes Blut an meinem Hals herablaufen. „Wenn das irgendein Trick ist, dann…“
    „Ich habe das Geld unten im Keller versteckt“, keuchte ich. „Da ist es am sichersten.“
    „Du bist ja paranoid“, erwiderte Gabriel, aber ich spürte, wie der Druck ein wenig nachließ. „Verrückt wie eine Kanalratte, mein Lieber. Aber weißt du was? Du gefällst mir.“
    Er packte mich am Arm und hielt das Messer weiter an meine Kehle.
    „Da lang“, sagte ich und zeigte auf die Treppe.
    Wir stiegen hinab in das Gewölbe, wo das Licht nicht grün und kalt, sondern rosig und warm leuchtete.
    „Kreuzgrat, ganz klassisch“, stellte Gabriel beim Abstieg fest. „Das Gewölbe unter der…“
    Weiter kam er nicht, denn was sich unserem Blick bot, als wir das Ende der Stufen beinahe erreicht hatten, verschlug uns beiden den Atem.
    Ein weitläufiges Labyrinth aus Kisten bedeckte den Kellerboden von einem Ende bis zum anderen. Auri hatte alle Kisten neu bemalt. Die, die der Treppe am nächsten standen, waren cremeweiß wie Honigmilch, doch je weiter sich das Gebilde ausdehnte, desto dunkler wurde es, über blassblau, fliederfarben und kobalt. Die Kisten an der gegenüberliegenden Wand bildeten den tiefschwarzen Horizont des Nachthimmels nach. Ich sah Kisten mit Eingängen auf allen Seiten, und Fenstern, die die Form von Sternen hatten. Sie waren von innen mit hauchdünnem Stoff beklebt, dahinter pulsierte langsam buntes Licht. Die meisten Kisten hatten jedoch keine Fenster, vor allem die, die den dunklen Teil des Labyrinthes bildeten. Dort herrschte schwarze Nacht.
    Beherrscht wurde der Aufbau von einer gewaltigen Mondsichel aus Pappmaché, die sich drohend am hinteren Ende über allen Kisten erhob. Der Mond war leuchtend weiß bemalt, mit dünnen, verkniffenen Lippen und einem einzelnen, traurigen Auge, das halb geschlossen war und uns mit einem Ausdruck vager Enttäuschung anzuschauen schien. Ich war so verdutzt, dass ich eine Weile brauchte, um zu begreifen, dass es sich die große Kiste für Alis Import-Export Faring handelte, die schon den Kopf des Krakens gebildet hatte. Aus dem Geflecht von Hühnerdraht, mit dem Auri die Hörner geformt hatte, hatte sie nun die Spitzen der Mondsichel gebildet, nein, nun sah ich, dass sie nichts an der Form verändert hatte. Die schiefen Hörner, die ich letzte Woche für den unwiderlegbaren Beweis gehalten hatte, dass es mit Auris Verstand bergab ging, waren schon immer eine Mondsichel gewesen. Auri hatte nur mit etwas Farbe darüber hinweggetäuscht. Jeder Mensch mit gesunden Augen hätte das erkannt. War das nicht schon immer eine meiner entscheidenden Schwächen gewesen? Wenn ich etwas nicht gleich begriff, gelang es mir auch später nicht mehr, die dahinterliegende Struktur zu durchschauen, sei es bei einem Kunstwerk oder in meinem Leben.
    Ich spürte, wie der Druck des Messers an meiner Kehle nachließ und schließlich ganz verschwand.
    „Bei Adanos“, hauchte Gabriel. „Das ist unglaublich!“
    Direkt an der Treppe befand sich der Eingang zu Auris Mondfestung: Eine große Kiste, weihnachtlich dekoriert mit roten und goldenen Sternen aus glänzendem Papier auf cremefarbenem Holz, knapp anderthalb Meter groß. Sie lag allerdings auf der Seite, mit weit offenen Klappen, die wie eine Flügeltür aussahen. Ein dünnes schwarzes Tuch verdeckte den Eingang, so dass ich nicht hineinsehen konnte. Von weit entfernt hörte ich eine leise Melodie spielen, einlullend und sanft.
    „Adeste fideles“, rief Gabriel aus. „Das ist mein liebstes Weihnachtslied.“
    Ich war immer noch so erstaunt, dass ich nicht antworten konnte. Gabriel sah mich von der Seite an. „Du bist ein verdammtes Genie, mein lieber Lucas, weißt du das?“
    Er ließ das Messer sinken und starrte mit leuchtenden Augen auf die unwirkliche Szenerie. Dann stieß er mir freundschaftlich den Ellenbogen in die Seite. „Du hast das Geld da drin versteckt, und ich soll’s finden, was? Du bist schon ein merkwürdiges Kerlchen, weißt du das?“ Er sprang die letzten drei Stufen hinunter, tänzelnd und anmutig. „Es ist im Mond, nicht wahr? Da hast du bestimmt einige deiner Geheimnisse versteckt. Und wer könnte es dir verdenken? Sag schon, was ist da noch alles drin?“
    „Ich… ich will dir die Überraschung nicht verderben“, brachte ich endlich heraus. „Du solltest es dir selbst anschauen.“
    Meine Beklommenheit mischte sich mit zaghafter Erregung. Einerseits wollte ich, das Gabriel in Auris großartiger, verwinkelter Weihnachtsburg verschwand, andererseits fürchtete ich mich davor. Wo war Auri? War sie dort drinnen?
    Gabriel grinste, schüttelte leicht den Kopf – dieser ganze Kram hier ist ja nicht zu fassen – und kauerte sich hin. Er machte Anstalten, auf allen Vieren durch den Eingang zu kriechen, blickte dann aber noch einmal zu mir zurück. Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein kindlicher Eifer ab, der mich mehr beunruhigte als alles andere. Doch für einen Moment konnte sich Gabriel dem Zauber der Weihnachtsburg widersetzen. Das alte Misstrauen blitzte in seinem Gesicht auf. „Du kommst mit“, sagte er scharf.
    Ich hatte nicht die geringste Lust, im finsteren Inneren von Auris Irrgarten herumzurobben, aber in der Sprache unserer Beziehung gab es keine Worte, um Nein zu sagen. Ich nickte, etwas schwach in den Knien, und ging die letzten Treppenstufen hinunter.
    Gabriel schob den schwarzen Vorhang zur Seite, und aus einem runden Tunnel, vermutlich ein großes Weinfass von mindestens einem Meter Durchmesser, tönte Weihnachtsmusik: Adeste fideles, laeti triumphantes, venite, venite…!
    Ich wollte mich gerade bücken, um ihm hinterherzukriechen, da stand Auri mit einem Mal neben mir, still und schön wie der Vollmond, und zugleich beängstigend und verwirrend wie die gigantische Mondsichel, die zu uns hinübersah. Sie packte sie mich mit einem erstaunlich festen Griff ihrer bemalten Hand am Arm und hielt mich zurück. Stumm schüttelte sie den Kopf und legte sich einen Finger auf die Lippen.
    Gabriel sah sich nicht um.
    „Einfach der Musik nach, nicht wahr, mein Lieber?“, sagte er, mehr zu sich selbst als zu mir. Er starrte in den Tunnel hinein, der vor ihm lag. Sein Kopf nickte bedächtig hin und her, im Takt der jubilierenden Musik. Er ließ sein Messer achtlos fallen und begann, sich in den Öffnung hineinzuschlängeln.
    „Unglaublich“, hörte ich seine Stimme, gedämpft von Holz und Stoff.
    „Gabriel!“, rief ich in einem plötzlichen, unerklärlichen Anfall von Panik. Auri krallte ihre Hand in meinen Arm. „Gabriel, warte einen Moment!“
    „Hier ist es dunkel wie in Beliars Allerheiligstem“, gluckste er, als hätte er mich gar nicht gehört.
    „Geh da lieber nicht rein!“, sagte ich kläglich. Auri sah mich mit dunklen, vor Angst geweiteten Augen an, aber Gabriel schien mich wirklich nicht zu hören. Ja, ich bin mir sicher, dass er mich in dem Moment nicht mehr hören konnte, als er seinen Kopf in Auris Weihnachtsburg gesteckt hatte.
    Auri entspannte sich ein wenig.
    „Da vorne gibt es ein Fenster“, hörte ich Gabriels Stimme. Es klang, als spräche er mit sich selbst. „Dann mal los.“
    Der Vorhang fiel über seine Füße, und er war verschwunden.
    Auri ließ meinen Arm los. Ich suchte ihren Blick, aber der war über die weitläufige Festungsanlage gerichtet, und auf das Fass, durch das Gabriel gerade hineingekrochen war. Ich konnte hören, wie er über das Holz robbte, wie er sich immer weiter von uns entfernte, wie er in der nächsten Kiste ankam, die beinahe eineinhalb Meter hoch war. Sie wackelte ein wenig, als er vermutlich an einer Ecke hängenblieb. Ja, ich konnte genau beobachten, wie er sich an der nächsten Abzweigung nach rechts schob, auf den Mond zu, der sein mattes Auge ebenfalls auf die leicht erzitternden Kisten zu richten schien. Hatte er eben nicht noch Auri und mich angesehen? Ich konnte die dumpfen Geräusche hören, die er beim Robben verursachte. Für einen kleinen Augenblick verlor ich ihn, aber nur einen Augenblick später hörte ich seine Stimme.
    „Ich kann dich sehen“, rief er. Ich entdeckte sein Gesicht, das an einem der sternförmigen Fenster erschien. Die Öffnung war mit hellgelbem Stoff bespannt.
    „Ist das ein Engel neben dir?“ Gabriel grinste so breit, dass ihm die kleine Brille mit den halbmondförmigen Gläsern ein ganzes Stück von der Nase rutschte. Die Kristalllampe, die irgendwo dort drinnen vor sich hinglühte, tauchte ihn in fahlbuntes Licht, das heller und wieder dunkler wurde.
    Dann verschwand er aus meinem Blickfeld.
    Eine Weile noch vernahm ich das Geräusch seines Krabbelns in Richtung Mond, fort von uns, in die abgelegenen Regionen des Gewölbes. Über dem gedämpften Jubel des Weihnachtsliedes – venite adoremus, venite adoremus! - hörte ich, wie er immer wieder gegen die Wände des Irrgartens stieß. Eine Kiste wackelte, Glöckchen klingelten.
    Eine Zeit lang war nichts mehr zu hören. Schließlich ertönte Gabriel Stimme noch einmal, weit rechts von mir, auf der anderen Seite des Kellers. „Das ist ja unglaublich“, rief er. „Das Schönste, was ich je gesehen habe. Wie hast du das…?“
    Aus den letzten vier Worten war eine gewisse Beunruhigung herauszuhören. Auri ergriff meine Hand. Sie sah mich immer noch nicht an, sondern folgte Gabriels mutmaßlichem Weg durch die Burg. Kurz darauf sagte er wieder etwas. Ich konnte es nicht verstehen, aber seine Stimme klang kurzatmig und gehetzt. Ich schien selbst die Orientierung verloren zu haben, denn es hörte sich an, als sei er nun viel weiter links, auf der gegenüberliegenden Seite, aber das war unmöglich.
    Ein Tunnel, am linken Ende des Gewölbes, wackelte leicht. Danach wusste ich nicht mehr, wo sich Gabriel befand. Die Sekunden verstrichen, ich spürte, wie meine Hand schweißnass in Auris lag, aber sie zog ihre nicht weg. Die Engel in dem Weihnachtslied stimmten wieder ihren Lobgesang an – et nos ovanti gradu festinemus! -, und plötzlich hörte ich Gabriel wieder ganz in unserer Nähe. „Ist hier noch jemand anders?“, fragte er, Beklommenheit in der Stimme.
    Dann rührte sich lange nichts mehr, bis ich wieder eine Bewegung in einer der Kisten ausmachen konnte, die sich ganz in der Nähe des Mondes befanden. Der Mond starrte direkt auf ihn hinab und mir schien es, als hätten sich seine schmalen bleichen Lippen zu einem Grinsen verzogen, das vorher nicht dagewesen war.
    Velatum sub carne videbimus!, jauchzte der himmlische Chor im Inneren der Burg.
    „Auri“, hauchte ich, „Woher kommt diese Musik? Eine Spieluhr?“
    „Ich weiß es nicht“, erwiderte sie. „Die Musik hat irgendwann heute Morgen angefangen, als ich den Vorhang aufgehängt habe. Seitdem hat sie nicht wieder aufgehört.“
    Ich wandte mich wieder zu ihr um und starrte sie an. Kälte fuhr in meine Brust. „Was meinst du damit – sie hat nicht wieder aufgehört?“
    Sie lächelte mich hilflos an. „Ich weiß nicht einmal, woher sie kommt.“
    „Gabriel!“, schrie ich.
    Keine Antwort.
    „Gabriel!“ Ich stolperte los und begann, über die Kisten zu klettern, immer auf den Mond zu.
    Aus unfassbar großer Entfernung, viel weiter, als das Gewölbe es hergab, hörte ich einen Satzfetzen: „…eine Lebkuchenspur…“
    Es klang nicht einmal mehr wie Gabriels Stimme, sondern verzerrt, wie gleichzeitig in verschiedenen Tonlagen gesprochen. Ich konnte nicht einmal mehr ausmachen, woher sie kam, ob von vorne oder hinten, und so drehte ich mich hilflos im Kreis.
    Sic nos amantem quis non redamaret? jubilierte es, und dann verstummte die Musik mit einem Mal. Ich stieß einen leisen Schrei aus und sah zu Auri hinüber. Ihre Wangen hatten sich gerötet. Sie bückte sich und hob einen glänzenden Gegenstand auf.
    Es war Gabriels Messer.
    Sie kniete sich neben den Eingang und schnitt ein Band durch, das die erste Kiste – die mit dem schwarzen Vorhang – mit dem großen Weinfass verband, durch das Gabriel ins Innere der Festung gelangt war.
    „Er ist fort“ keuchte sie, als hätte sie der Schnitt immense Anstrengung gekostet. „Alles erledigt.“ Sie schnitt ein weiteres Band durch, zog die Eingangskiste ein Stück vom Tunnel weg und schloss deren Klappen.
    „Was redest du da?“
    Sie sah mich nicht an. Eine Kiste nach der andere rückte sie ab, immer nur ein kleines Stück, schnitt und rückte, schob und zog.
    Ich kletterte über die Kisten zu ihr hinüber, umfasste sanft das Gelenk ihrer Hand, in der sie das Messer hielt und brachte sie dazu, mich anzusehen.
    „Was ist passiert?“
    „Ich habe die Burg für dich gebaut, weil ich dir helfen wollte“, sagte Auri leise. „Und das habe ich getan. Er ist weg.“
    „Innos“, hauchte ich. „Er muss doch hier drin sein. Er kann nicht einfach verschwinden.“
    Wieder lächelte sie hilflos, Tränen stiegen in ihre dunklen Augen und ließen sie silbrig glänzen.
    „Gabriel!“, rief ich. Meine Stimme klang schrill.
    Aber er war verschwunden, und ich wusste es. Er war in Auris Burg hineingekrochen und durch sie hindurch an einen anderen Ort, der nicht in diesem Keller lag.
    Ich hastete auf den Mond zu, und sah dabei immer wieder in einzelne Kisten hinein, halb fürchtend, halb hoffend, Gabriel in einer von ihnen zu finden. Gabriel, der grinste, mir ein Messer an die Kehle hielt und flüsterte: „Jetzt haben wir aber genug gespielt, mein Lieber.“
    In einer der Kisten entdeckte ich ein Plakat, auf das sorgfältig Bilder blinder Menschen aufgeklebt waren, deren leere Augen mich anstarrten; in einer anderen hingen rosa Fliegenpapierstreifen herab, schlaff wie Seetang. Es klebten keine Fliegen an ihnen, sondern kleine, schwarze Käfer, deren Hinterleiber in kurzen Abständen gelbgrün aufleuchteten und wieder verblassten. Die Innenflächen einer dritten Kiste waren in blassem Himmelblau bemalt, Schwärme kindlich gezeichneter Vögel zogen darüber hinweg. In der Ecke dieser Kiste lag etwas, das aussah wie der Kopf eines Staubwedels, ein Haufen dunkler Federn, doch als ich das Ding in die Hand nahm, stellte ich fest, dass es der trockene Kadaver eines Vogels war. Die Augen waren in den Schädel zurückgefallen, so dass die Augenhöhlen wie Brandlöcher aussahen. Voller Entsetzen ließ ich den Vogel fallen.
    Auri war an meine Seite getreten und berührte sacht meinen Arm.
    „So wirst du ihn nicht finden“, flüsterte sie. „Bitte, komm mit.“
    Ich ließ mich von ihr auf die Stufen der Treppe führen und ließ mich nieder. Besorgt sah ich zum hoch aufragenden Mond hinüber, aber der hatte sein Auge geschlossen. Die verkniffenen Lippen hatten sich ein wenig entspannt. Ein wenig rechnete ich immer noch damit, dass Gabriel irgendwo laut lachend aus einer Kiste springen würde – Mein lieber Lucas, da habe ich dich aber ordentlich reingelegt, und deine hübsche Freundin war mir bei diesem köstlichen Scherz behilflich! -, aber gleichzeitig wusste ich, dass das nicht geschehen würde. Niemals wieder. Auri war vor mir auf die Knie gegangen und musterte mich mit festem Blick.
    „Ich könnte sie wieder zusammenbauen“, sagte sie nachdenklich. „Vielleicht beginnt die Musik wieder, und du könntest hinein und nach ihm suchen.“ Sie atmete schwer. „Aber dann kämst du nicht wieder hinaus. Die Türen der Weihnachtsburg gehen nur in eine Richtung auf. Verstehst du das, Lucas? Die Burg ist innen viel größer, als sie von außen aussieht.“
    Sie sah mich mit ihren großen Augen an. Wieder schwammen Tränen darin. „Ich möchte nicht, dass du da reingehst. Aber wenn du es wirklich willst, dann baue ich sie wieder zusammen.“
    Fassungslos starrte ich Auri an. Sie hielt meinem Blick stand und wartete, den Kopf neugierig zur Seite geneigt, wie eine Meise auf einem Ast, die dem Geräusch fallender Regentropfen lauscht.
    Ich schüttelte den Kopf. Sie setzte sich neben mich, zog mich an sich und flüsterte mir ins Ohr „Alles wird gut.“ Ich lehnte mich an sie, und sie hielt meine Hand, bis ich einschlief.
    Als ich am kommenden Morgen erwachte, war der Keller leer. Nicht, dass Auri die Burg auseinandergenommen und die Kisten wieder in die Ecken geschoben hätte, nein. Das Gewölbe war völlig leer, keine einzige Kiste war mehr da, dessen war ich mir sicher, obwohl es sehr viel dunkler war als am Abend zuvor. Allein etwas graues Licht tröpfelte aus der Lagerhalle die Treppe hinab.
    „Auri?“ Meine Stimme hallte verzerrt von den Wänden wider.
    Keine Antwort.
    „Gabriel?“, fragte ich vorsichtig, aber auch darauf nur Schweigen.
    Ich erhob mich langsam. Ich fror, meine Glieder waren steif und schmerzten, und ich hatte das Gefühl, gerade aus einem völlig verrückten Traum erwacht zu sein.
    Elvrich Pack lag an diesem Heiligen Morgen verlassen da, und ich begegnete keiner Menschenseele, als ich durch den Hof und das Fabrikgebäude ging. Dabei wünschte ich mir nichts sehnlicher, als einen echten Menschen zu sehen, um mich zu vergewissern, dass wenigstens ich noch da war und kein körperloses Gespenst, das durch leere Hallen spukte.
    Doch das einzige, was ich fand, war ein silbernes Glöckchen, das vierte, das ich zu seinen drei Schwestern in die Brusttasche steckte. Als ich mich abends erschöpft von der vergangenen Nacht an meinen Tisch setzte, alle vier Kerzen des Adventskranzes entzündete und in die kleinen warmen Flammen sah, war es mir, als hörte ich die Glöckchen leise klingeln, und alle Angst und Einsamkeit verschwanden aus meinem Herzen.
    Die Tage und Wochen danach vergingen wie ein Traum. Wie ein sehr guter Traum. Gerüchteweise hörte ich, dass sich Gabriel mit dem Firmenvermögen aufs Festland abgesetzt haben sollte. Die Jungs von Piranha Financial waren wirklich sauer auf ihn. Mich behelligte keiner von ihnen. Einmal begegnete ich Bullco auf dem Markt, aber entweder hatte er bereits vergessen, wer ich war, oder er ignorierte mich, wie man eine geschlossene Akte eben ignoriert.
    Fletcher war in Verdacht geraten, die Kisten aus dem Lager gestohlen, zerhackt und als Brennholz verscherbelt zu haben, so dass Juarez im Januar mit dem verlockenden Angebot auf mich zukam, ab sofort ausschließlich Fletchers Job zu übernehmen, was meine Einnahmen mehr als verdoppelte und mir Respekt bei den Jungs in der Firma einbrachte. Aus Respekt wurden Bekanntschaften und Freundschaften, meine Bleibe in der alten Arena tauschte ich gegen eine kleine, aber gut gelegene Wohnung mitten in Khorinis.
    Das Einzige, was mir fehlte, war Auri.
    Auf meinen nächtlichen Rundgängen sah ich regelmäßig in der alten Lagerhalle vorbei, manchmal auch im Keller, aber dort war alles leer und still. Nur manchmal, in der tiefsten Nacht, glaubte ich ganz leise das Läuten von Glöckchen zu hören.
    Nun ist wieder Dezember, ich habe mir einen frischen Adventskranz gekauft und meine vier Glöckchen an einem roten Band über meinem Bett aufgehängt, und es kam mir für einen Moment so vor, als hätte ich vorm Fenster einen silbrigen Schimmer gesehen.
    Morgen werde ich die erste Kerze anzünden.

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