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    [Story]Wettbewerbsbeitrag von El Toro

    Wettbewerbsbeitrag von El Toro

    Auf geht's zum mysteriös-verworrenen Mummenschanz!

    Vorgabe 1:
    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    Person A: Alessa
    Maskierter A: Geheimnisvolle krötenähnliche Gestalt in der Höhle
    Spruch A: Fünf Brüder sind’s zur gleichen Zeit geboren,
    Doch zweien nur erwuchs ein voller Bart,
    Zwei andern blieb die Wange unbehaart,
    Dem dritten ist der Bart zur Hälft’ geschoren.


    Vorgabe 2:
    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    Person A: Alessa
    Person B: Alessas Großmutter
    Ort A: Das Anwesen der Großmutter
    Person C: Der Richter, Cavs Vater


    Vorgabe 3:
    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    Person A: Alessa
    Ort B: Der Leuchtturm
    Gegenstand A: Die mysteriöse Trophäe der Einzelherausforderung (noch unbekannt)
    Maskierter B: Das unheimliche Kapuzending in der schwarzen Kutte
    Spruch B: Vom Fresser kommt Speise, vom Starken kommt Süßes.
    Geändert von El Toro (26.09.2022 um 20:54 Uhr)

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    Das Wasser war so kalt, dass Alessa für einen Moment der Atem stockte, als sie sich zwischen den anderen jungen Leuten hindurchgedrängt hatte, die den Strand bevölkerten und im seichten Wasser standen, Handtücher und selbstgebastelte Schilder schwenkten, um die Spieler anzufeuern. Beinahe alle jungen Leute aus Khorinis hatten sich an diesem Abend hier versammelt, um die Springer zu sehen. Sie hatten Flaschen mit Bier in der Hand, Sumpfkrautstengel zwischen den Lippen, vom Ufer war Musik zu hören. Vor der Küste, nur wenige Dutzend Meter entfernt, ragte ein Felsen dunkel aus dem Wasser auf, glitschig von schwarzem und grünem Moos, der Alessa wie ein in sich zusammengesunkener Steingolem vorkam. Er schlief, seit Hunderten von Jahren, aber vielleicht war er heimtückisch genug, sich genau dann wieder aufzurichten, wenn Alessa ihm nahe genug kam. Die myrtanische See leuchtete in glühenden Orange der untergehenden Sonne, doch unter dem Feuer lauerte eisige Kälte, die Alessa mit unzähligen Nadeln stach. Ihr dünnes Kleid fühlte sich an wie mit Steinen beschwert. Sie holte tief Luft und tauchte unter. Stimmen, Rufe und Gelächter klangen augenblicklich gedämpft, den fernen Rhythmus der Musik konnte Alessa auch unter Wasser noch spüren. Immerhin hatten die Jahre, in denen sie dem kleinen Fluss getrotzt hatte, der sich an der Bruchbude vorbeischlängelte, die sie als ihr Zuhause bezeichnete, aus Alessa eine gute Schwimmerin gemacht. Die Sonne versank gänzlich im Wasser, das noch einmal aufglühte und sich dann dunkel färbte wie der Himmel über ihnen.
    Im Wasser wimmelte es nur so von Körpern, die zappelten, paddelten und um sich schlugen. Alessa ließ sich unter Wasser davontreiben, tauchte auf, um Luft zu holen und sah, dass sie das Wasser zwischen der Küste und dem Golemfelsen bereits überwunden hatte. Zerfurcht von Ritzen und Spalten erhob er sich aus dem Wasser, Seepocken und Muscheln wuchsen an seinem Fuß. Alessa legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben, auf die Spitze des Felsens, wo sich eine kleine Gruppe Menschen drängte. Sie wusste nicht genau, wie viele bereits gesprungen waren, aber es mussten um die zwanzig gewesen sein. Alessa zitterte, und es war nicht nur das eisige Wasser, das sie beben ließ. Vom Strand aus wirkte der Felsen gedrungen, aber wenn man direkt von unten hochsah, zeigte sich unangenehm seine wahre Höhe. Wie mochte es sich erst anfühlen, wenn man oben auf der Spitze stand und ins schwarze Wasser hinabsah, das tief, tief unter einem gegen den Stein schlug?
    Es war mittlerweile zu dunkel, um zu sehen, wer und wie viele Jungen und Mädchen dort oben standen. Das Licht der Lagerfeuer am Strand reichte nicht so weit hinauf. Alessa sah um sich herum im pechschwarzen Wasser einige Gesichter von Leuten, die bereits gesprungen waren und nun johlend und triumphierend im Wasser schaukelten, das Blut in ihren Adern so aufgepeitscht, dass sie die Kälte nicht spürten. Alessa verkeilte ihre Finger in einer Felsspalte und zog sich hoch. Sie hatte oft genug dabei zugesehen, wie die Spieler wie nasse, glänzende Feldräuber über die Felsen krabbelten, nicht nur heute Abend, sondern seit vielen Jahren. Der Sprung vom Golemfelsen war traditionell die erste Disziplin, in der die Champions miteinander wetteiferten.
    Alessa stieß sich an einem scharfen Felsvorsprung und spürte, wie aus weiter Ferne, einen dünnen Schmerz am linken Knie. Als sie an sich hinabblickte, sah sie ein Rinnsal Blut über ihr Bein laufen, aber sie kümmerte sich nicht darum. Das Geschrei der Zuschauer am Ufer klang sehr weit weg. Alessa fror auch nicht mehr, obwohl der Wind um sie herumpfiff und an ihrem durchnässten Kleid zerrte. Sie fand einen weiteren Halt, stemmte sich auf das glitschige Moos, hob und schob sich immer weiter voran, bis sie das Murmeln der Hand voll Leute hören konnte, die oben auf dem Felsen standen. Dann hörte sie undeutlich verzerrt auch Wortfetzen von Bloodwyn, der vom Ufer aus rief: „Oho, spät im Spiel… ein Nachzügler…“
    Alessa ignorierte den Schmerz in ihrem Knie und in ihren aufgeschabten Händen und kletterte weiter, als plötzlich ein dunkler Umriss an ihr vorbei hinab in die Tiefe schoss. Vor Schreck wäre sie beinahe abgerutscht. Sie riskierte einen Blick nach unten, wo der Körper, der sie eben fast mit sich gerissen hätte, klatschend auf dem schwarzen Wasser aufkam. Die Wellen schlugen gegen den Fuß des Felsen, und Alessa kam der Abgrund plötzlich sehr tief vor. Sehr, sehr tief. Dann tauchte ein Kopf aus dem Wasser auf, ein Arm, eine Faust, die sich triumphierend zum nachtblauen Himmel reckte.
    „Unser zweiundzwanzigster Champion… gesprungen … Bennet…“, wehten die Worte Bloodwyns hinüber.
    Bloodwyn war einer von den ganz unangenehmen Kerlen. Sein Vater betrieb gleich mehrere Etablissements im Hafenviertel, sein Onkel war einer der einflussreichsten Geldverleiher der Stadt, und Bloodwyn führte sich mit einen gerade mal siebzehn Jahren auf wie einer der von Westfelds, denen alles Land um Khorinis herum gehörte. In der Schule war er großmäulig und unverschämt gewesen, und bei den Jungs lief nichts ohne Bloodwyns Zustimmung. Seit er dieses Frühjahr bei seinem Onkel eine nicht ganz offizielle Ausbildung zum berufsmäßigen Kriminellen begonnen hatte, fühlte er sich umso mehr im Recht, überall den Ton anzugeben. In diesem Jahr hatte er sich selbst zum Kommentator der Spiele von Khorinis ernannt, und niemand hatte Einspruch erhoben. Alessa vermutete, dass Bloodwyns Drang zur Wichtigtuerei nur einer der Gründe dafür. In Wirklichkeit, glaubte sie, wollte er sich vor allem davor drücken, selbst teilzunehmen. Einerseits hatten er und seine Familie das Preisgeld gar nicht nötig, sie verdienten schließlich genug mit dem Schröpfen und Erpressen ihrer Mitbürger. Andererseits hatte Bloodwyn gar nicht das Format, sich mit anderen zu messen, wenn es in einer anderen Disziplin als Angeberei sein sollte. Alessa hielt ihn für ängstlich und feige, aber da sie sich selbst ebenfalls dafür hielt, sagte sie das lieber nicht allzu laut. Mit der Rolle als Kommentator konnte er sich aufspielen wie Graf von Westfeld, ohne irgendeine Gefahr einzugehen oder, noch wichtiger, eine Bloßstellung als der Angsthase und Versager zu riskieren, für den Alessa ihn hielt.
    Dass Alessa trotz ihrer Ängstlichkeit in diesem Jahr an den Spielen teilnahm, lag nicht daran, dass sie Ruhm und Ehre suchte oder sich selbst einen Sieg wirklich zugetraut hätte. Es ging ihr einfach um das Preisgeld, das für sie die einzig greifbare Chance war, aus der Bruchbude, in der sie mit ihrer Mutter lebte, herauszukommen. Wenn sie Geld hätte, würde sie aufs Festland fahren und…
    „Champion, nenn deinen Namen!“, brüllte Bloodwyn vom Ufer herüber. Immerhin, auch wenn er nicht viel auf dem Kasten hatte, brüllen konnte er.
    Jetzt könnte sie noch herunterklettern, dachte Alessa. Still und leise wieder herunterklettern, unter Wasser in das schutzbietende Gewimmel am Strand zurückkehren und sich an irgendeinem Lagerfeuer ein gegrilltes Stück Fisch einverleiben, um sich aufzuwärmen. Sie war sich fast sicher, dass kaum einer sie erkannt hatte, wie sie da an dem Felsen hing. Ihr Gesicht war die ganze Zeit der steinernen Wand vor ihr zugewandt, und sie war ohnehin nicht gerade besonders bekannt unter den Leuten in ihrem Alter. Die wenigen, mit denen sie befreundet war, waren sicherlich taktvoll genug, kein Wort darüber zu verlieren, dass sie im letzten Moment gekniffen hatte.
    Aber dann schob sich Alessa doch das letzte Stück hinauf. In dem Moment, als sie die obere Kante erreichte, Hände griffen nach ihr und zogen sie über die Kante auf die Sitze des Felsens.
    „Danke“, murmelte sie und sah kurz in die Gesichter um sie herum. Es waren noch drei Springer hier, Fernando – Bloodwyns bester Kumpel und einer der hiesigen Kotzbrocken, der seit Monaten damit prahlte, den Wettbewerb zu gewinnen -, Barbera, die aus einer altehrwürdigen, aber völlig verarmten Khoriner Dynastie stammte, mit einem guten Dutzend Geschwistern aufwuchs und das Preisgeld sicherlich ebenfalls gut gebrauchen konnte, sowie ein Junge, der erst vor kurzem mit seiner Familie nach Khorinis übergesiedelt war. Alessa erinnerte sich nicht an seinen Namen.
    „Champion, dein Name!“, zeterte Bloodwyn.
    „Alessa“, schrie sie gegen den Wind an. Ihre Stimme klang jämmerlich dünn.
    „Platz da“, fuhr Fernando sie an und schob sie unsanft zur Seite. „Ich bin dran.“ Er sah trotz seiner Sonnenbräune bleich aus, aber vielleicht lag es auch nur am Mondlicht. Er nahm ein paar Schritte Anlauf, dann flog er an Alessa vorbei über die Kante, mit verdrehtem Körper, als wolle er ein besonderes Kunststück zum Besten geben.
    Alessa drehte sich nicht um, aber sie hörte das ferne Jubelgeschrei des Publikums und das Klatschen eines Körpers auf dem Wasser.
    „Champion Nummer dreiundzwanzig, Fernando!“, grölte Bloodwyn so triumphierend, als sei er selbst gerade vom Golemfelsen gesprungen.
    Barbera starrte Alessa erbittert an. „Warum machst du das?“ Die Frage war kaum mehr als ein Flüstern.
    Alessa sah, wie Barbera die Fäuste ballte und wieder öffnete, dreimal. Auf, zu, auf, zu, auf, zu.
    „Aus demselben Grund wie du, schätze ich“, gab Alessa zurück. Sie mochte Barbera gern, auch wenn sie keine engen Freundinnen waren, und war ein wenig bestürzt über ihre plötzliche Feindseligkeit.
    „Du weißt, dass das meine einzige Chance ist, aus diesem dreckigen Loch herauszukommen“, zischte Barbera. Ihre dunklen Augen sprühten vor Wut.
    „Meine auch“, sagte Alessa.
    „Könnt ihr beiden Zicken vielleicht mal einen Moment still sein, damit ich mich auf meinen Sprung konzentrieren kann?“, mischte sich der Junge ein, dessen Namen Alessa nicht kannte.
    „Ich bin zuerst dran“, erwiderte Barbera in ihrer unnachahmlich adeligen Art. „Du bist neu hier und hast dich bitteschön hinten einzureihen.“
    Alessa musste trotz ihrer Angst ein wenig grinsen. Der Junge zuckte die Schultern. „Na schön, mir egal, aber dann mach hin, ich will hier nicht festwachsen.“
    Alessa hörte trotz des Wellenrauschens, wie Barbera trocken schluckte. Dann klemmte sie sich zwei wilde schwarze Haarsträhnen hinter die Ohren, straffte ihre Schultern, nahm Anlauf und rannte auf die Klippe zu. Mit rudernden Armen verschwand sie aus Alessas Blickfeld, und einige Sekunde später war ein dumpfes Klatschen zu hören.
    Jubel vom Ufer, Bloodwyn zählte Champion Nummer vierundzwanzig.
    Alessas Herz schlug so fest gegen ihre Rippen, dass sie glaubte, man müsste es am Ufer hören können. Der Wind umtoste sie, zerrte an ihrem Kleid und trieb schwarze Wolkenfetzen über das bleiche Gesicht des Mondes. Das Wasser tief unter ihr brandete gegen den Felsen. Alessa und der neue Junge wechselten einen Blick.
    „Ich springe zuerst“, sagte sie. „Bevor ich noch kneife.“
    Sie drehte sich zur Kante um. Der Junge streckte die Hand aus, als ob er sie zurückhalten wollte, aber er tat es nicht.
    Als Alessa sich der Kante näherte, hatte sie plötzlich das Gefühl, der uralte Golem unter ihren Füßen würde zu neuem Leben erwachen. Sie sah sich selbst das Gleichgewicht verlieren, abrutschen, den scharfkantigen Abhang hinunterstürzen und sich im flachen Wasser am Fuß des Felsens den Schädel zertrümmern. Sie verlangsamte ihre Schritte, trotzdem erreichte sie die Kante viel zu schnell. Jetzt konnte sie das Wasser sehen, schwarz wie Öl, aufgewühlt von all den strampelnden Körpern.
    Mit einem Mal musste sie an Netbek denken, einen Jungen, der vor drei oder vier Jahren, um sich Mut zu machen, vor dem Sprung einen halben Liter Reisschnaps getrunken hatte und beim Anlaufnehmen gestolpert war. All der Jubel, all das Geschrei waren mit einem Mal verstummt, als er versuchte, auf der Kante sein Gleichgewicht wiederzufinden. Einen endlosen Augenblick lang stand Netbek da, mit den Armen rudernd, in einem unmöglichen Winkel gegen die Schwerkraft kämpfend, dann hing er einen weiteren Moment in der Luft, als würde er schweben, bevor er hinabstürzte. Es war so still am Strand, dass alle das Geräusch hören konnten, mit dem sein Kopf gegen den Felsen prallte. Es klang ganz zart, wie ein zerbrechendes Ei. Alle, auch Alessa, waren losgestürmt, aber nicht zu Netbek hin, sondern in die entgegengesetzte Richtung, weg von dem Anblick und dem Geräusch, nur weg!
    Es hatte unfassbaren Aufruhr in der Stadt gegeben, das war schlimm, aber noch schlimmer war, dass Netbek gar nicht tot gewesen war. Sie hatten ihn, lebend und atmend, einfach liegengelassen, über Stunden im kalten Wasser. Er war trotzdem nicht gestorben. Dass er noch lebte, wäre jedoch zu viel gesagt. Soweit Alessa wusste – aber zu genau wollte sie es auch gar nicht wissen -, hatte Netbek wie ein Säugling alles neu erlernen müssen, das Essen, Laufen und Sprechen, und seine Zeit meistens in einem abgedunkelten Raum verbrachte, wo er mit unsichtbaren Freunden sprach.
    Natürlich war ein strenges Verbot erlassen worden, die Spiele von Khorinis weiterzuführen. Aber da die Spiele niemals mit offizieller Genehmigung veranstaltet worden waren, scherte sich niemand darum. Es war auch nicht das erste Verbot gewesen, denn die Spiele gab es schon, solange Alessa zurückdenken konnte, und Netbek war nicht der Erste gewesen, der dabei verunglückt war. Wer genau die Spiele veranstaltete, war eines der Geheimnisse, die dem ganzen Unternehmen einen besonderen Reiz verliehen. Irgendjemand in der Stadt, wer immer es sein mochte, ließ Jahr für Jahr alle Siebzehnjährigen gegeneinander antreten, die arm, verzweifelt oder einfach verrückt genug waren, für das Preisgeld ihr Leben und ihre Gesundheit zu riskieren. Noch verrückter war höchstens der Kerl – oder die Kerle, wer wusste das schon? – der oder die eine so unanständig hohe Summe Jahr für Jahr aussetzten. Der geheimnisvolle Veranstalter – man nannte ihn einfach den Kaiser - hatte festgelegt, dass die Spiele jeden Sommer am Abend des ersten Tages der Ferien zu beginnen hatten. Es gab keine offizielle Anmeldung, nichts Schriftliches. Wer ein Champion sein wollte, der sprang an diesem Abend vom Golemfelsen. Die weiteren Aufgaben vergab der Kaiser mit mehr oder weniger raffiniert versteckten Hinweisen. Wer am Schluss bei keiner Aufgabe gekniffen hatte, erhielt das Preisgeld und damit den Freifahrtschein in ein besseres Leben auf dem Festland.
    „Dein Name!“, brüllte Bloodwyn wieder und riss Alessa aus ihren Gedanken, aber sie hätte ohnehin keinen Ton herausbringen können, selbst, wenn sie gewollt hätte. Ihre Lunge fühlte sich an, als würde sie zwischen Steinen liegen. Wenn sie genug Atem gehabt hätte, hätte sie zu den Schwimmern hinuntergerufen: „Aus dem Weg, sonst springe ich auf euch!“
    „Spring! Spring! Spring!“, skandierten die anderen vom Ufer her.
    Alessa schloss die Augen. Sie hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Als Kind war sie einmal von einer Brücke, die zu den alten Pyramiden führte in den Fluss gesprungen, Innos allein wusste, wie viele Meter tief. Ein berauschender Flug durch heiße Sommerluft, hin zum Glitzern des wartenden Wassers, das sie plötzlich von allen Seiten umgab. Dann das Auftauchen, durch kalte und warme Schichten, bis zur Oberfläche, das begeisterte Johlen der anderen Kinder, ihr eigenes Lachen. An all das hatte sie sich nach dem Sprung erinnert. Jetzt erinnerte sie sich an den letzten Gedanken vor dem Sprung, als ihr eine sehr vernünftige Stimme in ihrem Kopf im Angesicht der tief unter ihm dahinfließenden Wassers zugeflüstert hatte: Du willst doch nicht etwa ernsthaft da hinunterspringen? Du musst völlig verrückt geworden sein. Es wird weh tun. Wer weiß, was dort unten lauert? Tu so, als hättest du einen Krampf im Bein und kehr um! Es ist ganz einfach.
    Aber dann war sie doch gesprungen.
    „Spring“, sagte der Junge hinter ihr leise, fast freundlich.
    Alessa holte tief Luft und sprang.
    Für einen Moment flog sie, der Wind schien sie zu tragen, weit über das Meer, fort von Khorinis. Es rauschte in ihren Ohren und sie spürte, wie sich ihr Mund zu einem Lachen verzerrte. Dann kam sie auf dem Wasser auf, und es tat weh, aber sofort wurde sie von so eisiger Kälte umschlossen, dass sie den Schmerz vergaß. Das Wasser presste ihr das letzte Restchen Luft aus den Lungen, um sie herum war alles dunkel, sie hatte keine Ahnung, wo oben und wo unten war, in welche Richtung sie schwimmen musste, um an die Oberfläche u gelangen. Sie schluckte Wasser, als sie zu schreien versuchte, sie hustete, aber das ging unter Wasser nicht. Sie sah pulsierende helle Lichter, die sich spiralförmig drehten, nach oben und unten schwammen. Eine Hand packte sie am Oberarm und zerrte sie in eine Richtung, von der hätte schwören können, dass es unten war, aber sie war zu verwirrt, um sich zu wehren. Die Hand zerrte und zerrte, und plötzlich stieß ihr Kopf durch die Wasseroberfläche, und hätte ihr Körper nicht völlig selbstständig auf dieses Ereignis reagiert, wäre sie gar nicht auf die Idee gekommen zu atmen. Sie hustete, keuchte, sog krampfhaft Luft ein, die aber nicht anzukommen schien, hustete noch mehr, und mit einem Mal füllte süße Luft ihre Lungen.
    „Champion Nummer sechsundzwanzig, die hübsche Alessa!“, röhrte Bloodwyn. „Gesprungen und wider Erwarten wieder aufgetaucht!“
    Alessa hörte vereinzeltes Lachen vom Strand. Sie riss den Arm in die Höhe und ballte die Faust, und das Lachen ging in freundlichen Applaus über.
    Nun erst fiel Alessa wieder ein, dass jemand sie nach oben gezogen hatte. Sie drehte sich um sich selbst. Wasser plätscherte um sie herum, aber sie konnte niemanden entdecken. In einiger Entfernung sah sie Barbera, Fernando und noch ein paar andere im Wasser. Ob es jemand von ihnen gewesen war? Fernando bestimmt nicht, Barbera kam schon eher in Frage. Aber warum war sie gleich wieder fortgeschwommen?
    „Barbera?“, rief Alessa leise, aber ihre Stimme drang nicht bis zu der Angesprochenen durch. Sie sah sich nicht einmal um.
    War hier sonst noch jemand? Vielleicht unter Wasser? Alessa tauchte unter und schwamm in einem engen Kreis, aber es war zu dunkel.
    Dann schoss direkt vor ihren Augen ein Körper ins Wasser, zischte hinab in die Tiefe, ruderte wild mit den Armen, so dass Luftbläschen um ihn herum aufstoben wie aufgescheuchte Vögel. Es war der letzte Champion, der Junge, dessen Namen sie nicht kannte. Alessa überlegte, ob sie hinter ihm her tauchen sollte, um ihm den Weg nach oben zu zeigen, aber da sah sie ihn sich auch schon mit kraftvollen Schwimmzügen nach oben arbeiten. Beinahe gleichzeitig tauchten sie ihre Köpfe aus dem Wasser. Jubel brandete vom Ufer herüber.
    „Champion Nummer siebenundzwanzig“, johlte Bloodwyn, und der Junge riss den Arm triumphierend hoch, doch bevor sie hören konnte, wie Bloodwyn den Namen des letzten Springers nannte, umschloss etwas ihr Fußgelenk und zog sie unter Wasser. Sie hatte nicht einmal Zeit zu schreien. Die Wellen schlugen über ihrem Kopf zusammen. Sie wurde einige Meter weit durch das schwarze Wasser gezogen. Nun würde sie doch ertrinken. Ihr vermeintlicher Retter hatte sich wohl nur einen Spaß erlaubt, indem er sie noch einen Moment lang atmen und hoffen ließ, und jetzt würde er sie ersäufen wie es die Leute im Hafenviertel mit den jungen Katzen taten.
    Die Hand, die ihren Knöchel umschlossen hatte, löste sich. Hände griffen nach ihren Schultern und zogen sie nach oben. Ihr Rücken stieß gegen Felsen, und ein weiteres Mal innerhalb weniger Minuten tauchte sie unvermittelt aus dem Wasser auf. Die Hände ließen sie los. Es war stockdunkel. Sie hörte das Plätschern kleiner Wellen, die gegen Steine schlugen. Sie konnte atmen, doch die Luft schmeckte seltsam abgestanden, nach Kupfer und Mineralien.
    Da waren Schritte, rechts von ihr. Alessa tastete um sich, bekam Felsen zu fassen und zog sich daran hoch. Plötzlich flammte ein Licht auf. Alessa kniff die Augen zusammen. Sie war in einer Höhle, die keinen sichtbaren Ausgang zu haben schien außer dem Wasser, durch das sie eben gezerrt worden war. Sie kroch über den glitschigen, felsigen Höhlenboden, auf die Quelle des Lichts zu. Es war eine Fackel, die auf dem steinigen Boden lag und flackerndes Licht gegen die Wände warf.
    Da sah sie, nur wenige Armlängen entfernt, eine Gestalt auf einem Felsen hocken wie eine riesige schwarze Kröte. Sie war groß, aber merkwürdig gedrungen, aber vielleicht lag das an ihrer kauernden Haltung. Sie trug einen glatten schwarzglänzenden Anzug, der sich schimmernd wie Lurkerhaut eng um den Körper der Gestalt schmiegte. Auch das Gesicht war unter dem Stoff verborgen. Zwei winzige Schlitze auf Höhe der Nase und ein netzartiges Gitter dort, wo die Augen sein mussten, war zu erkennen. Die Gestalt hatte den Kopf zur Seite geneigt und beobachtete Alessa, wie sie über den Boden kroch.
    Wer immer es war, er hatte Alessa sicher nicht hierhergebracht, um sie nur zu beobachten. Aber auf dem Bauch über glitschige Algen kriechend wollte Alessa nicht sterben, nein danke. Also rappelte sie sich auf die Knie auf und versuchte, der Gestalt ins Gesicht zu blicken. Sie konnte nichts erkennen, und das machte sie mit einem Mal wütend. Sie hatte doch zumindest ein Recht darauf, ihren Mörder zu sehen! Sie bekam mit der rechten Hand einen scharfkantigen Stein zu fassen und hob ihn drohend. Ein Teil von ihr hatte Angst, aber der wütende Teil hatte jetzt die Zügel in der Hand. Sie war von diesem verdammten Golemfelsen gesprungen, sie war ein Champion der diesjährigen Spiele von Khorinis, und sie würde sich ganz bestimmt nicht kampflos ergeben.
    „Warum hast du mich nicht einfach ertrinken lassen?“, fuhr sie die Krötengestalt an. „Du hättest dir und mir eine Menge Unannehmlichkeiten erspart, wenn du einfach zugesehen hättest, wie ich absaufe. Denn ich werde mich ganz sicher nicht in einer stinkenden Unterwasserhöhle von dir umbringen lassen, ohne dir ein paar blutige Andenken an mich zu verpassen. Also überleg es dir lieber nochmal!“
    Die Gestalt legte den Kopf auf die andere Seite und schien sie interessiert zu mustern. Alessa rechnete damit, dass das Krötending jeden Moment zum Sprung ansetzte, aber es machte keinerlei Anstalten. Dann beugte es sich ein wenig von dem Felsen herunter und flüsterte etwas.
    „Was?“, fragte Alessa verwirrt. Eine Antwort war das letzte, was sie erwartet hatte.
    „Fünf Brüder sind’s zur gleichen Zeit geboren, doch zweien nur erwuchs ein voller Bart.
    Zwei andern blieb die Wange unbehaart, dem dritten ist der Bart zur Hälft’ geschoren.“
    Dann kicherte das Krötending wässrig, als ob es den Mund voller Algen hätte, sprang mit einem Satz an Alessa vorbei, glitt ins Wasser und verschwand. Sie starrte in die kleinen Wellen, die im Inneren der Höhle gegen den Felsen schwappten, aber die Gestalt war so endgültig verschwunden, dass sich Alessa fragte, ob sie überhaupt je dagewesen war. Als eine Weile lang nichts mehr geschah und der Schein der Fackel schwächer zu werden begann, krabbelte sie vorsichtig auf das Wasser zu, ließ sich hineingleiten und tauchte unter. Sie konnte nichts erkennen, keine Gestalt, die dort auf sie lauerte. Dann holte sie noch einmal tief Luft an der Oberfläche und tauchte ein weiteres Mal. Sie konnte den Durchlass sehen, der nach draußen führen musste, schwamm hindurch und dann nach oben, bis sie wieder an der Luft kam. Über ihr spannte sich der schwarze Nachthimmel. Sie sah sich um. Direkt hinter ihr ragte der Golemfelsen auf. Offenbar war sie in einer Höhle in seinem Fuß gewesen. Erst jetzt wurde ihr die Kälte des Wassers wieder bewusst und sie begann zu zittern. Sie musste dringend ans Ufer, um sich an einem der Lagerfeuer aufzuwärmen. Es war nicht weit bis zu Strand, aber es waren die anstrengendsten Minuten ihres Lebens. Mit letzter Kraft kroch sie, etwas abseits vom allgemeinen Treiben, auf den Sand. Eine Gestalt löste sich aus der Menge der Feiernden und kam auf sie zu.
    Barbera.
    Recht unsanft riss sie Alessa am Arm hoch und fauchte sie an: „Verdammt nochmal, wo warst du denn? Ich habe mir ernsthafte Sorgen gemacht, du wärst ertrunken.“ Sie sah Alessa von oben bis unten an. „Innos, wie siehst du denn aus? Du hast ja ganz blaue Lippen! Los jetzt, ab ans Lagerfeuer mit dir!“ Ihr Burgherrinnen-Ton duldete keinen Widerspruch, und Alessa hätte auch keinen von sich gegeben. Sie ließen sich nebeneinander in den Sand vor einem Lagerfeuer sinken. Barbera schien nun doch ein wenig Mitleid mit Alessa zu haben, denn sie legte ihr den Arm um die feuchten Schultern.
    „Maleth und Hilda sind schon losgegangen, um dich zu suchen“, fuhr Barbera fort. „Wo zum Beliar hast du denn gesteckt?“
    Bevor Alessa ihre wirbelnden Gedanken in Ordnung bringen konnte, trat Bloodwyn in den Feuerschein.
    „Und hätte dich schon fast wieder von der Liste gestrichen“, sagte er in herablassendem Tonfall. „Abgang durch Tod, wie mein Onkel es nennen würde.“
    „Ha-ha, Bloodwyn, halt einfach die Klappe“, schnappte Barbera. „Die Größe eines männlichen Mundwerks ist ja bekanntlich umgekehrt proportional zur Größe eines männlichen…“
    Barbera verstummte, als Alessa plötzlich die Finger in ihre Hand krallte.

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    „Autsch!“ Barbera entwand ihre Hand Alessas Griff. „Was soll das denn?“
    Die Wirklichkeit brach über Alessa herein. Dass sie vor weniger als einer halben Stunde von einem maskierten Krötending in eine Unterwasserhöhle gezerrt worden war, erschien ihr so surreal, dass sie mit einem Mal überzeugt war, der Schock über den Sprung müsse eine Art Halluzination ausgelöst haben. Das konnte einfach nicht passiert sein. Sie war hart auf dem Wasser aufgekommen und hatte dabei kurz das Bewusstsein verloren. Ihr Gehirn versuchte nun verzweifelt, die Lücke zu füllen, die in der Erinnerung entstanden war. Leider mit völlig versponnenem Zeug. Das würde auch erklären, warum sie erst jetzt wieder an Giana dachte.
    Sie sprang auf. „Wie spät ist es?“
    Bloodwyn musterte Alessa von oben bis unten. In ihrem dünnen, immer noch feuchten Kleid fühlte sie sich sehr nackt. Sie musste sich beherrschen, nicht die Arme schützend vor die Brust zu halten.
    „Wahrscheinlich schon ein bisschen zu spät für ein Mäuschen wie dich“, grinste Bloodwyn. „Soll ich dich nach Hause bringen?“
    „Lass sie doch einfach in Ruhe, du Blödmann“, zischte Barbera. Sie stand ebenfalls auf, nahm das Tuch ab, das sie um die Schultern trug und legte es Alessa um. Es war aus korallenrot gefärbter Wolle gewebt und mit dem Wappen ihrer Familie versehen. Alessa kannte es: Eine Harpyie, die mit verdrehten Gliedern mehr tot als lebendig im leeren Raum zu trudeln schien, umgeben von einem Kranz erblühender Rosen. Alessa fuhr mit dem Finger über die Stickerei. Was wohl die Geschichte hinter diesem Wappen sein mochte? Sie beschloss, Barbera danach zu fragen, aber nicht jetzt, denn sie hatte es eilig.
    Natürlich hatte sie ihrer Mutter nicht erzählt, dass sie vorhatte, an den Spielen von Khorinis teilzunehmen, denn sie hätte es ihr mit Sicherheit verboten. Nicht, dass sich ihre Mutter Sorgen um Alessa gemacht hätte. Aber ihre Mutter machte sich Sorgen um sich selbst. Wenn Alessa nicht mehr da wäre, wer würde dann das Haus sauberhalten? Wer würde sich um Giana kümmern, Alessas kleine Schwester? Wer würde nach Großmutter sehen? Wenn Alessa etwas zustieße oder sie, schlimmer noch, die Spiele gewönne, dann würde Alessas Mutter das alles selbst tun müssen, und das wäre schlecht, denn am liebsten saß sie mit irgendeinem Kerl in einer der Hafenkneipen, kam in den frühen Morgenstunden nach Hause, mit geröteten Augen, mit dem schleppenden Gang, an dem Alessa mittlerweile genau abzulesen gelernt hatte, mit wie vielen Bieren sie beim Wirt in der Kreide stand – denn meistens war der Kerl, der sie begleitete, selbst zu klamm, um nicht anschreiben zu lassen – und mit so großem Hunger, dass sie sich über die Pausenbrote ihrer Töchter hermachte, die Alessa am Vorabend gerichtet hatte. Zur Zeit hing sie mit einem Versager namens Gomez herum, der jung genug war, um Alessas großer Bruder sein zu können, und der trotz ständiger Verwicklungen in sämtliche Zweige der Khoriner Kleinkriminalität nie auch nur die kleinste Münze zu besitzen schien. Trotzdem verabscheute sie Gomez ein bisschen weniger als den Kerl vorher, der sie immer so angesehen hatte, als ob…
    Sie wischte den Gedanken beiseite. Sie musste sich beeilen. nachdem ihre Mutter sich mit Gomez aufgemacht hatte, hatte sie Giana zu ihrer Großmutter gebracht und versprochen, sie nicht allzu spät wieder abzuholen.
    „Danke, Barbera“, sagte sie.
    „Du kannst mir den Schal die nächsten Tage vorbeibringen“, sagte Barbera und wandte sich um, denn gerade traten Hilda und Maleth ans Feuer.
    „Ach, da bist du ja, Alessa“, rief Maleth. „Wir dachten schon, du hättest dich entschieden, eine Karriere als Fischköder…“
    „Halt doch einfach deine Klappe“, fuhr Hilda ihn an und verdreht die Augen. „Du kennst ja meinen Bruder“, sagte sie zu Alessa. „Hast du Cav schon gesehen?“
    Alessa erschrak. „Cav? Wieso Cav? Er ist doch gar nicht hier gewesen!“
    „Doch, er hat dich gesucht, als du plötzlich verschwunden warst. Er war völlig außer sich, auch wenn er versucht hat, es sich nicht anmerken zu lassen. Läuft da was zwischen euch? Und wo warst du denn eigentlich?“, sprudelte es aus Hilda heraus.
    „Cav war hier?“ Alessa fühlte sich wie ein Wasserschlauch, dessen Naht aufriss, und alle Flüssigkeit strömte heraus und versickerte im Boden. Sie hatte das dringende Bedürfnis, sich zurück in den Sand fallenzulassen.
    Cav.
    Ihm hatte sie ebenfalls nichts davon erzählt, dass sie an diesem Abend vom Golemfelsen springen wollte. Allerdings aus ganz anderen Gründen. Cav hasste die Spiele, er hatte sich immer geweigert, den Champions zuzujubeln oder auch nur über den Wettstreit zu reden, und das war schwierig, denn am Anfang des Sommers gab es unter den jungen Leuten in Khorinis kaum ein anderes Thema. Cav war seit Alessas erstem Schultag ihr bester Freund, und eine Welle von Scham schlug über ihr zusammen, weil sie ihm nichts davon erzählt hatte. Und jetzt war er irgendwo hier, machte sich Sorgen und war, was noch schlimmer war, vermutlich stinksauer auf sie.
    Cav war der Sohn des Richters von Khorinis, und sein Vater, der sich aufführte wie die manngewordene Gerechtigkeit Adanos‘, hatte die Spiele mehr als einmal öffentlich untersagt und sowohl Teilnehmern als auch dem geheimnisvollen Kaiser harte Strafen angedroht. Alessa brachte Cav also in einen ernsthaften Konflikt mit seinem Gewissen, mal ganz abgesehen von dem Vertrauensbruch, dass sie ihm nichts davon gesagt hatte.
    Barbera schien zu bemerken, was in Alessa vorging. „Ich halte Ausschau nach Cav. Wenn ich ihn sehe, sage ich ihm, dass mit dir alles in Ordnung ist und dass du ihn morgen besuchen kommst.“
    Nicht, dass der Richter Alessa in seinem ehrenwerten Haus geduldet hätte, aber Alessa nickte dankbar.
    „Du kannst mich auch mal besuchen kommen“, warf Bloodwyn ein, vermutlich vor allem deswegen, weil er bereits mehrere Sekunden lang nicht beachtet worden war.
    Über Cav würde sie morgen nachdenken, beschloss Alessa im Stillen. Natürlich wusste sie jetzt schon, dass sie ihr schlechtes Gewissen die ganze Nacht beschäftigen würde. Jetzt aber musste sie Giana abholen, sonst würde ihr Großmutter die Hölle heiß machen.

    Großmutters Haus lag im Südosten von Khorinis, eine Bruchbude wie alle anderen Gebäude ringsherum, wo alles nach Fisch und faulendem Gemüse roch, zusammengehalten von Fischernetzen und – das unterschied Großmutters Haus von den übrigen – von einem Strauch wilder roter Kletterrosen, der beinahe die ganze Hütte überwuchert hatte und sie aussehen ließ, als stünde sie in Flammen. Selbst nachts verströmten die Blüten einen so starken Duft, dass Alessa schwindelig wurde, als sie sich näherte. Nicht einmal der penetrante Geruch nach Dorschleber aus dem Fischerschuppen gegenüber kam dagegen an. Die Blütenkelche schienen sogar im Dunkeln zu glühen. Vor der Tür, die schief in den Angeln hing, blieb Alessa kurz stehen und berührte eine der Rosen. Kühl wie Seide und weich wie Samt fühlten sich die Blütenblätter in ihrer Hand an. Nicht, dass sie mehr als eine Handvoll Gelegenheiten gehabt hätte, solche Stoffe wirklich zu berühren – wenn ein Textilhändler der besseren Sorte Station in Khorinis machte, blieben ihr oft nur wenige Augenblicke, die Auslagen zu berühren, bevor sie weggescheucht wurde -, aber eines Tages würde sie ein Kleid besitzen, das auf ihrer Haut lag wie Rosenblüten, das nahm sie sich in diesem Augenblick vor.
    Sie trat ein. Giana lag auf dem schäbigen Sofa, eingehüllt in eine graue Wolldecke, und schlief. Seit einiger Zeit band sie ihr Haar immer zu einem strengen Knoten zusammen, aus dem kein Härchen herausrutschen durfte, was ihr das Aussehen der jüngsten Großmutter der Welt verlieh. Früher hatte sie wie Alessa die Haare offen über die Schultern fallen lassen. Nun hatte sich eine Strähne gelöst und hing ihr in die Stirn. Selbst im Schlaf sah Gianas Gesicht angespannt und spitz aus, als ob ihr Gehirn sie nicht einmal für ein paar Stunden in Ruhe ließ.
    Auf dem wackeligen Tisch vor dem Sofa lagen ein Buch und ein paar Nussschalen, daneben der altmodische Nussknacker ihrer Großmutter: Ein Troll aus Holz mit einem gewaltigen, aufklappbaren Kiefer, in den man Nüsse hineinschieben konnte. Die Holzfigur war mit schwarzem Kaninchenfell überzogen. Drückte man einen Hebel am Rücken des Trolls, zermalmten die Holzkiefer die Nuss dazwischen. Die meisten Nüsse schmeckten um die Jahreszeit muffig, aber das Knacken machte Giana einfach zu viel Spaß.
    Von Großmutter war nichts zu sehen. Seltsam.
    Alessa spähte ins Schlafzimmer, aber abgesehen von einem uralten monströsen Bett aus irgendeinem scheinbar prähistorischen Holz und einem windschiefen Kleiderschrank war der Raum leer. Vom Schlafzimmerfenster aus konnte Alessa sehen, dass in der Laube im winzigen Gemüsegarten hinter Großmutters Haus ein schwaches Licht glomm. War sie in der Laube eingeschlafen? Alte Leute hatten ja die verrücktesten Gewohnheiten.
    Alessa ging leise aus dem Haus und schlich durch das Gärtchen, um Großmutter nicht zu erschrecken. Auf halbem Weg zur Laube konnte sie undeutliches Gemurmel hören. Hatte Großmutter mitten in der Nacht Besuch? Oder redeten alte Leute nicht immer mit sich selbst? Großmutter war auf dem besten Wege, wunderlich zu werden.
    Die Laube war ebenfalls von einem alten Rosenstock überwuchert. Die Rosen schimmerten wie dunkle Rubine im Sternenlicht. Ein Windhauch fuhr durch das Gesträuch und ließ Alessa frösteln. Sie zog das Tuch fester um ihre Schultern. Wieder hörte sie Großmutters Stimme, und dann eine zweite.
    Alessa erstarrte. Sie kannte die Stimme. Aber es war völlig unmöglich, dass…
    „Das ist ungeheuerlich“, hörte sie den Richter sagen. „Völlig inakzeptabel!“
    Ein schrecklicher Gedanke ließ Alessas Knie zu Wasser werden. Cav war schnustracks nach Hause zu Papa gegangen und hatte Alessa bei ihm verpetzt, und der Richter nahm sich nun ihre arme alte Großmutter vor.
    „Das hättest du dir vielleicht selbst sagen sollen. Vor vielen Jahren schon.“, sagte Großmutter und lachte unangenehm. Alessa bekam eine Gänsehaut bei diesem Laut.
    „Du hast nicht den geringsten Beweis“, erwiderte der Richter, aber seine Stimme klang unsicher.
    „Du solltest mich nicht für dümmer halten als dich selbst“, antwortete Großmutter. Ihre Stimme war gemahlenes Glas.
    Alessa bekam es mit der Angst zu tun. Dass der ehrenwerte Richter ausgerechnet an diesem ersten Abend der Spiele in der armseligen Hütte ihrer Großmutter auftauchte, und das auch noch mitten in der Nacht… Sicherlich hatte ihn die alte Dame nicht zu einem Mitternachtstee und Cremeschnittchen eingeladen. Und natürlich ging es um sie, Alessa, auch wenn sie den Sinn der Unterhaltung nicht ganz verstand. Vielleicht war das alles immer noch ein schlechter Traum, ein Traum von maskierten Krötengestalten und Richtern in Rosenlauben. Sie focht einen stummen, kurzen Kampf mit sich selbst aus, der wackere Champion vom Golemfelsen gegen das angstvolle graue Mäuschen. Das Mäuschen gewann.
    Abrupt wandte sie sich zur Flucht, blieb mit dem Tuch an den Dornenranken hängen, riss sich los, blieb wieder hängen, warf das Tuch ab, rannte mit bloßen Füßen so schnell und so lautlos sie konnte aus dem Garten, lief ins Wohnzimmer, hob die schlafende Giana auf ihre Schulter – die benommen etwas vor sich hinmurmelte, aber im Großen und Ganzen weiterschlief – und machte sich so rasch, dass sie fast schon flog, auf den Weg nach Hause.
    Wenn sie eben noch gefroren hatte, dann war sie nun schweißgebadet. Sie keuchte unter dem Gewicht ihrer kleinen Schwester, schaffte es aber irgendwie in ihr Haus, das leer und kalt und dunkel am Ende der Straße lag, während ihre Mutter mit Gomez in einer der heruntergekommenen Kneipen hockte. Vorsichtig ließ sie Giana auf das Bett gleiten, das sie sich teilten, deckte sie zu und schöpfte sich einen Becher Wasser aus dem Fass in der Küche. Alessa begann zu zittern, so stark, dass sie sich setzten musste. Seit etwa vier Stunden befand sie sich in einem Traum, der verrückter nicht werden konnte – dachte sie. Der Sprung, das maskierte Ding, der Reim, den es geflüstert hatte, Cav, der Richter… das war doch alles völlig absurd! Ihr Kopf weigerte sich, den Zusammenhang zu finden, konnte aber gleichzeitig auch nicht davon ablassen, ihr immer wieder Bilder der Erlebnisse dieses Abends ins Bewusstsein zu spülen wie schreckliches Treibgut, das an die stürmische Küste trieb.
    Sie musste dringend ins Bett. Vielleicht würde morgen alles ganz anders aussehen. Sie streifte das Kleid ab, das immer noch leicht feucht war, und hängte es über den Küchenstuhl. Suchend blickte sie sich nach ihrem Nachthemd um.
    Von der Tür her war ein Geräusch zu hören, ein kleiner, schabender Laut. Ein Geräusch, wie wenn jemand versuchte, kein Geräusch zu machen. Eiskalt wurde ihr.
    Ihr müdes Gehirn nahm das Krötending aus ihrer Erinnerung und setze es auf die andere Seite der Tür, wo es mit seiner schwarzen, schuppigen Klaue beinahe zärtlich über das Holz strich.
    Ihr müdes Gehirn nahm Cav und seinen Vater, den Richter, und setze sie auf die andere Seite der Tür, wo sie darauf warteten, Alessa mit Vorwürfen zu überziehen.
    Ihr müdes Gehirn nahm Barbera und Großmutter, es nahm Bloodwyn und Netbek, und setze sie alle miteinander auf die andere Seite der Tür.
    Plötzlich schob sich etwas unter der Tür hindurch. Alessa schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht laut zu schreien.
    Es war ein Stück Papier.
    Alessa starrte es an, als könnte das Papier sie mit einem Sprung anfallen, aber das tat es nicht. Es blieb still und lautlos auf den abgewetzten Dielen liegen.
    Ganz langsam ging Alessa, nackt, frierend und schwitzend zugleich, auf den Zettel zu, der weiß im Dunkeln schimmerte.
    Ganz langsam ging sie in die Hocke und nahm das Papier auf.
    Ganz langsam faltete sie es auseinander.
    Es fiel genug Licht von der Straßenbeleuchtung durch das kleine Küchenfenster, dass sie die kleine, gezeichnete Rose unten rechts auf dem Blatt erkennen konnte, die sich um eine Krone schlang.
    Das Zeichen des Kaisers. In der Mitte war ein vielbeiniges Monstrum zu sehen, ein riesiges Insekt, oder vielmehr zwei, die miteinander verbunden waren. Darüber ein voller Mond.
    Das nächste Spiel.
    Alessa blieb noch eine Weile in der Hocke und hielt den Zettel in der Hand.
    Als sie sich schließlich erhob, knackten ihre Knie wie trockenes Holz und sie fürchtete, sie könnte Giana damit geweckt haben. Aber alles war ruhig. Sie fand ihr Nachthemd, warf es über und legte sich zu ihrer Schwester. Wieder spürte sie, wie kalt ihr war. Sie kuschelte sich so eng wie möglich an Giana, die es mit einem leisen Grunzen quittierte, und hoffte auf ein paar Stunden Schlaf.

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    Irgendwann im Morgengrauen hörte Alessa schleppende Schritte, ein Poltern, etwas fiel herunter. Jemand fluchte mit schwerer Zunge vor sich hin. Sie drehte sich auf die andere Seite. In der Küche plätscherte Wasser, wieder ein leises Fluchen, dann ging die Tür zur hinteren Schlafkammer. Immer wieder schön, wenn die liebende Mutter heimkehrte.
    Gianas Atemzüge waren tief und gleichmäßig, wie sanftes Wellenrauschen an einem nebligen Morgen. Doch heute hatte dieser Laut nicht die beruhigende Wirkung auf Alessa, die er sonst hatte. Vorsichtig, ganz vorsichtig, um Giana nicht zu stören, rollte sie sich aus dem Bett und schlich in die Küche. Darüber, dass sie ihre Mutter wecken könnte, machte sie sich keine Gedanken. Die würde in ihren säuerlich riechenden Kissen liegen, bis der Hunger sie gegen Mittag aus den Federn trieb und ihre Schicht am Fischmarkt begann.
    Alessa zog den Zettel hervor und betrachtete ihn wieder. Der Vollmond in der Ecke, der wie eine bleiche Münze am gezeichneten Himmel stand, zeigte den Zeitpunkt der nächsten Herausforderung an, das war sicher. Aber was hatten die stelzenbeinigen Wesen zu bedeuten? Waren es Insekten? Oder etwas anderes? Die Formen kamen ihr vage bekannt vor, aber ihr müder Verstand war nicht in der Lage, den Zipfel des Erkennens zu ergreifen und dingfest zu machen. Der nächste Vollmond war in zwei Tagen, bis dahin hatte sie also Zeit, darüber nachzudenken, wo das nächste Spiel stattfinden würde. Falls sie überhaupt teilnehmen würde.
    Die Morgendämmerung berührte mit Rosenfingern die dunkle myrtanische See, ein neuer Tag brach an und Alessa konnte aus dem trüben Küchenfenster den Umriss des Golemfelsens erkennen. Sie musste wahnsinnig geworden sein, anders war es nicht zu erklären. Sie dachte an Gianas Atemzüge und die Wärme, die ihr kleiner Körper im Bett verbreitete, und Tränen traten ihr in die Augen. Wie hatte sie so leichtsinnig sein können? Sie hätte sich alle Knochen brechen können bei dem Sprung, und falls wirklich passiert war, was ihr Gehirn ihr so unverrückbar einzureden versuchte, nämlich dass ihr ein schauderhaft verkleideter ebenfalls Wahnsinniger in einer Höhle einen verrückten Reim aufgesagt hatte – genauso gut hätte er ihr auf die Kehle zerfetzen können -, dann war sie dem Tod nur um Haaresbreite entgangen. Sterben wollte sie nicht, das war das eine. Vor allem aber wollte sie auf gar keinen Fall Giana im Stich lassen. Sie würde übermorgen unter keinen Umständen an der nächsten Herausforderung teilnehmen, ja sie würde im Gegenteil Cav um Verzeihung bitten für ihre Unvernunft und Geheimniskrämerei und…
    Cav.
    Alessas Gedanken gerieten ins Stocken, verhedderten sich in den Erinnerungen der letzten Nacht. Cav war da gewesen, so viel stand fest. Aber dann war er fort, vermutlich direkt zu seinem Vater, um ihm zu verraten, dass am Strand das erste der ihm so verhassten Spiele stattfand. Andererseits… wenn Cav dem Richter Bericht erstattet hatte, warum war dann nicht die Miliz gekommen, um dem Treiben am Strand ein Ende zu bereiten? Warum sollte der Richter zu ihrer Großmutter gehen, anstatt zur Kaserne, um die Spieler mithilfe der Stadtpolizei ordentlich aufzumischen? Sie war schließlich nicht die einzige Teilnehmerin. Das alles ergab keinen Sinn.
    Sie würde mit Cav reden müssen, aber noch dringender schien es ihr, bei Großmutter vorbeizugehen. Sie hatte ihr nicht einmal eine Nachricht hinterlassen, sondern war mit Giana auf und davon. Vielleicht machte sich Großmutter Sorgen, jemand könnte die Kleine vom Sofa entführt haben. Alte Leute sorgten sich doch ständig um böse Männer, die Kinder stahlen, vorzugsweise kleine Mädchen. Alessa würde jedoch kein Wort über den nächtlichen Besuch des Richters verlieren. Ihre Großmutter war schlau. Am Schluss würde Alessa noch zugeben müssen, dass sie an den Spielen teilnahm, und das kam nicht in Frage. Nun, falls sie noch teilnahm…
    „Alessa?“, hörte sie eine Stimme vor der Tür, sehr leise, fast zaghaft. „Bist du da?“
    Diese Stimme hätte sie unter Hunderten, vielleicht Tausenden erkannt.
    Sie sah sich nach einem Tuch um, das sie sich um den Oberkörper wickeln konnte, denn sie trug immer noch ihr Nachthemd, aber sie fand keines.
    Sie öffnete die Tür einen kleinen Spalt, gerade weit genug, um sich hindurchzuzwängen, und trat auf die fast leere Straße. Es war kühl an diesem frühen Morgen, und Alessa fröstelte.
    „Innos sei Dank!“, rief Cav und drückte sie unbeholfen an sich.
    „Sei leise, die anderen schlafen noch“, zischte Alessa und machte sich los. „Komm mit zur Lagerhalle, da können wir reden.“
    Cavs Gesicht zeigte einen Ausdruck von Verwirrung und Verletzung. „Was ist denn los? Ich habe mir Innos weiß welche Sorgen um dich gemacht, als du plötzlich im Wasser verschwunden warst und du…“
    Alessa packte Cav am Arm und zog ihn hinter sich her in die Lagerhalle hinein, die in besseren Zeiten von einer Schiffswerft genutzt worden war. Nun stand sie leer und moderte ihrem Verfall entgegen. Es roch nach Salz, altem Öl und Mehltau im dämmrigen Halbrund des Gewölbes. Hier drin war es noch kälter, aber Alessa kochte innerlich.
    „Was hast du deinem Vater erzählt?“, fuhr sie Cav an. „Raus damit!“
    „Meinem Vater? Gar nichts!“ Cav sah sie an wie ein Hund, der seiner Herrin einen prächtigen Stock gebracht und dafür verprügelt worden war. „Mein Vater hat keine Ahnung, wo ich war… oder wo du warst. Wir alle. Innos, warum sollte ich ihm das erzählen? Ich will doch keinen Ärger mit ihm! Oder dass du Ärger bekommst.“ Cav strich sich die schwarzen Locken aus der Stirn und rieb sich die Schläfen. In den Schmerz in seinem Blick mischte sich nun Kränkung.
    „Wieso denkst du das von mir? Ich bin gestern in meinen besten Hosen in das beliarverdammte Meer gewatet, um dich zu suchen. Und du machst mir Vorwürfe? Was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe, als mir klar wurde, wen ich da hochkrabbeln sehe wie einen dürren Käfer? Am liebsten wäre ich da schon ins Wasser gesprungen und hätte dich eigenhändig von den Felsen abgepflückt!“
    Alessa spürte, wie ihr Zorn unter dem Blick seiner Hundeaugen fortgespült wurde wie Sand von der Brandung. Sie fühlte sich plötzlich ausgehöhlt, und die Höhlung füllte sich mit der Kälte der Halle. Sie begann zu zittern, vor Kälte und vor Scham. Warum hatte sie ihm nichts gesagt? Er hatte ihr ihre Heimlichtuerei – eine leise Stimme in ihrem Kopf nannte es hartnäckig Verrat – nicht einmal zum Vorwurf gemacht. Sie hingegen hatte ihn leichthin eines Verrats verdächtigt, der ein ganz anderes Kaliber war.
    Cav legte ihr ganz sachte die Hände an die Oberarme, die sich unfassbar warm und angenehm anfühlten. „Du frierst ja“, sagte er leise.
    „Ein bisschen“, erwiderte Alessa hilflos und machte einen Schritt auf ihn zu, um mehr von dieser verlockenden Wärme zu spüren. Cav zog sie vorsichtig an sich, und sie lehnte ihren Kopf gegen seine Brust. Am liebsten wäre sie für immer so stehen geblieben, in dem leichten Duft nach Zedern, der von Cav ausging.
    „Es ist etwas Seltsames passiert“, murmelte sie, aber eigentlich wollte sie jetzt nicht von dem seltsamen Krötenmann erzählen, nicht davon, wie der Richter in der Gartenlaube ihrer Großmutter aufgetaucht war, sie wollte nur hier stehen und das überraschende Gefühl genießen, das Cavs Nähe auslöste.
    „Ja“, sagte Cav leise in ihr Haar, so dass sie eine Gänsehaut bekam. „Ich habe dir auch etwas verschwiegen. Ich war gestern Abend… ich war mit jemandem verabredet.“
    „Oh.“ Alessa machte einen Schritt zurück. „Achso.“
    Was war bloß in sie gefahren? Sie versuchte ein Grinsen. „Ich hoffe, du warst erfolgreich“, sagte sie lahm.
    Cav verzog den Mund ebenfalls zu einem schiefen Lächeln. „Wer weiß?“
    Alessa fand ihre Fassung wieder und strich sich ihr Nachthemd glatt. „Es tut mir leid, dass ich dir vorher nichts gesagt habe. Ich weiß, dass du die Spiele hasst, und vielleicht hatte ich Angst, dass du mich dann auch hassen würdest, oder so etwas in der Art.“
    Cav würdigte diese Befürchtung keiner Antwort. „Was ist denn Seltsames passiert?“
    „Da war…“ Alessa brach ab. Das war alles viel zu verrückt. „Nachdem ich gesprungen war, da… da hat mich etwas unter Wasser gezogen.“
    „Was?“ Cavs Augen wurden groß. „Ein Fisch?“
    „Nein, etwas Anderes. Ich weiß nicht genau, was es war. Es hat mich in eine Höhle gezogen. Das Ding sah aus wie ein Mensch, der sich als Lurker verkleidet hat.“
    „Ein als Lurker verkleideter Typ hat dir im Wasser aufgelauert und dich in eine Höhle gezogen?“, fasste Cav zusammen. Seine linke Augenbraue wanderte Richtung Haaransatz. „Und was hat er von dir gewollt?“
    „Er hat mir einen Spruch aufgesagt, eine Art Reim.“
    Cav trat nun seinerseits einen Schritt zurück und musterte Alessa mit einer Miene, in der sich unterdrückte Belustigung und Erwartung spiegelten, als warte er auf die Pointe eines zu lang geratenen Witzes. Aber er schien gewillt, das vermeintliche Spiel mitzuspielen.
    „Was für ein Reim?“
    „Irgendetwas mit fünf Brüdern, von denen manche einen Bart haben, glaube ich“, murmelte Alessa leise. Cav musste sie für völlig verrückt halten.
    „Dreh dich bitte mal um“, sagte Cav.
    „Wie bitte?“
    „Einmal im Kreis umdrehen, langsam.“
    Alessa war so konsterniert, dass sie seiner Anweisung gehorchte.
    „Nein, keine sichtbare Wunde am Kopf“, stellte Cav fest. „Hast du vielleicht… du weißt schon, um dir Mut zu machen… war da zufällig Reisschnaps oder so etwas im Spiel?“
    „Natürlich nicht!“, rief Alessa, „Ich will doch nicht wie Netbek enden!“
    Bei der Erwähnung dieses Namens zuckte Cav zusammen. „Nein, natürlich nicht. Entschuldige. Aber das alles klingt wirklich… seltsam.“
    „Sage ich doch“, rief Alessa. „Vielleicht habe ich mir das wirklich alles nur eingebildet. Daran habe ich ja auch schon gedacht.“ Sie nickte heftig, als wolle sie sich selbst bestätigen. „Ja, ich glaube auch, dass ich mir das eingebildet habe. Aber das war nicht das Einzige, was an diesem Abend seltsam war.“
    „Ich nehme an, hier kommt mein Vater ins Spiel?“, fragte Cav. Seine Stimme war so kühl wie der Morgen über Khorinis. „So aufgebracht, wie du vorhin warst…“
    „Es tut mir leid, Cav. Ich dachte, du hättest ihm davon erzählt, dass ich von diesem Felsen gesprungen bin.“
    Der Ausdruck auf Cavs Gesicht wurde milder. „Niemals.“
    „Er war letzte Nacht bei meiner Großmutter.“
    Cavs Kinnlade klappte herunter. Er starrte Alessa einen Augenblick lang an, dann prustete er los. „Wenn du gesagt hättest, bei deiner Mutter, dann hätte ich es vielleicht geglaubt“, keuchte er. „Ich glaube, er hat eine heimliche Schwäche für diese Art von…“ Er brach ab und räusperte sich.
    „Ja?“ Alessa spürte, wie sich ihre Fingernägel in ihre Handflächen bohrten.
    „Aber bei deiner Großmutter!“
    „Ich meinte nicht so“, erwiderte Alessa. „Nicht in ihrem Schlafzimmer. In ihrer Gartenlaube. Sie haben sich unterhalten.“
    „Und das hat sie dir erzählt?“, fragte Cav. „Oder hast du es selbst gesehen?“
    „Nein“, gab Alessa zu. „Ich habe seine Stimme gehört, als ich Giana abgeholt habe.“
    „Achso.“ Cav wirkte erleichtert. „Da hast du dich bestimmt getäuscht. Bei allen drei Göttern, eine Liaison zwischen meinem Vater und deiner Großmutter, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich meine, klar, sie ist bestimmt eine nette Frau und alles, aber… sie ist und bleibt eben eine Großmutter.“
    „Ich habe mich nicht getäuscht.“ Alessa war ernsthaft verärgert. Cav hatte es geschafft, in zwei Sätzen gleich zwei Frauen ihrer Familie zu beleidigen, die geringzuschätzen nur ihr selbst zustand.
    „Vor einer Minute dachte ich noch, die Geschichte mit dem Lurkermann sei die große Verrücktheit des Morgens, aber das mit deiner Großmutter und meinem Vater ist einfach lächerlich“, erwiderte Cav. „Eher noch mit dem Lurkermann. Warum sollte sich mein Vater überhaupt in eine so heruntergekommene Gegend begeben, um dort mit einer…“
    „Du bist schließlich auch hier“, sagte Alessa schlicht. „Mit so einer wie meiner Mutter und meiner Großmutter.“
    „Das ist doch etwas völlig Anderes!“, rief Cav.
    Alessa zuckte die Schulter und schwieg.
    Nach einer Weile sagte Cav: „Ob er nun dort war oder nicht, von mir hat er jedenfalls nichts erfahren. Und vielleicht hat er tatsächlich eine Verehrerin, denn vor ein paar Tagen habe ich nach einem Briefumschlag gesucht und im Papierkorb einen gesehen, der noch tadellos aussah. Es stand nichts darauf, und es war auch kein Brief mehr darin, aber zwei getrocknete Blütenblätter. Rosen, glaube ich.“
    Er sah sie noch einmal an, dann wandte er sich um und sagte noch einmal über die Schulter: „Und bitte: Lass das mit den Spielen! Es ist dumm, gefährlich und bringt nur Ärger.“

    Nach der missfälligen Unterhaltung mit Cav hatte Alessa das Frühstück für Giana vorbereitet und war bei ihrer Großmutter vorbeigegangen, aber die war nicht zuhause. Die Tür verschlossen, die Fensterläden verriegelt, nur die Hecke schäumte glutrot um das kleine Haus herum. Alessa war erleichtert, unverrichteter Dinge wieder gehen zu können. Sie schlenderte die Straße hinunter zum südlichen Teil des Hafens, wo in guten Zeiten die großen Handelsschiffe festmachten. Doch auf dem Festland war Krieg, so dass der Hochseehafen nur noch selten einen der gewaltigen Drei- oder Viermaster beherbergte. Nun dümpelten ein paar Fischkutter im Wasser. Sie ging die Mole entlang, die sie immer weiter und weiter ins Meer hineinführte. Die Wellen brandeten gegen den Stein, Flocken von Gischt stoben durch die Luft wie ein winziges Schneegestöber. Eine Möwe malte ein weißes M in den blauen Himmel. Alessa sog die Luft tief ein, die nach Salz und Tang schmeckte. Niemals würde sie Khorinis verlassen.
    Sie wandte sich um und blickte nach Norden, auf den Hafen und die Stadt im Morgenlicht. Dahinter erhob sich hügeliges Land, auf einer der Klippen strahlte der Leuchtturm in der Vormittagssonne. Manche sagten, der Turm wäre verflucht und würde von Gespenstern heimgesucht, aber wie jedes Kind von Khorinis hatte auch Alessa eines Tages beschlossen, diesen Geschichten auf den Grund zu gehen und hatte dort nichts entdeckt als ein paar Ratten- und Möwengebeine.
    Sie ließ den Blick weiter nach Osten schweifen. Direkt südlich der Stadtmauer erhoben sich ebenfalls Hügel, über die sich, soweit sie wusste, ausgedehntes Weideland erstreckte. Bauernhöfe gab es dort oben, und zwei Wassertürme standen dort, wie zwei gewaltige Holzfässer auf langen, dürren Insektenbeinen. Lobart, einer der Jungen, mit denen sie in die Schule ging, wohnte dort oben auf einem der Höfe.
    Alessa drehte sich weiter, wieder nach Süden, wo das unendliche Meer wie ein schlafendes, graues Tier lag, in dessen Fell Diamanten blinkten. Sie verharrte einen Moment, dann wandte sie sich wieder den Weidehügeln zu.
    Die Wassertürme.
    Sie angelte den Zettel aus der Tasche ihres Kleides, strich ihn glatt und sah sich die Zeichnung noch einmal an. Das waren die Wassertürme beim Weidehof. Vor wenigen Augenblicken noch war sich Alessa sicher gewesen, sich das Preisgeld und all die Wunschträume von einem Leben jenseits des Meeres aus dem Kopf schlagen zu können, aber nun… Sie atmete tief durch. Abwarten. Der nächste Vollmond war übermorgen, und bis dahin hatte sie Zeit, es sich in aller Ruhe zu überlegen. Cav hatte ja völlig recht damit, dass es dumm und gefährlich war. Sie straffte die Schultern. Sie trug schließlich Verantwortung.
    Die Nacht war klar, und vom Meer wehte ein leichter Wind über das Land. Stumm und bleich erhob sich der Mond hinter den Hügeln, stieg am Firmament empor und sah gleichgültig auf die winzige Insel hinab, die tief unter ihm im Wasser trieb. Ohne Regung betrachtete er die Gruppe junger Menschen, die um einige Lagerfeuer verteilt auf dem Weidehügel saßen und sich die Hände am Feuer wärmten. Es roch nach gegrilltem Fleisch und verkohltem Brot, das in die Glut gefallen war, nach Wein und Bier und Sumpfkraut. Ihm war es gleich, was in seinem Silberlicht geschah.
    Alessa saß an einer der Feuerstellen zwischen Helga und Barbera. Sie hatte eines ihrer eigenen Schultertücher mitgebracht – dasjenige, das am wenigsten schäbig aussah – und es Barbera beschämt überreicht. Als sie zu einer Erklärung ansetzen wollte, hatte sich Barbera stattdessen überschwänglich bedankt, so als deutete sie den Tüchertausch als ein geheimes Initiationsritual der Freundschaft, die die beiden nun verband. Helga redete von links, Barbera von rechts auf Alessa ein, während sie schweigend dazwischen saß und die Nähe der anderen in sich aufsaugte. Die Erinnerung an den ersten Abend der Spiele schien ihr so weit weg zu sein, dass es gut und gerne ein Traum hätte sein können. Sie war einfach ein Mädchen aus dem Hafenviertel, das mit ihren Freundinnen an einem Spiel teilnahm, das seit Jahrzehnten Tradition in Khorinis war, vielleicht ein wenig riskant, wenn man nicht richtig auf sich aufpasste oder zur Selbstüberschätzung neigte, aber im Grunde ein harmloses Wetteifern, das sie alle näher zusammenbrachte. Alles andere - der Maskierte, der verrückte Reim, die Stimme aus der Laube der Großmutter, die sich vielleicht ein wenig nach der des Richters angehört hatte, aber gesehen hatte sie ihn schließlich nicht, oder? – kam ihr mittlerweile wie eine Fieberfantasie vor, eine Reaktion ihres armen Gehirns auf das überwältigende Erlebnis, sich von einem Felsen ins Meer zu stürzen. Vermutlich hatte sie sich das meiste davon bloß eingebildet.
    „Ich hoffe mal, dass keine von euch Höhenangst hat“, rief Helga munter und lachte, als sei ihr ein guter Witz gelungen.
    Barbera runzelte die Stirn und wandte sich zu den Wassertürmen um, deren Spinnenbeine im Mondlicht eisig schimmerten. Zwischen die Wassertürme hatte jemand eine Strickleiter gespannt, wie eine Nabelschnur, die die beiden zu einer Art einzigem Organismus verband. Alessa ahnte, was die nächste Aufgabe sein würde, und war ein wenig enttäuscht. Schon wieder klettern, ein Kampf mit der eigenen Angst vor der Höhe. Konnte das wirklich die neue Herausforderung sein?
    Barbera schien es ähnlich zu sehen. „Wir sind immerhin von einem Felsen gesprungen, der viel höher war, da werden das auch noch schaffen“, sagte sie mit ihrer einzigartigen „Ich bin von altem Adel“-Stimme.
    „Wer hier auf den Rübenacker knallt, kann gleich dort liegenbleiben – als Dünger für nächstes Jahr“, rief Maleth heiter, der sich zu ihnen gesellt hatte. Auch der neue Junge, dessen Namen Alessa immer noch nicht kannte, kam ans Feuer und lächelte ihr vorsichtig zu. Er hatte sein schulterlanges Haar zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, was ihm gut stand.
    „Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Champions“, dröhnte Bloodwyn von einer improvisierten Tribüne aus Heuballen herab. „Der Mond ist aufgegangen und…“
    „…die goldnen Sternlein prangen“, rief jemand, und es gab vereinzeltes Gelächter.
    Bloodwyn ignorierte den Einwurf und fuhr großspurig fort: „Dies ist eine Prüfung nicht nur eures Mutes, sondern auch eurer Geschicklichkeit…“
    „…und Nüchternheit!“, grölte jemand.
    „Dann fall ich garantiert runter“, antwortete ein anderer. Mehr Gelächter.
    Alessa konnte nicht einmal lächeln. Sie spürte, wie Barbera sich neben ihr bewegte. Ihre Hüften berührten sich.
    „…sowie eurer Schnelligkeit, da die Zeit eines jeden Champions gemessen wird, die er benötigt, von dem einen zum anderen Turm zu gelangen.“
    „Dann lass uns endlich loslegen, Schätzchen!“
    Nun verlor Bloodwyn doch die Geduld.
    „Halt doch endlich mal dein dummes Maul, Lee“, brüllte er, was eine neue Runde Gelächter auslöste.
    Alessa hatte den Eindruck, dass Raum und Zeit plötzlich nicht mehr richtig übereinstimmten. Sie sah die Mundbewegungen Bloodwyns, aber der Ton schien nicht hinterherzukommen. Sie sah zu der Strickleiter hinauf, die sich zwischen den Wassertürmen spannte. Der Sprung ins Wasser war eine Sache gewesen, und wenn sich nicht gerade ein sehr unglücklicher Unfall ereignete wie damals bei Netbek, war er sogar ziemlich harmlos. Wer hier hinunterfiel, wurde, wie Maleth richtig bemerkt hatte, zu Rübendünger.
    Eine Wolke schob sich vor den Mund, es wurde mit einem Mal dunkler. Nur die Glut der Lagerfeuer erleuchtete die Weide. Hier und da wurden protestierende Rufe laut, so als ob der der Mond sich davon würde beeindrucken lassen. Dann war es einen Moment lang ganz still, als würden alle gleichzeitig einen tiefen Atemzug nehmen.
    „Torben hat die Ehre zu beginnen“, rief Bloodwyn dramatisch. Er schien sich in seiner Rolle hervorragend zu gefallen.
    Da schallte eine neue Stimme über die Weide: „Keiner von euch rührt sich! Das ist ein Befehl der Stadtwache!“
    Fackeln tauchten zwischen den Bäumen auf, die die Weide umgaben.
    Während Alessa wie festgefroren am Boden sitzen blieb, unfähig, sich zu bewegen oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, brach um sie herum das Chaos aus. Sie wurde von allen Seiten gestoßen und getreten. Barbera sprang auf und packte Alessa am Arm, so dass sie auf die Füße kam. Sie spürte eine Hand in ihrem Rücken, so fest, dass sie ins Straucheln kam. Sie griff nach Barberas Hand, die sich kalt und feucht anfühlte. Jemand stieß Barbera heftig in die Seite, so dass sie zu Boden fiel und Alessa beinahe mit sich riss. Alessa spürte einen Tritt gegen ihren linken Knöchel und konnte sich nicht mehr aufrecht halten. Mit einem Mal lag sie mit dem Gesicht auf der aufgewühlten Erde. Gras spritzte um sie herum, sie sah Füße, die Erdklumpen und Wurzeln aus dem Boden rissen, direkt vor ihrem Gesicht.
    Irgendwie rappelte sie sich wieder auf. Ihr Mund fühlte sich an, als hätte sie Kreide gekaut, ihre Kleider klebten nass und schmutzig an ihrer Haut. Die Kälte kroch in ihre Glieder. Sie versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Sie sah mindestens zehn Männer der Stadtwache, die Fackeln trugen und die Menge von allen Seiten einkreisten. Zwei von ihnen hatten einen Jungen niedergerungen und versuchten, ihm Handfesseln anzulegen. „Bleibt alle stehen!“, rief einer von ihnen, doch Alessa konnte in seiner Stimme unterdrückte Panik hören, was angesichts des Aufruhrs auf der Weide nicht verwunderlich war. Schreie der Angst und des Schmerzes waren zu hören. Sie durfte auf keinen Fall erwischt werden und im Kerker landen. Wer würde sich um Giana kümmmern?
    Barbera war ebenfalls wieder auf die Beine gekommen und zog Alessa mit sich.
    „Wir müssen uns verstecken“, sagte sie leise, aber Alessa konnte sie trotz des allgemeinen Lärms gut verstehen. Sie nickte.
    „Dort hinten gibt es kleine Höhle“, fuhr Barbera fort und bahnte sich einen Weg durch die schäumende Menschenmenge. Plötzlich rannte ein Junge in Barbera hinein und mähte sie nieder wie eine Sense einen jungen Buchenschößling. Barbera schrie auf und ging zu Boden.
    „Mein Knöchel!“, rief sie und versuchte, sich hochzustemmen. Doch ihr Fuß gab unter ihr nach. „Verdammt!“
    Alessa packte sie unter den Armen und wollte sie hochziehen, aber sie schaffte es nicht. Barbera hätte selbst Mitglied der Stadtwache sein können, so groß und kräftig wie sie war.
    „Ich kann nicht“, rief sie.
    „Du musst“, schrie Alessa. Verzweiflung stieg in ihr auf. Sie blickte sich um und sah einen Milizen auf sie zukommen. „Ich stütze dich, so gut ich kann.“
    „Es tut zu weh!“
    Wie aus dem Nichts tauchte der neue Junge neben ihnen auf, und ohne etwas zu sagen, schlang er einen Arm und Barberas Taille. Alessa ergriff sie von der anderen Seite, so dass sie Barbera mit vereinten Kräften hochziehen konnte.
    „Da rüber“, sagte Barbera und wies mit dem Kopf in Richtung einer Baumgruppe. „Hinter dem Gestrüpp liegt eine Höhle, ein verlassener Feldräuberbau, glaube ich.“
    „Hoffen wir, dass er verlassen ist“, gab der namenlose Junge zurück, doch er lief ohne Zögern weiter in die von Barbera angezeigte Richtung. Hinter ihnen gellten Schreie über die Weide, und als Alessa den Kopf wandte, sah sie weitere Milizen auf am Boden liegenden Körpern knien.
    Sie stolperten in das Gebüsch um die kleine Baumgruppe herum, so schnell sie konnten, während das Geschrei hinter ihnen anschwoll. Alessa spürte nasse Blätter unter ihren Füßen und Farne um ihre Beine streichen. Ihr Herz pochte heftig, ihre Kehle schmeckte blutig.
    „Da!“, rief Barbera, und tatsächlich konnte Alessa eine niedrige Öffnung in einer Felswand entdecken, die sich hinter den Bäumen in den dunklen Himmel erhob.
    Vorsichtig ließen Alessa und der namenlose Junge Barbera auf den Boden gleiten, so dass sie durch die Öffnung kriechen konnte. Dann folgten sie ihr.
    Kaum ein Lichtstrahl fand seinen Weg in die Höhle. Es war feucht und roch nach Pilzen. Immerhin war die Decke hier höher als es die Öffnung verhieß.
    „Innos“, stöhnte Barbera und lehnte sich gegen die kalte Felswand. Sie streckte das verletzte Bein von sich und wimmerte leise. „Innos, tut das weh!“
    „Bestimmt verstaucht“, sagte der neue Junge und setzte sich neben Barbera, in respektvollem Abstand allerdings.
    Barbera lehnte sich nach vorne, um den Knöchel zu betasten. Als sie ihn berührte, sog sie scharf Luft ein.
    „Lass es lieber“, sagte Alessa lahm. Mehr konnte sie nicht beitragen. Ihr ganzer Körper schmerzte, ihr Magen schlug einen trägen Purzelbaum nach dem nächsten.
    „Danke“, stieß Barbera plötzlich hervor. „Danke, dass ihr mir geholfen habt.“
    „Das war doch nichts“, sagte der Junge, aber seine Stimme klang dabei ein wenig belegt.
    „Dabei kennen wir uns doch gar nicht“, erwiderte Barbera fast andächtig. „Wir haben noch nie ein Wort gewechselt.“
    „Vor ein paar Tagen hast du mir auf dem Felsen gesagt, ich solle dir aus dem Weg gehen“, wandte der Junge ein.
    „Oh“, antwortete Barbera und verstummte.
    Nur ganz leise waren von draußen noch Schreie zu hören. Sie saßen eine Weile schweigend im Dunkeln.
    „Wisst ihr, was ich glaube?“, sagte der Junge.
    Alessa nickte, doch im Dunkeln konnte es keiner der anderen sehen. Sie glaubte es nämlich auch. Nein, sie wusste es.
    „Das war die wirkliche Herausforderung“, fuhr der Junge fort. „Die Stadtwache, die die Lichtung stürmt. Unsere Aufgabe war es zu entkommen.“
    „Immerhin das haben wir geschafft“, erwiderte Barbera verdrossen. „Aber meinen Fuß kann ich morgen auf dem Fischmarkt verkaufen.“
    Sie versanken wieder in Schweigen und lauschten, wie das Geschrei draußen abebbte und schließlich ganz verstummte.

    Wie sie es geschafft hatten, Barbera ungesehen in die Stadt zu schleppen und im Hinterhof des ehemals herrschaftlichen Gebäudes abzuladen, das mehr als nur einen frischen Anstrich brauchte, so dass Barbera humpelnd durch den Dienstboteneingang hineinschlüpfen konnte, konnte Alessa nicht mehr sagen. Ihr ganzer Körper schien vor Anstrengung zu pulsieren, ihr Kopf dröhnte, als schlüge Innos persönlich mit seinem heiligen Hammer von Innen gegen ihre Schädeldecke. Der neue Junge lächelte Alessa noch einmal mit seinem vorsichtigen Lächeln zu. Sie wollte noch etwas sagen, doch er war bereits im Dunkel der engen Gassen verschwunden. Irgendwo stritten Katzen miteinander. Alessa kämpfte sich durch die schlafende Stadt bis zu ihrer heimischen Bruchbude und schlich in die Küche. Ihre Mutter hatte an diesem Abend noch zu sehr mit den Nachwirkungen der letzten Nacht zu kämpfen gehabt, so dass sie zuhause geblieben war. Offenbar hatte sich Gomez zu einem gemütlichen kleinen Gutenachttrunk eingeladen, denn auf dem Tisch standen mehr leere Flaschen, als ihre Mutter allein geschafft hätte, und ganz unüberhörbar hatte er sich danach zum Übernachten eingeladen. Alessa schauderte bei dem Gedanken daran, dass Gomez sich nur wenige Schritte entfernt von ihr, womöglich nackt, in den Laken wälzte.
    Sie zog sich das schmutzige Kleid aus, wusch sich Hände, Gesicht und Füße und vergewisserte sich, dass Giana in ihrem Bett lag. Ihre Schwester atmete tief und gleichmäßig, ein Hauch von Blütenduft schwebte im Raum, durch das offene Fenster strich ein milder Lufthauch. Der Mond war längst untergegangen, doch das allererste Licht des kommenden Tages zeichnete ein schwaches graues Quadrat auf die Bettdecke.
    Alessa war so erschöpft, dass sie am liebsten auf allen Vieren ins Bett gekrochen wäre. Sie schlug die Decke auf ihrer Seite zurück und ließ den Kopf auf das Kissen sinken. Endlich schlafen.
    Unter dem Kissen lag etwas, etwas Hartes. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien. War sie eben noch so benommen vor Erschöpfung gewesen, dass sie kaum noch aufrecht gehen konnte, war Alessa mit einem Mal hellwach. Ihr Kopf und ihr Körper waren in höchster Alarmbereitschaft. Voller Entsetzen fuhr sie aus dem Bett und hob das Kissen an, ganz vorsichtig, als lauerte ein Skorpion darunter.
    Ein Gegenstand lag dort, im grauen Licht kaum zu erkennen.
    Jemand war hier gewesen, in diesem Zimmer, in dem ihre kleine Schwester friedlich schlief, schutzlos und verletzlich, während sie, Alessa, gegen jede Vernunft auf dem Weidehügel gewesen war und nur um Haaresbreite an einer Festnahme durch die Stadtwache oder gleich dem Tod durch Zertrampeln entgangen war.
    Mit zitternden Fingern ergriff sie das Ding und ging damit ans Fenster. Der Kaiser musste eine Menge Handlanger in Khorinis haben.
    Es war ein Spielzeughaus, so sah es im ersten Moment aus, eine Art Turm, etwa eine Hand lang und aus Ton oder Gips gefertigt und in dunklen Braun- und Rottönen bemalt. Alessa erkannte das Gebäude sofort. Es war der Leuchtturm von Khorinis im Miniaturformat, ein Souvenir für Touristen, die früher gern mit weiß und gelb bemalten Ausflugsschiffen auf die Insel gekommen waren, bevor der Krieg auf dem Festland ausgebrochen war. Die Leuchttürme waren innen hohl und wurden gefüllt mit typischen Khoriner Leckereien verkauft: Fischkonfekt, Blaufliederbonbons, getrockneten Streifen von der Fleischwanze oder kandierten Blutbuchensamen.
    Alessa schüttelte den kleinen Leuchtturm vorsichtig. Etwas raschelte darin. Ihre Finger suchten den Verschluss der Klappe an der Unterseite. Es war durchaus möglich, dass ein Insekt oder sonst etwas Gefährliches herausfallen könnte, also hielt sie den Turm am ausgestreckten Arm weit von sich. Ein kleiner, beinahe runder Gegenstand fiel heraus und landete mit einem leisen Knistern auf den Fußbodenbrettern. Alessa versuchte, aus sicherer Entfernung einzuschätzen, ob es etwas Lebendiges, Bewegliches war, aber sogar im schwachen Morgenlicht konnte sie schnell erkennen, dass es sich um eine trockene Blüte oder Knospe handelte. Ganz sachte hob sie sie auf. Es war eine Rosenknospe, die ein wenig erblüht war. Ein Blatt löste sich und fiel wieder zu Boden. Alessa sah, dass etwas auf einem der Blütenblätter schwach schimmerte, ein feiner Streifen Glanz auf dem trockenen Dunkelrot. Da stand etwas. Eine Botschaft des Kaisers. Sie hielt die Blüte ganz nah vor ihre Augen.
    Mit feinsten Strichen stand dort Nur für dich.
    Es war also Zeit für die Einzelherausforderungen. Jeder der Champions, der die ersten Runden überstanden hatte, erhielt einen Auftrag, der nur für ihn galt. Es war ungeschriebenes Gesetz und unumstößliche Regel, dass die Champions einen vollen Tag Zeit hatten, die Aufgabe zu erledigen, die ihnen der Kaiser zugewiesen hatte. Meistens ging es darum, dass die Spieler eine Trophäe erlangen mussten, um zu beweisen, dass sie die Herausforderung gemeistert hatten. Nach welchen Kriterien der Kaiser die Aufgaben verteilte, lag völlig im Dunkeln. Es konnten ganz einfache Dinge sein wie Klappmuscheln oder ein Topf Moleratfett, aber es hatte auch schon Champions gegeben, die von einem bestimmten Ort Gletscher Quartz oder gesegnete Erde hatten auftreiben müssen. Es war schon einige Jahre her und Alessa wusste nicht, ob es nur ein Gerücht war, aber eine Spielerin war angeblich bei dem Versuch umgekommen, Snapperkrallen aus dem Minental zu ergattern. Alessa war sich nicht sicher, ob es sich bei ihrem Gegenstand wirklich um eine Rosenblüte handelte, aber es lag auf der Hand, wo sich dieser mysteriöse Gegenstand verbarg. Sie würde ihn erkennen, wenn sie ihn sah. Verglichen mit den Erlebnissen der vergangenen Stunden würde der Ausflug zum Leuchtturm ein Sonntagsspaziergang werden.
    Eine Welle der Erschöpfung brandete über sie hinweg und riss sie beinahe von den Füßen. Mit letzter Kraft schloss sie das Fenster, in der Hoffnung, dass sie so vor weiterem Besuch sicher war und ließ sich aufs Bett sinken. In einer oder zwei Stunden würde sie wieder auf den Beinen sein müssen, aber bis dahin brauchte sie dringend Schlaf.

    Es war bereits später Vormittag, als Alessa ihre Aufgaben im Haus erledigt hatte. Gomez hatte beim Versuch, ihrer Mutter ein Frühstück zuzubereiten, in der Küche ein heilloses Durcheinander verursacht und selbstverständlich nicht aufgeräumt. Das gurrende Kichern ihrer Mutter klang Alessa jetzt noch in den Ohren. Gomez war ein Prinz, ein wahrer Prinz, der es schaffte, Eier so zu braten, dass sie unten verbrannt und oben noch roh und glibberig waren, und die Pfanne hinterher so aussah, als hätte Constantino, der verrückte junge Alchimist von nebenan, sie für Experimente mit Trolldung verwendet. Gomez war charmant wie ein ausgehungerter Kater, großzügig mit Komplimenten, aber sobald es ans Aufräumen oder Bezahlen ging, hatte er die einzigartige Fähigkeit, sich in Luft aufzulösen. Außerdem hatte er einen von Innos gesegneten Appetit, so dass nach dem Stelldichein vom Vorabend im Küchenschrank gähnende Leere herrschte. Jetzt musste Alessa erst noch einkaufen gehen, bevor sie sich endlich Richtung Leuchtturm davonstehlen konnte. Angesichts ihrer Müdigkeit und der ganzen Arbeit zuhause war sie froh und erleichtert, nur einen so kurzen Weg zurücklegen und weder einer Blutfliege den Stachel noch einem Schattenläufer das Horn abbrechen zu müssen. Ihr kam der unangenehme Gedanke, dass der Kaiser sie beobachtet hatte, dass er sie alle beobachtet hatte, aber sie, Alessa, besonders genau.
    Auf dem Markt herrschte wie jeden Tag kurz vor Mittag großes Gedränge. Alessa ließ sich etwas mehr Zeit als üblich, denn sie versuchte, hier und da die Gespräche der Händler und Kunden zu belauschen. Die Stürmung des Weidehügels durch die Stadtwache in der vergangenen Nacht sorgte selbstverständlich für Gesprächsstoff auf dem Marktplatz, und soweit Alessa verstand, waren mindestens zehn junge Leute – vermutlich etwa fünf, denn erfahrungsgemäß konnte man eine durch Marktklatsch kolportierte Zahl getrost halbieren – verhaftet, über Nacht in den Kerker gesperrt und am frühen Morgen vor den Augen aller ihren beschämten und vor der ganzen Stadt gedemütigten Eltern übergeben worden, die nun mit einer saftigen Strafe zu rechnen hatten, denn wie jeder wusste, hafteten in der Hafenstadt Eltern für ihre Kinder. Alessa dankte im Stillen Innos, dass sie hatte entwischen können, und warf einen Blick hinauf zum Himmel, von wo aus der Allmächtige vielleicht gerade jetzt auf sie herabsah. Als sie den Blick wieder senkte, glaubte sie, über die Menge hinweg Cavs schwarzen Lockenkopf entdeckt zu haben, aber als sie sich mit ihrem Weidenkorb zwischen den Menschen hindurchgedrängt hatte, war er bereits verschwunden – falls er es überhaupt gewesen war.
    „Alessa!“, hörte sie da eine atemlose Stimme direkt neben sich. „Na sowas!“
    Barbera stand wie aus dem Boden gewachsen neben ihr, Alessas Tuch um die Schultern und die linke Achselhöhle auf eine Holzkrücke gestützt.
    „Wie geht es deinem Fuß?“, fragte Alessa. „Hast du Ärger bekommen?“
    „Ach was, ich habe behauptet, ich sei auf dem Heimweg vom Stickereikursus umgeknickt, als ich einer Mitschülerin einen traditionellen Tanzschritt zeigen wollte. Natürlich glaubt mir meine Mutter kein Wort, aber da sie weiß, dass wir das Preisgeld dringend brauchen, hat sie so getan, als hätte alles seine Ordnung. Über mein völlig verschmutztes Kleid und die blauen Flecken überall hat sie kein Wort verloren. So ein Treffen mit dem Nähzirkel kann eben auch gefährlich sein.“ Barbera grinste trotz der Schmerzen, die sie mit Sicherheit noch hatte. Alessa senkte den Blick und sah, dass Barberas Knöchel dick verbunden war. Offenbar mit Streifen eines Damasttischtuchs, das sicher einmal sehr kostbar gewesen war, bevor es in einer Schublade vergilbt war, weil es im Haus keine Speisen mehr gab, die man auf einem so edlen Tuch hätte servieren können.
    „Weißt du, wen sie erwischt haben?“, fragte Barbera und zog Alessa in eine Nische der Stadtmauer. Schnell tauschten sie aus, was sie gehört hatten, und es hatte tatsächlich drei oder vier Verhaftungen gegeben. Wie viele der Spieler und Zuschauer sich Verletzungen zugezogen hatten, wussten sie nicht.
    „Ich bin zwar nicht offiziell ausgeschieden, aber so kann ich unmöglich… du weißt schon… zu meinem Ort humpeln“, sagte Barbera bitter. „Es war also alles umsonst.“
    „Wohin musst du denn gehen?“, fragte Alessa. „Vielleicht kann ich dir helfen?“
    „Ich weiß nicht, das kann ich unmöglich von dir verlangen“, erwiderte Barbera, aber ihr Blick sagte etwas anderes.
    Alessa zog den Miniaturleuchtturm aus der Tasche ihrer Schürze. „Ich habe keinen weiten Weg“, sagte sie, „Wenn du nicht gerade etwas vom Festland holen sollst, dann werde ich das schon schaffen.“
    Barberas Augen wurden groß und rund. „Den Leuchtturm, den habe ich auch bekommen. Er stand heute Morgen auf meinem Fensterbrett. Was war bei dir drin?“
    Alessa brauchte einen Moment, um die Fassung wiederzufinden. Hatte es das schon einmal gegeben, dass zwei Spieler an den selben Ort geschickt worden waren? Sie wusste es nicht. „Eine Rosenblüte. Und bei dir?“
    Über Barberas Gesicht huschte ein Anflug von Misstrauen.
    „Das war etwas seltsam. Ein Stück Stoff.“
    „Ein Stück Stoff?“, fragte Alessa unbehaglich. Irgendwo in ihrem Kopf begann etwas zu klingeln, leise, aber unangenehm.
    „Ja. Und zwar ein Stück von meinem Tuch, wenn mich nicht alles täuscht. Das mit unserem Wappen, das ich eigentlich dir geliehen hatte.“
    „Ich habe es verloren, das habe ich dir ja erzählt.“
    „Hm. Jedenfalls war es der gestickte Harpyienkopf, den jemand in den Leuchtturm gestopft hat.“
    Alessa griff nach Barberas freier Hand. „Ich halte die Augen offen, ich verspreche es dir.“
    Barbera lächelte. „Danke, Alessa. Viel Glück!“

    Am Nachmittag fand Alessa endlich eine Gelegenheit, sich heimlich davonzustehlen. Ihre Mutter hatte sich hingelegt, damit sie für einen weiteren Abend in der Kneipe frisch war, und Giana war zu einer Freundin gegangen, um dort mit jungen Katzen oder Ratten zu spielen, das war nicht ganz eindeutig aus ihrer Erzählung hervorgegangen. Vielleicht beides.
    Das Klingen in Alessas Kopf war immer noch da, es war zu einem kaum hörbaren, aber nie ganz verstummenden Störgeräusch geworden. Alessa musste dringend mit ihrer Großmutter sprechen. Wenn Barbera recht hatte und das Stück Stoff wirklich aus dem Tuch stammte, das sie Alessa ausgeliehen hatte – wer hatte das Tuch dann dort abgeholt? Oder war es noch am selben Abend gestohlen worden, bevor Großmutter es gefunden hatte? Hatte es die Person an sich genommen, die vielleicht der Richter war, vielleicht aber auch nicht? Alessa konnte sich keinen Reim darauf machen, und das Wort reim weckte noch mehr unangenehme Erinnerungen. Doch das alles musste jetzt hintanstehen.
    Alessa ging durch das Osttor aus der Stadt hinaus, wobei sie ihr unschuldigstes Lächeln aufsetzte, als sie an den Wachen vorüberging, und schlug den Weg nach Norden ein. Es war nicht weit bis zum Leuchtturm, die Sonne schien warm auf sie herab. Alessa versuchte, das Gefühl abzuschütteln, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden, aber es gelang ihr nicht. Das Klingeln schwoll an. Sie wanderte den Weg zu den Klippen hinauf und versuchte, den herrlichen Blick über das glitzernde Meer zu genießen. Sie würde einfach in den verdammten Leuchtturm hineinmarschieren und alles, was sie fand, in ihre Taschen packen. Das konnte ja nicht schwer sein, oder? Und gefährlich war es auch nicht. Innos, sie war ja selbst schon einmal dort herumgestrolcht und hatte sich mit eigenen Augen davon überzeugt, dass es dort nichts Gefährlicheres gab als Holzwürmer.
    Auf halber Strecke kam sie an einem kleinen, verlassenen Verkaufsstand am Straßenrand vorbei. Es war weit und breit keine Spur von einem Händler zu sehen, nur ein Stapel trockener Kokosnüsse, die wie Schrumpfköpfe aussahen. Etwas ratlos blieb sie stehen und sah sich um. Ein Felsvorsprung ragte in den Weg, vielleicht hatte…
    Eine Hand umklammerte ihren Unterarm. Alessa schrie nicht. Ihre Lungen schienen zusammengefallen zu sein wie ein leerer Trinkschlauch. Ihr Verstand wollte davonfliegen, alles hinter sich zurücklassen. Die Hand, die ihren Arm umklammerte, ragte aus dem flatternden Ärmel einer schwarzen Kutte und zog Alessa auf etwas zu, das im Schatten des Felsvorsprungs kauerte.
    „Vom Fresser kommt Speise“, sagte eine heisere Stimme, die ganz und gar nicht menschlich klang. Alessa sah nun, dass die Gestalt, die dort stand, von Kopf bis Fuß in einen Umhang gehüllt war, dessen Kapuze das Gesicht verbarg. Alessas Sinne mussten ihr einen Streich spielen, oder es war ein Spiel des schräg einfallenden Lichts, aber es sah so aus, als fiele ein schwaches rotes Leuchten aus den Falten der Kapuze.
    Alessa fand wieder Luft und begann zu kreischen.
    „Sch“, machte die Gestalt, die seltsam gedrungen aussah, als hätte sich irgendein nicht menschliches Wesen mit Gewalt in Menschenform gepresst.
    Alessa zog und zerrte, um sich zu befreien, doch das Kapuzending ließ sie nicht los.
    „Vom Fresser kommt Speise, vom Starken kommt Süßes“, zischte die Stimme. „Vom Fresser kommt Speise, vom Starken kommt Süßes, vom Fresser kommt Speise, vom Starken kommt Süßes…“
    Die Worte des Kapuzendings sprudelten immer schneller hervor. Endlich gelang es Alessa, sich loszureißen. Sie wich zurück und spürte, wie dicht neben ihr etwas durch die Luft sauste.
    In blinder Panik rannte Alessa los, immer weiter nach Norden, ohne sich noch einmal umzusehen.

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