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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Post [Story]Gothic Love



    Diese Geschichte ist ein Beitrag für den Wettbewerb Schreim naoch Buchstohm 6.

    Die Buchstabenzuweisungen:
    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    Person A: Stina
    Person B: Lars
    Person C: Mike
    Person D: Frank

    Maskierter A: Der Suchende
    Maskierter B: Der Mann mit der Gomezmaske

    Spruch A: „Was geteilt, wird wieder vereint.“
    Spruch B: „Kein Schild, den sie nicht brechen kann.“

    Ort A: Das oberste Stockwerk des Hotels Zum schlafenden Geldsack
    Ort B: Der Schläfertempel

    Gegenstand A: Der Stein des Wissens
    Geändert von Laidoridas (08.10.2023 um 18:00 Uhr)

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Vormittag


    Wie aus sehr weiter Ferne erreichte der Ruf eines einsamen Wolfes die kleine Prozession aus verhüllten Gestalten.
    Sie waren zu viert, jeder von ihnen groß gewachsen und schweigsam. Langsam, aber unbeirrt wateten sie durch den dichten Bodennebel, der sich über dem Waldboden ausgebreitet hatte, die Schritte gedämpft vom schweren Stoff ihrer dunklen Roben. Kein Fleck blanker Haut war entblößt, und selbst unter den weit über die Stirn gezogenen Kapuzen schauten bloß halb vergilbte Stoffmasken hervor. Es war ein dicht gewobener Stoff, der jeden Blick nach außen in ein mattes Rot tauchte. So sahen sie die Welt, seit sie die Gewandung und die Aufgabe eines Suchenden angenommen hatten, und so sah auch er die Welt. Er, der voranging.
    Er führte sie, schwer atmend, aber das Ziel fest im Blick, und das kalte Amulett unter den langen Robenärmeln mit beiden Händen umklammert. Als er die großen Steine passierte und in das Innere des Steinkreises vorstieß, wurde ihm bewusst, dass ein bislang kaum wahrnehmbares Summen so weit angeschwollen war, dass es ihm in den Ohren zu schmerzen begann. Es war ein drückender und beißender Schmerz, aber er war ihm auch Bestätigung, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Der Sonnenkreis. Der Ort des Rituals.
    Vorsichtig legte er das Amulett auf den schlichten Altar im Zentrum der ringförmig angeordneten Steinblöcke nieder. Auch im nebligen Halbdunkel leuchtete der violette Edelstein, der in die goldene Fassung eingelassen war, so strahlend hell, dass er den Blick nicht einmal durch den dämpfenden Schleier seiner Maske für mehr als ein paar flüchtige Momente aufrecht erhalten konnte. Aber lange würde er dieses Licht nicht mehr ertragen müssen.
    Seine drei Begleiter hatten nun ebenfalls ihre Plätze rings um den Altar eingenommen, die Arme in den weiten Ärmeln verschränkt über der Brust. Sie mussten keine Worte wechseln. Sie alle wussten, dass der Moment gekommen war.
    Als sie die Arme hoben und sich der Nebel zu ihren Füßen blutrot färbte, da mischte sich unter das Summen eine rasch an Dringlichkeit gewinnende Melodie, gespielt von unsichtbaren Instrumenten an einem Ort jenseits des Sichtbaren. Die vier Suchenden richteten ihre ausgestreckten Arme auf den Altar, und eine magische, wild zuckende Sphäre aus dunkelroter Energie flammte darüber auf. Begleitet von dröhnendem Chorgesang wuchs sie an, wild flackernd, bis alles andere darin unterging. Rings um den Steinkreis zuckten Lichter, mächtige Paukenschläge donnerten bis tief in die Magengrube – und dann, als es kaum noch auszuhalten war, war alles vorüber. Die Lichter erloschen, die Stille kehrte zurück. Und was einmal strahlend violett gewesen war, das war nun matt und grau. Es war vollbracht, das Ritual vollendet.
    Nur wenige Augenblicke lang dauerte die Stille an, bis sie vom Klirren einer aus der Scheide gezogenen Klinge jäh durchbrochen wurde. Er hörte Schritte, rasche und sehr zielstrebige Schritte, und wandte sich um.
    „Da… ist… er!“
    Er streckte seine rechte Hand, die in einem schwarzen Handschuh steckte, aus dem Ärmel hervor und ließ einen lodernden Flammenball darüber erscheinen. Zwei seiner Begleiter taten es ihm gleich, während der dritte eine beschwörende Geste mit beiden Händen vollführte. Sie alle blickten dem Mann in der metallenen Paladinrüstung entgegen, der mit herausfordernd erhobenem Zweihänder auf sie zu kam.
    „Du kommst zu spät. Wir haben das Auge Innos’ zerstört, auf dass es seine Macht niemals zurückerlangen wird.“
    Der Feuerball über seiner Hand flackerte bedrohlich auf, aber der Paladin erwiderte seinen Maskenblick unbeeindruckt.
    „Wir werden dir jetzt zeigen, was für ein sinnloses Unterfangen es war, den Meister herauszufordern.“
    Kaum waren die Worte verhallt, da preschte der Krieger des Lichts mit einem entschlossenen Schrei voran, hielt genau auf ihn zu und holte mit dem gewaltigen Schwert aus. Das Orchester spielte auf, Fanfaren ertönten, und der Feuerball über seinen Fingern erlosch, als hätte Innos selbst ihn erstickt. Hilflos riss er die Arme vor das verhüllte Gesicht, als er die geweihte Klinge in den Händen des zu allem entschlossenen Paladins auf sich zurasen sah. Kurz bevor ihn die Schneide erreicht hatte, da stürzte er mit einem gellenden Schrei zu Boden, streckte alle Gliedmaßen von sich und hielt den Atem an.
    Er konnte nichts mehr sehen, aber er hörte durch das Getöse der triumphierenden Musik, wie der Paladin über seinen scheinbar leblosen Körper hinweg sprang und auf die anderen drei Suchenden zuhielt. Ein ohrenbetäubender Schrei, dann ein weiterer. Schließlich der dritte.
    Auf einmal war es wieder ganz still. Die Musik, das Summen, alles war fort. Nur die Schritte des Paladins waren zu vernehmen, wie er sich dem Altar näherte, um das zerstörte Artefakt seines Gottes an sich zu nehmen. Noch immer wagte er nicht, zu atmen – er wusste, dass ihn jeder Atemzug, jede noch so kleine Bewegung verraten konnte. Das geringste Zucken seiner Finger, ein leises Rascheln der Robe, und alles war aus. Alle seine Muskeln versteiften sich vor Anspannung, während ihm unter der Maske dicke Schweißtropfen über die Stirn rannen. Allmählich wurde jede weitere Sekunde zur Qual.
    Nicht bewegen… bloß nicht bewegen…
    Es wurde nicht einfacher dadurch, dass er seinen linken Arm beim Fallen unglücklich unter der Hüfte eingeklemmt hatte. Im ersten Moment hatte er es gar nicht richtig wahrgenommen, aber jetzt schmerzte es so sehr, dass er sich auf die Unterlippe beißen musste, um nicht laut aufzustöhnen. Das durfte er auf keinen Fall, unter gar keinen Umständen – er war tot – aber es war nicht länger auszuhalten, er musste den Arm kurz wegziehen. Wenn er es ganz schnell machte, dann würde es vielleicht nicht zu sehen sein, dann würde er damit davonkommen. Er musste nur darauf achten, dabei nicht an den…
    „Du kommst zu spät“, dröhnte es dicht über seiner Stirn los. „Wir haben das Auge Innos’ zerstört, damit es seine Macht niemals zurückerlangen wird.“
    Jetzt stöhnte er doch auf, und das aus ganzem Herzen. Jetzt war es eh egal.
    „Echt jetzt?“, hörte er Nummer drei schon spotten, noch bevor er sich wieder ganz aufgerichtet hatte. „Schon wieder?“
    „Ja, sorry“, schnaufte Gerry und zog die Maske herunter, um gierig nach Luft zu schnappen. „Ich bin da irgendwie wieder… da muss man ja auch nur ganz kurz drankommen an den Knopf, und dann geht das direkt los.“
    „Weil man ja auch nicht sehen soll, wie du den drückst“, gab Nummer drei genervt zurück. „Gib dir doch mal ein bisschen Mühe.“
    Gerry wusste nicht, was er entgegnen sollte, und er hätte sowieso keinen Atem mehr dazu gehabt. Hechelnd hielt er nach seiner Wasserflasche Ausschau, die irgendwer woanders hingestellt haben musste, als Wolfgang von der Seite ankam und sein linkes Handgelenk nahm.
    „Lass mich nochmal kurz schauen, ob mit der Technik alles in Ordnung ist“, brummte er, schob sich mit der freien Hand die in den Haaren steckende Brille auf die Nase und probierte nach und nach die Knöpfe an dem kleinen Gerät aus, das an der Innenseite des Robenärmels angebracht und über ein Kabel mit dem Lautsprecher unterhalb der Kapuze verbunden war. Die üblichen Sätze, die Gerry mittlerweile alle schon selber auswendig hätte aufsagen können, wurden natürlich ordnungsgemäß abgespielt, und als Wolfgang nur vorsichtig mit dem Finger über die Knöpfe strich, passierte überhaupt nichts. Gerry wusste selbst, dass es wieder seine eigene Schuld gewesen war.
    „Das Gerät ist tiptop“, befand Wolfgang. „Also, besser aufpassen lautet die Devise. Nachher darf sowas natürlich nicht vorkommen, Nummer eins.“
    „Wird nicht wieder vorkommen“, versprach Gerry knapp und machte einen Schritt zurück, um drei Leute von der Licht- und Tontechnik vorbeizulassen, die offenbar die unter dem Nebel verborgenen Gerätschaften rund um den Altar in Augenschein nehmen wollten. Seiner Ansicht nach hatte es an Lichtern, Geflacker und allgemeinem Getöse nicht gerade gemangelt, aber vielleicht gab es aus der Sicht der Profis noch Verbesserungsbedarf.
    „Nummer zwei, bei dir hat gerade aber auch was nicht ganz gestimmt“, erinnerte sich Wolfgang und wandte sich einem der anderen Männer im Suchendenkostüm zu, deren teils mehr, teils weniger verschwitzte Gesichter mittlerweile allesamt unter ihren heruntergezogenen Stoffmasken zum Vorschein gekommen waren. „Wo ist denn dein Feuerball abgeblieben? Und was sollte das Gefuchtel?“
    „Ich hab gedrückt und gedrückt, aber da kam kein Feuerball“, verteidigte sich Nummer zwei, ein immer ein bisschen gehetzt wirkender Typ mit Ziegenbart, den Gerry auf Anfang zwanzig schätzte. „Ich musste eben irgendwie improvisieren! Hier, guck selber!“
    „Hör auf, mir den Flammenwerfer ins Gesicht zu halten, Nummer zwei“, sagte Wolfgang und wandte sich an den Pyrotechniker. „Andi, schau dir das mal an. Das muss bis heute Abend wieder laufen.“
    Der angesprochene Andi hatte bereits damit begonnen, reihum die rechten Handschuhe mit den integrierten Pyrotechnik-Modulen von den vier Suchenden einzusammeln, die natürlich viel zu gefährlich waren, um abseits der Proben damit herumzulaufen. Gerry hatte immer noch großen Respekt vor dem Feuer, auch wenn Wolfgang mehrfach versichert hatte, dass die Kostüme feuerfest seien und nichts passieren könne, sofern alle ihre Masken und Handschuhe anhätten. Die Hitze allerdings hatte er auch diesmal wieder durch jede noch so dicke Stoffschicht gespürt.
    Nachdem Gerry seinen Handschuh Andi überlassen und sich vergewissert hatte, dass sich der ganz gewöhnliche Ersatzhandschuh, den er gleich tragen würde, noch immer in der seitlich angebrachten Innentasche der Robe befand, entdeckte er auch endlich seine Wasserflasche wieder. Sie lag umgekippt unter dem Schnittchentisch, wo sie wohl während der Probe hingerollt sein musste. Gerry hob sie auf, nahm einen langen Schluck und warf den Schnittchen, die auf einem klapprigen Campingtisch angerichtet waren, einen prüfenden Blick zu. Er hatte ein bisschen Hunger, aber die Schnittchen waren ihm irgendwie unsympathisch. Sie sahen aus, als ob sie gerade vom Fließband irgendeiner Schnittchenfabrik gefallen wären, und das war nicht die Art von Schnittchen, die er besonders gerne hatte. Der Kerl, der den Helden in der Paladinrüstung spielte, war da offenbar anderer Meinung und hatte es sich schon mampfend auf einem Platz des untersten Zuschauerrangs gemütlich gemacht. Nicht weit weg von ihm lümmelten auf der gleichen Sitzbank die vier uniformierten Feuerwehrleute herum, die wohl aus Sicherheitsgründen vor Ort sein mussten und nicht besonders ausgeschlafen wirkten.
    „Schön, schön“, murmelte Wolfgang und sah sich ein bisschen in alle Richtungen um, während die Leute von der Technik um ihn herumwuselten. „Von den beiden Patzern mal abgesehen hat mir das sehr gut gefallen. So können wir das heute Abend auf die Bühne bringen, das wird den Leuten Spaß machen. Von eurer Seite aus irgendwelche letzten Fragen? Jetzt wär noch die Gelegenheit dazu.“
    Gerry überlegte kurz, dann hob er die Hand.
    „Könnten wir vielleicht dieses Summen, dieses Geräusch… das ist schon sehr laut…“
    „Ja, das ist spitze, das muss so“, befand Wolfgang und machte eine lautlos applaudierende Geste in Richtung einer blonden Frau mit Pferdeschwanz, die gerade die Nebelmaschine ausgestellt hatte. „Hast du jetzt gut hingekriegt, Peggy. Richtig schön bedrohlich. Ganz toll!“
    Gerry wollte noch etwas sagen, aber er wusste nicht was. Sein Hörgerät war so unauffällig, dass es bisher noch niemand vom Team bemerkt zu haben schien, und er hatte keine Lust, Wolfgang vor versammelter Mannschaft darauf hinzuweisen. Er kam sich mit seinen fast fünfzig Jahren sowieso schon vor wie ein Rentner unter lauter Jugendlichen, da musste er nicht auch noch sein Hörgerät zum Thema machen. Irgendwie schien es mit diesem künstlichen Summgeräusch nicht klarzukommen und verstärkte es zu einem wirklich unangenehmen Ton, der mehr Schmerz als Sound war – aber mit so einem merkwürdigen Problem konnte er jetzt am Ende der Generalprobe auch nicht mehr ankommen. Vielleicht würde er das Hörgerät einfach rausnehmen, bevor es heute Abend losging, dann konnte es ihm auch nicht mehr auf den Sack gehen.
    „Gut, wenn es also keine Fragen mehr gibt, dann habt ihr jetzt noch eine knappe Stunde Zeit, bevor wir öffnen“, verkündete Wolfgang nach einem Blick auf seine Armbanduhr. „Nutzt die Zeit, wie ihr wollt, macht euch nochmal frisch – oder macht ein kleines Nickerchen. Wird ein langer Tag. Bedient euch gerne an den Schnittchen, die haben wir von der Produktionsleitung bekommen, die müssen alle weg. Um Punkt neun seid ihr aber bitte startklar. Mischt euch unters Volk und bespaßt die Leute, alles wie abgesprochen. Und um spätestens sechzehn Uhr will ich euch dann wieder hier sehen. Klar soweit?“
    Gerry und seine Kuttenträgerkollegen murmelten alle etwas Zustimmendes, und der Held auf der Tribüne hob schmatzend den Daumen.
    „Top“, sagte Wolfgang, schob sich die Brille wieder in die angegrauten Haare und marschierte in Begleitung eines Assistenten davon. Gerry hatte keine Ahnung, ob der Regisseur noch andere Shows zu betreuen hatte, und es war ihm auch ziemlich egal. Es war erst kurz nach acht und er hatte schon das halbe Kostüm vollgeschwitzt – auch wenn es nicht lange nachhalten würde, er brauchte jetzt ganz dringend eine Dusche.

    Das kleine Häuschen mit den Personalduschen befand sich ein paar Minuten Fußweg von der Showbühne entfernt. Gerrys eigentliche Klamotten waren in einem Schließfach verwahrt, sodass er nicht darum herumkam, die Strecke in der warmen Robe zurückzulegen. Der Tag war als einer der heißesten des ohnehin schon außerordentlich heißen Sommers angekündigt – bereits jetzt brannte die Sonne unerbittlich vom tiefblauen Himmel auf ihn herab, während er über die gepflasterten Wege der noch größtenteils menschenleeren Anlage schlurfte. Am Ende des Tages würde man ihn wahrscheinlich auswringen können, und das beschissene Kostüm natürlich sowieso. Wie sehr er die Typen beneidete, die diese halbnackten Templer spielen durften! Aber wem machte er etwas vor? Die Verantwortlichen hier wussten schon sehr gut, welche Körper man der Öffentlichkeit präsentieren konnte, und welche man besser vollständig in ein blickdichtes Kostüm packte. Er hatte zwar eine abgeschlossene Schauspielausbildung, aber er war sich ziemlich sicher, dass seine beachtliche Größe der einzige Grund dafür war, dass er den Job überhaupt bekommen hatte: In diesem düsteren Gruselkostüm sah er wahrscheinlich ziemlich angsteinflößend aus, und von der ausgeprägten Wampe bekam unter all dem Stoff ja niemand etwas mit. Wahrscheinlich würde er einer Menge Kindern den Schock ihres Lebens verpassen, aber nicht einmal dieser Gedanke konnte ihn so richtig aufheitern. Es war einfach viel zu demütigend, und es fühlte sich viel zu scheiße an.
    Das Personalhäuschen befand sich etwas versteckt hinter ein paar großen Felsattrappen und war ganz offensichtlich kein Neubau. Gerry wusste nicht, was sich auf dem Gelände früher einmal befunden hatte, aber er war sich ziemlich sicher, dass dieses kleine Haus dazugehört hatte. Schon von außen sah es ganz schön abgeranzt aus, und als er die Tür zum Herrenbereich öffnete und einen Blick ins Innere werfen konnte, da wurde es nur noch schlimmer. Ein penetranter Geruch von Schweiß, Deo und einem unangenehm süßlichen Shampoo lag in der Luft, und nur wenig Licht drang durch ein paar schmale Milchglasfenster herein. Irgendwo tröpfelte etwas gut hörbar vor sich hin.
    „Morgen“, grüßte ihn ein nackter junger Mann mit Bart, der gerade eine der Duschen verlassen hatte und sich im Gehen noch die Haare trocken rubbelte.
    „Morgen“, erwiderte Gerry, und damit war das Gespräch beendet.
    Der Nackte öffnete die Tür zur einzigen verschlossenen Umkleidekabine und machte sich daran, sein Kostüm anzuziehen, bei dem es sich anscheinend um eine rote Rüstung handelte. Gerry hatte keine Ahnung, was das alles darstellen sollte, und es interessierte ihn auch nicht besonders. Er wusste, dass seine eigene Rolle irgendwie böse war, und das reichte ihm.
    Gerry nahm sich eine andere Umkleidekabine und entledigte sich der verhassten Robe, was jedes Mal ein ziemlich anstrengender Prozess war, nicht zuletzt dank des ganzen versteckten Kabelsalats. Zum Glück dachte er diesmal auch daran, das Hörgerät abzunehmen – auf die Art hatte er sich schon mal eins von den Dingern ruiniert, und die waren nicht billig, wenn sich die Krankenkasse weigerte zu zahlen. Als er damit fertig war und unbekleidet die Kabine verließ, hatte der Rüstungstyp sich schon verabschiedet. Er war allein, und das war ihm ganz recht.
    „Scheiße“, fluchte er leise, als er den Gang mit den Duschkabinen betrat und sah, wie versifft das alles war. Die feuchten Bodenfliesen schimmerten in einem schimmligen Hellgrau, und hier und da lagen kleine weiße Kügelchen verstreut, von denen Gerry nur vermuten konnte, dass es sich um zerknülltes Klopapier handelte. Er verfluchte sich dafür, keine Badeschlappen mitgenommen zu haben. Wenn er eines nicht brauchte, dann war das schon wieder ein verdammter Fußpilz.
    Stöhnend schlurfte er in eine der Kabinen, wobei er sich etwas bücken musste, um sich den Kopf nicht zu stoßen. Er drehte am Wasserknauf und wartete, aber nichts geschah. Erst in der zweiten Kabine hatte er Glück, und ein beständiges Rinnsal lauwarmen Wassers ergoss sich über seinen verschwitzten Körper. Zu seiner Überraschung funktionierte sogar der an der Wand angebrachte Shampoospender, auch wenn natürlich genau das süßliche Zeug dabei herauskam, dessen Gestank schon die ganzen Räumlichkeiten verpestete. Als er sich damit einrieb, erinnerte er sich mit Schaudern daran, dass er gleich frisch geduscht wieder in das verschwitzte Kostüm würde schlüpfen müssen. Und das nicht nur heute, sondern morgen wieder. Und übermorgen noch einmal, und nächste Woche, und die Wochen danach… Es war schon jetzt kaum auszuhalten, aber es war immerhin ein Job. Er hatte wieder einen Job, und diesmal würde er das Geld nicht sinnlos verpulvern wie beim letzten Mal. Diesmal würde er die verdammten Schulden wegbekommen, ein für alle Mal, und dann konnte er ein neues Leben anfangen. So leidenschaftlich er das Kostüm auch verabscheute, so sehr es ihn ankotzte, von allen nur als Nummer angesprochen zu werden und nicht einmal seine Texte selber aufsagen zu dürfen – es war seine vielleicht letzte Gelegenheit, den ganzen Mist des verkorksten letzten Jahrzehnts endlich hinter sich zu lassen und noch einmal ganz von vorn zu beginnen. Von ganz unten, einen Schritt nach dem anderen. Diesmal würde er nicht wieder im Wettbüro versumpfen, keinen Fuß würde er da rein setzen. Wenn überhaupt, dann würde er höchstens einen kleinen Teil des Geldes dafür zur Seite legen, um noch ein allerletztes Mal einen Einsatz zu machen. Nur für alle Fälle, um seinem Glück eine Chance zu geben, falls es noch irgendwo unsichtbar an seiner Seite war und nur auf den richtigen Moment lauerte. Diese Saison steckte er ziemlich gut drin im Thema, und wenn er Erfolg haben würde, dann hätte er nicht nur seine Schulden los, sondern auch noch ein bisschen was übrig. Aber er würde nicht so blöd sein wie beim letzten Mal und nach der ganzen Plackerei am Ende mit gar nichts dastehen. Er war nicht nur älter und hässlicher geworden, er bildete sich ein, auch ein bisschen was dazugelernt zu haben. Höchstens wenn es beim ersten Mal wirklich gut klappte, wenn es wirklich gut klappte, was nicht ausgeschlossen war, dann würde er vielleicht einen etwas größeren Teil des Geldes…
    Gerry zuckte zusammen, als ihm ein bisschen Shampoo in die Augen lief und sie zum Brennen brachte. Was für ein Dreckszeug.
    Aber da war noch etwas anderes gewesen, das ihn hatte aufmerken lassen. Es konnte natürlich gut und gerne Einbildung gewesen sein, erst recht weil er sein Hörgerät nicht anhatte, aber er hatte das deutliche Gefühl, ein Geräusch gehört zu haben. Wahrscheinlich war jemand reingekommen und hatte eine der Umkleidekabinen betreten.
    Der Gedanke, nicht mehr allein zu sein, behagte ihm nicht. Er wollte jetzt weg hier. Hastig spülte er sich mit dem rostigen Duschkopf den gröbsten Schaum vom Körper, drehte das Wasser ab und ging nach draußen auf den Gang. Die Augen brannten immer noch wie blöd. Mit zusammengekniffenen Augen kämpfte er sich zum kleinen Regal vor, auf dem ein Stapel olivgrüner Handtücher bereit lag. Ächzend nahm er sich das oberste und rieb sich damit über das Gesicht. Das Handtuch roch genauso muffig wie es aussah, aber immerhin konnte er seine Augen wieder ein bisschen öffnen. Als er blinzelnd über den Gang zurück zum Eingangsbereich tapste, sah er gerade noch, wie jemand nach draußen ging und die Tür hinter sich zuzog. Er hatte sofort das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, aber es dauerte einen Moment, bis er begriff, was es war.
    Es waren die Türen zu den Umkleidekabinen.
    Sie waren alle geöffnet. Und in seiner Kabine lag nur noch das Hörgerät, achtlos auf den Boden geschmissen.
    „Was…?“
    Gerry hechtete zur Ausgangstür.
    „Du verdammter Scheißkerl, mein Kostüm! Gib mir mein Kostüm zurück!“
    Brüllend ließ er das Handtuch fallen, ergriff die Klinke und wollte die Tür aufreißen, nach draußen stürmen und dem Dieb nachjagen – als sich von hinten eine Hand auf seinen Mund legte und fest zupackte.
    Da war ein eisiger Stich, der sich in seinen Nacken bohrte, und im gleichen Augenblick begannen seine Sinne zu versagen. Panisch versuchte er sich aus dem Griff zu lösen und den Angreifer abzuschütteln, aber noch im Umdrehen wurden seine langen Beine wackelig und er ging fast in die Knie.
    Er spürte wie sein Blick wässrig wurde, wie er in eine vielleicht endgültige Bewusstlosigkeit abzudriften drohte, und stemmte sich mit aller Gewalt dagegen. Er schüttelte die fremde Hand ab, griff nach der schemenhaften Gestalt inmitten des grauen Nebels vor seinen Augen, wollte sie zu packen kriegen – und wurde zurückgestoßen.
    Gerry geriet ins Taumeln, suchte mit dem Fuß nach Halt und fand nur das nasse Handtuch. Er rutschte aus, mit dem Gesicht voran stürzte er zu Boden, und als seine Stirn auf den Fliesen aufprallte, da brachte ein tiefes, dröhnendes Summen alles in ihm zum Schweigen.

    „Moin moin, ihr Landradden! Ich bin’s, euer Käpt’n Jack! Ihr habt mich doch alle schön auf die Esmeralda mitgenommen, wie sich das gehört, nich’ wahr? Ich nehm euch jetzt jedenfalls mal mit in meinen schnieken Leuchtturm hier! Alle Mann an Bord, und dann geht’s gleich bis ganz nach oben!“
    Als Stina hinter den anderen die große gläserne Kabine im Inneren des Leuchtturms betrat, hatten die meisten Besucher bereits eine freie Stelle auf der Bank gefunden. Es konnten immer nur dreißig Leute auf einmal rein, und ihr kleines Grüppchen war das letzte gewesen. Nadine und David quetschten sich mit ihrer Tochter Kleo auf die letzten Plätze ganz rechts auf der Bank, sodass für Stina nur noch eine kleine Ecke neben Kleo übrig blieb, auf der sie gerade so sitzen konnte.
    „Die Esmeralda ist ein Schiff, weißt du?“, erklärte Stina ihrer kleinen Sitznachbarin. „Und Jack ist einer von drei Leuten, die als Kapitän der Esmeralda infrage kommen. Man kann sich das selber aussuchen, welchen man nimmt, aber eigentlich nimmt man immer Jack. Weißt du, deswegen nennt er sich Käpt’n Jack.“
    „Ah“, sagte Kleo und knuddelte ihren Plüschstegosaurus.
    „Die anderen beiden sind Torlof und Jorgen. Torlof gab’s schon in Teil eins, das ist einer der Söldner auf Onars Hof. Und Jorgen, der taucht einfach plötzlich beim Kloster auf. Den nehm ich nie als Kapitän, den kenn ich ja noch gar nicht.“
    Hinter ihnen schlossen sich die Türen zur Glaskabine und es begann ein bisschen zu rumpeln. Bisher schien es aber noch nicht loszugehen. Jenseits der Glasscheibe vor ihren Augen war im Augenblick nur eine Backsteinwand zu sehen, und lediglich eine künstliche Beleuchtung sorgte im Inneren der Kabine für Licht.
    „Also, ich kenn ihn natürlich schon, ich hab das Spiel ja schon oft gespielt. Aber als Held kenn ich ihn in dem Moment noch nicht. Wieso sollte ich ausgerechnet den dann gleich zum Kapitän machen, verstehst du? Das ist ja eine verantwortungsvolle Aufgabe, da nimmt man doch jemanden, den man kennt.“
    „Hm“, machte Kleo und guckte auf die Backsteinwand.
    „Deswegen mache ich Jorgen nie zum Kapitän. Das heißt, natürlich hab ich ihn schon mal zum Kapitän gemacht, man muss ja alles mal ausprobieren. Aber normalerweise nehm ich immer Jack. Der ist einfach der Beste, kannst du mir glauben!“
    „Kleo, willst du noch ein Stück Apfel?“, fragte Nadine von der anderen Seite und reichte ihrer Tochter ein Stück Apfel, mit dem sie umgehend den Dino zu füttern begann.
    „Und bevor’s losgeht, eine Kleinigkeit noch: Anschnallen müsst ihr euch nich’, is’ ja nich’ mehr so gefährlich hier in meinem guten alten Leuchtturm, seit ihr die Banditen vertrieben habt! Aber bitte nich’ aufstehen während der Fahrt, alles klar? Dann geht’s jetzt los!“
    Das Rumpeln wurde jetzt ein bisschen stärker, und begleitet von lauter Hafenstadtmusik setzte sich die Glaskabine in Bewegung. Als sie langsam nach oben fuhren, wurden lange Fenster in der Wand sichtbar, durch die sie nach draußen blicken konnten. Im Moment war das alles noch nicht allzu hoch, aber Stina war sich ziemlich sicher, dass sich ihre Höhenangst schon längst bei ihr gemeldet hätte, wenn da nicht die schützende Glasscheibe gewesen wäre.
    „Von meinem Leuchtturm aus habt ihr einen dollen Ausblick über den ganzen Park“, verkündete Jacks etwas plärrige Lautsprecherstimme stolz. „Ihr wisst ja bestimmt schon, dass der Park aus sechs großen Bereichen besteht: Die Hafenstadt kennt ihr, da sind wir gerade drin. Wenn ihr jetzt nach vorne guckt, dann seht ihr das Stadttor, durch das ihr alle vom Parkplatz oder von ‘ner Bushhaltestelle hierher gekommen seid.“
    „Guck mal, Kleo, da ist unser Auto“, sagte Nadine zu ihrer Tochter. „Man sieht es richtig gut von hier oben.“
    Stina fand es nicht so passend, dass Jack ihnen was von Bushaltestellen erzählte, aber es war schon beeindruckend, wie klein die Autos und das große Eingangstor von hier oben jetzt bereits wirkten. Sie waren ja wahrscheinlich gerade mal auf halber Strecke auf ihrer Fahrt nach oben.
    „Siehst du die ganzen Luxuskarren da?“, hörte sie David seiner Freundin zuraunen. „Heute zur Eröffnung sind echt die ganzen Bonzen da.“
    Auch Stina war schon der abgetrennte Bereich des Parkplatzes aufgefallen, auf dem eine Reihe größtenteils schwarzer Autos standen, von denen einige wie kleine Limousinen aussahen. Sie konnte kleine Männchen in schicken Anzügen erkennen, und offenbar war auch die Polizei vor Ort, um für Sicherheit zu sorgen. Auf dem Parkplatz, den sie selbst benutzt hatten, fielen vor allem die Übertragungswagen einiger Fernsehsender ins Auge, bei denen es sich aber offenbar größtenteils um Regionalsender handelte, deren Logos Stina nichts sagten.
    „Und jetzt machen wir mal einen schönen Rundumschwenk, damit ihr auch die anderen Bereiche sehen könnt.“
    Die Kabine begann nun damit, sich im Aufsteigen sanft um die eigene Achse zu drehen, sodass sie nach und nach durch verschiedene Fenster in den vier Backsteinwänden des Leuchtturminneren schauen konnten.
    „Onars Hof – Jharkendar – die große Minental-Erlebniswelt – das alte Lager mit ‘ner echten Kampfarena – und natürlich der Sumpf, aber da bringen mich alten Seebär’n keine zehn Snapper rein. Da wimmelt’s vor Sumpfhaien, könnt ihr euch ja selber von überzeugen, wenn ihr euch traut!“
    „Snapper sind sowas ähnliches wie dein Dino, die findest du bestimmt super“, flüsterte Stina der kleinen Paläontologin neben ihr ins Ohr. „Also, schon mehr so andere Dinos als deiner, aber auf jeden Fall Dinos! Und Sumpfhaie, das sind gar keine Haie, sondern mehr sowas wie große Schlangen. Haie würden auch im Sumpf gar nicht schwimmen können, weißt du? So ein Sumpf ist viel zu dickflüssig für Haie, in der Pampe würden sie ja stecken bleiben.“
    Kleo knabberte ein Bisschen an ihrem fusseligen Apfelstück herum und zog eine Schnute.
    „So, und jetzt… jetzt sind wir ganz oben angekommen! Hundertsiebzehn Meter, das haut den stärksten Seemann vonnen Füßen!“
    Das künstliche Licht schaltete sich ab und wurde von strahlend hellem Tageslicht abgelöst, als die Kabine aus dem offenen Dach des Leuchtturms ins Freie fuhr. Unter einem wolkenlosen Himmel bot sich ihnen ein atemberaubend schöner Anblick über tausende Häuser, Straßen und kleine Grünflächen – zumindest so schön, wie der Anblick einer Ruhrpottstadt wie Essen eben sein konnte. Natürlich ließ sich von hier auch schon gut erahnen, was der Park für sie bereithalten würde: Stina ließ den Blick über Wildwasserbahnen, Karussells und allerlei Fahrgeschäfte schweifen, deren Gothicbezug aus der Entfernung nicht immer direkt zu erahnen war. Besonders auffällig waren eine große, verschnörkelte Achterbahn mit mehreren Loopings, die im Jharkendarbereich aus einem gewaltigen künstlichen Canyon-Felsen herausragte, und eine weitere Achterbahn, die sich spiralförmig um einen Vulkan rankte. Am Krater des Vulkans hockte ein selbst von hier oben aus gut erkennbarer großer Feuerdrache, der sich sogar zu bewegen schien. Stinas Blick blieb aber vor allem an den vielen nachgebauten Szenerien aus den Gothic-Spielen hängen: Das alte Lager war offenbar in etwas kleinerer Form mit Innenring und Außenring errichtet worden, auf Onars Hof grasten Schafe neben einem kleinen Acker, und auch die Holzgerüste im Sumpf waren dem Sektenlager aus dem Spiel offenbar detailgetreu nachempfunden. Außerdem war da ein weiterer nicht ganz so großer Turm, in dem zweifelsohne nur ein Dämonenbeschwörer hausen konnte. Stina konnte es gar nicht erwarten, sich all das aus der Nähe anzugucken, und vergaß vor hibbeliger Vorfreude fast, dass ihr Hintern vom unbequemen Sitzen auf der halben Bankecke mittlerweile schon ganz schön wehtat.
    „Na ihr lütten Landradden, hier weht ‘ne ganz schön steife Brise, nich’ wahr? Aber die Aussicht is’ es wert!“
    Offenbar hatte dem Leuchtturmwärter und potentiellen Kapitän niemand erzählt, dass seine Erzählungen hier in einem luftdichten Glaskasten abgespielt wurden, aber Stina war gerne bereit, über solche kleinen Unstimmigkeiten hinwegzusehen. Es war ja schon toll, dass sie den Originalsprecher aus dem Spiel vors Mikro bekommen hatten.
    „Das Beste an der Aussicht hier hab ich euch aber noch gar nich’ erzählt! Wenn wir uns jetzt mal ‘n bisschen Richtung Osten drehen…“
    Die Kabine begann prompt, wieder langsam um die eigene Achse zu rotieren, bis sie der prallen gelben Sonne entgegen blickten.
    …dann könnt ihr da hinten das Haus der Jungs und Mädels sehen, die mich erfunden haben! Ja, ganz genau, meine guten Kumpels von den Piranha Bytes haben da ihr Büro! Seht ihr das große Krankenhaus dahinten, und den Friedhof daneben? Das Gebäude gleich davor, das isses! Da drin is’ das alles entstanden, was ihr heute hier bei uns erleben könnt!“
    Angestrengt versuchte Stina, in der Ferne ein Krankenhaus oder einen Friedhof zu erkennen. Da waren gleich mehrere bewaldete Grünflächen, aber welche davon Friedhöfe waren und bei welchen es sich um Stadtparks handelte, das war von hier oben aus nicht zu erkennen. Selten hatte sie sich über ihren miserablen Orientierungssinn so sehr geärgert wie jetzt – sie hätte gerade nicht einmal sagen können, in welcher Richtung eigentlich ihre eigene Wohnung lag.
    So, wir drehen uns dann nochmal ein bisschen, damit ihr euch alles ein letztes Mal angucken könnt, und dann geht’s auch schon wieder nach unten. Ihr wollt ja nich’n ganzen Tach hier in meinem Leuchtturm versauern, nich’ wahr?“
    „Seht ihr das Gebäude?“, wandte sich Stina über Kleo hinweg an deren Eltern, aber David und Nadine zuckten nur mit den Schultern. Hektisch wanderte sie erneut alle Grünflächen und annähernd krankenhausförmigen Gebäude mit den Augen ab, doch die Kabine hatte schon damit begonnen, sich in eine südliche Blickrichtung zu drehen.
    „Das da hinten… das könnte es sein, oder?“
    Stina sprang auf und rannte die Sitzbank entlang zur linken Glaswand, wo man noch einen guten Blick gen Osten hatte. Tatsächlich – jetzt hatte sie es doch noch entdeckt: Ein quaderförmiges, unscheinbares Gebäude genau zwischen einer der Grünflächen und einem großen Gebäudekomplex, der ganz nach einem Krankenhaus aussah. Ohne Zweifel, das war es: das Original-Piranha-Bytes-Bürogebäude!
    „BITTE NEHMEN SIE UMGEHEND IHREN PLATZ EIN!“, dröhnte plötzlich eine männliche Stimme aus den Lautsprechern, bei der es sich ganz eindeutig nicht mehr um den gutmütigen alten Jack handelte. Die Kabine war zum Stillstand gekommen, die Hafenstadtmusik hatte ausgesetzt. Gleichzeitig war das künstliche Licht wieder eingeschaltet worden und hatte einen rötlichen Farbton angenommen.
    „BITTE NEHMEN SIE UMGEHEND IHREN PLATZ EIN!“
    Erschrocken hastete Stina zurück zur anderen Seite der Bank, verfolgt von neunundzwanzig aufmerksamen Blicken, und quetschte sich wieder neben Kleo, die sie aus großen Augen sehr interessiert anguckte.
    „Tschuldigung“, murmelte Stina. Ein paar unangenehme Sekunden vergingen, bis das rote Licht endlich wieder ausging und die Kabine ihre Drehung fortsetzte. Sie ärgerte sich ein bisschen darüber, dass sie schon wieder in so eine etwas peinliche Situation hineingeraten war – es verging ja auch kein Tag, an dem ihr sowas nicht passierte. Aber als es wieder dunkler um sie wurde und die Kabine nach unten ins Leuchtturminnere zurückfuhr, da überwog schon wieder die Freude darüber, dass sie das Piranha-Bytes-Bürogebäude doch noch in der Ferne entdeckt hatte.

    „Schon nicht schlecht, dass Essen jetzt mal so eine richtige Sehenswürdigkeit hat“, befand Nadine, als sie aus dem vergleichsweise kühlen Leuchtturm ins sonnige Freie traten. „Ich mein, was haben wir denn sonst so? Die Zeche Zollverein? Die Villa Hügel? Da kannst du doch kein Kind reinschleppen. Und jetzt setzen sie uns einen echten Freizeitpark vor die Nase, mit allem Drum und Dran.“
    „Aber sauteuer, wenn man nicht gerade eingeladen wird“, sagte David. „Hast du die Preise am Eingang gesehen? Da sind wir locker zweihundert Euro los für uns drei, mit Essen und Eis und so.“
    „Eis?“, meldete sich Kleo zu Wort.
    „Iss erstmal deinen Apfel“, befahl die Mutter, die offenbar noch nicht mitbekommen hatte, dass sich das Fruchtstück zwischen Kleos Fingern längst in eine fiese Pampe aus Dinohaaren und Apfelmatsch verwandelt hatte. Stina überlegte schon, ob sie etwas sagen sollte, aber in solche Familienangelegenheiten wollte sie sich lieber nicht einmischen. Sie kannte ja ohnehin nur Nadine etwas besser, weil sie beide gemeinsam als Floristinnen bei Werner’s Blumen Pott arbeiteten. Nadine war bestimmt fünf oder sechs Jahre jünger als Stina – sie konnte nicht älter als Mitte zwanzig sein, denn Stina wusste, dass die beiden schon mehr oder weniger seit dem Kindergarten zusammen waren und ihre Tochter kurz nach dem Schulabschluss bekommen hatten. Mit ihrer Ausbildung war Nadine aber längst fertig, während sie selbst damit erst vor einem halben Jahr begonnen hatte. Die erfahrenere Kollegin half ihr also ständig bei allem Möglichen aus, und dabei hatten sie sich ein bisschen angefreundet. Stina hatte jedenfalls sofort an sie und ihre kleine Familie gedacht, als sie die Karten für den Eröffnungstag der World of Gothic ergattert hatte. Zwar schien keiner der Drei so richtig gothicbegeistert zu sein, aber das war bestimmt auch gar nicht nötig, um die Attraktionen hier zu genießen. Und was nicht war, das konnte ja noch werden.
    „Okay, also wo gehen wir als nächstes hin?“ David hatte noch seinen Rucksack in der Hand, den er im Leuchtturm auf dem Schoß gehabt hatte, und öffnete kurz einen Reißverschluss, um den Parkprospekt hervorzuholen. Auf der Titelseite waren unter dem in Original-Gothic-Schriftart gestalteten Logo der World of Gothic lustige Comic-Versionen von Diego und einem Scavenger zu sehen, dazu einige Impressionen aus dem Park: Ein paar strahlende Leute, die gerade bei einer Wildwasserbahnfahrt plitschnass gemacht wurden, ein selig lächelndes Kind, das ein Schaf streichelte, und begeisterte Jugendliche, die kopfüber in einem Looping der großen Canyon-Achterbahn hingen, die eben vom Leuchtturm aus zu sehen gewesen war.
    „Achterbahn?“, fragte Nadine und tippte mit dem Finger auf die Stelle des Titelblatts, an der sich der Looping mit den runterhängenden Leuten befand.
    „Achterbahn!“, riefen David und Kleo wie aus einem Mund, und alle drei klatschten sich grinsend ab. Stina hatte so ein Gefühl, dass es diese Szene zwischen den Dreien vorher schon ein paar Mal so ähnlich in anderen Freizeitparks gegeben hatte. Und dass sie jetzt alle drei Apfelmatsche an den Fingern kleben hatten.
    „Dann gucken wir doch mal, was wir da haben.“ David faltete das Prospekt auf und drehte es auf die Seite mit der großen Übersichtskarte, auf der die Standorte aller Attraktionen durch farbige Nummern markiert waren. An der linken Seite gab es eine lange Liste mit den Namen, die zu den jeweiligen Nummern gehörten. „Die Bahn mit dem Drachen sieht ganz cool aus, bisschen wie in Skyrim. Dann gibt’s noch die hier… Crazy Crawlers, die ist anscheinend indoor… Oder wir gehen zu der Großen mit den Loopings. Das müsste die hier sein.“
    Stina beugte sich ein bisschen vor, um zu sehen, worauf David zeigte.
    Der schnelle Hering – Der rasanteste High-Thrill-Coaster Deutschlands mit bis zu 170 km/h!
    „Oder vielleicht die hier.“ Stina deutete auf eine farbenfroh illustrierte Stelle im Sumpfgebiet, an der ein paar beschauliche Bötchen über einen Teich voller Seerosen schipperten. „Das sieht doch nett aus.“
    Baal Netbeks Blumenmeer?“, las Nadine. „Ach nö, ich bin doch nicht bei der Arbeit hier.“
    „Okay, also der schnelle Hering“, fasste David zusammen und wuschelte seiner Tochter durch die struppigen braunen Haare. „Ich hoffe mal, da bist du auch schon groß genug für.“
    „Na klar!“, entgegnete Kleo mit gespielter Empörung und stemmte die Hände in die Hüften.
    „Oder möchtest du vielleicht lieber ein Schaf streicheln?“, schlug Stina vor. „Liesels Streichelzoo, der ist gleich da drüben, bei Onars Hof. Liesel ist ein Schaf aus dem zweiten Teil, weißt du? Vielleicht haben sie sogar die echte Liesel hier!“
    Stina wusste natürlich selbst, dass jedes Schaf irgendwie als echte Liesel herhalten konnte, sobald man es Liesel nannte, aber sie konnte nicht anders, als trotzdem ein bisschen aufgeregt deswegen zu sein.
    „Machen wir später“, entschied Nadine. „Wenn wir jetzt nicht mal langsam losgehen, dann kommen wir ja zu gar nix.“
    Darauf wusste Stina nichts mehr zu sagen. Sie hatte schon die erste Attraktion aussuchen dürfen, weil sie die Eintrittskarten spendiert hatte – mit dem gleichen Argument würde sie jetzt wohl kaum schon wieder ankommen können. Außerdem war sie durchaus neugierig auf das Jharkendar-Themengebiet, auch wenn sie sich an der Hafenstadt noch gar nicht richtig hatte sattsehen können: Die Stadtmauern, auf denen ein paar Leute in Milizkostümen patrouillierten – die Häuser, an denen Schilder mit den Symbolen der Handwerksmeister hingen – der große knorrige Baum, der genauso aussah wie der gegenüber von Thorbens Tischlerei – die Laternen und die Wegweiser, die zu den anderen Bereichen führten… an ganz vielen Stellen hier sah es wirklich so aus, wie sie es aus dem Spiel kannte. Als sie auf dem Weg zum Ausgang des Bereichs an einem steinernen Turm vorbeikamen, da hätte Stina am liebsten die Tür aufgerissen, um nachzuschauen, ob womöglich Joe darin hockte. Leider war die Tür nur aufgemalt, wie sie schnell feststellte.
    „Stina, kommst du?“, rief Nadine zu ihr rüber. Sie wollte gerade wieder zu den anderen aufschließen, als es neben ihrem rechten Ohr bedrohlich zu summen begann. Es war ein aggressives, hektisches Summen, das sie so sehr verabscheute wie kein anderes Geräusch. Stocksteif blieb sie stehen, wagte es nicht einmal zu blinzeln, und wartete.
    „Was ist denn jetzt los?“, hörte sie David sagen. „Warum kommt sie nicht?“
    „Da ist eine Wespe“, erklärte Nadine. „Sie hat eine Allergie.“
    „Ach, okay. Das natürlich übel, bei der Plage gerade.“
    Damit hatte David leider den Nagel auf den Kopf getroffen – es wimmelte in diesem Sommer noch stärker vor den kleinen Schreckgestalten als in den Sommern zuvor, die allesamt schon die reinste Wespenhölle gewesen waren. In jedem Jahr schienen die Viecher in größerer Zahl zurückzukommen, und es war ein kleines Wunder, dass Stina bisher ohne Stich davongekommen war. Tatsächlich wusste sie gar nicht, wie sich ein Wespenstich anfühlte, geschweige denn die allergischen Reaktionen darauf. Dass sie als kleines Kind gestochen worden war und nur um Haaresbreite überlebt hatte, daran hatte sie selbst überhaupt keine Erinnerung, aber es war ein Thema gewesen, seit sie denken konnte. Ihre Mutter hatte ihr stets eingeschärft, nicht ohne ein Notfall-Set mit Antihistaminikum, Adrenalinspritze und Kortisonpräparat aus dem Haus zu gehen, und daran hatte sie sich immer gehalten. In einer kleinen grauen Gürteltasche trug sie es seitdem mit sich, auch wenn ihre Mutter sie schon lange nicht mehr daran erinnern konnte.
    Die Wespe flog noch eine Weile beharrlich vor ihrer Nase auf und ab, bevor sie sich endlich ein anderes Opfer suchte. Stina atmete erleichtert aus und eilte zu den anderen.
    „Tschuldigung, dass ihr warten musstet! Aber wenn mich eine von denen sticht, dann wird das richtig schlimm.“
    Wie schlimm genau, das malte sie sich natürlich ständig aus, und manchmal wünschte sie sich fast, doch mal gestochen zu werden, um endlich eine bessere Vorstellung davon zu haben, wieviel Angst genau sie eigentlich vor Wespen haben musste. Im Ernstfall tat sie dann aber doch immer alles, um diesen Moment auf später zu verschieben.
    „Kein Problem“, sagte David. „Okay, also wir müssen jetzt durch dieses Tor hier und dann anscheinend immer dem Weg nach. Dann müssten wir direkt beim schnellen Hering landen.“
    Das Tor, durch das sie den Hafenstadtbereich verließen, sah ein bisschen aus wie das Südtor von Khorinis im Spiel, und es standen auch zwei Männer in Milizrüstung davor, die ihre Rolle ziemlich ernst nahmen und sie mit gerunzelten Augenbrauen kritisch beäugten.
    Das Gebiet, in das sie jetzt kamen, war offensichtlich dem Umland der Hafenstadt nachempfunden: Der geschotterte Weg führte zwischen kleinen Wäldchen hindurch und an ausladenden Wiesen vorbei, die Stina trotz der Parkbänke und Mülleimer fast ein bisschen das Gefühl gaben, gerade unterwegs zu Orlans Taverne zu sein. Zum Glück tummelten sich nicht allzu viele andere Menschen mit ihnen auf dem Weg, sodass sie die die schöne Naturlandschaft ein bisschen auf sich wirken lassen konnten. Das war natürlich einer der großen Vorteile davon, dass sie am Eröffnungstag hier waren: Außer Reportern und eingeladenen Gästen waren heute nur diejenigen hier, die bei einer Verlosung das Recht gewonnen hatten, sich für einen Aufpreis eines der wenigen limitierten Early-Bird-Eintrittskartenpakete für ganz normale Besucher kaufen zu dürfen. Und von denen hatte man offenbar gerade so viele herausgegeben, dass der Park zwar gut besucht, aber auch nicht überlaufen wirkte, damit er einen schönen Eindruck auf die Journalisten machte. Ihr selbst war das nur recht, denn wegen der anderen Besucher war sie ganz bestimmt nicht hier – vielleicht mal abgesehen von denjenigen in selbstgebastelten Gothic-Kostümen, von denen sie schon ein paar entdeckt hatte.
    „Oh, schau mal da, Kleo!“ Sie winkte das kleine Mädchen zu sich heran, das aber nur ein paar Meter entfernt stehen blieb und mit baumelndem Dino in die Richtung guckte, in die sie zeigte. „Siehst du die Höhle da hinten? Da sind richtige Molerats drin!“
    Drei der kleinen, nackten Schrumpelwesen tapsten mit drollig ungelenkten Beinbewegungen wie blind in der Nähe des Höhleneingangs herum. Aus der Entfernung waren sie überhaupt nicht von den Molerats aus den Spielen zu unterscheiden, außer dass sie noch viel echter aussahen. Natürlich wusste Stina, dass es sich um Roboter handelte, aber dem Anblick nach hätte sie auch glauben können, dass sie hier leibhaftige Molerats aus Nacktmull-DNA geklont hatten.
    „Bestimmt gibt es hier auch noch andere Gothic-Tiere“, sagte sie zu Kleo, als sie dem Schotterpfad weiter folgten. Er mündete jetzt in einen Platz mit einem sprudelnden Lurkerspringbrunnen in der Mitte, dessen Anblick allein an diesem heißen Vormittag schon genügte, damit sich Stina ein bisschen erfrischt fühlte. Der Platz war von Sitzbänken gesäumt, auf denen es sich hier und da ein paar Menschen gemütlich gemacht hatten, um etwas zu essen oder im Parkprospekt zu schmökern.
    „Vielleicht einen Lurker, die sehen so aus wie die spuckende Statue auf dem Springbrunnen da“, erzählte sie dem kleinen Mädchen, das gerade interessiert die wackelnden Zehen in ihren Sandalen beguckte. „Oder… eine Fangheuschrecke, das wär’s! Gleich sind wir ja in Jharkendar, da könnten wir gut einer begegnen. Vielleicht haben sie auch einen echten Feuerwaran, oder…“
    Stina zuckte zusammen, als ein bedrohliches Knurren sie mitten im Satz unterbrach – so tief und bösartig, dass sie sich vor Schreck beinahe an ihrer eigenen Zunge verschluckt hätte. Auch die paar Leute auf den Bänken guckten verdutzt, und einer war sogar mit einem angebissenen Käsebrot in der Hand aufgesprungen. Nadine packte die Hand ihrer Tochter, als ein massiger, brüllender Drachensnapper hinter einem Gebüsch auf der anderen Seite des Platzes hervorkam und auf zwei langen, flinken Beinen mit zwei krallenbesetzten Klauen auf sie zu stampfte. Sein dunkelbrauner, schuppiger Körper reichte fast bis auf Stinas Nasenhöhe und war mit gelblichen, leicht gebogenen Stacheln gespickt. Die drei größten davon waren beinahe armlang und ragten aus dem Kopf der Bestie hervor, in dem zwei stechend gelbe Augen grimmig aufblitzten. Stina war ebenso schockiert wie fasziniert: Der Drachensnapper sah aus, als wäre er gerade aus dem Spiel in ihre Welt gesprungen. Allein anhand der ganz leicht ruckartigen Bewegungen und der silbrig glänzenden Metallzähne in seinem weit aufgerissenen Maul, an denen eine Schicht weißer Farbe offenbar schon halb abgeblättert war, ließ sich erahnen, dass es sich um eine Maschine und keine Kreatur aus Fleisch und Blut handelte.
    Vor dem Springbrunnen blieb das Monstrum stehen und drehte seinen Kopf der Reihe nach den Leuten zu, um sie alle einzeln anzufauchen. Ein besonders unerschrockener Besucher wagte es, mit seinem Handy ein paar Fotos zu machen, aber Stina war viel zu paralysiert, um an so etwas auch nur zu denken. Als der Drachensnapper seinen lodernden Blick genau auf ihre eigenen Augen richtete, da war sie sich fast sicher, dass er gleich auf sie zurennen und ihr das Fleisch in großen Fetzen vom Körper reißen würde. Unwillkürlich machte sie einen Schritt auf ihn zu.
    „Keine Sorge, Freunde!“
    Die Stimme war aus der Richtung des Weges gekommen, über den sie selbst den Platz erreicht hatten. Stina guckte sich etwas verwirrt über die Schulter um und bemerkte, dass hinter ihnen ein kräftiger, dunkelhäutiger Mann in Söldneruniform erschienen war. Sein Gesicht war wettergegerbt und wurde von einem langen Schnauzbart geschmückt, und er hatte eine riesige Streitaxt mit beiden Händen gepackt.
    „Gorn hält euch den Rücken frei!“
    Mit entschlossener Miene stürmte der Krieger voran und holte mit der Axt nach dem Drachensnapper aus, der zornig schnaubend einen Satz zurück machte. Als der Söldner nachsetzen wollte, drehte sich das Untier um und hüpfte stampfend zurück ins Gebüsch, bis es nach ein paar Sekunden nicht mehr zu hören war.
    „Ja, renn ruhig, du Mistvieh!“, brüllte ihm der Gorn-Darsteller nach und reckte die Axt mit der rechten Hand ein paar Mal drohend in die Höhe. „So muss man’s den Scheißbiestern geben! So und nicht anders!“
    Ein paar Leute begannen, begeistert zu applaudieren, und Gorn zwinkerte ihnen grinsend zu.
    „Puh, vielleicht ist das hier doch noch ein bisschen zu aufregend für dich, was, Kleo?“ David beugte sich besorgt zu seiner Tochter hinunter, die aber zum ersten Mal an diesem Morgen so richtig glücklich aussah.
    „Hier gibt’s ja in echt richtige Dinos!“ Das kleine Mädchen guckte zu Stina hoch und strahlte sie begeistert an.
    „Ja klar, hab ich dir doch gesagt!“
    Sie war fast ein bisschen enttäuscht darüber, dass Gorn den Drachensnapper so schnell vertrieben hatte, auch wenn der große Auftritt des Söldners natürlich ähnlich beeindruckend gewesen war.
    „Man kriegt schon was geboten hier“, fasste Nadine das Geschehen zusammen. „Auf den Schreck brauchen wir jetzt erstmal eine kleine Achterbahnfahrt, oder?“
    „Moment!“ Stina holte ihr Smartphone heraus und eilte zu Gorn, der gerade schon Fotos mit dem Käsebrotmann machte. Als die beiden fertig warten, kam auch Stina an die Reihe, durfte Gorn umarmen und dabei ein paar Fotos machen. Er müffelte zwar ein bisschen, aber das tat der echte Gorn bestimmt auch.
    Als sie sich kurz darauf wieder Nadine, David und Kleo anschloss und mit ihnen den Weg in Richtung Jharkendar fortsetzte, da klopfte ihr Herz noch immer fast schmerzhaft fest in ihrer Brust. Sie wusste natürlich, dass dieser Gorn nur ein bezahlter Schauspieler mit einer Plastikaxt war, und dass unter der schuppigen Drachensnapperhaut ein Roboter steckte, der genau wie alle anderen Gothic-Tiere hier im Park durch ausgefeilte Motorik zum Leben erweckt und von einer komplizierten KI-Routine gesteuert wurde. Sie hatte ja in den letzten Wochen und Monaten schon alles darüber gelesen, was es zu lesen gab. Aber es jetzt selbst zu erleben, das war noch einmal etwas völlig anderes – und sie war nur allzu gerne bereit, den ganzen Kram über Schauspieler und Roboter ein paar Stunden lang zu vergessen, um sich ein bisschen nach Khorinis zu träumen.

    Der Jharkendarbereich stellte sich als deutlicher Konstrast zur Naturidylle des Khorinis-Umlands heraus: Zwischen künstliche Canyonfelsen, Erbauerruinen und einen großen Piratenstrand waren unzählige Buden und Fahrgeschäfte gestopft, die auch allesamt gut besucht waren. Hier waren deutlich mehr Menschen unterwegs, und die meisten davon standen in irgendwelchen Warteschlangen. Über allem thronte der kurven- und loopingreiche Schnelle Hering – als sie den Bereich durch ein großes steinernes Portal betraten, da raste auch schon mit ohrenbetäubendem Lärm und irrwitziger Geschwindigkeit ein langer Achterbahnwagen voller kreischender Passagiere über ihre Köpfe hinweg. Stina beobachtete, wie der Wagen ein paar Loopings nahm und im Inneren des künstlichen Canyons verschwand, bevor ein paar Augenblicke später schon wieder der nächste Wagen mit einer Ladung schreiender Insassen herausgeschossen kam. Allein vom Angucken wurde ihr schwindelig.
    „Ich weiß nicht, sollen wir da jetzt wirklich rein?“, äußerte sie vorsichtige Bedenken, als sich die anderen schon in die Warteschlange einreihten. „Guckt mal, wie lange man hier ansteht. Das dauert doch ewig, und dann stehen wir hier den ganzen Tag nur rum. Stehen ist langweilig, oder, Kleo?“
    „So lange dauert das schon nicht.“ David deutete auf ein Schild, auf dem Von hier an zehn Minuten Wartezeit stand. „Das ist doch echt gar nichts. Und jetzt sind wir noch früh dran, später wird’s hier nur noch voller.“
    „Naja, ich meine nur, weil nachher um zwölf doch die Eröffnungsfeier in der Showarena am Eingang losgeht. Dann müssten wir wieder zurück sein.“
    „Das klappt locker“, versicherte ihr Nadine. „Wir haben ja noch nicht mal zehn.“
    „Wir sollten dann aber vielleicht ein bisschen früher da sein“, wandte Stina ein. „Sonst kriegen wir nachher keine Plätze mehr.“
    „Also ich muss da gar nicht unbedingt hin“, sagte David schulterzuckend. „Ich bin jetzt nicht hier, um mir das Gelaber da anzuhören.“
    „Wir können ja mal gucken“, gab sich Nadine diplomatisch, aber mit dieser Antwort war Stina natürlich alles andere als zufrieden. Es kam überhaupt nicht infrage, dass sie die große Eröffnungsfeier verpasste, bei der In Extremo einen Auftritt haben sollten und nicht zuletzt auch die Piranhas persönlich anwesend sein würden.
    „Wisst ihr was, ich sichere uns gleich einfach schon mal ein paar Plätze, und ihr könnt dann ja schauen, ob ihr Lust habt“, schlug sie vor.
    „Okay“, sagte David und nahm seinen Rucksack von den Schultern. „Kannst du den dann vielleicht mitnehmen? Dann muss ich den hier gleich nicht irgendwo rumliegen lassen.“
    Stina war das zwar nicht so recht, aber sie konnte ja schlecht ablehnen und nahm den Rucksack widerstandslos entgegen. „Ja, gut, kein Problem. Wenn ihr nicht zur Showarena kommt, dann treffen wir uns am Besten am…“
    „Okay, so machen wir das. Geht jetzt weiter hier, bis dann!“
    Die Warteschlange hatte sich in Bewegung gesetzt, und David, Nadine und Kleo verschwanden im Inneren des Canyonfelsens.
    Stina stand noch eine Weile herum und stellte die Riemen des Rucksacks so ein, dass sie ihn einigermaßen bequem tragen konnte. Dann begann sie damit, etwas unschlüssig durch das Jharkendar-Areal zu spazieren. Natürlich war es noch viel zu früh, um jetzt gleich schon Plätze in der Showarena zu reservieren, wahrscheinlich kam man da um diese Zeit noch gar nicht rein. Sie hatte also endlich die Gelegenheit, sich die Nachbildungen der Gothic-Schauplätze etwas genauer anzuschauen, ohne dabei die ganze Zeit an Achterbahnen denken zu müssen – das war im Grunde eine gute Sache, aber so richtig wohl fühlte sie sich noch nicht dabei. Es war einfach irgendwie merkwürdig, allein durch einen Vergnügungspark zu laufen, und sie hatte das Gefühl, sich vor den Blicken der Leute dafür rechtfertigen zu müssen. Sie überlegte sich, dass sie ja auch gut und gerne gerade vom Klo kommen konnte, oder sie war vielleicht eine Journalistin, die über die Parkeröffnung berichtete. In diesen Fällen wäre es völlig normal gewesen, hier alleine herumzulaufen. Und überhaupt konnte es ihr völlig egal sein, was die Leute von ihr dachten, zumal die meisten auch ganz mit sich selbst beschäftigt zu sein schienen. Aber so ganz verinnerlicht hatte sie diese Gedanken noch nicht, bis sie beim ziellosen Schlendern von einem großen Schild schließlich davon abgelenkt wurde: Goldklumpen waschen – Auge Innos’ erhaschen!
    Das Schild gehörte zu einer kleinen Bude im Banditenlagerstil, vor der mehrere längliche Wasserbecken aufgestellt waren. Ein paar Kinder waren gerade dabei, mit runden, löchrigen Metallpfannen Sand vom Boden der Wasserbecken nach oben zu holen und mit energischen Rüttelbewegungen kleine Goldklümpchen herauszuwaschen. Einige hatten anscheinend schon aufgegeben und die mühselige Arbeit einem Elternteil überlassen, während andere in einem kleinen Schälchen schon ganz ordentliche Goldmengen zusammenbekommen hatten. Unter dem großen Schild erklärte ein weiteres in kleinerer Schrift: Hast du genug Mumm in den Knochen, um dein Glück am Goldfluss der berüchtigten Banditen von Jharkendar zu versuchen? Wenn du ein Häufchen Gold und einen Edelstein findest, dann schmiedet dir Bennet der Goldschmied daraus das echte Auge Innos’! Pro Person: 7€. Bitte nur einen Edelstein aus dem Becken nehmen.
    Stina platzte fast der Kopf vor lauter Unstimmigkeiten, die sich mit dem Gothic-Kanon mal so überhaupt nicht vereinbaren ließen. Vor allem aber wusste sie eines ganz sicher: Sie wollte auf jeden Fall so ein Auge Innos’ haben.
    „Einmal Goldwaschen bitte“, sagte sie dem Mann, der hinter einem Tresen in dem Büdchen hockte, und drückte ihm ein paar Münzen in die Hand. Der Mann sah Bennet nicht besonders ähnlich, aber zumindest hatte er in etwa die gleiche Kleidung an.
    „Da, viel Spaß“, antwortete Bennet ohne besondere Ambitionen, die ihm zugewiesene Rolle mit Leben zu füllen, und stellte eine der runden Pfannen und ein kleines Schälchen zum Sammeln des Goldes vor ihr auf dem Tresen ab. „Und bitte nur einen Edelstein rausholen. Soll ja auch für die anderen noch was übrig bleiben.“
    „Klar“, sagte Stina, auch wenn sie lieber das einzige Auge Innos’ auf der Welt gehabt hätte. Sie schnappte sich die beiden Utensilien, stellte sich an eine freie Stelle des nächstgelegenen Beckens und krempelte die Ärmel hoch. Das würde eine ziemlich matschige Angelegenheit werden, aber das Auge Innos’ war es wert.
    Tatsächlich war es vor allem eine anstrengendere Angelegenheit, als sie erwartet hatte. Sie hatte ihr Schälchen noch nicht einmal zu einem Viertel vollgekriegt, da taten ihr schon beide Arme weh. In der Hitze schwitzte sie bei der Plackerei bald ganz ordentlich, aber sie dachte gar nicht daran, aufzugeben. Nach ein paar Minuten hatte sie es endlich geschafft und die Schale war voll mit kleinen, mehr oder weniger authentisch glitzernden Goldstückchen. Was ihr allerdings nach wie vor fehlte, das war der richtige Edelstein. Zwar waren ihr eine ganze Menge Edelsteine in die Pfanne geraten, aber keiner von denen hatte die richtige Farbe. Das Auge Innos’ hatte natürlich einen violetten Edelstein in der Mitte, aber ihr kamen immer nur rote, blaue und grüne Exemplare unter, ab und zu auch mal ein orangenes. Nachdem sie alle vier Becken durchprobiert und nirgendwo fündig geworden war, musste sie einsehen, dass der passende Edelstein hier wohl einfach nicht im Angebot war. Widerwillig nahm sie sich ein blaues Steinchen und ging damit zur kleinen Hütte zurück.
    „Jo, immer her damit“, nuschelte Bennet, als sie ihm Pfanne, Schale und Edelstein reichte. Hinten im Raum stand ein Apparat, der offenbar eine Schmelze oder etwas in der Art darstellen sollte, und zu dem sich Bennet nun umwandte. Er kippte den Inhalt des Schälchens hinein, drückte auf einen Knopf, und die Maschine begann ein bisschen zu dampfen. Als er oben einen Deckel öffnete, lag darin ein glitzerndes Amulett mit einer großen Lücke in der Mitte, in die er schlussendlich den blauen Edelstein hineindrückte. So ganz geübt schien dieser Bennet darin aber noch nicht zu sein, und Stina sah eine ganze Weile dabei zu, wie er sich mit dem Rücken zu ihr beim Herumpressen auf dem Edelstein abquälte. Sie überlegte schon, ob sie etwas Aufmunterndes sagen sollte, als ihr mit einem Mal etwas ins Auge fiel: Auf der anderen Seite des Tresens, im Inneren des Raums, lag halb versteckt hinter der Kasse ein bereits fertiggestelltes Amulett herum. Stina traute ihren Augen kaum, als sie sah, dass es einen violetten Edelstein hatte, und überlegte nicht lange. Sie streckte den Arm über die Kasse, schnappte sich das Auge Innos’ und entfernte sich, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Das Herz klopfte ihr jetzt wieder bis zum Hals, während sie sich mit ihrer Beute strammen Schrittes auf den Weg zum Piratenstrand machte. Als sie sich dort zu einer Menschentraube gesellte, die gerade einem Rumflaschen jonglierenden Samuel-Imitator zujubelte, fühlte sie sich für den Moment sicher genug, um sich das Amulett in ihrer Hand einmal genauer anzuschauen.
    Sie war ein bisschen enttäuscht darüber, dass es doch sehr nach Plastik aussah und statt einer Metallkette nur an einem gelben Stoffband befestigt war – irgendwie hatte es auf dem Tresen fast wie echter Goldschmuck auf sie gewirkt. Trotzdem erkannte sie das Auge Innos’ aus dem Spiel darin einwandfrei wieder, und über den violett glänzenden Kunstedelstein konnte sie sich richtig freuen. Er war ihr auf jeden Fall tausend mal lieber als ein blauer Edelstein, der auf den ersten Blick schon völlig falsch gewirkt hätte, und sie sah es gar nicht ein, sich mit so etwas zufrieden zu geben. Ein richtiger Diebstahl war es ja nun sowieso nicht gewesen, immerhin hatte sie dafür bezahlt. Eigentlich brauchte sie überhaupt kein schlechtes Gewissen zu haben, sagte sie sich. Trotzdem hatte sie das dringende Bedürfnis, lieber erst einmal einen völlig anderen und möglichst weit entfernten Teil des Parks zu erkunden, nur für alle Fälle. Es war jetzt gleich halb elf, vielleicht konnte sie sich so langsam auf den Weg zur Showarena machen.
    Sie nahm den Prospekt aus Davids Rucksack und schaffte es nach kurzer Verwirrung, ihre Position auf der Karte zu bestimmen. Die größte Attraktion hier in der Nähe war Kaperfahrt mit Käpt’n Greg, eine Wildwasserbahn mit kleinen Piratenbooten. Was ihre Aufmerksamkeit aber viel mehr auf sich zog, das war die mit dem Symbol eines krähenden Comic-Scavengers markierte Station des Scavenger-Expresses, einer gemütlichen Bimmelbahn, deren Schienenkreislauf einmal durch die ganze World of Gothic führte. Genau das, was sie jetzt brauchte.
    Stina hängte sich das Auge Innos’ um den Hals, applaudierte noch einmal dem jonglierenden Samuel und machte sich auf den Weg.

    Die Fahrt im Scavenger-Express war zwar nett gewesen, aber da die Hafenstadt schon die nächste Station gewesen war, auch nicht besonders lang. Die große Showarena war noch verschlossen gewesen und nur ein paar Kamerateams hatten vor dem Eingang herum gelümmelt. Um nicht am Ende noch von jemandem interviewt zu werden, hatte sich Stina gleich wieder aus dem Staub gemacht und sich, weil sie Durst bekommen hatte, am Freibierstand für fünf Euro eine Cola geholt. Zwar trank sie nur selten Cola, weil sie das Koffein schlecht vertrug, aber sie hatte plötzlich den dringenden Wunsch verspürt, sich an diesem besonderen Tag mal wieder eine Cola zu gönnen und ihm einfach nachgegeben. Jetzt saß sie auf einer Bank gegenüber der Riesenschiffschaukel S.O.S. Esmeralda und bereute es schon wieder. Sie war doch ohnehin die ganze Zeit so aufgeregt gewesen und hätte sich gleich denken können, dass es eine Cola nur noch schlimmer machen würde.
    Aus einigermaßen sicherer Entfernung schmiss Stina den ausgetrunkenen Pappbecher in einen wespenverseuchten Mülleimer und schlenderte ein bisschen drauf los – das Geschaukel der Esmeralda konnte man ja nicht lange mit ansehen, ohne ganz dusselig in der Birne zu werden. Sie befand sich jetzt wieder in der Nähe des Eingangsbereichs, wo ein paar Souvenirläden ihr Interesse weckten. Da würde sie auf jeden Fall noch vorbeischauen, aber im Moment war es dafür ein bisschen früh. Sie wollte das Zeug ja nicht den ganzen Tag mit sich herumschleppen.
    „Na, Lust auf ein waschechtes Gothic-Porträt?“, quatschte sie plötzlich ein Typ in Bürgerklamotten von der Seite an. Er stand vor dem Eingang zu einem kleinen Laden, der offenbar noch nicht so gut besucht war, und winkte sie freundlich heran. Eigentlich war Stina in solchen Situationen äußerst misstrauisch, aber in diesem Fall überwog die Neugier.
    „Was ist denn das genau, ein Gothic-Porträt?“, erkundigte sie sich und betrat hinter dem Mann den Laden, der von innen so gar nicht mehr ins Khorinis-Ambiente passen wollte: Es schien sich um eine Art Fotostudio zu handeln, das aber mit auffällig vielen Computern und Bildschirmen vollgestopft war.
    „Ganz einfach: Wir machen gleich ein Foto von dir vor dieser blauen Wand hier.“ Er deutete auf eine Ecke des Raumes, in der ein Stuhl vor einer dunkelblauen Leinwand positioniert war. „Unsere fortschrittliche Gothic-Foto-KI wird dann anschließend eine Reihe von Bildern generieren, die dich so zeigen, wie du in der Gothic-Welt aussehen würdest. Wolltest du nicht immer schon mal wissen, welche Rolle du auf Khorinis spielen würdest? Jetzt kannst du es herausfinden!“
    Stina ließ den Blick über die Tabelle mit den Preisen schweifen und kam schnell zu dem Ergebnis, dass sie dafür auf jeden Fall noch neunundzwanzig Euro übrig hatte. Kurz darauf saß sie schon auf dem Fotostuhl und ließ sich von dem gut gelaunten Mann in Bürgerkleidung ablichten. Anschließend musste sie kurz warten, während er ein paar Eingaben an einem der Computer machte.
    „Remake oder Classic?“, erkundigte er sich, und da musste sie nicht lange überlegen. Sie mochte die Remakes und hatte sie auch beide ein paar Mal mit jeder Gilde durchgespielt, aber das echte Gothic war natürlich das Original.
    „Das normale“, sagte Stina. „Also, Classic.“
    „Aha, ein Retro-Fan! Na, dann schauen wir doch mal…“
    Er drückte auf einen Knopf und auf dem Bildschrim erschien ein großes Bild, das wie ein Screenshot aus dem zweiten Gothic-Spiel aussah. Statt Cassia war es aber eine polygonarme Variante ihrer selbst, die mit einem Meisterdegen in der Hand in der Kanalisation posierte.
    „Oder wie wäre es damit?“
    Auf dem Bildschirm war jetzt Stina als Kräuterhexe zu sehen, die in einem Sessel in einer Höhle hockte. Das passte tatsächlich gar nicht schlecht, fand sie: Nachdem sie sich vor Kurzem ihre Haare rot gefärbt hatte, sah sie sowieso schon ein kleines Bisschen aus wie Sagitta. Trotzdem war sie noch nicht ganz zufrieden.
    „Kann ich auch ein Bild aus einem anderen Spiel haben?“, fragte sie beim Betreiber des Fotostudios nach, der mit der Frage ein bisschen überfordert zu sein schien.
    „Also, ich könnte zu einem der Remakes wechseln…“
    „Nein, ich meine eins der anderen Originalspiele. Kannst du zu Gothic eins wechseln?“
    „Das machen wir eigentlich nicht bei… äh…“
    „Bei Frauen?“, vollendete sie den Satz schmunzelnd. „Ach komm, wie schlimm kann es schon werden? Lass mal sehen.“
    Mit sichtlichem Unbehagen gab er klein bei, drückte ein paar Knöpfe und ließ ein Bild in Gothic-eins-Grafik erscheinen, in dem sie gefesselt neben ein paar Kisten auf der Aufzugsplattform an der Austauschstelle hockte. Hastig hämmerte er erneut auf die Tastatur, und schon räkelte sie sich nackt in der Badewanne. Das nächste Bild zeigte, wie sie in luftigen Klamotten neben dem Guru Y’berion im Tempel kniete und ihm mit einem Palmwedel Luft zufächelte.
    „Halt!“, rief sie, als er schon wieder auf den Knopf drücken wollte. „Das nehme ich.“
    „Wirklich?“, entgegnete ihr Gegenüber etwas irritiert. „Gut, ich meine… wieso nicht? Ich drucke es sofort aus. Das macht dann neunzehn Euro, oder neunundzwanzig Euro mit Rahmen.“
    „Mit Rahmen bitte“, sagte Stina, drückte ihm die Scheine und Münzen in die Hand und wartete geduldig ein paar Minuten ab, bis das Bild gedruckt und eingerahmt worden war. Erst als sie das fertige Werk entgegennahm, wurde ihr bewusst, dass es zwar eine tolle Druckqualität hatte, aber doch ganz schön groß geraten war, und dass sie nun den Rest des Tages damit herumlaufen musste. Sie nahm den Rucksack vom Rücken, öffnete den Reißverschluss und quetschte das Porträt so gut es ging hinein. Zum Glück war außer einer Baseballkappe, einem schweren Regenschirm – Stina verdrehte bei dem Anblick fassungslos die Augen – und einer Tupperdose mit Apfelstücken noch nichts Größeres im Rucksack. Irgendwie schaffte sie es, dass der Reißverschluss wieder fast zuging und nur noch eine kleine Ecke des Rahmens herausguckte.
    „Danke, bis bald!“, rief sie dem Gothic-Fotografen zum Abschied freundlich zu und ging zurück ins Freie, wo es in den letzten paar Minuten gefühlt nochmal einige Grad heißer geworden war. Ihr nächstes Ziel stand schon fest: Während der Wartezeit im Fotostudio war ihr allmählich bewusst geworden, dass sich die Cola trotz der ganzen Schwitzerei schon in ihrer Blase bemerkbar machte. Das konnte manchmal ganz schnell gehen bei ihr, und heute war anscheinend mal wieder so ein Tag. Bei der Showarena hatte sich schon eine kleine Menschentraube gebildet und es sah ganz danach aus, als ob es gleich losgehen würde, aber bevor sie da jetzt hin konnte, musste sie auf jeden Fall erst einmal eine Toilette finden.
    Das nächstgelegene Toilettensymbol hatte sie auf der Übersichtskarte im Prospekt schnell ausfindig gemacht, das Toilettengebäude selbst erwies sich dann allerdings als deutlich besser versteckt. Der Zugang befand sich gut verborgen gleich hinter Bospers Bogen-Battle, einem Stand, bei dem mit Schaumstoffpfeilen Pappwölfe abgeschossen werden mussten, um Plüschmolerats und Plastikschwerter zu gewinnen. Als sie ihn endlich gefunden hatte, hatte sich ihr Harndrang schon zu einem größeren Problem ausgewachsen – leider hatten außer ihr noch viele andere Frauen und Mädchen das Geheimnis des Toilettenwegs gelüftet und eine lange Schlange vor dem Damenklo gebildet, deren Anblick Stina fast wahnsinnig machte. Wenn sie sich jetzt einfach hier einreihte, dann würde sie bestimmt noch eine halbe Stunde warten müssen, und wer wusste schon, ob bis dahin nicht schon die Showarena geöffnet werden und alle Plätze in Windeseile besetzt sein würden? Außerdem hatte sie arge Zweifel daran, dass ihre Blase das so lange mitmachen würde. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, das nächste Toilettensymbol auf der Karte zu suchen, als ihr eine andere Idee kam. Sie nahm erneut den Rucksack ab, öffnete den Reißverschluss ein Stück weit, um die Baseballmütze herauszufischen, und setzte sie sich auf den Kopf. Nachdem sie einen Großteil ihrer zum Glück nicht besonders langen Haare als Knäuel unter die Mütze gestopft bekommen und sich den Schirm tief unter die Augen gezogen hatte, war sie guter Dinge, als Mann durchzugehen – manchmal hatte das zu ihrem Ärger ja schon ohne Verkleidung sehr gut geklappt.
    Ohne noch länger zu zögern marschierte sie an der Warteschlange vorbei strammen Schrittes zur Männertoilette, die zu ihrer Verblüffung nicht nur weniger überfüllt, sondern sogar völlig menschenleer war. Außerdem war sie ziemlich klein geraten: Wenn die Damentoilette genauso geräumig war, dann wunderte es sie jedenfalls nicht, warum es davor so eine lange Warteschlange gab. Der Raum hatte gerade einmal Platz für ein Waschbecken, zwei kleine Kabinen und zwei Pissoirs, von denen eines mit einem „Außer Betrieb“-Schild versehen war. Bei den Kabinentüren kam offenbar neueste Toilettentechnologie zum Einsatz, denn statt einer Klinke war dort jeweils ein leuchtender Sensor zum kontaktlosen Öffnen per Handwedeln angebracht, der gleichzeitig durch seine Farbe anzeigte, ob die Kabine gerade besetzt war. Das Licht der Kabine neben dem Waschbecken blinkte allerdings auffällig hektisch in einem warnenden Rot, und Stina hatte das deutliche Gefühl, dass dort etwas noch nicht ganz nach Plan funktionierte. Eine echte Wahl hatte sie also nicht und hielt die Hand vor den grünen Sensor der anderen Toilettenkabine. Leise surrend öffnete sich die Schiebetür wie von Geisterhand und ließ sich, nachdem sie sich mit dem Rucksack durch die Öffnung gezwängt hatte, auf die gleiche Weise von innen wieder schließen. Erst jetzt wurde ihr allerdings bewusst, dass es hier drin gar kein Licht gab. Es war plötzlich zappenduster, und nur mit viel Anstrengung konnte Stina erahnen, dass der Toilettenpapierspender leer war und sein ehemaliger Inhalt zum großen Teil über den feucht glänzenden Boden verstreut war. Wie die Toilettenbrille aussah, das wollte sie sich lieber nicht ausmalen – sie konnte gar nicht so sehr aufs Klo müssen, dass sie hier nicht schleunigst wieder raus wollte. Sie hielt die Hand vor den inneren Sensor, wartete auf die sich langsam öffnende Tür und wollte gerade zurück nach draußen gehen, als sie fast in einen pinkelnden Typen am Pissoir hineingelaufen wäre, der jetzt genau vor dem Türausgang stand.
    „Bin gleich fertig hier“, brummte der Mann, und Stina zog sich hastig zurück in ihre dunkle Kabine, um dort still den Kopf zu schütteln. Wer hatte es bloß für eine gute Idee gehalten, die Pissoirs direkt vor der Kabinentür zu platzieren? Ihr Ärger über die ihr unbekannten Toilettenkonstrukteure war fast so groß wie ihr Harndrang, der auf einmal unerträglich wurde. Jetzt überwand sie sich doch, friemelte ein Taschentuch als Klopapierersatz aus der Hosentasche und ging über dem fiesen Klositz in die Hocke. Als sie fertig war, wagte sie einen weiteren Versuch, die Kabine zu verlassen, und war im ersten Moment erleichtert darüber, dass vom pinkelnden Pissoirbenutzer nichts mehr zu sehen war. Erst als sie sich zum Waschbecken umwandte, begriff sie, dass sie trotzdem nicht allein war. Eine große Gestalt in schwarzroter Kapuzenrobe und einer ausgeblichenen Stoffmaske vor dem Gesicht stand mitten im Raum und sah genau in ihre Richtung. Es war ein Suchender, und er versperrte ihr den Weg zum Waschbecken. Stina hätte vor Schreck fast laut aufgejapst und musste sich daran erinnern, dass sie bloß einen weiteren Parkmitarbeiter vor sich hatte, der eben offenbar auch mal aufs Klo musste.
    „Hallo“, sagte sie verlegen lächelnd und trat ein Stückchen zur Seite. „Ist jetzt frei.“
    Aber der Mann im Suchendenkostüm wollte offenbar gar nicht in die Toilettenkabine, jedenfalls machte er keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Jetzt wurde Stina die Begegnung gleich wieder ein bisschen unheimlich.
    „Äh… dürfte ich mal durch?“, fragte sie freundlich und kam nicht umhin zu bemerken, dass ihre Stimme dabei ein bisschen brüchig wurde. Sie hatte auch gar nicht mehr daran gedacht, dass sie ja einen Mann spielen musste, aber sie hatte das Gefühl, dass das den Suchenden sowieso nicht interessierte.
    „Ich will mir noch eben die Hände waschen und… du stehst vor’m Waschbecken.“
    Der Suchende rührte sich nicht.
    „Tolles Kostüm“, versuchte es Stina mit einem nervösen Kompliment. „Sieht aus wie im Spiel. Aber könntest du vielleicht kurz… oder, weißt du was, ich suche mir einfach ein anderes Waschbecken, okay?“
    Sie wollte sich gerade zur Ausgangstür abwenden, als sie deutlich hörte, dass die Person im Kostüm Luft holte. Die Gestalt wollte etwas sagen.
    „Was geteilt… “
    Die Stimme klang überhaupt nicht nach einem Suchenden. Sie war ruhig und bestimmt, und dabei auf ihre Art ungreifbar.
    „…wird wieder vereint.“
    Das war alles. Der Suchende schwieg erneut, rührte sich weiterhin nicht vom Fleck, und Stina bekam es endgültig mit der Angst zu tun. Hals über Kopf rannte sie zur Tür, riss sie auf und stürmte ins Freie. Sie hielt nicht an, lief an den verdutzt guckenden Wartenden vor dem Damenklo und an Bospers Bogen-Battle vorbei bis zur Haltestation des Scavenger-Expresses, wo sie sich auf einer Wartebank niederließ und tief durchatmete.
    Die Cola war wirklich keine gute Idee gewesen. Hoffentlich bekam sie keinen Herzinfarkt – das konnte auch bei noch nicht ganz so alten Leuten manchmal vorkommen, und gestresst genug fühlte sie sich dafür mittlerweile. Nicht allein der Anblick des Suchenden war es gewesen, der sie so verunsichert hatte, sondern das, was er gesagt hatte.
    Was geteilt, wird wieder vereint.
    Die Worte hatten etwas in ihr ausgelöst, das sie selbst noch nicht richtig einordnen konnte. Das war nichts, was ein Suchender im Spiel sagte, aber sie kannte diesen merkwürdigen Satz, ganz eindeutig hatte sie diese Worte schon einmal gehört oder gelesen, und sie war sich fast sicher, dass es in einem Gothic-Spiel gewesen war. Doch obwohl sie glaubte, jeden Dialog und jede Schriftrolle auswendig zu kennen, konnte sie in diesem Moment nicht sagen, an welcher Stelle sie diesen Satz aufgeschnappt hatte, geschweige denn, was er bedeuten sollte. Es war, als klaffte da in ihrem Gedächtnis eine Lücke in Gestalt dieser paar Wörter. Das Beunruhigendste daran aber war, dass ihr der Gedanke, diese Lücke zu füllen, irgendwie Angst machte.
    Ein lautes Krähen kündigte das Eintreffen des Scavenger-Expresses an. Stina war fast versucht, ohne Ziel gleich wieder einzusteigen und davonzufahren, ganz egal wohin. Aber dann erinnerte sie sich wieder an die Eröffnungsfeier, guckte auf die Uhr ihres Handys und wusste, dass sie nicht rechtzeitig dort sein würde, wenn sie jetzt noch eine Bahntour durch den Park unternahm. Nach ein paar tiefen Atemzügen hatte sie sich wieder etwas gesammelt. Wahrscheinlich war das bloß ein gelangweilter Mitarbeiter gewesen, der sich einen Spaß daraus gemacht hatte, sie zu erschrecken – von dem würde sie sich doch nicht die Eröffnungsfeier kaputtmachen lassen!
    Von neuem Mut erfüllt strich sie mit den Fingern über das Auge Innos’, das von ihrem Hals herabbaumelte, erhob sich von der Bank und ließ die Scavenger ohne sie weiterziehen.
    Geändert von Laidoridas (08.10.2023 um 17:51 Uhr)

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    Erst als er ganz oben angekommen war, sah Lars den Drachen.
    Das rote Ungetüm war so groß wie ein zweistöckiges Haus, und es kauerte lauernd am Rande des großen Vulkankraters, wo es sich mit beiden Füßen festgekrallt hatte. Als der Drache ihn kommen sah, da breitete er seine riesigen Schwingen aus und brüllte ein so markerschütterndes Brüllen, dass Lars glaubte, seinen heißen Atem im Gesicht spüren zu können. Natürlich wusste er selbst, dass es nur der Fahrtwind war, der ihm um die Ohren zischte, während der Achterbahnwagen über die Schienen fegte. Der Kurs führte einmal um den ganzen Krater herum, und das schuppige Monster behielt ihn dabei genau im Blick. Lars fixierte die stechend gelben Reptilienaugen des Drachen, bis die Bestie den Kopf wegdrehte, und sah hinab in die Tiefen des Vulkaninneren. Über dem lavaroten Glühen hatten sich dichte Schwaden schwarzgrauen Qualms gebildet, die beständig gen Himmel stiegen. Er atmete tief ein und fühlte ein Brennen in seiner Lunge.
    Der Wagen sauste jetzt direkt unter dem zornig ausschlagenden Schwanz des Drachen hindurch. Weiter hinten im Wagen schrien einige Passagiere laut auf, teils erschrocken, teils belustigt, aber Lars verzog keine Miene. Auch dann nicht, als der Wagen nach außen über den Kraterrand hinweg schoss und in einer gewundenen Bahn entlang des Vulkanabhangs steil nach unten raste – mit einer solchen Wucht und Geschwindigkeit, dass es ihn nach hinten in den Sitz presste.
    Die anderen Fahrgäste kreischten und johlten in ohrenbetäubender Lautstärke, und auf dem Sitzplatz rechts neben ihm war Reinhard so bleich geworden, wie Lars ihn noch nie gesehen hatte. Auf dem Weg nach unten schien der Achterbahnwagen nur noch schneller und schneller zu werden. Die Echsenmenschen, die auf kleinen in die Bergwand eingelassenen Plattformen standen und drohend mit ihren Krummsäbeln wedelten, waren bald nur noch verschwommene rotbraune Flecken, während sie von oben das wütende Brüllen des Feuerdrachen auf ihrer Reise hinab zum Fuß des Vulkans verfolgte.
    Als es beinahe so wirkte, als würden sie in ihrem Gefährt gleich mit vollem Tempo im Erdboden einschlagen, da flachte die Steigung des Gleises etwas ab und der Wagen wurde sanft abgebremst. Nachdem sie auf Bodenhöhe angelangt waren, fuhren sie die letzten paar Meter in beinahe gemütlicher Geschwindigkeit zurück in die Ein- und Ausstiegsstation, wo bereits ein gutes Dutzend Kameras und noch mehr Reporter auf sie warteten. Blitzlichter zuckten auf, als erst Lars und dann hinter ihm Reinhard den Wagen verließen. Einige Parkmitarbeiter lotsten die gewöhnlichen Besucher, die mit ihnen in der Bahn gewesen waren, in eine andere Richtung zum Ausgang des Fahrgeschäfts, während sie selbst sich begleitet von Leibwächtern einen Weg zu einem länglichen Pult bahnten. Es war am Fuße des Vulkans aufgestellt, mit zwei Mikrofonen bestückt und befand sich vor einer Reihe von Stühlen, die zum größten Teil bereits mit Journalisten und Fotografen besetzt waren.
    „Wow!“, begrüßte sie Sandy mit weit aufgerissenen Augen und gestikulierte ausladend mit ihren Moderationskärtchen. „Was für eine wilde Fahrt!“
    Lars stellte sich an seinen Platz hinter das Pult, lächelte kurz in die Kameras und klopfte zweimal auf sein Mikrofon, bevor er sagte: „Wissen Sie, als wir – das Team von Aspro Parks, THQ Nordic unter der Leitung von Reinhard hier und ich –, als wir die World of Gothic gemeinsam mit den Entwicklerteams von Alkimia Interactive und Piranha Bytes geplant haben, da hatte ich eine Vision. Weißt du noch, Reinhard?“
    Der Angesprochene wirkte noch ein bisschen neben sich und versuchte gerade mit mäßigem Erfolg, sich mit zittrigen Fingern ein paar Strähnen seines durcheinander gewirbelten Haars aus dem Gesicht zu schieben. Lars selbst musste gar nicht erst nachtasten, um zu wissen, dass seine sorgfältig in Form gegelte Frisur noch genauso perfekt saß wie vor der Fahrt – ein bisschen Gegenwind hatte ihn noch nie aus dem Konzept gebracht.
    „Ich hatte die kühne Vision einer angsteinflößenden Begegnung mit einem Drachen aus allernächster Nähe, am Rande eines feuerspeienden qualmenden Vulkankraters, in schwindelerregender Höhe, auf einer der schnellsten Gyrocoaster-Strecken der Welt“, fuhr Lars fort, ohne Reinhard weiter zu beachten. „Um ganz ehrlich mit Ihnen zu sein, ich habe nicht geglaubt, dass es möglich ist. Aber da ich weiß, dass die Ingenieure von Aspro Parks Unglaubliches leisten, habe ich ihnen von meiner Vision erzählt und sie gefragt: Was braucht ihr, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen? Und wissen Sie, was sie gesagt haben?“
    Lars machte eine effektvolle Pause, während er den Blick über die Menge der Reporter, Journalisten und Kameraleute schweifen ließ.
    „Sie haben gesagt: Gib uns vier Wochen.“ Er lachte kurz auf und nickte mit anerkennendem Schmunzeln. „Was soll ich sagen? Auf den Tag genau vier Wochen später war der Prototyp von Feomathars Flammenritt fertiggestellt. Und ab heute kann jeder einzelne von Ihnen erleben, wovon ich damals nur zu träumen wagte. Das ist es, worum es in der World of Gothic geht: Unglaubliche, wilde Träume wahr werden zu lassen.“
    „Soo soo schön! Was für große Worte hier am Anfang unserer kleinen Pressekonferenz!“, freute sich Sandy und schaute sich suchend im Fachpublikum um. „Da wir ja nicht viel Zeit haben, schlage ich vor, dass wir auf der Stelle mit Ihren Fragen anfangen. Bitte heben Sie die Hand, wenn Sie… oh, wow, direkt so viele Fragen! Beginnen wir doch mit Ihnen gleich hier vorne. Ja, Sie dürfen.“
    „Schmidt, Werdener Nachrichten“, stellte sich ein dürrer Mann im langärmligen Strickpulli vor, der für diesen brütend heißen Sommertag völlig unangemessen gekleidet wirkte und eine fast lächerlich hässliche kreisrunde Brille trug. „Sagen Sie, Herr Wingefors, haben Sie sich mit diesem Freizeitpark auch einen ganz persönlichen Traum erfüllt? Einen Kindheitstraum vielleicht?“
    „Natürlich“, antwortete Lars ohne zu zögern. „Welches Kind träumt nicht davon, einen eigenen Freizeitpark zu bauen? Ich würde jetzt zu gerne dem kleinen, neunjährigen Lars in die Augen schauen, ihn bei der Schulter packen und ihm sagen: Pass auf, Junge. Deine Träume müssen nicht nur Träume bleiben. Du kannst nach den Sternen greifen, wenn du sie nie aus den Augen verlierst und wenn du jeden Tag hart dafür arbeitest.“ Er schaute eine Weile versonnen ins Leere, dann hob er den Blick und lächelte. „Aber ich schätze, der kleine Lars hat es auch ohne meinen Ratschlag hinbekommen.“
    Tatsächlich hatten Freizeitparks in seinen Zukunftsplänen nie eine große Rolle gespielt. Schon als Kind hatte er sich ganz andere, ungleich größere Ziele gesetzt. Manche davon hatte er bereits erreicht, andere standen noch aus.
    „Fröhlich, Gameswirtschaft.de“, riss ihn eine ihm schon bekannte Journalistin aus seinen Gedanken, der Sandy als nächster das Wort erteilt hatte. „Herr Wingefors, als CEO stehen Sie einer der inzwischen größten Aktiengesellschaften Europas vor. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die Embracer Group eine Vielzahl von Unternehmen aus der Gaming-Branche aufgekauft, zuletzt allerdings auch vermehrt spielefremde Unternehmen – Aspro Parks ist ein gutes Beispiel. Was sagen Sie den Kritikern, die angesichts des rasanten Wachstums der Embracer Group von einer milliardenschweren Blase sprechen, deren Platzen nur eine Frage der Zeit sei?“
    Lars zwang sich erneut zu einem Lächeln.
    „Wissen Sie, diese Prognosen begleiten mein Unternehmen seit über zehn Jahren. Wenn es nach Ihnen und Ihren Kolleginnen ginge, dann wären wir schon so oft geplatzt, dass ich es gar nicht mehr zählen kann. Wenn ich auf all die schlauen Ratschläge jemals gehört hätte – wenn ich jemals getan hätte, was andere Leute von mir wollen –, wissen Sie, wo ich dann gerade wäre? Im schwedischen Niemandsland, in der Bäckerei meiner Eltern. Ich würde ein paar Teigtaschen kneten oder Windbeutel verpacken, genauso wie ich es schon die letzten vierzig Jahre getan hätte.“
    Er stützte sich mit beiden Händen am Pult auf und beugte sich bis kurz vor das Mikro.
    „Aber wissen Sie, ich wollte noch nie kleine Brötchen backen, und die Embracer Group will es ebenso wenig. Bisher sind wir mit dieser Haltung weit gekommen. Äußerst weit.“
    Ein paar Sekunden lang sagte niemand etwas, dann ergriff Sandy wieder das Wort.
    „Die Embracer Group, das ist wirklich eine wahnsinnige Erfolgsgeschichte! Kommen wir zur nächsten Frage… Sie da hinten mit dem –“
    Sandys Worte gingen in einer allgemeinen Unruhe unter, als der Boden unter ihren Füßen plötzlich unheilvoll grollend zu beben begann. Weit über ihren Köpfen stieß der von hier aus nicht sichtbare Drache einen tiefen, bedrohlichen Schrei aus, und als Lars den Kopf hob, sah er eine besonders dichte schwarze Rauchwolke aus dem Krater gen Himmel steigen. Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann war es wieder vorüber.
    „Ich habe ihnen gesagt: Macht es so realistisch wie möglich“, erklärte Lars grinsend. „Und sie haben es so realistisch wie möglich gemacht.“
    Er warf Reinhard einen Blick zu, der ihn mit gequältem Lächeln erwiderte. Offenbar hatte er nach der Achterbahnfahrt gerade kein Erdbeben nötig gehabt.
    „Bevor Sie fragen, der Rauch ist zu einhundert Prozent CO2-frei und gesundheitlich wie ökologisch absolut unbedenklich“, betonte Sandy. „Sie können das alles auch in der Pressemappe nachlesen, die Sie vorhin erhalten haben. Sicherheit steht bei uns an allererster Stelle.“
    „Ist das so?“
    Ein Mann mit struppigem rotem Bart war in einer der hinteren Reihen aufgestanden. Sein Gesicht war so stark gerötet, dass Lars einen ausgemachten Sonnenbrand vermutete, aber vielleicht war der Mann auch nur besonders aufgebracht.
    „Wie sicher kann ein Freizeitpark derzeit überhaupt sein?“, fuhr er fort, obwohl die perplexe Sandy ihm überhaupt nicht das Wort erteilt hatte. „Halten Sie es wirklich für verantwortungsvoll, den Park zu öffnen, während die Hintergründe der Anschläge im Phantasialand und im Heide-Park noch immer ungeklärt sind? Was sagt Ihnen, dass die World of Gothic nicht ebenfalls zum Ziel wird – besonders jetzt, da sie zur Eröffnung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht?“
    Sandy blätterte hastig in ihren Moderationskarten, aber so lange wollte Lars das heikle Thema nicht ohne Einordnung im Raum stehen lassen.
    „Danke, dass Sie mir die Gelegenheit geben, ein Thema anzusprechen, das uns tatsächlich ausgesprochen wichtig ist“, begann er seine Antwort. „Zunächst einmal möchte ich zur Vermeidung von Missverständnissen feststellen, dass im Zusammenhang mit den traurigen Vorfällen in Soltau und Brühl nicht von Anschlägen gesprochen werden sollte, solange die Möglichkeit zweier tragischer Unfälle nicht von Seiten der Polizei ausgeschlossen wurde.“
    „Sie wissen aber schon, dass es zwei Bekennerschreiben gab?“, ging der Mann mit dem Sonnenbrandgesicht dazwischen. „Die werden Sie wohl kaum bei einem Unfall finden.“
    „Den Aussagen der ermittelnden Polizeidienststellen zufolge könnten diese Schreiben durchaus auch von Trittbrettfahrern stammen“, entgegnete Lars. „Wir befinden uns natürlich im ständigen engen Austausch mit den Behörden sowohl auf örtlicher wie auch auf Landesebene und haben keinen Grund zur Annahme, dass eine erhöhte Gefahr für unsere Besucher besteht. Dennoch sind wir für den Fall einer möglichen Bedrohung mit einem umfassenden Sicherheits- und Schutzkonzept vorbereitet, das den Einsatz neuester Technologie beinhaltet. Aus naheliegenden Gründen kann ich es Ihnen nicht im Detail erklären, aber lassen Sie mich so viel sagen: Es gibt nur wenige Orte auf der Welt, an denen Sie sich guten Gewissens so sicher fühlen können wie in der World of Gothic.“
    Der Fragesteller schien mit dieser Antwort alles andere als glücklich zu sein, und Lars fürchtete bereits, dass er eine längere Diskussion vom Zaun brechen wollte, aber als Sandy dem nächsten Journalisten das Wort erteilte, setzte sich der Mann widerstandslos wieder hin.
    „Heiko Klinge von der GameStar hier. Herr Pollice, Sie begleiten die Gothic-Reihe jetzt bereits seit vielen Jahren und kennen die Spiele wie Ihre Westentasche. Welche sind denn Ihre fünf ganz persönlichen Lieblings-Gothic-Momente hier im Park, die Sie unseren Leserinnen und Lesern ans Herz legen können?“
    Lars hätte am liebsten die Augen verdreht. Er würde ganz sicher nicht hier herumstehen wie ein Idiot, während sich Reinhard fünf Gothic-Momente für irgendeine Klickstrecke aus den Rippen leierte. Seine Zeit war ihm zu wertvoll, um sie auf solche Weise mit Füßen zu treten.
    „Das wird sicher nicht leicht, sich auf fünf zu beschränken, Reinhard“, sagte er mit kollegialem Schmunzeln in Richtung des THQ-Nordic-Kreativchefs. „Leider muss ich mich an dieser Stelle schon einmal verabschieden, ich werde bei den Vorbereitungen unserer Eröffnungsfeier gebraucht. Sie werden ja gleich sicher alle vor Ort sein, hoffe ich?“
    „Na ganz bestimmt!“, versprach Sandy und umarmte ihn zum Abschied. „Ich bin schon ganz gespannt, was uns da gleich erwartet. Danke für deine Zeit!“
    „Sehr gern.“
    Lächelnd nickte Lars zum Abschied ein paar der Journalisten zu, die er schon einmal persönlich gesprochen hatte, und ließ sich von seinen Bodyguards über einen Hintereingang aus dem Achterbahngelände hinaus führen. Etwas versteckt hinter dem großen Vulkan befand sich eine kleine asphaltierte Straße, die für die Parkbesucher unzugänglich war und üblicherweise vor allem von Lieferwagen und anderen für die Logistik erforderlichen Gefährten befahren wurden. An diesem späten Vormittag allerdings wartete an dieser Stelle eine schwarze Limousine auf ihn. Ein Leibwächter öffnete die hintere Tür, und er stieg ein. Auf der Rückbank saß bereits ein bärtiger Mann mittleren Alters, der in ein weißes Gewand gekleidet war und sich mit einem dunklen Stoffband ein ebenso weißes Tuch um den Kopf gebunden hatte.
    „Wie ich sehe, haben Sie Ihren kleinen Rundgang abgeschlossen“, begrüßte Lars den Scheich in perfektem Arabisch. Beim ersten Meeting mit seinen Geschäftspartnern aus Saudi-Arabien hatte es noch Situationen gegeben, in denen sich die Männer auf der anderen Seite des Tisches in einer ihm fremden Sprache unterhalten hatten. Er hatte es gehasst, und er hatte gleich gewusst, dass er es dazu nicht noch einmal kommen lassen würde. Also hatte er an sich gearbeitet. Beim zweiten Meeting hatte er schon gut zuhören können, beim dritten hatte er seine Geschäftspartner auf Arabisch begrüßt.
    „Ja, Ihre Leute haben mir die versprochene Führung gegeben“, sagte Scheich Alshammari. „Äußerst beeindruckend.“
    „Ich hoffe, Sie haben sich selbst davon überzeugen können, dass unsere gemeinsamen Pläne wie abgesprochen umgesetzt wurden. Sie haben doch alles zu Ihrer Zufriedenheit vorgefunden?“
    „Bislang sehe ich keinen Anlass zu der Annahme, dass wir unsere Investitionen in Ihr Unternehmen bereuen müssen. Allerdings…“ Alshammari machte eine kurze Pause, bevor er hinzufügte: „Wir können den Prozess nicht etwas beschleunigen?“
    „Nicht jetzt gleich“, erwiderte Lars. „Ich werde beizeiten sehen, was sich machen lässt.“
    Der Scheich nickte und schaute aus dem Fenster.
    Wie aus einer anderen Welt drang das Motorengeräusch ganz sanft ins Innere der Limousine, als sich das Gefährt in Bewegung setzte. Die Fahrt dauerte nur drei Minuten, und drei Minuten lang wurde geschwiegen.

    Er wusste, dass er sich jetzt keinen Fehler erlauben durfte. Es stand zweiundzwanzig zu zweiundzwanzig, und vielleicht würde schon sein nächster Zug über Sieg oder Niederlage entscheiden. Eben jener Zug, über dem er sich jetzt schon den halben Vormittag lang den Kopf zerbrochen hatte. Er hatte seine Optionen bis auf zwei heruntergedampft, aber diese beiden hätten unterschiedlicher nicht sein können. Angriff oder Verteidigung, Zocken oder Zaudern. Alles noch einmal auf eine Karte setzen und womöglich eine bittere Niederlage in Kauf nehmen – oder das Erreichte verwalten und ein Unentschieden riskieren, das ihn ebenso wenig befriedigen würde. Er liebte das Spiel mit den Extremen, das ständige Ausbalancieren von Yin und Yang. Am meisten aber liebte er es, ein Gleichgewicht zwischen ihnen zu schaffen. Er wollte Adanos sein in diesem Spiel, aber manchmal war das nicht möglich. Manchmal musste es Innos oder Beliar sein. Manchmal musste eine Entscheidung her, eine radikale, konsequente –
    „Willst du Ärger, Morra?!“
    Milde irritiert blickte Mike vom Handy-Display auf und stoppte gerade noch rechtzeitig, um nicht in einen Zigarette qualmenden Ork-Krieger hinein zu rennen, der mit der freien Hand drohend mit der Axt wedelte.
    „Nee, lass mal“, nuschelte Mike und schlurfte an der haarigen Bestie vorbei in Richtung Eingang. Der Ork rief ihm hörbar belustigt ein paar Beleidigungen hinterher, aber er war nicht in der richtigen Stimmung für sowas. Er guckte wieder aufs Handy, wischte die offene App beiseite und rief stattdessen das PDF mit dem QR-Code auf, das ihm per Mail zugeschickt worden war.
    Der Kontrolleur am Eingang hielt kurz sein Scanning-Gerät über das Display, ohne ihn überhaupt richtig anzugucken. „Kannst rein.“
    Drinnen war es deutlich dunkler als unter dem grellen Sommerhimmel, und für ein paar Sekunden flimmerten die weißen Kreise, die eben noch auf dem Handy-Bildschirm zu sehen gewesen waren, vor seinen Augen herum. Er blinzelte die Kreise weg, aber das änderte wenig an seiner Orientierungslosigkeit: Im Backstage-Bereich der Showarena wimmelte es vor Leuten in Kostümen und in Anzügen, mit Kabeln und Mikrofonen, und jeder schien ganz genau zu wissen, was gerade zu tun war. Nur er selbst fühlte sich im ersten Moment wie bestellt und nicht abgeholt – bis er eben doch abgeholt wurde.
    „Herr Hoge, das ist ja wunderbar, dass Sie noch gekommen sind!“ Ein jüngerer, wahnsinnig schick angezogener Mann lief auf ihn zu und reichte ihm mit professionellem Lächeln die Hand. „Jochen Reuter, Sie können mich gerne Joe nennen.“
    Mike erwiderte den Händedruck, der erwartungsgemäß ziemlich labberig ausfiel.
    „Wir hatten schon befürchtet, Sie hätten es doch nicht mehr einrichten können“, fuhr Joe fort und holte ein kleines, aber umso teurer wirkendes Ausklapp-Tablet aus einer Tasche seines türkisen Sakkos, auf dem er sofort herumzutippen begann.
    „Hat’n bisschen länger gedauert heute morgen“, sagte Mike und fand, dass er damit schon viel zu viel erzählt hatte. Er war diesen Typen hier überhaupt nichts schuldig.
    „Das ist gar kein Problem“, versicherte ihm sein geschniegeltes Gegenüber. „Wir starten schon in einer halben Stunde mit der Show, aber das kriegen wir locker noch gewuppt. Sie müssten dann einmal flott dort drüben in die Maske, das wird nicht lange dauern. Und sicher möchten Sie sich auch noch kurz mit Ihren alten Freunden besprechen, die hab ich eben noch… ah, gleich da hinten neben dem Sektbuffet, sehen Sie?“
    Mike sagte nichts, und er guckte auch nicht in die Richtung. Es gab die eine oder andere Visage, die er gar nicht spät genug zu Gesicht bekommen konnte.
    „Die freuen sich bestimmt auch alle, Sie zu sehen“, behauptete Joe. „Viel absprechen müssen Sie aber nicht, eigentlich brauchen Sie gleich nichts weiter machen als mit den anderen zusammen auf der Bühne zu stehen und ein bisschen nett zu gucken.“
    „Krieg ich hin“, brummte Mike.
    „Na klar. Das klappt auch ganz spontan! Das wichtigste aber…“ Joe guckte wieder auf sein Tablet und wählte mit dem Zeigefinger irgendetwas darauf aus. „Ich werde sofort Mister Wingefors über Ihre Ankunft benachrichtigen, damit wir gemeinsam einen Termin für Sie vereinbaren können. Direkt im Anschluss an die Show ist möglicherweise noch ein Timeslot frei, wenn das für Sie günstig ist?“
    Mike nickte knapp. „Passt.“
    „Wunderbar! Ich melde mich dann gleich noch einmal bei Ihnen, wenn ich mehr weiß. Großartig, dass Sie hier sind, und viel Spaß!“
    „Jo“, sagte Mike und machte Platz für ein paar glatzköpfige Männer in Templerrüstungen, die anscheinend zum Qualmen nach draußen wollten. Bei ihrem Anblick wurde ihm wieder schmerzlich bewusst, wie viel lieber er jetzt zuhause mit einem Joint auf dem Balkon gesessen hätte. Aber jetzt war er nun mal hier, also würde er sich pudern lassen, ein bisschen auf der Bühne rumstehen und sich später anhören, was Wingefors ihm zu sagen hatte. Es war eigentlich kein so übler Job, wenn er bedachte, dass er an einem Tag mehr verdienen würde als in den letzten paar Jahren zusammengerechnet. Was natürlich nicht viel zu bedeuten hatte.
    „Mike! Wir dachten schon, du lässt dich gar nicht mehr blicken!“
    Aus dem Zugang zur Schminkecke, die mit einigen großen Aufstellwänden vom Rest des Backstage-Bereichs abgetrennt war, kamen ihm zwei alte Bekannte entgegen.
    „Fehlt grade noch, dass ihr Deppen euch alleine vor die Leute stellt und den ganzen Ruhm erntet“, sagte Mike und ließ sich beim Anblick seiner alten Kumpels Kai und Mattes zu einem Grinsen hinreißen. Die beiden hatten sich fast so schlimm herausgeputzt wie dieser Joe, aber in ihren schicken Klamotten sahen sie zum Glück immer noch genauso scheiße aus wie damals, als sie noch alle zusammen mit den anderen Pennern in einem viel zu kleinen verqualmten Büro gehockt und sich den ganzen Mist aus den Fingern gesaugt hatten, um den jetzt so ein riesiger Bohei gemacht wurde.
    „Denken wir gar nicht dran“, beteuerte Mattes und begrüßte ihn mit dem klassisch-rauen Ruhrpott-Begrüßungshandschlag, bevor sich Kai zu einer fast schon stürmischen Umarmung mit ausgiebigem Rückenklopfen hinreißen ließ.
    „Ist ja gut, Leute“, brummte Mike. „Barcelona muss ja das letzte Höllenloch sein, wenn ihr mich da so vermisst.“
    „Barcelona ist schon okay“, sagte Kai. „Aber mit dir wär’s schon noch mal was anderes.“
    „Ganz ehrlich, red doch nochmal mit Reinhard“, schlug Mattes vor. „Ich wette, sein Angebot gilt noch. Wir legen gerade erst so richtig los mit dem dritten Teil, und wenn du wolltest, dann wärst du garantiert sofort an Bord.“
    „Ich will aber nicht“, stellte Mike klar. „Sorry, Jungs, aber bevor ich Gothic drei ein zweites Mal mache, kann ich mich auch gleich vor’n Traktor schmeißen. Könnt ihr knicken.“
    Mattes schien noch nicht ganz aufgegeben zu haben. „Du kannst das doch nicht mit damals vergleichen. Wir haben ‘ne fertige Engine, da kannst du jetzt schon von Varant nach Nordmar drin laufen. Alles grundsolide, keine Experimente. Dafür wird das diesmal ganz groß aufgezogen storymäßig, das wird ein total anderes Spiel. Und alles superentspannt, das ist ‘ne ganz andere Stimmung als damals.“
    Mike zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ja gerade deshalb weil ich nicht dabei bin.“
    „Jetzt komm, Mike, so war das nicht gemeint“, sagte Mattes. „Weißt du aber selber.“
    „Den Schuh von damals musst du dir wirklich nicht anziehen“, stimmte Kai mit ein. „Jetzt haben wir halt völlig andere Rahmenbedingungen. Das ist viel lockerer alles, die machen uns da überhaupt keinen Druck.“
    „Vielleicht wird’s ja auch nicht ganz scheiße“, sagte Mike. „Aber macht das mal schön ohne mich. Ich bin durch mit dem ganzen Gothic-Gedrisse.“
    „Das darfst du aber gleich nicht laut sagen“, grinste Kai. „Kommt wahrscheinlich nicht so gut an.“
    „Ich sag überhaupt nix. Das Labern könnt ihr übernehmen, die haben mich nur fürs Rumstehen gebucht. Ach, und fürs nett gucken.“
    „Wenn sie da mal nicht an den falschen Mann geraten sind“, kommentierte Mattes schmunzelnd. „Okay, du musst noch in die Maske, oder? Wollen dich hier ja nicht festquatschen und am Ende schuld sein, dass du doch noch zu spät dran bist. Aber…“
    Er zögerte und schien plötzlich nicht sicher zu sein, ob er den Satz wirklich vollenden wollte.
    „Also… wenn du gleich vielleicht noch Zeit hast, könnteste ja mal…“
    „Könnte ich was?“
    Mattes druckste ein bisschen herum.
    „Naja, ich mein… haste Björn schon gesehen?“
    Mike schnaubte entnervt auf. Er hatte schon befürchtet, dass einer der beiden damit ankommen würde.
    „Nee. Hab ich nicht, und muss ich auch nicht.“
    „Mike, das kann doch nicht ewig so weitergehen mit euch“, seufzte Kai. „Mattes hat recht, rede doch mal mit ihm. Ihr wart ewig die allerbesten Freunde, und jetzt…“
    „Jetzt halt nicht mehr. Wüsste nicht, was ich dem noch zu sagen hätte.“
    „Das ist doch jetzt bestimmt schon zehn Jahre her, dass ihr mal ganz normal miteinander geredet habt. Ihr hättet euch ja wohl ‘ne Menge zu erzählen!“
    „Ja, es wird echt Zeit, dass ihr den alten Mist mal hinter euch lasst. Björn würde sich auch freuen, garantiert.“
    „Der wär superglücklich, jede Wette.“
    „Ach ja?“, knurrte Mike, dem das Gespräch mittlerweile ganz schön auf den Sack ging. „Warum kommt er dann nicht selber an, wenn er so scharf drauf ist, mich vollzulabern?“
    „Weil du ihm beim letzten Mal gesagt hast, dass du ihm die Fresse polierst, wenn er dir nochmal unter die Augen tritt.“
    „Mach ich ja auch. Und jetzt verpisst euch, ich muss hier mal weitermachen im Programm.“
    „Okay, okay“, gab Kai etwas enttäuscht nach. „Wir sehen uns gleich!“
    „Jo.“
    Sie verabschiedeten sich mit dem ruppig-rustikalen Ruhrpott-Verabschiedungshandschlag, und Mike ging weiter in den Schminkbereich, wo eine Reihe von Hockern vor großen Spiegeln aufgestellt war. Offenbar wurde es langsam wirklich ein bisschen knapp mit der Zeit, denn fast alle Plätze waren schon wieder leer. Nur auf dem ersten Hocker gleich neben dem Eingang saß noch jemand: ein in die Jahre gekommener Mann mit zerknautschtem Gesicht und einem runden Ring in jedem Ohrläppchen, der eine dunkelgrüne Stoffkluft mit enormem Stehkragen trug und mit krächziger Stimme auf sein Handy einbrüllte, während er von einem Maskenbildner vollgepinselt wurde.
    „Pass auf, ich ruf jetzt Specki an! Der kommt sofort, der – Weiß ich selber, dass was anderes im Vertrag steht, aber ohne Specki wird das’n Desaster, das ist dir doch genauso klar wie mir! Oder ist dir das nicht klar? – Ja siehste. Wenn wir Specki holen… – Ja, ich bin gleich fertig hier, dauert vielleicht noch ‘ne Minute, dann ruf ich Specki an. – Der kommt sofort, das ist gar kein Ding, du kennst doch Specki. Ich ruf ihn an und er – pass auf, ich bin gleich fertig und dann – ja gut, dann reden wir eben nochmal. Ich komm sofort raus, okay? Dann rufen wir Specki halt zusammen an. – Ja, du mich auch!“
    Mike hatte bereits auf dem Stuhl neben ihm Platz genommen, als der Mann auflegte und ihn zum ersten Mal wahrzunehmen schien.
    „Mike…?“, fiel allmählich der Groschen. „Mann, bist du alt geworden!“
    „Tach, Einhorn“, begrüßte Mike den In-Extremo-Frontmann. „Passt dir der alte Gothic-Fummel denn noch?“
    „Ist ganz frisch“, erklärte das letzte Einhorn und zupfte am turmgleich in die Höhe schießenden Kragen des exzentrischen Outfits herum. Die grüne Jacke stand weit offen und gewährte einen großzügigen Blick auf den nackten Oberkörper des gealterten Rockstars, der zwar sicher schon einmal bessere Jahre gesehen hatte, aber immerhin in Sachen Haarigkeit nichts vermissen ließ. Auf das Brusthaar gebettet war ein unförmiges und übertrieben großes goldenes Amulett, das an einer dicken Kette um den Hals des Einhorns hing. „Ganz neu maßgeschneidert von den Freizeitpark-Typen, auf deren Kosten. Die wollten, dass wir alle wieder genauso aussehen wie im Spiel. Mensch Mike, wie lang ist das jetzt her? Dreißig Jahre?“
    „Fehlt nicht mehr viel“, sagte Mike.
    „Dreißig Jahre fast!“, krächzte das Einhorn und machte eine ausladende Handgeste, mit der er seinem Maskenbildner beinahe einen Kinnhaken verpasst hätte. „Hab ich noch vor Augen als wär’s gestern gewesen, wie wir da mit euch rumgehockt sind und unsere Moves für euer Spielchen gemacht haben. Das war’n noch Zeiten, was?“
    „Jo“, sagte Mike, der sich an die gemeinsame Arbeit im Motion-Capturing-Studio vor allem durch die Nase erinnerte. „Du hast das halbe Equipment vollgekotzt.“
    „Ihr hattet auch echt übles Zeug am Start, du und die Jungs.“ Das heisere Lachen des Einhorns endete in einem Hustenanfall, der eine kurze Make-up-Pause erzwang. Eine Maskenbildnerin hatte derweil Mike bemerkt und begann nach kurzer Begrüßung damit, ihn ausgiebig vollzupudern. Mike hasste es von der ersten Sekunde an, aber ließ es widerwillig über sich ergehen.
    „Und… heute?“, röchelte das letzte Einhorn und zog am Stoff seines kurzen Kilts herum, der offenbar ein bisschen zu eng geraten war. „Was machste heutzutage so, Mike? Biste wieder an was dran?“
    „Gibt immer ‘n paar Projekte“, sagte Mike. „Kinder sind jetzt aus’m Haus, da ist das alles wieder was entspannter. Hab wieder mit Go angefangen, auf’m Handy.“
    „Aach, spielste das auch, das Teufelszeuch?“, rief das Einhorn. „Da kam der Flex mit an, sagt so: Hier, pack das mal auf dein Handy drauf, dann kann ich dir Geschenke schicken, brauch ich für so ‘ne Aufgabe, und ich so: Kann mit den Pokémons nix anfangen, aber ja gut, dann mach ich das halt. Und jetzt häng ich da dran wie an der Nadel, und wenn wir auf Tour sind jedes Mal so: Wo ist hier die nächste Arena?!
    Mike wartete ab, bis das Einhorn seinen röchelnden Lachanfall beendet hatte, bevor er erklärte: „Nee, nix mit Pokémon. Einfach nur Go, das Brettspiel.“
    „Ach so?“, gab das Einhorn ratlos zurück. „Kenn ich nicht.“
    „Spielen sie auch hauptsächlich in Asien“, erklärte Mike und schloss die Augen, als die Maskenbildnerin mit dem Puderpinsel gefährlich nah in deren Nähe kam. „Ist auf jeden Fall ganz geil. Hab da vor Ewigkeiten schon mit angefangen, und jetzt bin ich grade wieder voll drin. Kann man gut bei runterkommen.“
    „Dann könnt ich das jetzt auch gebrauchen“, schnaufte der In-Extremo-Sänger. „Haste das grad mitgekriegt?“
    „Bisschen“, sagte Mike und machte die Augen wieder auf, als die Pinselgefahr vorübergezogen war. „Irgendwas mit Specki?“
    „Ja, pass auf“, begann das Einhorn und hatte sich schon nach dem ersten halben Satz in Rage geredet. „Als die uns für die Show hier gebucht haben, da wollten die uns nur einen Playback-Gig geben. Meinten so: Ist alles Playback von vorne bis hinten, die ganze Show, geht gar nicht anders. Wär viel zu aufwändig mit echtem Equipment und mit Tonabmischung und so. Bin ich aber hart geblieben und hab gesagt: In Extremo ist ‘ne Live-Band, basta. Uns gibt’s nur live oder gar nicht.“
    „Verstehe.“
    „Aber war nix zu machen, also haben wir gesagt: Ja gut, dann eben Playback. Und dann die so: Wir wollen euch so nah am Spiel haben wie’s geht, 2001 all again. Also unser Gitarrist von früher, der Thomas, der sollte wieder mit auf die Bühne, und unser alter Drummer Flail auch. Dafür mussten Van Lange und Specki raus, weil, die waren halt damals noch nicht dabei, als wir das für euer Spiel gemacht haben. Hab ich denen gesagt: Jungs, geht’s noch? Wir sind nicht nur ‘ne Band, wir sind ‘ne verdammte Familie. Wir tauschen nicht einfach die Leute aus, nur weil euch deren Fratzen nicht in den Kram passen.“
    „Jo, gute Einstellung.“
    „Aber wollten die unbedingt, und die hatten Flail und Thomas auch schon angeschrieben, also waren die dann dabei und wir haben mit denen geprobt. Ging auch alles ganz gut, aber was soll da auch schiefgehen, war ja alles Playback. Hat sich natürlich scheiße angefühlt, hat sich angefühlt wie Fernsehgarten.“
    „Kann ich mir vorstellen.“
    „Und ich weiß, wie sich Fernsehgarten anfühlt, kannste mir glauben. Jedenfalls hatten wir dann grad eben die Generalprobe, und vorher kam plötzlich einer von denen auf uns zu und meinte so: Gute Nachrichten, Jungs, wir haben alle Hebel in Bewegung gesetzt und ihr könnt jetzt doch live spielen! Und wir so: Ja mega, let’s go, Rock’n’Roll, aber Flail so: Ja scheiße Mann, ich hab doch seit zehn Jahren kein Schlagzeug mehr gespielt. Und ich so: Und das sagst du uns jetzt, Mann? Und er so: War doch alles immer Playback bisher! Ja, und jetzt sitzen wir mitten in der Scheiße. Die Generalprobe war ’ne Katastrophe, Flail war total neben dem Beat. Hat seine Pauke manchmal nicht mal getroffen, das war richtig übel.“
    „Scheiße.“
    „Ja, scheiße, genau das hab ich auch gesagt!“ Die lädierten Stimmbänder des letzten Einhorns schienen nach der längeren Erzählung jetzt nur noch an einem seidenen Faden in seiner Kehle zu baumeln. Mike fragte sich, ob die Band außer ihrem Drummer nicht noch ein ganz anderes Problem hatte, denn er hatte keine Ahnung, wie das Einhorn mit diesem erbärmlichen Rest einer Stimme auch nur einen halben Song durchhalten wollte. Der Sänger selbst schien sich darüber aber keine größeren Gedanken zu machen und fuhr unbeirrt krächzend fort: „So treten wir gleich auf keinen Fall auf, nur über meine Leiche! Ist mir scheißegal was im Vertrag steht, ich ruf gleich Specki an, und dann übernimmt der das. Der kann ja nicht weit weg sein – weil, Specki ist mit uns zusammen hier in den Park gekommen, aber eigentlich nur, weil er Freizeitparks so abfeiert. Der testet grade alle Achterbahnen durch und frisst sich durch die Zuckerwatte, aber wenn ich den anrufe, dann ist der sofort da, setzt sich ans Drumkit und liefert ab. Wenn man sich auf einen hundert Prozent verlassen kann, dann ist das der Specki.“
    „Sie wären dann soweit“, verkündete der Mann, der das Einhorn-Make-up auf Vordermann gebracht hatte. Dass er seine Arbeit tatsächlich so mühelos vollendet hatte, war eine Leistung, die Mike durchaus imponierte, denn der Sänger hatte sich nun wirklich nicht bemüht, stillzuhalten. „Versuchen Sie bitte, beim nächsten Auftritt etwas weniger nah an der Feuerspuckerin zu stehen, dann wird das Make-up diesmal auch länger halten.“
    „Wird gemacht.“ Das letzte Einhorn nahm sein Handy, stand auf und klopfte Mike zum Abschied auf die Schulter. „Man sieht sich, Mike. Ich ruf jetzt Specki an.“
    „Mach das. Viel Glück mit der Show.“
    Nachdem das Einhorn gegangen war, dauerte es vielleicht noch eine Minute, bis auch Mike fertig gepudert und hier und da mit ein bisschen klebriger Schminke beschmiert worden war. Als er zurück in den großen Hauptbereich des Backstage-Areals kam, war es dort in der Zwischenzeit noch einmal voller und lauter geworden. Überall standen größtenteils kostümierte Menschen herum und hatten sich bereits in mal kleine, mal größere Grüppchen aufgeteilt, die von den Produzenten der Show offenbar gerade in eine ganz bestimmte Reihenfolge dirigiert wurden – vermutlich die Reihenfolge ihres späteren Auftritts.
    „Herr Hoge“, hörte er eine Frauenstimme seinen Namen rufen und drehte sich zu ihr um. „Hier entlang bitte!“
    Die Produktionsmitarbeiterin führte ihn an Diego, Lester und einem guten Dutzend Orks vorbei, bis er sich auf einmal inmitten einer ihm sehr bekannten kleinen Menschengruppe wiederfand. Er nickte Kai und Mattes zu, bis das Unvermeidliche geschah und sich sein Blick mit dem von Björn kreuzte. Für einen viel zu langen Moment schauten sie sich an, ohne dass einer von ihnen etwas sagte, bis Mike schließlich wegguckte. Er war sich aber ziemlich sicher, dass Björn im gleichen Moment auch weggeguckt hatte.
    „Hallo Mike!“ Jenny, die neben ihrem Mann stand, machte einen Schritt auf Mike zu und umarmte ihn freundlich. „Schön dich mal wieder zu sehen.“
    „Tach Jenny“, sagte er.
    „Was machst du denn eigentlich so? Man hört ja gar nichts mehr von dir.“ Jenny stellte sich anscheinend absichtlich ein bisschen dumm. Sie musste doch genau wissen, was zwischen Björn und ihm vorgefallen war.
    „Gibt ‘ne Menge Projekte“, sagte Mike. „Man hat ja immer was zu tun.“
    „Ihr beiden müsst euch unbedingt mal zusammen hinsetzen und so richtig ausgiebig plaudern“, schlug Jenny vor und sah Mike und ihren Ehemann abwechselnd auffordernd an, während Kai und Mattes erwartungsvoll grinsten. „Am besten noch gleich heute nach der Show. Na, was sagt ihr?“
    „Hab’n Termin nach der Show“, schoss es aus Mike heraus. Björn murmelte irgendetwas, das im Lärm der vielen Gespräche um sie herum unterging, und Mike hatte fast das Gefühl, dass er ein bisschen enttäuscht aussah. Aus irgendeinem bescheuerten Grund bekam er plötzlich ein schlechtes Gewissen, obwohl es natürlich verdammt nochmal Björn war, der ein schlechtes Gewissen haben musste.
    „Aber…“, murmelte Mike, „…vielleicht später heute Nachmittag?“
    „Okay“, sagte Björn und fummelte am Schläferamulett herum, das wie immer um seinen Hals hing. „Können wir mal gucken.“
    „Ja, gucken wir mal.“
    „Was sich so ergibt.“
    „Genau.“
    „Wunderbar!“, freute sich Jenny. „Fünfzehn Uhr an der Arena im alten Lager?“
    Mike hatte eigentlich nicht vorgehabt, so lange hier zu bleiben. Er hatte keine Ahnung, was Wingefors von ihm wollte, aber er war fest entschlossen, nach dem Meeting mit ihm so schnell wie möglich wieder zu verschwinden – das war jedenfalls bisher der Plan gewesen. Wollte er den wirklich ändern, ausgerechnet wegen Björn?
    „Jo“, sagte Mike.
    „Machen wir so“, sagte Björn.
    Kai und Mattes sahen so aus, als hätten sie am liebsten applaudiert, aber bevor es dazu kommen konnte, war von der Bühne her plötzlich laute Gothic-Musik zu hören und die Gespräche um sie herum verstummten schlagartig.
    „Es geht los“, flüsterte Jenny.

    Seit gut einer halben Minute herrschte schon völlige Dunkelheit, als die ersten Trommelschläge einsetzten. Eine einsame Flöte gesellte sich dazu, bevor wie ein grollendes Unwetter die düsteren Fanfaren losbrachen. Auf der Bühne erschien, angestrahlt von einem Scheinwerfer, ein schwarzhaariger Mann in Schattenkluft, in der Hand einen gespannten Bogen.
    „Ich bin Diego.“
    Ein weiterer Scheinwerfer schaltete sich ein und gab den Blick auf einen glatzköpfigen Mann im Novizenrock frei, der an einem qualmenden Stängel Sumpfkraut zog.
    „Ich bin Lester.“
    Ein muskelbepackter Hüne in Söldneruniform erschien im Licht des dritten Scheinwerfers, die riesige Streitaxt mit beiden Händen fest umklammert.
    „Ich bin Gorn.“
    Der nächste Scheinwerfer ließ einen jungen Mann in roter Magierrobe erscheinen, über dessen ausgestreckter Hand ein lodernder Feuerball aufflammte.
    „Ich bin Milten.“
    Die vier Männer bildeten gemeinsam einen Halbkreis auf der Bühne, und als die Musik ihren dramatischen Höhepunkt erreichte, da leuchtete in der Mitte dieses Halbkreises das größte und hellste Spotlight von allen auf. Ein Krieger in gleißender Erzrüstung reckte das legendäre Schwert Uriziel in die Höhe, während sein Pferdeschwanz im Sturm einer unsichtbaren Windmaschine flatterte.
    „Und ich bin…“
    „Uns interessiert nicht, wer du bist!“, brüllte das ganze Publikum wie aus einem Mund, genauso wie es ihnen der Warm-Upper vorher aufgetragen hatte.
    Stina hatte sich eigentlich vorgenommen, nur halbherzig mitzubrüllen, weil sie sich zu alt für so eine bei Lichte betrachtet eher alberne Aktion fühlte, aber jetzt hatte sie sich doch von der geballten Gothic-Power auf der Bühne mitreißen lassen und mit vollem Einsatz mitgemacht. Sie hatte einen ziemlich guten Platz in einer der ersten Reihen erwischt und konnte sich den Freunden auf der Bühne ganz nah fühlen – wobei sie einem von ihnen natürlich schon viel näher gekommen war. Der Gorn-Darsteller war ganz eindeutig der gleiche, der sie am Lurkerspringbrunnen vor dem Drachensnapper gerettet hatte, und sie konnte schwören, dass er ihr gerade kurz zugezwinkert hatte. Stina vermutete, dass die anderen vier Freunde dann wohl auch abseits der Shows im Park unterwegs sein würden, und nahm sich fest vor, heute noch mit jedem von ihnen ein Foto zu machen.
    Die fünf Männer auf der Bühne stellten sich jetzt nebeneinander in einer Reihe auf, mit dem namenlosen Helden in der Mitte, und riefen gemeinsam: „Herzlich Willkommen in der World of Gothic!“
    Hinter ihnen wurde eine große Leinwand sichtbar, auf der begleitet von Gothic-Kampfmusik in schneller Abfolge Impressionen aus dem Park gezeigt wurden: Leute, die in harpyienförmigen Gefährten durch die Luft gewirbelt wurden – die schaukelnde S.O.S. Esmeralda – der Feuerdrache Feomathar, wie er eine Wagenladung kreischender Achterbahnpassagiere anfauchte – drei Molerats, die um ein kleines Kind herum im Kreis tapsten – johlende Leute inmitten einer spritzenden Wasserfontäne bei einer Wildwasserfahrt – zwei pubertierende Parkbesucher, die sich mit Schaumstoffschwertern duellierten – der schnelle Hering, wie er in halsbrecherischer Geschwindigkeit um den Canyon sauste – ein kleines Grüppchen an einem Steg im Sumpf, das staunend einen riesigen Sumpfhai begaffte – eine gut gelaunte Familie, die lachend für ein Foto mit einem Suchenden posierte –
    Ein plötzlicher Schauer durchfuhr Stina beim Anblick der Maskengestalt in dunkler Robe. Ob das der gleiche Suchende war, der sie vorhin auf dem Klo so komisch angesprochen hatte? Für ein paar unbeschwerte Minuten hatte sie die merkwürdige Begegnung vergessen gehabt, aber jetzt war das mulmige Gefühl sofort wieder da. Erst als der Film schon fast vorbei war, schaffte sie es wieder halbwegs, sich darauf einzulassen. Sie fragte sich, ob das wohl alles echte Testbesucher waren, die man in den kurzen Videoschnipseln sehen konnte, oder ob den Film eine KI erstellt hatte – so richtig wichtig war ihr die Antwort auf diese Frage gerade aber nicht. Die Worte des Suchenden hallten noch immer in ihren Gedanken nach und wollten einfach nicht verstummen.
    „Und jetzt“, wandte sich Diego an das Publikum, nachdem es dem Werbefilmchen artig applaudiert hatte, „begrüßt mit mir die Moderatorin und den Moderator unserer kleinen Eröffnungsfeier: Charlotte Roche und Steven Gätjen!“
    Applaus brandete wieder auf, als die beiden Angekündigten in schicker Abendgarderobe auf die Bühne kamen und sich lächelnd zu allen Seiten umsahen.
    „Ja, herzlich Willkommen, meine Damen und Herren!“, begrüßte Steven die klatschende Menge auf den kreisrunden Rängen der Showarena. „Und damit meine ich sowohl Sie hier auf den Tribünen, als auch alle, die uns jetzt von zu Hause aus über den Home-Embracer-Stream zuschauen. Ich hoffe, wir können das einzigartige Gothic-Feeling auch ein bisschen bis in Ihr Wohnzimmer bringen!“
    „Das kriegen wir hin, Steven, ganz bestimmt!“, freute sich Charlotte. „Vielleicht fragen Sie sich jetzt aber gerade, was wir beiden denn überhaupt hier zu suchen haben. Was haben diese beiden Fernsehnasen denn mit Gothic zu tun, fragen Sie sich jetzt vielleicht!“
    „Ja, und hatte die Schöneberger denn keine Zeit?“, setzte Steven schmunzelnd hinzu.
    „Aber ob Sie’s glauben oder nicht: Wir beiden waren tatsächlich schon im allerersten Gothic mit dabei!“
    „Ganz genau, Charlotte“, bestätigte Steven. „Aber ohne dass wir überhaupt was davon wussten. Die haben einfach unsere Gesichter genommen und ins Spiel gepackt, die Schlawiner. Eigentlich ein handfester Skandal – zumal wir dafür ja nicht mal bezahlt wurden.“
    „Für heute aber natürlich schon“, sagte Charlotte mit verschmitztem Lächeln. „Deswegen freuen wir uns auch, jetzt endlich einmal ganz offiziell in unsere ikonischen Gothic-Rollen schlüpfen zu dürfen. Naja, zumindest fast. Wenn ich schon nicht an rostigen Angelhaken aufgespießt von der Decke hängen darf, dann wollte ich mir wenigstens das Feuerspucken nicht nehmen lassen – und du bist ja sowieso viel zu schissig für sowas, Steven!“
    „Ganz genau, Charlotte! Wir tauschen also einfach die Rollen, aber das ist auch die einzige kleine Änderung. Aber sag mal, haben wir für so einen Auftritt denn überhaupt das richtige Outfit an?“
    „Jetzt wo du’s sagst, Steven… ich glaube, da müssen wir noch schnell was dran machen!“
    Beide zogen an einem gut versteckten Reißverschluss an ihrer schicken Galakleidung, die im nächsten Moment jeweils zweigeteilt gen Boden flatterte. Darunter wurden bei Charlotte ein hautenger Tänzerinnen-Fummel und bei Steven räudig-abgerissene Mittelalter-Rockband-Roadie-Klamotten sichtbar.
    „Schon viel besser!“, fand Steven. „Aber irgendwer fehlt doch noch…“
    „Ich glaube du hast recht, Steven…“
    „Ah, jetzt weiß ich’s wieder!“
    „Ich auch!“
    In Extremo!
    Tosender Beifall brandete im Publikum auf, als die sechs Bandmitglieder mit ihren Instrumenten auf die Bühne kamen. Sie trugen alle ihre ursprünglichen Kostüme aus dem Spiel und waren damit größtenteils halbnackt, was zwar eine ästhetisch vielleicht eher gewagte Entscheidung der Produzenten war, aber Stina durch die Originaltreue zum Spiel sofort begeisterte. Als die Pauke einsetzte und die wohlbekannte Melodie von Herr Mannelig erklang, da fühlte sie sich ein bisschen, als ob sie vor der Bühne im alten Lager stünde und dem Auftritt einer Band beiwohnen würde, die dort niemals fortgegangen war und seit drei Jahrzehnten ohne Unterlass immer und immer wieder ihr Lied spielte. Irgendwie eine tolle Vorstellung, fand Stina.
    Der Auftritt war nicht nur für sie, sondern ganz offensichtlich auch für die meisten anderen Leute im Publikum der erste große Stimmungshöhepunkt der Veranstaltung, auch wenn es sich klar hörbar um einen Playback-Auftritt handelte – zumindest war so ja sichergestellt, dass es ganz genauso klang wie im Spiel. Charlotte lieferte zudem eine beeindruckende Performance als Feuerspuckerin ab: Teils meterhoch schossen die Flammensäulen bis zur Decke hoch, die hoffentlich feuerfest war. Stina konnte die Hitze bis zu ihrem Platz auf der Tribüne spüren, und als das letzte Einhorn Charlotte zum Höhepunkt des Songs in den Arm nahm, da schmolz ihm die halbe Schminke im Gesicht weg. Steven wackelte derweil als Tänzer eher ungelenk herum, aber darauf achtete Stina gar nicht. Es war vielleicht kein ganz perfekter Auftritt, aber es war schon ein irgendwie besonderer Moment – der leider viel zu früh vorbei war, als die letzten Klänge der Marktsackpfeife verhallten und im Publikum wieder lautstark geklatscht und gejohlt wurde. Stina war positiv überrascht, dass nicht nur Presseleute, sondern auch viele echte Gothic-Fans mit ihr auf den Tribünen waren – jeder zweite hier trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck der Schläfermaske, und direkt neben ihr saß ein Mann um die vierzig in einer offenbar selbstgenähten Wassermagierrobe. Auf gewisse Art war sie ganz froh darum, dass Nadine, David und Kleo sich nicht mehr gemeldet hatten. Wahrscheinlich hätten die mit der Show ja überhaupt nichts anfangen können, und sie hätte Kleo dann wieder alles lang und breit erklären müssen. Auch wenn sie mit niemandem hier ein Wort gewechselt hatte, fühlte sie sich in der Gesellschaft dieser vielen anderen gothicbegeisterten Leute ganz wohl. Nur die paar Influencer, die ständig mit dem Smartphone vor der Nase Selbstgespräche führten, gingen ihr gehörig auf den Keks, aber die hatten zum Glück wenigstens während des In-Extremo-Auftritts mal kurzzeitig die Klappe gehalten.
    „Danke, Leute, vielen Dank!“, rief das letzte Einhorn mit rauer Stimme ins Mikrofon. „Die Gothic-Community ist seit ganz ganz vielen Jahren schon an unserer Seite, und dafür will ich im Namen unserer Gang einfach mal Danke sagen. Danke, dass ihr uns seit so vielen Jahren die Treue haltet. Und jetzt bitte mal einen besonders fetten Applaus für unsere beiden alten Freunde, die für diesen ganz speziellen Tag nochmal die Bühne mit uns geteilt haben: Thomas the Forger und The Flail! Ihr habt es immer noch drauf, Jungs!“
    Der Gitarrist und der Mann an der Pauke verbeugten sich, als das Publikum freundlich applaudierte.
    „In Extremo, meine Damen und Herren!“, moderierte Steven die Band ab, die sich winkend verabschiedete. „Was für ein Auftritt! Auch von dir natürlich, meine liebe Charlotte.“
    „Deine Dance-Moves waren aber auch nicht von schlechten Eltern, Steven“, gab Charlotte das Kompliment zurück. „Aber genug von uns beiden. Wir kommen jetzt nämlich zu den wahrscheinlich wichtigsten Personen am heutigen Tag – den Personen, ohne die wir heute überhaupt nicht hier wären. Diejenigen nämlich, die Gothic und diesen Park überhaupt erst erschaffen und ermöglicht haben.“
    „Meine Damen und Herren, begrüßen Sie mit uns…“
    Die Kasernenmusik aus Gothic zwei in der orchestralen Remake-Version setzte ein, und nach und nach betraten die von Steven und Charlotte abwechselnd aufgerufenen Leute die Bühne.
    „Hans-Josef Altenkamp, Oberbürgermeister von Essen!“
    „Lars Wingefors, CEO der Embracer Group!“
    „Reinhard Pollice, Business & Product Development Director bei THQ Nordic!“
    „Rafael González Fernández, Kai Rosenkranz und Mattias Filler von Alkimia Interactive!“
    „Björn und Jennifer Pankratz von den Piranha Bytes!“
    „Und als besonderer Ehrengast: Das ehemalige Piranha-Bytes-Urgestein und Gothic-Mastermind Mike Hoge!“
    Stina spürte die Cola plötzlich wieder sehr deutlich in ihren Adern, als sie Mike Hoge die Bühne betreten sah. Als Piranha-Bytes-Mitgründer und entscheidender Strippenzieher hinter den drei klassischen Gothic-Spielen war er eine lebende Legende, die seit mehr als einem Jahrzehnt völlig von der Bildfläche verschwunden war. Sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung gehabt, dass er hier sein würde – und jetzt stand er plötzlich nur ein paar Meter von ihr entfernt auf der Bühne. Er war dem namenlosen Helden immer noch wie aus dem Gesicht geschnitten, fand Stina, viel mehr als der Schauspieler, der ihn heute eigentlich verkörpern sollte. Sie konnte nicht anders, als ihn die ganze Zeit anzustarren, während Steven dem Bürgermeister Fragen über die Rolle Essens als ehemaliger Kulturhauptstadt zu stellen begann.
    „…deshalb freue ich mich sehr, dass die Ruhr Tourismus GmbH in Zusammenarbeit mit Aspro Parks und der Embracer Group dieses ebenso ambitionierte wie erfolgreiche Vorhaben in die Tat umsetzen konnte – ein Unterfangen, das schon jetzt ganz ohne Zweifel die Bedeutung eines Leuchtturmprojekts für das Ruhrgebiet und ganz Nordrhein-Westfalen innehat“, sagte Altenkamp gerade ins Mikrofon, als Stina wieder einigermaßen hinhörte. „Besonders freue ich mich, dass wir Synergieeffekte mit unserer sehr lebendigen Essener Technologiewirtschaft nutzen konnten, um die World of Gothic zum modernsten Erlebnispark seiner Art zu machen, der in den Bereichen der Robotik und der künstlichen Intelligenz auch europaweit neue Maßstäbe setzt. Diese gute Zusammenarbeit in den kommenden Jahren fortzusetzen und weiter zu intensivieren, darauf freue ich mich bereits jetzt ausgesprochen.“
    Stina wusste noch, dass sie erst gestern etwas über schwere Korruptionsvorwürfe gegen Bürgermeister Altenkamp gelesen hatte, die irgendwelche Journalisten gegen ihn erhoben hatten. Sie wusste nicht worum es dabei genau ging, aber wenn er kurz vor dem Rücktritt stehen sollte, dann ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Das war aber wahrscheinlich auch eine der Grundfähigkeiten, die man als Politiker einfach drauf haben musste.
    „Auch für uns bei Embracer markiert der heutige Tag einen ganz entscheidenden Meilenstein“, sagte Lars Wingefors, der sich kurzerhand selbst das Wort erteilt hatte. Stina schaute derweil lieber wieder Mike an.
    „Es war uns von Anfang an ein Herzensanliegen, die Marken, die unsere Kunden kennen und lieben, in die Welt hinauszutragen und auf eine ganz neue Art erfahrbar zu machen. Mit der Stadt Essen als zuverlässigem Partner an unserer Seite konnten wir diesen Traum mit der World of Gothic zum ersten Mal verwirklichen. Denn das ist unsere Mission bei Embracer: Unglaubliche, verwegene Träume wahr werden lassen.“
    „All das wäre aber natürlich nicht möglich gewesen, wenn es nicht die Gothic-Spiele selbst gäbe“, riss Steven die Moderation wieder an sich und wandte sich an die drei Alkimia-Entwickler. „Die beiden Remakes sind ja eingeschlagen wie eine Bombe. Hattet ihr mit diesem riesigen Erfolg gerechnet, als ihr vor ungefähr zehn Jahren mit der Entwicklung begonnen hattet?“
    „Nee, absolut nicht“, entgegnete Kai strahlend. „Für mich war es einfach toll, wieder so ein bisschen zum Anfang zurückzukehren. Ich war ja noch ganz jung, als ich bei den Piranhas angefangen hatte, also war das ein bisschen wie eine Reise zurück in die eigene Jugend. Natürlich hab ich gehofft, dass das dann auch bei den Leuten gut ankommt, aber mit so ‘nem Erfolg… also, das haben wir natürlich alle gehofft, aber gerechnet haben wir da nicht mit, oder, Mattes?“
    „Nee“, pflichtete ihm Mattias bei. „Ich kann’s auch immer noch nicht richtig fassen, dass wir hier gerade echt mitten in einem riesigen Gothic-Freizeitpark stehen. Das ist schon irre, oder, Kai?“
    „Absolut irre!“, grinste Kai. „Danke an alle Fans da draußen, die diesen Erfolg möglich gemacht haben. Ihr seid die Besten!“
    Ihr Kollege Rafael ergänzte ein paar Sätze auf Spanisch und klang dabei ähnlich begeistert wie die beiden Ex-Piranhas, aber einen Übersetzer schien es wenn überhaupt leider nur für die Stream-Zuschauer zu geben. Steven nickte höflich und lächelte, bevor er zu Björn, Jenny und Mike weiterging.
    „Und was sagt ihr zum Erfolg eurer Kollegen? Freut ihr euch, dass Gothic jetzt wieder in aller Munde ist?“
    „Ja klar“, versicherte Björn. „Wir gehören ja bei THQ alle zur gleichen Familie sozusagen, und da feiern wir uns natürlich auch gegenseitig ab für solche geilen Sachen. Und ich muss sagen…“
    Er drehte sich zu den Alkimia-Entwicklern um.
    „Bei euch ist das Gothic-Erbe echt verdammt gut aufgehoben. Und deshalb hab ich mir gedacht… deshalb gibt’s da was, das ich euch überreichen will. Halt mal, Jenny.“
    Er drückte seiner Frau das Mikro in die Hand und begann dann zu Stinas zunehmendem Entsetzen, umständlich am Verschluss seiner Kette herumzunesteln – eben jener berühmten Kette, an der als Anhänger stets eine silberne Schläfermaske um seinen Hals hing. Als er die Kette gelöst hatte, reichte er sie feierlich an Rafael weiter, der sie sich lächelnd um den Hals legte.
    „Die gehört jetzt euch, Jungs“, verkündete Björn feierlich. „Gothic, das seid jetzt ihr.“
    Stina war kurz davor, aufzuspringen und laut ihr Veto einzulegen. Björn konnte doch seinen legendären Schläfer-Anhänger nicht einfach an irgendeinen Remake-Entwickler weitergeben! Kurz hoffte sie auf einen schlechten Scherz, aber er schien das wirklich ernst zu meinen – und da niemand auf der Bühne besonders überrascht wirkte, war das Ganze offenbar sogar von langer Hand so geplant gewesen. Dutzende Blitzlichter flackerten im Publikum auf, als Fotografen Bilder des Alkimia-Chefentwicklers mit der Kette machten, und auch ein paar Influencer hatten wieder aufgeregt zu labern begonnen. Björn hatte seinen Schläfer-Anhänger für einen Promotion-Stunt hergegeben, und Stina fühlte sich davon auf eine sehr persönliche Art verraten.
    „Jetzt wird’s ja richtig emotional“, sagte Charlotte und tat so, als müsste sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischen.
    „Das ist ja auch kein Wunder, wenn wir hier dreißig Jahre Gothic auf unserer Bühne versammelt haben. Dahinter stecken natürlich eine ganze Menge Geschichten und eben auch Emotionen.“ Steven hatte sich jetzt zu Mike gesellt, der davon wenig begeistert wirkte. „Mike, was sind denn deine aufregendsten Erinnerungen an deine Zeit als Gothic-Entwickler?“
    Mike guckte so angefressen aus der Wäsche, dass Stina schon glaubte, er würde den Moderator einfach ignorieren. Dann nahm er aber doch das Mikro von ihm entgegen.
    „Ja, da gibt’s ‘ne Geschichte“, murmelte er. „Ganz aus der Anfangszeit.“
    „Das klingt doch vielversprechend“, fand Steven. „Dann lass mal hören.“
    „Also, wir hatten diese drei Jungs… die hatten ihr eigenes Studio, die Mad Scientists“, nuschelte er so undeutlich ins Mikrofon, dass sich Stina anstrengen musste, um seinen Worten folgen zu können. „Die haben beim ersten Gothic die Engine gemacht. Und irgendwann, da waren wir ein paar Monate vor Release, da wollten die nicht mehr. Hatten die Schnauze voll und wollten sich nach was anderem umgucken. Die waren fix und fertig, die wollten nur noch weg. Konnte ich auch verstehen, war’n verdammtes Chaos damals. Aber die waren so ziemlich die einzigen, die mit der Engine klarkamen, und ich wusste: Wenn ich die gehen lasse, dann war’ das mit Gothic. Dann kommt das niemals raus, dann war alles umsonst. Die ganzen Jahre, die Arbeit, die Kohle, die wir da reingesteckt haben, alles für’n Arsch.“
    Mike wirkte jetzt nicht mehr angefressen, sondern eher nachdenklich, fand Stina. Sein Blick ging ins Leere, als ob er die Geschichte auf der Bühne vor all den Leuten eigentlich sich selbst erzählte.
    „Also hab ich mich mit denen in ’n Raum gesetzt und die unter Druck gesetzt, richtig brutal. Hab denen erzählt, sie würden verklagt werden von unserer Mutterfirma, wenn sie jetzt abhauen. War natürlich Schwachsinn, aber das wussten die ja nicht. Am Ende haben die mich gehasst, aber sie haben weitergemacht, und wir haben Gothic rausgebracht. Und deswegen stehen wir jetzt hier, deswegen gibt’s jetzt diesen Park hier. Damals dachte ich, dass es das wert gewesen war. Aber wenn ich mich jetzt umgucke…“
    Er hob den Blick und schaute zum ersten Mal ins Publikum.
    „War’s das wirklich wert? Keine Ahnung.“
    Auf den Rängen war eine unangenehme Stille entstanden, und Stevens Lächeln wirkte eher gequält.
    „Danke, Mike, für diesen Einblick in die turbulente Entwicklungsgeschichte der Spielereihe, die uns allen hier so sehr ans Herz gewachsen ist! Apropos Spielereihe – ich habe gehört, ihr drei habt uns da noch eine Kleinigkeit mitgebracht?“
    Er hatte sich jetzt wieder den Entwicklern von Alkimia Interactive zugewandt, die wissend lächelten.
    „Ja, wir dachten uns, welchen schöneren Anlass könnte es geben, um eine kleine Ankündigung zu machen?“, erwiderte Mattias. „Aber seht selbst…“
    „Film ab!“, rief Kai und klatschte in die Hände.
    Es wurde jetzt wieder dunkel auf der Bühne, während auf der Leinwand hinter ihnen allmählich ein großes Auge eingeblendet wurde. Langsam zoomte die Kamera zurück und gab immer mehr Details des Gesichts preis – das wettergegerbte Gesicht eines Mannes mit braunem Vollbart, auf dessen Kopf eine edelsteingespickte Krone saß. Die Musik, die zuerst nur ganz unauffällig im Hintergrund zu hören gewesen war, schwoll plötzlich dramatisch an, als König Rhobar der Zweite in Gänze zu sehen war, wie er sein Schwert packte und brüllend auf den ihn attackierenden General Lee zulief. Als sich ihre Klingen klirrend kreuzten und der Soundtrack seinen Höhepunkt erreichte, wurde die Leinwand weiß, und eine große Drei erschien unter dem frenetischen Jubel des Publikums auf der Leinwand. Nach und nach kamen weitere Zahlen hinzu, bis die Jahreszahl 2030 zu sehen war, vor die sich schließlich noch das Wort Winter setzte. Jetzt kannte die Begeisterung auf den Rängen überhaupt kein Halten mehr, auch bei Stina nicht – dass der dritte Teil des Remakes schon nächstes Jahr erscheinen würde, damit war nun wirklich nicht zu rechnen gewesen. Als das Licht auf der Bühne wieder anging, entging ihr aber nicht, dass die drei Alkimia-Entwickler irgendwie irritiert wirkten, fast so als wären sie selbst von der Ankündigung in ihrem Trailer genauso überrascht worden wie ihr Publikum.
    „Das nenne ich einen echten Knaller zum Abschluss!“, rief Charlotte strahlend. „Reinhard, möchtest du als jemand, der ja von Anfang an ganz eng in die Entwicklung der Remakes eingebunden –“
    Stina schrie auf, als die Leinwand rot aufflackerte und ein hohes Pfeifen einsetzte – ein Geräusch, so quälend laut und durchdringend, dass es sich in ihrem Schädel umgehend in einen stechenden Kopfschmerz verwandelte. Panisch hielt sie sich die Ohren zu, aber vor diesem Geräusch gab es kein Entkommen. Die Quelle des Pfeifens schien tief in ihrem Innersten zu stecken, und bald war es kein Pfeifen mehr, sondern ein Schrei, ein grässlicher wutentbrannter Schrei aus der Hölle. Ihr wurde schwarz vor Augen, und aus der Dunkelheit blickte ihr die Maske des Schläfers entgegen.
    „Entschuldigung, das war… das war wohl ein kleiner technischer Defekt, den wir da hatten.“
    Vorsichtig öffnete Stina die Augen, als sie endlich begriff, dass das Geräusch fort war. Sie blickte sich stöhnend um und sah eine Menge gequälter Gesichter im Publikum und auf der Bühne.
    „Vermutlich eine Rückkopplung“, versuchte sich Steven an einer spontanen Erklärung. „So etwas kann schon einmal vorkommen bei einer aufwändigen Produktion wie unserer. Wir bitten natürlich um Entschuldigung, das war ja durchaus etwas unangenehm.“
    „Ja, Steven, da… da sagst du was“, ächzte Charlotte und drückte an ihren Ohren herum, bis sie sich wieder gefangen hatte. „Damit sind wir dann auch schon fast am Ende unserer kleinen Eröffnungsfeier angekommen. Wer unsere Freunde von Alkimia Interactive und Piranha Bytes übrigens einmal persönlich kennenlernen und ein Autogramm abstauben möchte, hat dazu gleich im Anschluss Gelegenheit – hab ich recht, Björn?“
    „Genau“, bestätigte der angesprochene Piranha. „Wir sind gleich alle zusammen drüben im Schlafenden Geldsack, das ist das große Hotel – findet ihr bestimmt sofort. Und dann einfach in die Lobby, da sitzen wir dann rum. Könnt ihr alle vorbei kommen!“
    „Eine tolle Aktion!“, fand Steven und verabschiedete die Gäste nach und nach von der Bühne, bis schließlich nur noch er und Charlotte übrig waren.
    „Jetzt sind wir fast fertig, aber eins fehlt natürlich noch. Wie eröffnet man einen Gothic-Freizeitpark, wenn nicht mit ein bisschen amtlichem Gekloppe? Meine Damen und Herren, es ist an der Zeit für… volles Pfund auf’s Maul!“
    Das Publikum war nicht mehr ganz so euphorisch bei der Sache wie noch vor dem Störgeräusch, aber ein bisschen geklatscht und gejubelt wurde dann doch noch, als der Held, Gorn, Lester, Milten und Diego mitsamt einem ganzen Haufen Orks, Paladinen, Templern und Echsenmenschen die Bühne stürmten und wüst aufeinander einkloppten.
    Stina aber war mit den Gedanken schon ganz woanders.

    Das Hotel hieß zwar Zum schlafenden Geldsack und befand sich am Rande des Hafenstadt-Areals, hatte aber mit der kleinen Herberge aus dem zweiten Gothic-Spiel wenig gemeinsam: als großer klobiger Glaskasten mit sechs Stockwerken wirkte es neben den vielen liebevoll nachgebauten Khorinis-Häusern wie ein Fremdkörper. Von außen machte es den sehr uninteressanten Anschein eines ganz gewöhnlichen Hotels, in dem Leute übernachten konnten, die von weiter her angereist waren oder die gleich mehrere Tage in der World of Gothic verbringen wollten. Als Stina durch die automatischen Schiebetüren aus verdunkeltem Glas in den proppenvollen Empfangsraum eintrat, fühlte sie beim Anblick der Lobby-Einrichtung aber wieder ein wenig mit dem Gebäude versöhnt: An den Wänden hingen Originalgemälde aus den Spielen, Vitrinen stellten wertvolle Sammlerobjekte aus Special-Editions und Original-Goldmaster-CD-ROMs aus, und vor allem standen überall lebensgroße Wachsfiguren der beliebtesten Gothic-Charaktere herum, die teils echter wirkten als die Darsteller, die sie eben in der Show gesehen hatte – und die waren ja schon nicht ganz übel gewesen. Die Hotellobby war zu Stinas Überraschung ein kleines Gothic-Museum, und sie hätte sich nur zu gerne alles einmal im Detail angeschaut. Leider war die Lobby bereits so überfüllt, dass daran gar nicht zu denken war: Im Wartebereich war zwischen den respekteinflößenden Wachsdoppelgängern von Xardas und Saturas ein langer Holztisch aufgestellt worden, hinter dem die Gothic-Entwickler saßen und Autogramme verteilten. Stina brauchte ein bisschen, bis sie begriffen hatte, dass die Leute nicht etwa in einer großen Traube vor dem Tisch standen, sondern in mehrere Schlangen aufgeteilt waren – für jedes Autogramm musste offenbar einzeln angestanden werden. Das konnte womöglich eine langwierige Angelegenheit werden, begriff sie. Noch enttäuschender fand sie aber, dass ausgerechnet Mike Hoge gar nicht vor Ort war: Am Tisch saßen nur Björn, Jenny, Mattias, Kai und Rafael. Natürlich hatte sie von jedem von denen schon ein Autogramm zu Hause, von Björn sogar zwei, während sie Mike noch nie persönlich begegnet war. Sie überlegte kurz, ob sie wieder gehen und woanders nach ihm suchen sollte, aber das hatte natürlich keinen Zweck. Er konnte ja überall sein, und wenn sie richtiges Pech hatte, dann war er schon gar nicht mehr im Park. Sie würde sich mit dem zufrieden geben müssen, was sie kriegen konnte, und das waren eben ein paar neue Zweit- und Dritt-Autogramme der Leute, die gerade da waren.
    Stina zog sich den Schirm von Davids Baseballkappe noch etwas tiefer ins Gesicht und stellte sich an der ersten Schlange an, die zu Björns Platz am Autogrammtisch führte. Während sie wartete, strömten immer mehr Fans in den Raum und der Geräuschpegel wurde lauter und lauter. Stina wurde langsam nervös, weil sie den Reißverschluss des Rucksacks auf ihrem Rücken nicht im Blick hatte und ihr jederzeit jemand das Porträt hätte klauen können. Es dauerte nicht lange, bis sie sich so gestresst fühlte, dass sie am liebsten wieder gegangen wäre, aber jetzt war sie ja schon zur Hälfte in der Schlange nach vorne gerückt und wollte ihren hart erwarteten Platz in der Reihe nicht einfach wieder aufgeben.
    Sie versuchte sich damit abzulenken, die Hotelgäste dabei zu beobachten, wie sie an der Rezeption ein- oder auscheckten und mit einem der beiden Aufzüge fuhren. Insgeheim hoffte sie, dass vielleicht doch einmal Mike Hoge mit einem großen Rollkoffer voller legendärer Gothic-Memorabilien dabei sein würde, aber leider hatte sie kein Glück. Sie musste bestimmt zehn Minuten in der Schlange gestanden haben, als sie endlich am Ziel angekommen war.
    „Tach“, begrüßte sie Björn in seiner gewohnt schnodderigen Art und schnappte sich eines der Fotos von sich, die vor ihm auf einem Haufen lagen. „Wie heißt du denn?“
    „Wie ich heiße?“, stammelte Stina. „Wieso das denn?“
    „Ja, wir machen das hier mit Widmung“, erklärte Björn. „Mit allem drum und dran, ist doch keine Kaffeefahrt hier!“
    Stina wippte unruhig von einem Fuß auf den anderen. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Sie überlegte hastig und musste plötzlich an das Porträt im Rucksack denken.
    „Natalia“, sagte sie.
    „Aha!“, sagte Björn und kritzelte auf dem Foto herum, bevor er es ihr reichte. Als sich Stina das Foto nehmen wollte, sah Björn sie zum ersten Mal richtig an und runzelte die Stirn, als sich ihre Blicke trafen.
    „Kann ich jetzt das Foto haben?“, fragte Stina, als er immer noch nicht losließ.
    „Ja, klar“, murmelte Björn und lockerte seinen Griff.
    Stina bedankte sich und ging zur nächsten Warteschlange, bevor sie das unterschriebene Foto genauer betrachtete. Es war schon ein bisschen älter, und Björn trug darauf natürlich noch seinen Schläfermasken-Anhänger. Der Anblick machte Stina ein bisschen wehmütig.
    Sie betrachtete das Foto noch eine Weile, dann kehrte sie wieder dazu zurück, die Hotelbesucher zu beobachten, während es in der Jenny-Schlange quälend langsam voran ging. Zunehmend genervt ließ sie ihren Blick von der Rezeption bis zum Aufzug wandern – wo er plötzlich wie angefroren verharrte.
    Die Tür schloss sich gerade, aber Stina konnte noch lange genug einen Blick ins Innere des Aufzugs werfen, um ganz deutlich eine groß gewachsene, maskierte Gestalt in einer schwarz-roten Kultistenrobe zu erkennen.
    Sie fühlte sich wie vom Schlag getroffen. Wieso lief jemand in voller Suchendenkluft im Hotel herum? War das womöglich der gleiche Suchende gewesen, der sie auf der Toilette angesprochen hatte?
    Nachdem sich die Tür geschlossen hatte und der Aufzug nach oben fuhr, da wollte sie sich schon kurz einreden, sich vielleicht doch verguckt zu haben, aber so etwas bildete sie sich doch nicht ein. Irgendetwas stimmte mit diesem Suchenden nicht, das hatte sie im Gefühl – und bevor sie noch länger darüber nachdenken konnte, hatte sie sich auch schon dazu entschlossen, ihrem Gefühl nachzugeben. Sie quetschte sich zwischen den wartenden Leuten hindurch und an einem Wachs-Ur-Shak vorbei in Richtung der Aufzüge, die gerade beide auf dem Weg nach oben waren. Wenn sie jetzt einfach abwartete, bis einer von ihnen wieder bei ihr angekommen war, dann würde der Suchende bis dahin vielleicht schon in irgendeinem Zimmer verschwunden sein – sie durfte hier auf keinen Fall untätig herumstehen.
    Fieberhaft sah sie sich um, bis sie die gläserne Tür zum Treppenhaus entdeckt hatte. Hastig riss Stina sie auf und stürmte die Stufen hinauf. Im ersten Stockwerk angekommen, blickte sie ohne anzuhalten durch die Glastür auf den Flur und erkannte, dass die Aufzugtüren verschlossen waren. Sie eilte weiter hinauf in den zweiten Stock, und dann weiter in den dritten, bis sie im vierten Stockwerk endlich mit einer geöffneten Aufzugtür konfrontiert wurde. Im ersten Moment wollte sie erneut stürmisch die Glastür aufreißen, besann sich aber gerade noch rechtzeitig eines Besseren. Sie wollte den Suchenden auf keinen Fall auf sich aufmerksam machen.
    So leise wie möglich drückte sie die Klinke und schlich hinaus auf den Flur, der mit seinem blauen Teppichboden ausgesprochen edel wirkte – vor allem aber war er völlig menschenleer. Stina glaubte schon, zu spät gekommen zu sein, als sie durch den Teppich gedämpfte Schritte vernahm. So unauffällig sie konnte huschte sie über den Korridor, bis sie an einer Abzweigung angekommen war. Als sie einen Blick um die Ecke wagte, da hätte sie beinahe laut nach Luft geschnappt: Die Gestalt in der Suchendenrobe stand nur wenige Meter von ihr entfernt in gebückter Haltung vor einer der Zimmertüren und fummelte mit ihren behandschuhten Händen in der Nähe der Klinke herum. Sie schien etwas in der Hand zu halten – war das eine der Codekarten, mit denen die Hotelgäste ihre Zimmertüren aufschließen konnten? Doch anstatt sie vor das Lesegerät in der Türklinke zu halten, fummelte der Suchende damit am Spalt zwischen Tür und Türrahmen herum, bis sich die Tür schließlich mit einem leisem Klicken öffnete. Stina zog rasch den Kopf zurück, damit die fremde Gestalt sie nicht bemerkte, und konnte sich erst nach ein paar langen, gepressten Atemzügen wieder dazu durchringen, noch einmal nachzuschauen. Wie erwartet war der Korridor jetzt leer. Der Suchende musste in dem Zimmer verschwunden sein, in das er eingebrochen war.
    In Stinas Kopf rasten die Gedanken, und ihr Cola-betanktes Herz klopfte wie verrückt. Sie hatte also recht damit gehabt, dass diese kostümierte Gestalt irgendetwas Finsteres im Schilde führte, aber was sollte sie mit dieser Erkenntnis jetzt anfangen? Die Zimmertür hatte der Suchende wieder hinter sich verschlossen, und sie hätte sich sowieso nicht getraut, ihm hinein zu folgen – körperlich musste ihr die groß gewachsene Gestalt klar überlegen sein, das war ja auch bei den meisten klein gewachsenen Gestalten schon der Fall. Das Schlaueste war es wohl, den Vorfall unten an der Rezeption zu melden. Wenn sie schnell genug war, würde man den Einbrecher vielleicht noch auf frischer Tat ertappen können, und dann würde sie vielleicht des Rätsels Lösung erfahren, ohne sich selbst irgendwie in Gefahr bringen zu müssen. Alles was sie noch zu tun hatte, war die Zimmernummer von der Tür abzulesen. Wenn sie den Mitarbeitern an der Rezeption keine genaue Zimmernummer nennen konnte, dann würden sie womöglich nicht schnell genug hier sein. Die Zimmernummer würde sie also schon noch ablesen müssen, da kam sie nicht drum herum.
    Stina nahm all ihren Mut zusammen, huschte auf leisen Sohlen um die Ecke – und wurde plötzlich von hinten am Arm gepackt.
    „Kommen Sie bitte mit uns.“
    Zwei schwarz gekleidete Männer mit verkabelten Geräten am Ohr hatten sich ihr unbemerkt genähert und zerrten sie unwirsch zurück auf den Hauptkorridor. Stina japste vor Schreck auf, bis sie begriff, dass es sich um die Hotel-Security handelte.
    „Gut, dass Sie hier sind“, redete sie hektisch auf die beiden ein und deutete auf die Tür, die der Einbrecher gerade eben geknackt hatte. „Da war ein Suchender, der hat mich eben schon auf dem Klo angesprochen, und jetzt habe ich gerade gesehen, wie der in das Zimmer da eingebrochen ist!“
    „Wieso sind Sie in diesem Stockwerk?“, fragte einer der beiden Männer.
    „Das spielt doch überhaupt keine Rolle“, gab Stina irritiert zurück. „Wie gesagt, ich habe diesen Suchenden verfolgt! Schauen Sie bitte nach, es ist das Zimmer gleich dort drüben, das dritte auf der linken Seite. Ich wollte gerade hingehen und mir die Zimmernummer merken, aber da kamen Sie dazwischen!“
    Die Männer wechselten einen kurzen Blick.
    „Können wir bitte Ihren Ausweis sehen?“
    Stina verschlug die Frage fast die Sprache. „Ich weiß wirklich nicht, wieso…“
    „Bitte. Ihren Ausweis. Und legen Sie Ihren Rucksack ab.“
    Da war eine Härte in der Stimme, die Stina sehr deutlich machte, dass es sich nicht wirklich um eine Bitte handelte. Sie nickte hastig, nahm Davids Rucksack von ihrem Rücken und stellte ihn auf dem Teppichboden ab. Dann zog sie ihr Portemonnaie aus der Hosentasche und fummelte mit zittrigen Händen am Verschluss herum, bis sie endlich ihren Personalausweis zu packen bekommen hatte.
    „Stina Linnea Arends“, las der Sicherheitsmann. „Sind Sie das?“
    „Ja, natürlich bin ich das“, bestätigte Stina. „Auf dem Foto habe ich noch eine andere Frisur. Aber jetzt hören Sie doch bitte mal –“
    „Das ist sie!“
    Am Ende des Korridors hatte sich eine der beiden Aufzugtüren geöffnet. Björn und Jenny kamen in Begleitung eines weiteren Sicherheitsbeauftragten und eines jüngeren Mannes in einem teuer wirkenden türkisen Sakko auf sie zu geeilt.
    „Ist das der Name? Stina Linnea –“
    „Ja, Arends, das ist sie!“, hechelte Björn, als er mit schweißnasser Stirn bei ihnen ankam. „Wusste ich’s doch, dass ich sie wiedererkannt habe! Hat sich die Haare gefärbt und ‘ne Mütze aufgesetzt, aber dieser irre Blick ist immer noch der gleiche! Was hat die hier angestellt? War die in unserem Zimmer?“
    „Offenbar konnten wir sie rechtzeitig stellen, bevor sie dazu kommen konnte, in das Zimmer einzudringen.“
    „Moment mal, ich wollte in gar kein Zimmer!“, verteidigte sich Stina. „Da war dieser Suchende, dieser – Sie wissen schon, ein Kultist in so einer Robe –“
    „Ja, sehen Sie, so geht das die ganze Zeit“, seufzte Jenny und strich ihrem Ehemann beruhigend über den Rücken. „Die lebt in ihrer ganz eigenen Welt.“
    „Bekloppt ist die“, wetterte Björn und warf Stina einen hasserfüllten Blick zu, der sie ein bisschen verletzte. „Aber diesmal gehst du in den Bau, jetzt hab ich die Faxen dicke!“
    „Frau Arends“, wandte sich einer der Männer nun wieder an Stina. „Die Eheleute Pankratz behaupten, dass Sie bereits mehrfach wegen Hausfriedensbruch verurteilt wurden und ein aktuell gültiges Annäherungsverbot auf zehn Meter ausgesprochen wurde. Ist das korrekt?“
    Als Stina nicht direkt antwortete, polterte Björn sofort wieder los.
    „Ja klar ist das korrekt! Die hat wochenlang unser Büro belagert, und wenn wir nicht höllisch aufgepasst haben und mal für ‘ne Minute die Tür auf hatten, dann war die sofort bei uns drin! Und dann ist die sogar bei uns zu Hause im Garten aufgetaucht, und bei Amadeus und Philipp auch!“
    „Die beiden arbeiten auch bei Piranha Bytes“, erklärte Jenny und fügte in bedauerndem Tonfall hinzu: „Sie ist irgendwie besessen von uns.“
    „Ich bin überhaupt nicht besessen!“, entfuhr es Stina verzweifelt. „Mich hat das einfach interessiert, wie ihr so arbeitet und wohnt. Wenn ich euch irgendwie belästigt habe, dann tut mir das echt leid, das wollte ich nicht.“
    „Beim ersten Mal haben wir ihr das noch geglaubt“, sagte Jenny zu den Security-Leuten. „Aber sie hat einfach nicht aufgehört. Wir hatten gehofft, dass sie sich jetzt wenigstens an das Annäherungsverbot hält.“
    „Mach ich ja auch!“, beteuerte Stina. „Ich wollte mir nur eben ein Autogramm holen, wie alle anderen auch. Das ist alles.“
    „Was machen Sie dann ausgerechnet hier auf der Etage, in der die Zimmer der Entwickler untergebracht sind?“, fragte sie der Mann im türkisen Sakko, während einer der schwarz gekleideten Männer damit begann, Davids Rucksack zu durchwühlen. „Das kann wohl kaum ein Zufall sein, oder?“
    „Das müssen Sie nicht mich fragen, sondern diese komische Gestalt im Suchendenkostüm!“, versuchte sich Stina erneut zu erklären, und ihre Stimme überschlug sich fast dabei. „Gehen Sie doch endlich mal ins Zimmer da um die Ecke, dann sehen Sie es selbst! Wenn… wenn er jetzt nicht längst wieder weg ist, so lange wie Sie mich hier festgehalten haben!“
    Einer der Security-Leute nickte Björn und Jenny zu und sagte: „Wenn Sie möchten, schauen wir einmal gemeinsam nach. Ich bin mir allerdings sicher, dass sie nicht im Zimmer war, wir waren wohl rechtzeitig zur Stelle.“
    „Okay“, sagte einer der anderen Sicherheitsmänner, und der dritte ließ wieder vom Rucksack ab. „Wir bringen sie in der Zeit zur Polizei, die können sich dann mit ihr beschäftigen. Frau Arends, bitte begleiten Sie uns.“
    Eine Hand packte sie fest an jedem Arm, als zwei der Männer sie zwischen sich nahmen und sie, nachdem sie sich nicht direkt rührte, mit Gewalt in Richtung Aufzug zerrten. Stina kamen die Tränen, als sie vergeblich versuchte, sich aus den unbarmherzigen Griffen zu befreien. So hatte sie sich das alles nicht vorgestellt – so durfte dieser Tag unmöglich enden!
    „Nein, ich – ich gehe nicht zur Polizei, und Sie bringen mich nirgendwohin!“, schrie sie so laut, dass man es auch in den angrenzenden Stockwerken hören musste. „Ich bin auf persönliche Einladung von Lars Wingefors hier!“
    Die beiden Männer hielten an, ohne ihren Griff zu lockern, und wechselten einen Blick.
    „Hören Sie nicht auf den Stuss“, rief ihnen Björn hinterher. „Sie denkt sich das alles aus!“
    „Ich denke mir das nicht aus.“ Stina bemühte sich, ihre Stimme zu kontrollieren und so ruhig und vernünftig wie möglich zu wirken. „Bitte, ich zeige es Ihnen auf meinem Handy. Sie können es selbst nachprüfen.“
    „Lassen Sie mich mal sehen.“ Der junge Mann kam herbeigeeilt, zog ein kleines aufklappbares Gerät aus einer Seitentasche seines Sakkos und faltete es zu einem Tablet auf. Als ihre Arme endlich losgelassen wurden, holte Stina ihr Handy heraus, öffnete das PDF mit der Eintrittskarte und zeigte ihm den QR-Code. Einige lange Sekunden vergingen, bis der er den Code gescannt und das Ergebnis auf dem Tablet vorliegen hatte.
    „Stina Linnea Arends“, las er langsam vor. „Vier Tickets, ausgestellt von… Lars Wingefors. Sie sagt die Wahrheit.“
    Den drei Security-Typen war deutlich anzusehen, wie es ihnen dämmerte, dass sie gerade einen persönlichen Gast des CEOs belästigt hatten. Stina genoss ihre dummen Blicke, aber unter das Gefühl des Triumphs mischte sich auch die Gewissheit, dass sich eine Begegnung mit ihm nun nicht mehr würde vermeiden lassen. Vielleicht war es besser so, wenn sie ihm persönlich von den seltsamen Vorkommnissen erzählte, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie sich darauf freute.
    „Das… das is’n Witz, oder?“, stammelte Björn fassungslos. „Der Wingefors hat die eingeladen? Das muss irgendein Trick von ihr sein!“
    „Ich kann mir das auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass Herr Wingefors so jemanden hierher einladen würde“, sagte Jenny. „Vielleicht hat sie sich… irgendwie ins System gehackt?“
    „Jetzt bin ich auch noch eine Hackerin?“ Stina schüttelte den Kopf und wandte sich wieder an den Sakkoträger. „Bitte rufen Sie Herrn Wingefors an und sagen Sie ihm, dass ich ihn sprechen möchte. Und sagen Sie ihm, es ist dringend.“
    „Herr Wingefors hat ein wichtiges Meeting und darf zurzeit nicht gestört werden. Er wird aber möglicherweise direkt im Anschluss etwas Zeit für Sie haben. Wenn Sie möchten, dann können Sie solange vor dem Konferenzraum auf ihn warten. Ich benachrichtige Sie dann und teile Ihnen mit, ob und wann Herr Wingefors Sie sprechen möchte.“
    Er bedeutete ihr, ihn zum Aufzug zu begleiten, und diesmal hatte Stina nichts dagegen. Als sie kurz zurückging, um den Rucksack zu holen, da konnte sie es sich nicht verkneifen, sich noch einmal zu Björn und Jenny umzudrehen und sich an ihren gleichermaßen frustrierten wie verwirrten Blicken zu erfreuen.
    „Und durchsuchen Sie endlich das Zimmer!“, rief sie den Sicherheitsleuten noch hinterher, auch wenn sie sich fast sicher war, dass der Suchende längst wieder über alle Berge war. Sie selbst jedenfalls hatte den angrenzenden Korridor nicht im Blick behalten können, und sie bezweifelte, dass die anderen besonders aufmerksam gewesen waren. Hoffentlich würde sie nicht allzu lange auf das Treffen warten müssen, sonst war es womöglich schon zu spät und sie würde nie herausfinden, was da vor sich ging.
    Als sie dem jungen Mann zum Aufzug folgte, fiel ihr Blick auf die dicke Beule in seiner linken Hosentasche. Unter dem feinen Stoff zeichneten sich deutlich die Umrisse eines Schlüsselbundes ab.
    Denk gar nicht erst dran, ermahnte sie sich selbst in Gedanken und zwang sich dazu, wegzuschauen. Du bringst dich nur wieder in Schwierigkeiten.
    Sie hatte wirklich genug Ärger gehabt für einen Tag. Egal wie lange es auch dauerte – diesmal würde sie nach den Regeln spielen. Sie würde einfach vor dem Konferenzraum abwarten, bis sie an der Reihe war.

    Die schwarzen und weißen Kreise auf dem Go-Brett verschwammen vor Mikes Augen zu einem großen Fragezeichen. Nur noch zwanzig Prozent Akku, und er hatte immer noch keine Entscheidung getroffen. Stöhnend schaltete er das Handy aus und steckte es weg. Das hatte keinen Zweck, wenn er nicht richtig bei der Sache war.
    Der Konferenzraum befand sich im obersten Stockwerk des Hotels und bot durch große Glasfenster eine Aussicht über weite Teile des Freizeitparks. Gedankenverloren betrachtete Mike den Turm des Dämonenbeschwörers, der in ein- oder zweihundert Metern Entfernung in die Höhe ragte. Für einen flüchtigen Moment fühlte er sich bei diesem Anblick tatsächlich in die Minenkolonie versetzt und glaubte schon blaue Blitze am Himmel aufzucken zu sehen, bis plötzlich dutzende Sitzreihen voller begeistert kreischender Parkbesucher von der Turmspitze fielen.
    „Danke für Ihre Geduld, Herr Hoge.“
    Die Tür zum angrenzenden Büro hatte sich geöffnet, und der Embracer-Chef betrat mit einem Laptop unter dem Arm den Konferenzraum. Sein Deutsch war fast akzentfrei, aber Mike wusste natürlich schon, dass der schwedische Geschäftsmann als kleines Universalgenie galt.
    „Tach, Herr Wingefors“, sagte Mike und reichte ihm die Hand.
    „Gefällt Ihnen unser Park?“, fragte Wingefors, als er den Händedruck erwiderte. Auf seiner makellosen Stirn war trotz der brütenden Hochsommerhitze des frühen Nachmittags keine einzige Schweißperle zu erkennen, während die Polster von Mikes Stuhl schon klatschnass waren – von seinen Klamotten ganz zu schweigen. Der Raum war zwar natürlich klimatisiert, aber für Mikes Geschmack noch lange nicht klimatisiert genug.
    „Das muss für Sie doch etwas ganz Besonderes sein, Ihre Ideen jetzt auf eine so ganz neue Art und Weise verwirklicht zu sehen?“, vermutete Wingefors, setzte sich ans andere Ende des hölzernen Konferenztischs und nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, das für ihn bereit stand. Mike hatte sein eigenes längst leer gesoffen.
    „Jo“, sagte er, als er begriff, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde.
    Wingefors lächelte ihn noch ein bisschen an, was Mike irgendwie unheimlich war, und klappte schließlich den Laptop auf.
    „Herr Hoge, ich möchte Ihnen etwas zeigen.“
    Auf dem Tisch stand ein unscheinbares Plastikkästchen, das Wingefors jetzt in die Hand nahm und öffnete. Er nahm zwei schmale Brillen mit schwarzen Visieren heraus und reichte eine davon Mike.
    „Etwas in einer anderen Realität.“
    Mike nahm die VR-Brille von ihm entgegen und drehte sie ein paar Mal prüfend in den Händen. Sie wog nicht mehr als eine ganz normale Sonnenbrille und unterschied sich auch optisch nur in den lichtundurchlässigen Visieren und den kleinen Sichtschirmen, die einen Lichteinfall während der Benutzung verhindern sollten. Er zögerte kurz, aber als er sah, dass sich Wingefors seine eigene Brille bereits aufgesetzt hatte, tat er es ihm gleich.
    Im ersten Moment war alles schwarz. Dann setzte eine sphärische Musik ein, die von überall her zu kommen schien – vermutlich waren im Konferenzraum kleine Lautsprecher in den Wänden versteckt, denn der Laptop konnte unmöglich die Quelle dieser Soundkulisse sein. Langsam schälten sich aus der Dunkelheit die Umrisse technischer Armaturen und ausgefeilter Navigationscomputer hervor. Mike sah sich umgeben von metallischem Silber, und als er den Blick zur Seite richtete, da erstreckte sich jenseits eines elliptischen Fensters das weite, sternengespickte Weltall.
    „Erkennen Sie es wieder, Herr Hoge?“
    Er zuckte zusammen, als er begriff, dass da noch jemand mit ihm im Cockpit des Raumschiffs war. Ein weißhaariger Mann in der Kluft eines Astro-Sergeants saß neben ihm auf einem der Controller-Stühle, mit glänzenden goldenen Abzeichen auf der Brust und einer dicken Phaser-Wumme am Gürtel. Sein linkes Auge war völlig blutunterlaufen und eine lange Narbe zog sich darüber hinweg bis auf die Wange, während über seinem rechten Auge ein grün blinkender Visor schwebte. Natürlich erkannte Mike ihn wieder. Er hatte ihn selbst erschaffen.
    „Sergeant Bloodeye…?“
    „Genau der“, bestätigte Sergeant Bloodeye mit Wingefors’ Stimme. Der Weltraumoffizier sah beängstigend lebensecht aus – Mike hatte das Gefühl, sich die Brille vom Kopf reißen zu müssen, um sich zu vergewissern, dass er keinen Menschen aus Fleisch und Blut vor sich hatte, dass er nicht tatsächlich in einer anderen sehr greifbaren Realität angekommen war. Gleichzeitig wollte er nichts weniger als das.
    „Willkommen an Bord, Commander. Erwarte Ihre Befehle.“
    Fasziniert blickte sich Mike im Cockpit um: Die Bildschirme, die Statusanzeigen, die blinkenden Lichter… die kleinen rotierenden Hologramme von nahen Planeten und Asteroiden… der fette Waffenschrank mit den geilen Space-Knarren… Mike hatte keinen Zweifel mehr, wo er sich befand.
    „Das ist Spacetime“, murmelte er verblüfft. „Aber… ich dachte…“
    „Sie dachten, die Daten wären verloren gegangen, richtig?“, erwiderte Wingefors im Körper von Sergeant Bloodeye.
    „Ja. Das Projekt war am Ende…“
    Mike erinnerte sich noch allzu gut an seinen letzten Tag bei Piranha Bytes Red, als er erfahren hatte, dass Björn mit seinen ständigen Bemühungen, sein Herzensprojekt zu untergraben, schlussendlich Erfolg gehabt hatte. Björn war von Anfang an nicht begeistert von der Idee gewesen, eine eigene Schwesterfirma zur Entwicklung eines Weltraum-Rollenspiels auszugliedern. Er hatte immer argumentiert, dass sie als kleines, familiäres Entwicklerstudio alle ihre Ressourcen für ihr Hauptprojekt einsetzen mussten, und das war zu der Zeit nun einmal Elex gewesen. Und als Elex irgendwann erschienen war, da war es dann eben das zweite Elex gewesen, in das alle Gelder hatten fließen sollen. Irgendwann war Björn mit seinen Argumenten zu den Entscheidungsträgern durchgedrungen, sodass Mike und sein kleines Team schließlich an diesem einen ganz bestimmten, ganz beschissenen Vormittag mit der Nachricht konfrontiert worden waren, dass Spacetime am Ende war. Die Arbeit von Jahren, für die Tonne. Und diesmal gab es niemanden mehr, den er mit aller Gewalt belabern konnte, um das Projekt doch noch zu retten. Er hatte seinen Frust nur an den Computern auslassen können, und das war nicht gut ausgegangen.
    „Es gab also doch ein Backup?“
    „Sehr richtig“, bestätigte Bloodeye. „Nach der Übernahme von Piranha Bytes durch unsere Tochterfirma THQ Nordic konnten wir eine vollständige Kopie der letzten Version von Spacetime sicherstellen. Vor einem Jahr habe ich die Daten an Gearbox Quebec weitergegeben und dem Studio aufgetragen, basierend auf dem alten Stand des Projekts einen neuen Prototypen in AAA-Qualität zu entwickeln. Das Ergebnis erleben Sie gerade selbst, Herr Hoge.“
    Mike konnte die neuen Informationen gar nicht richtig erfassen. Er fühlte sich noch immer überwältigt von seiner Umgebung: Er saß inmitten des Cockpits, das er damals selbst zusammen mit seinem guten Kumpel und Kollegen Sascha gebaut hatte, und das für mehr als ein Jahrzehnt nur noch in seinen Erinnerungen existiert hatte.
    „Verstehe“, sagte er mit glasigen Augen.
    „Ich weiß nicht wie es Ihnen geht, aber ich bin mit dem Prototypen äußerst zufrieden“, fuhr der Sergeant fort. „Deswegen werde ich grünes Licht für die Produktion geben. Ich habe große Pläne für dieses Projekt, Herr Hoge. Und ich möchte, dass Sie es leiten.“
    Mike wusste nicht, was er denken oder fühlen sollte. Das Angebot fühlte sich völlig unwirklich an, nicht nur wegen der tatsächlich unwirklichen Umgebung, in der es ihm unterbreitet wurde.
    „Ernsthaft?“
    „Das ist mein voller Ernst“, versicherte er ihm mit der grimmigen Miene von Sergeant Bloodeye. „Sie bekommen ein kleines Team hier in Essen und werden direkt im Bürogebäude von Piranha Bytes sitzen. Alles, was mit Game Design, Art Direction und Writing zu tun hat, erledigen Sie von dort aus mit Ihrem Team. Die technische Umsetzung findet in Quebec statt, natürlich in enger Abstimmung mit Ihnen.“
    „Ist Sascha dabei?“, fragte Mike.
    „Wenn Sie wollen, dass er dabei ist, Herr Hoge, dann ist er dabei.“
    „Klar will ich, dass er dabei ist.“
    „Er ist dabei.“
    Mike fixierte misstrauisch das blutige Auge des Sergeants. Das Ganze klang viel zu gut um wahr zu sein.
    „Es gibt einen Haken, oder? Sie lassen mich das nicht einfach so machen.“
    „Es gibt keinen Haken“, teilte ihm Wingefors’ Stimme mit. „Unsere Mission bei Embracer ist es, Träume wahr werden zu lassen. Und Spacetime ist Ihr Traum, habe ich recht?“
    Natürlich hatte er recht. Es war genau das, was ihm all die Jahre lang gefehlt hatte – ein fettes, geiles Projekt, in das er all seine Energie stecken konnte. Und es war mehr als das. Es war nicht irgendein geiles Projekt, es war das geile Projekt. Es war Spacetime.
    „Jo“, sagte Mike.
    „Wissen Sie, ich bin überzeugt davon, dass es in der Spieleproduktion – und nicht nur da – auf die richtigen Menschen am richtigen Ort ankommt“, sagte Sergeant Bloodeye, während sein Augenvisor wild blinkte. „Sie sind der richtige Mensch, das haben Sie längst bewiesen. Es wird Zeit, Sie wieder an den richtigen Ort zu bringen.“
    Mike wusste genau, dass er sehr skeptisch gewesen wäre, wenn er diese Worte aus dem Mund von Wingefors mit seinem aalglatten Lächeln und der schmierigen Gelfrise gehört hätte. Aber er saß nun einmal neben Sergeant Bloodeye, seinem Sergeant Bloodeye, und dem wollte er einfach alles glauben, was er sagte.
    „Natürlich setze ich darauf, dass Sie sich im Gegenzug kooperativ und offen zeigen“, fuhr der Weltraum-Veteran fort. „Wie bereits erwähnt, werden Sie vom Bürogebäude der Piranha Bytes aus arbeiten. Ich möchte über alles Bescheid wissen, was dort vor sich geht. Sie werden regelmäßig direkt und vertraulich an mich berichten.“
    Mike spürte plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Das war also der Haken.
    „Sie wollen, dass ich Ihr Spitzel bin?“
    „Nennen Sie es wie Sie möchten. Ich weiß gerne Bescheid darüber, was in meinem Unternehmen vor sich geht, und ich habe Grund zur Annahme, dass es im Falle von Piranha Bytes in der Hinsicht gewisse Defizite gibt.“ Der Sergeant beugte sich in seinem Controller-Sitz zu ihm vor und bleckte die gelben Zähne. „Das ist meine einzige Bedingung, Herr Hoge. Sollte ich jemals herausfinden, dass Sie mich belügen oder mir etwas verschweigen, dann platzt der Deal in der gleichen Sekunde.“
    Mike zögerte. War das wirklich ein so großes Problem? Björn hatte damals auch keine Rücksicht auf ihn und sein Team genommen, wieso sollte er es dann umgekehrt tun? Eigentlich kam es überhaupt nicht infrage, Spacetime wegen dem blöden Penner ein zweites Mal platzen zu lassen.
    Trotzdem war da noch immer der Kloß in seinem Hals, der ihn von einer Antwort abhielt.
    „Lassen Sie es sich noch einmal durch den Kopf gehen, Herr Hoge. Ich erwarte Ihre Antwort bis heute Abend. Mein Mitarbeiter Herr Reuter wird Ihnen meine Nummer geben, Sie haben ihn ja bereits kennengelernt.“
    „Jo“, murmelte Mike. „Okay, ich melde mich.“
    Die sphärische Musik endete schlagartig, und es wurde erneut schwarz vor seinen Augen. Das Cockpit, der Sergeant, die unendlichen Weiten des Weltalls… all das schien auf einmal wieder unerreichbar weit weg zu sein. Aber die Sehnsucht, sich all das zurückzuholen, die war größer als je zuvor.
    Mike hatte im ersten Moment gar keine Lust, die Brille wieder abzunehmen, aber plötzlich beschlich ihn das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Die Geräuschkulisse war eine andere als zuvor, und er hörte eine aufgeregte Stimme, die von außerhalb des Raums zu kommen schien. Das erste, was er sah, als er die Brille vom Kopf nahm, war die entgeisterte Miene von Wingefors. Er hatte geglaubt, dass die Professionalität dem Embracer-Chef quasi ins Gesicht getackert war, aber irgendetwas hatte seine wohlkontrollierten Gesichtszüge für ein, zwei kurze Augenblicke entgleisen lassen.
    Mike folgte dem Blick des CEOs und sah es jetzt auch: Die Tür zum Warteraum war geöffnet, und eine hager wirkende Frau mit Gothic-Shirt, Gürteltasche und Rucksack stand mitten im Konferenzraum. Ein paar rot gefärbte Haarsträhnen baumelten unter ihrer Baseballkappe hervor und um ihren Hals hing an einem Stoffband ein goldenes Plastikamulett, aber Mike konnte auf kaum etwas anderes achten als auf den Blick in ihren Augen. Es war ein Blick, der Mike trotz der Hitze frösteln ließ – ein penetrierender Blick, der direkt in ihn hinein gerichtet war. Der alles aus ihm herausbohren wollte, was es in seinem Innersten zu finden gab.
    „Frau Arends, Sie dürfen nicht –“ Mit panisch aufgerissenen Augen stürmte Herr Reuter in den Raum – der Typ im schicken Sakko, der sich Mike eben vor der Eröffnungsfeier als Joe vorgestellt hatte. „Herr Wingefors, ich entschuldige mich vielmals! Sie muss meine Schlüssel entwendet haben – ich weiß nicht, wie das passieren konnte –“
    „Tschuldigung“, sagte die Frau und drückte Joe den Schlüsselbund in die Hand, mit dem sie offenbar die Tür zum Konferenzraum aufgeschlossen hatte. „Ich wollte das echt nicht, aber es hat ewig gedauert, und es ist wirklich dringend! Ich musste hier unbedingt rein!“
    Wingefors schien sich derweil schon wieder gesammelt zu haben.
    „Herr Reuter, das ist gar kein Problem“, sagte er mit großzügigem Lächeln. „Bitte suchen Sie schon einmal drei bis vier geeignete Kandidaten für Ihre Nachfolge heraus und legen Sie mir die Unterlagen auf den Schreibtisch. Er kann gleich nächste Woche anfangen.“
    „S… sehr wohl, Herr Wingefors“, stammelte Joe.
    „Und geben Sie Herrn Hoge bitte vorher noch meine Nummer.“
    „Natürlich, Herr Wingefors! Bitte… äh, bitte kommen Sie doch gleich mit, Herr Hoge.“
    Mike richtete sich ächzend auf und schüttelte noch einmal Wingefors’ Hand, während draußen wieder die gedämpfte Schreie von ein paar Dutzend Leuten zu hören waren, die gerade von Xardas’ Turm stürzten.
    „Ich erwarte Ihren Anruf, Herr Hoge.“
    „Jo“, sagte Mike und ging zum Ausgang, wobei er möglichst großen Abstand zu der fremden Frau hielt, die aus irgendeinem ihm völlig schleierhaften Grund noch immer nicht rausgeschmissen worden war. Ihr Blick verfolgte ihn bis zur Tür, bis Joe sie hinter ihm zuschlug und zweimal abschloss.

    „Was hast du mit angehört?“
    Stina hasste es, dass er wie immer auf Schwedisch mit ihr sprach, obwohl er genau wusste, wie schwer ihr das fiel. Im Moment stand sie aber ohnehin noch völlig neben sich. Sie hatte doch nicht ahnen können, dass sie in irgendwelche streng geheimen Absprachen hineinplatzen würde, geschweige denn dass auch noch Mike Hoge persönlich daran beteiligt sein würde! Jetzt hatte sie ihre blöde Ungeduld mal wieder in ein ganz schönes Schlamassel hineingeritten.
    „Ich…“
    „Zieh gefälligst deine Mütze aus, wenn du mit mir redest.“
    Bevor sie überhaupt dazu kommen konnte, dem Befehl Folge zu leisten, hatte er ihr auch schon die Baseballkappe vom Kopf genommen und sie auf den Konferenztisch gepfeffert.
    „Und was ist das für ein lächerliches Ding da?“ Er packte das Auge Innos’ und hätte es ihr wohl am liebsten mit Gewalt vom Hals gerissen, konnte sich aber gerade noch beherrschen. „Wie alt bist du eigentlich? Neun?“
    „Das ist das Auge Innos’“, sagte sie so beherrscht wie möglich.
    „Das ist ein Kinderspielzeug“, entgegnete er verächtlich. „Als ich neun Jahre alt war, da hatte ich schon mein erstes eigenes Business. Und du rennst hier mit über dreißig noch herum wie im Kindergarten.“
    Leider wusste sie, dass ihr Vater damit nicht einmal übertrieb – er hatte tatsächlich schon als Kind mit irgendwelchem Kram gehandelt und sich seine ersten Tausender verdient. Das war ja auch eine tolle, bewundernswerte Leistung. Ihr war bloß absolut nicht klar, wieso das bedeuten sollte, dass sie nicht mit dem Auge Innos’ herumlaufen durfte.
    „Also, was hast du mitgehört, Stina?“
    „Ich hab gar nichts mitgehört, ehrlich!“, platzte es aus ihr heraus. „Ich hab euch da nur sitzen sehen mit diesen VR-Brillen auf dem Kopf, und – und ja, das war auch schon alles!“
    „Was hast du überhaupt hier zu suchen? War es so schwer, einfach einen ganz normalen Tag im Park zu verbringen wie jeder andere auch?“ Er hielt sich zwei Finger an die Schläfe und schüttelte abschätzig den Kopf. „Ich wusste gleich, dass ich es bereuen würde, dir ein Ticketpaket zu schicken. Das war das letzte Mal, dass ich auf dein Gebettel eingehe.“
    Stina fand das alles sehr unfair, aber sie gab sich alle Mühe, nicht hysterisch zu werden und sagte so gefasst wie möglich: „Hör mal, da stimmt was nicht in deinem Park. Dieses Geräusch vorhin bei der Show… das war doch nicht bloß eine technische Störung, oder?“
    „Natürlich war das eine technische Störung. Was willst du denn damit andeuten?“
    „Hier geht irgendwas… Merkwürdiges vor sich“, versuchte Stina ihre vagen Gefühle in Worte zu fassen. „Vorhin hat mich auf der Toilette jemand im Suchendenkostüm angesprochen und mir so einen seltsamen Satz gesagt: Was geteilt, wird wieder vereint.“
    „Na und?“ Er zuckte verständnislos mit den Schultern. „Sind das nicht diese Kultisten? Die sollen solche Sachen eben sagen, nehme ich an.“
    „Eben nicht!“, widersprach Stina heftig. „Das ist kein Satz, den im Spiel ein Suchender sagt. Das ist…“
    Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Endlich wusste sie, wo sie diese Worte schon einmal gelesen hatte.
    „Chromanin! Das ist ein Satz aus dem zweiten Chromanin-Buch!“
    „Aha“, sagte ihr Vater mit gerunzelter Stirn. „Chromanin?“
    Was geteilt, wird wieder vereint, wenn auch nur kurz massiv voneinander getrennt“, rezitierte sie aufgeregt. „Das klingt ein bisschen komisch, aber das ist ein Hinweis für ein Rätsel, weißt du? Damit ist nämlich eine Insel gemeint, und das, was geteilt wird, das ist ein Fluss, der –“
    „Schön und gut, dann hat da jemand den falschen Text aufgesagt“, seufzte er. „War das alles?“
    „Nein! Vorhin habe ich den Suchenden hier im Hotel wiedergesehen – oder, naja, zumindest einen Suchenden, aber ich wette, das war der Gleiche! Was hätte denn ein Suchender normalerweise hier im Hotel zu suchen?“
    „Hier laufen eine Menge kostümierter Leute herum, dafür gibt es alle möglichen Gründe. Wir sind mitten in einem Vergnügungspark, Stina.“
    „Jedenfalls habe ich ihn bis zur vierten Etage verfolgt und gesehen, wie er in eins der Zimmer eingebrochen ist. Und zwar nicht in irgendein Zimmer, sondern in das von Björn und Jennifer Pankratz!“
    Er antwortete nicht gleich, sondern ging zum großen Holztisch in der Mitte des Konferenzraums, wo er sich im Stehen über einen Laptop beugte und auf der Tastatur herumtippte. Stina fielen die kleinen hölzernen Drachenköpfe auf, die in der Mitte jeder Tischkante eingearbeitet waren, aber natürlich war sie gerade nicht in der richtigen Stimmung, um die liebevollen Gothic-Details des Raums ausgiebig zu bewundern.
    „Im Message Board des Sicherheitsdienstes steht, dass du versucht hast, in das Zimmer von Björn und Jennifer Pankratz einzubrechen.“
    „Das ist aber Quatsch!“, verteidigte sich Stina hastig. „Ich habe den Suchenden nur dahin verfolgt, und dann haben die Pankratzens das irgendwie in den falschen Hals gekriegt, weil – ach, das ist eine lange Geschichte, aber ich hab jedenfalls überhaupt nichts in deren Zimmer gemacht!“
    „Stina“, begann ihr Vater langsam. „Hat irgendwer außer dir diesen Suchenden gesehen?“
    „Was – was soll das denn heißen?“, stammelte sie. „Davon gehe ich ja mal aus! Der läuft hier ja offenbar überall rum. In dem Promo-Video eben in der Show haben sie ja auch einen Suchenden gezeigt!“
    „Ja, aber… dieser ganz bestimmte Suchende, der merkwürdige Sachen sagt und in fremde Zimmer einbricht… den hast nur du beobachtet?“
    „Ich glaube schon, aber – aber das heißt nicht, dass ich mir das alles nur eingebildet habe!“ Sie merkte zu ihrem eigenen Ärger, wie ihre Stimme jetzt doch ein paar Gänge zu hoch schaltete und zunehmend überdrehte. „Bitte, du musst das überprüfen! Vielleicht haben ihn deine Sicherheitsleute ja sogar noch im Zimmer erwischt, schau doch mal nach!“
    „Habe ich schon“, antwortete er prompt. „Im Zimmer war nichts Unauffälliges festzustellen.“
    „Ja, weil der Suchende natürlich auch genug Zeit hatte, um unbemerkt wieder abzuhauen, während die sich alle auf mich eingeschossen hatten! Gibt es keine Sicherheitskameras, die irgendwas aufgenommen haben? Du musst das unbedingt überprüfen lassen, dann wirst du schon sehen, dass ich recht habe!“
    „Glaubst du, ich habe heute nichts anderes zu tun, als mich um deine ausgedachten Probleme zu kümmern?“, zischte ihr Vater ungehalten, beherrschte sich dann aber gleich darauf wieder und holte ein Handy aus seiner Anzugtasche, um eine Nummer zu wählen.
    „Wingefors. Könnt ihr mal auf den Security-Bändern checken, ob im Hotel eine kostümierte Person unterwegs war und in eins der Zimmer eingebrochen ist? Vierter Stock soll das gewesen sein. – Ja, heute, kurz nach Mittag. Danke.“
    Er legte auf und sah sie auffordernd an.
    „Und? Zufrieden?“
    „Hm“, machte Stina und war sich selbst nicht ganz sicher. „Ja, okay.“
    „Stina, wenn das deine Art ist mir zu sagen, dass du mehr Zeit mit mir verbringen willst…“ Er seufzte und rieb ein paar Mal eher mechanisch mit der Hand über ihren Arm. „Du weißt, ich bin ein beschäftigter Mann, und gerade heute habe ich wirklich viel um die Ohren. Ich bin noch ein paar Tage in Essen, vielleicht finde ich morgen oder übermorgen einen freien Slot für dich. Dann kannst du mir erzählen, wie es dir ergeht mit deiner Ausbildung. Okay?“
    „Okay“, sagte Stina.
    „Und jetzt tu mir bitte den Gefallen und geh nach draußen, fahr mit ein paar Karussells, iss ein paar Crêpes, oder was auch immer du hier gerne machst, und geh dann wieder nach Hause. Kriegst du das hin?“
    „Ja… krieg ich hin“, murmelte sie. „Danke, Papa.“
    Sie wusste, dass das Gespräch damit beendet war. Sie hatte alles gegeben, aber am Ende der Gespräche mit ihrem Vater war ihr bisher noch jedes Mal die Kraft ausgegangen. Gemeinsam verließen sie den Konferenzraum, und er begleitete sie noch bis zum Aufzug, bevor sie alleine wieder herunterfuhr.
    Unten war die Autogrammstunde offenbar abgeschlossen worden, jedenfalls war von den Gothic-Entwicklern und ihren Fans nichts mehr zu sehen – nur noch ein paar vereinzelte Interessierte begutachteten den Inhalt der Vitrinen und die Wachsfiguren. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Missverständnis mit Björn und Jenny nicht zu einem Abbruch der Veranstaltung geführt hatte, das hätte ihr natürlich leid getan.
    Erst als sie nach einem kleinen Spaziergang durch die Hotellobby wieder draußen unter der prallen Nachmittagssonne stand, wurde ihr bewusst, dass die Baseballkappe noch immer oben auf dem Konferenztisch liegen musste. Deswegen jetzt noch einmal nach oben zu gehen und ihren Vater erneut zu stören, kam natürlich absolut nicht infrage, also konnte sie nur hoffen, dass David die Kappe nicht vermissen würde. Vielleicht würde sie ihm einfach später im Souvenirladen eine neue kaufen, überlegte sie, während sie an der Khoriner Stadtmauer entlang schlenderte. Als sie wieder an der S.O.S. Esmeralda angekommen war, hielt sie kurz inne und atmete tief durch. Vielleicht hatte ihr Vater recht. Vielleicht sollte sie den ganzen Ärger mit dem Suchenden einfach vergessen und den Rest des Tages genießen – sie hatte ja noch längst nicht alles gesehen, was die World of Gothic ihr zu bieten hatte.
    Stina holte den Parkprospekt aus dem Rucksack und ließ den Blick über die Karte schweifen.

    Sie lag schon seit mindestens einer Viertelstunde seitlich auf der Liege. Sie hatte nur einen blauen Kittel an, der am Rücken frei war, und schon nach kurzer Zeit hatte es sie zu frösteln begonnen. Sie musste daran denken, dass sie am Wochenende vor Erschöpfung und Kopfschmerzen nicht dazu gekommen war, ihre Hausaufgaben zu machen, und sie glaubte nicht, dass der Fehltag heute als Entschuldigung durchgehen würde. Auch wenn sie es nicht gerne machte, sie würde morgen früh noch schnell von jemandem abschreiben müssen, wenn sie dann überhaupt in der Lage dazu war, in die Schule zu gehen.
    Sie drückte die Hand ihrer Mutter, die auf einem Stuhl neben ihr Platz genommen hatte, und wartete ab, bis endlich von außen die Tür zum Behandlungszimmer geöffnet wurde. Weil ihr Blick zur Wand ging, konnte sie nichts sehen, aber es klang so, als ob zwei Männer den Raum betreten hätten, die sich leise miteinander unterhielten.
    „Lumbalpunktion“, war eines der Wörter, das sie heraushörte, weil sie es schon kannte.
    „Verdacht auf Enzephalitis.“
    Beim letzten Mal war es nicht so schlimm gewesen, erinnerte sie sich. Gar nicht viel schlimmer als eine Spritze. Aber die Kopfschmerzen danach, die waren natürlich umso schlimmer gewesen. Hoffentlich würde es diesmal nicht wieder so werden.
    „Den Anhänger muss sie noch abnehmen“, hörte sie einen der Männer aussprechen, was sie schon befürchtet hatte.
    „Hast du gehört?“, vernahm sie die sanfte Stimme ihrer Mutter dicht über ihrem Ohr. „Keine Sorge, ich bewahr ihn solange für dich auf.“
    Sie strich ein letztes Mal mit den Fingern über das kühle Metall der Schläfermaske, bevor ihre Mutter den Verschluss des Bandes an ihrem Nacken gelöst hatte und ihr den Anhänger abnahm.
    „Gleich ist es vorbei, dann kannst du ihn wiederhaben“, sagte ihre Mutter und streichelte ihre Wange.
    Sie fühlte, dass die Ärzte schon direkt hinter ihr standen und alles vorbereiteten. Ihre Mutter musste jetzt gehen und hatte nur noch Zeit für drei geflüsterte Worte.
    „Alles wird gut.“
    Geändert von Laidoridas (08.10.2023 um 17:53 Uhr)

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    Nachmittag

    „Was ist denn so Besonderes hinter dem Tor?“
    „Minecrawler. Große böse Minecrawler. Und zwar sehr… sehr… SEHR VIELE.“
    „Es muss hier irgendwo ein Nest geben.“
    „Dieser ganze verdammte Berg ist ein einziges Nest!“

    David wusste nicht, wie oft er den kurzen Dialog auf dem Videobildschirm jetzt schon gesehen hatte, aber es musste locker eine zweistellige Zahl sein. Die Warteschlange hatte gar nicht so lang ausgesehen, aber jetzt standen sie sich schon seit über einer halben Stunde die Beine in den Bauch, während sie quälend langsam in Richtung des Mineneingangs vorrückten, über dem in regelmäßiger Abfolge die großen leuchtenden Buchstaben CRAZY CRAWLERS! aufblinkten. Die Warterei an sich hätte er wahrscheinlich gar nicht so schlimm gefunden – irgendwie gehörte das ja auch dazu bei einem Freizeitparkbesuch – wenn er nicht blöderweise seine Baseballkappe im Rucksack gelassen hätte, als er ihn Nadines Kollegin überlassen hatte. Bestimmt war ihm in der Hitze schon das halbe Gesicht weggebrannt, jedenfalls fühlte es sich danach an.
    „Wenn wir gleich wieder draußen sind, ruf ich aber erstmal Stina an“, sagte Nadine, als hätte sie seine Gedanken erraten, was ja wirklich öfters mal vorkam. „Du musst endlich deinen Apfel aufessen, Kleo.“
    „Ich bin schon satt“, sagte Kleo und umklammerte trotzig ihren Dino.
    „Ja, von Fritten und Eis“, entgegnete Nadine mit ihrem üblichen strengen Mutterblick. „Wird mal wieder Zeit für was Vernünftiges. Der Papa hätte die Apfeldose wirklich vorher rausnehmen können, bevor er unseren Rucksack einfach weggegeben hat.“
    „Ich sitz bestimmt nicht mit ‘ner Apfeldose in der Hand in der Achterbahn“, sagte David und scheuchte eine aufdringliche Wespe weg. „Aber okay, dann ruf sie nachher mal an, können wir uns den Rucksack zurück holen. Und uns den Rest des Tages wieder diesen ganzen Gothic-Kram anhören…“
    „Tja, das wird sich wohl nicht vermeiden lassen. Aber naja, ohne sie wären wir ja gar nicht hier.“
    Das stimmte zwar, änderte aber nichts daran, dass David auf ein Wiedersehen mit dieser komischen Stina auch gut hätte verzichten können. Zumindest hatten sie ja jetzt in Ruhe alle Achterbahnen ausprobieren können, ohne die ganze Zeit dabei zugetextet zu werden – nur diese letzte hier fehlte noch, dann hatten sie alles Wichtige abgegrast.
    „Übrigens, guck mal hier.“ Nadine hielt ihm ihr Smartphone hin, mit dem sie sich die Wartezeit vertrieb. „Exklusivkonzert von Tim Bendzko in der Lichtburg. Wär das nicht was, Schatz?“
    „Weiß nicht“, sagte David.
    „Ach jetzt komm, Tim Bendzko magst du doch auch.“
    „Ja, schon, aber… vielleicht ein anderes Mal.“
    Tatsächlich fand er Tim Bendzko ziemlich gut, aber er hatte das Datum des Konzerts auf dem Smartphone gesehen: Der zwölfte November. Er hatte schon Tickets für Mario Barths Auftritt in der Oberhausener Arena mit seinem neuen Programm Männer mögen Fußball, Frauen können nicht einparken gekauft, und das würde genau am zwölften November stattfinden. Natürlich konnte er Nadine nichts davon erzählen, denn das sollte ja eine Überraschung zum zwölfjährigen Jubiläum ihres Kennenlernens sein. Das war damals in der ersten Doppelstunde Mathe bei Herrn Friese gewesen.
    „Du hast das doch letztens erst den ganzen Tag gesummt“, erinnerte sich Nadine. „Ich bin doch keine Maschine… Stell dir das mal live vor, und alle holen die Feuerzeuge raus. Das wär doch was.“
    „Mal gucken“, sagte David und hoffte, dass ihm später noch eine bessere Ausrede einfallen würde. Ihr schon vor dem Jahrestag von den Mario-Barth-Karten zu erzählen, das kam ihm wie keine gute Idee vor. Das musste ja ein romantischer Moment werden, so hatte er es jedenfalls geplant.
    „Gleich haben wir’s geschafft“, sagte er zu Kleo, als der etwas ältere Mann mit Baskenmütze, der direkt vor ihnen in der Reihe stand, ins Innere der Mine vorgelassen wurde. „Und denk dran, wenn’s gleich gruselig wird: Das sind keine echten Monster, okay? Die sehen nur so aus, aber das sind alles Roboter. Die sollen uns nur ein bisschen erschrecken.“
    „Weiß ich doch“, sagte Kleo.
    „Super.“ David legte ihr die Hände auf die Schultern und gab ihr einen Kuss. „Und wenn ich gleich voll Angst kriege, dann musst du mich vielleicht auch mal dran erinnern, okay?“
    „Mach ich“, versprach sie, als er ihre Hand nahm. Ein Parkmitarbeiter in abgerissenen Minenarbeiterklamotten winkte sie herein, und David dachte gar nicht daran, nur eine einzige weitere Sekunde in der Hitze hier draußen zu verbringen.
    Im Inneren des großen künstlichen Felsens war es zwar nicht ganz so kühl, wie er es sich von einer echten Mine erhofft hätte, aber dann doch kühl genug, um ihm einen Seufzer der Erleichterung zu entlocken. Jetzt konnten sie zum ersten Mal die Ein- und Ausstiegsstation des Indoor-Coasters sehen, die sie bisher nur kurz in dem Video auf dem Bildschirm draußen zu Gesicht bekommen hatten. Woher die Gleise kamen und wohin sie führten, das war von hier aus allerdings gar nicht auszumachen – schon nach wenigen Metern verlor sich zu beiden Seiten alles in der Finsternis eines endlos wirkenden Tunnels.
    „Einen Moment bitte“, sagte der Mitarbeiter. „Gleich geht es los.“
    Tatsächlich dauerte es nur ein paar Sekunden, bis aus den Tiefen der Mine laut ratternd eine Lore angefahren kam und direkt vor ihnen auf den Schienen halt machte. Die Passagiere, ein paar junge Frauen, stiegen aus, und gingen plaudernd in Richtung Ausgang, während der Parkmitarbeiter ihnen Dreien das Zeichen gab, einzusteigen. In der Lore gab es drei Sitze, sodass sie Kleo zwischen sich in die Mitte nehmen konnten.
    „Viel Spaß“, wünschte ihnen der Mann und drückte bei ihnen nach und nach die Sicherheitsbügel herunter. „Und lasst euch nicht von den Crawlern erwischen, harr harr!“
    Der letzte Satz wirkte ein bisschen einstudiert, aber irgendwie unheimlich fand David ihn trotzdem. Diese Minecrawler schienen große Insekten zu sein, und er mochte Insekten nicht besonders. Er hoffte sehr, dass Kleo keine Angst bekommen würde, denn sie würden die Fahrt ja schlecht vorzeitig abbrechen können.
    Rumpelnd setzte sich die Lore in gemächlichem Tempo in Bewegung. Zunächst folgte ihnen noch ein wenig Tageslicht vom Ausgang nach, aber als die Schienen eine Biegung nach links nahmen und sie in einen engen Tunnel einbogen, da wurden sie vollends von der Finsternis des Bergwerks verschluckt. Nur hier und da tauchten Fackeln an den Wänden auf, in denen offensichtlich echtes Feuer brannte und ihren Weg auf schummerige Weise beleuchteten.
    „Und, sehr schlimm?“, fragte er Kleo, aber die zuckte nur mit den Schultern.
    Von der typischen Freizeitpark-Geräuschkulisse mit Musik, Geplauder und den fernen Schreien anderer Achterbahnfans waren sie jetzt schon völlig abgeschnitten. Auch die Loren vor und hinter ihnen waren nicht zu sehen oder zu hören – da war nur das Rattern ihres eigenen Gefährts inmitten der Totenstille des Berges.
    Allmählich nahmen sie an Geschwindigkeit auf, als sich der Tunnel zu einer größeren Höhle öffnete, die großzügig mit Fackellicht erleuchtet war. Auf einer kurvenreichen Strecke sauste die Lore jetzt zwischen stachelartig aus dem Boden ragenden Felsen hindurch, in denen Klumpen blau leuchtenden Gesteins steckten.
    „Schon nicht schlecht, oder?“, rief er Nadine und Kleo zu. „Nicht so schnell wie die mit dem Drachen eben, aber –“
    Der Satz endete in wildem Geschrei, als die Schienen hinter einer scharfen Kurve urplötzlich in ein Loch im Boden führten, durch das ihr Gefährt fast senkrecht in eine bodenlose Tiefe hinab stürzte. Umgeben von völliger Dunkelheit rasten sie in irrwitzigem Tempo durch ein Tunnelnetz, dessen Verlauf David nur erahnen konnte, und wurden in ihren Sitzen mal zur einen, dann wieder zur anderen Seite gedrückt. Erst als ein diffuses, rötliches Licht unbekannter Herkunft die steinernen Wände zu beleuchten begann und die Gleise eine gerade Strecke hinauf führten, wurde die Lore wieder ein wenig langsamer.
    „Guck mal da“, sagte Kleo und zeigte mit dem Finger auf ein großes Loch in der Wand. In der Dunkelheit war nicht viel zu erkennen, aber David glaubte, dahinter lange, dünne Gliedmaßen zucken zu sehen. Leise Klickgeräusche hallten an den Wänden wider, gefolgt von einem bedrohlichen Zischen.
    „Keine Angst, die können uns nichts tun“, sagte David, obwohl Kleos rot beleuchtetes Gesicht eigentlich gar nicht besonders ängstlich aussah. Im Gegenteil machte der Anblick dieses Gesichts eher ihm selbst ein bisschen Angst, weil seine Tochter in diesem unnatürlichen Licht plötzlich um einige Jahre gealtert wirkte.
    Die Laute der gespenstischen Rieseninsekten gingen zum Glück bald wieder im Gerumpel der Lore unter, die sich unbeirrt weiter die Steigung hinauf arbeitete. Inzwischen war es so kühl geworden, dass es David sogar zu frösteln begann.
    „Das ist schon richtig gut gemacht, oder?“, kommentierte Nadine gut gelaunt. „Fühlt sich wie ein echtes Bergwerk an.“
    „Nur mit mehr Killerinsekten als normal“, sagte David.
    „Oh, oh“, machte Nadine, als der oberste Punkt der Steigung in ihr Sichtfeld geriet. „Ich glaube, jetzt geht’s gleich wieder abwärts. Wie sieht’s aus, seid ihr bereit?!“
    „Na klar!“, riefen David und Kleo wie aus einem Mund, und sie nahmen sich alle an den Händen.
    Als sie ganz oben angekommen waren, da wurde die Bahn noch etwas langsamer, zögerte den Moment der Abfahrt so lange wie möglich hinaus – nur um dann umso entschiedener mit vollem Karacho in die Tiefe zu sausen. Die drei Lorenpassagiere schrien sich begeistert die Seele aus dem Leib, als sie von ihren Sitzen in die Sicherheitsbügel gedrückt wurden und für ein paar Momente zu schweben schienen. Die Gleise führten nun nicht mehr am Boden entlang, sondern wirbelten sie inmitten einer riesigen von hunderten Fackeln erleuchteten Höhle spiralförmig durch die Luft. Ein waschechter Achterbahnkurs erstreckte sich jetzt vor ihnen – und ganz unten, am Fuße dieser Achterbahn, krabbelten dutzende bleiche Rieseninsekten klickend und zischend über den Felsboden. David fand, dass sie wie eine farbarme Mischung aus Ameisen und Spinnen aussahen, außerdem schienen sie über harte Chitinpanzer zu verfügen. Vor allem aber waren sie wirklich erschreckend groß – und, da hatte das Video an der Warteschlange nicht gelogen, es waren sehr, sehr, sehr viele von ihnen am Höhlenboden unterwegs. Offenbar hatten sie bei der Herstellung der Roboter keine Kosten und Mühen gescheut, aber besonders freuen konnte er sich darüber gerade nicht. Zunächst führten die schwebenden Schienen noch knapp unter der Decke entlang, aber als sie plötzlich nach ganz unten rasten, da schrie David nicht mehr nur vor Begeisterung: Die Lore ratterte genau in die Menge der Crawler hinein, die sie auf einmal links und rechts der Schienen umzingelt hatten und sie bösartig zischend mit ihren gewaltigen Zangen und erhobenen Vorderbeinen bedrohten. David konnte schwören, dass einer von ihnen kurz davor war, einen Satz auf die Schienen zu machen und sie in ihrer Lore anzuspringen, und hielt sich instinktiv die Arme vor das Gesicht – bis sie zu seiner Erleichterung in der nächsten Sekunde wieder nach oben rasten und den Monstern für den Moment entkommen waren.
    In einer Helix führte die Strecke nun wieder aufwärts und ging in einen kleinen Looping über, der zu den üblichen Begeisterungsrufen bei ihnen führte. Loopings fanden sie alle drei immer am Besten, und David hatte im Vorhinein gar nicht damit gerechnet, dass es in dieser Bahn einen geben würde – wann hatte eine Indoor-Achterbahn schon mal einen Looping zu bieten? Umso euphorischer schrie sich David die unheimliche Crawler-Begegnung aus den Knochen, während sie in ihrer Lore kopfüber über die Schienen gejagt wurden.
    Als sie mit einem irrwitzigen Affenzahn aus dem Looping geschossen kamen, da machte sich David schon auf einen erneuten Besuch bei den Crawlern bereit, aber die Gleise hielten jetzt auf ein großes Loch in der Wand zu, das aus der Höhle hinaus in einen weiteren Tunnel zu führen schien. Sie hatten den Tunnel fast erreicht – als mit einem Mal ein ohrenbetäubendes, sägendes Geräusch zu hören war.
    Ein schmerzhaftes Zucken jagte durch Davids Kopf, und seine Finger krallten sich unwillkürlich am Sicherheitsbügel fest. Ehe er sich die Hände auf die Ohren halten konnte, da kam die Lore mitten in der Fahrt zu einem völlig unvermittelten Halt. Davids Arme und sein Kopf wurden mit Gewalt nach vorne geschleudert, schmerzhaft presste sich der Sicherheitsbügel in seine Bauchgegend. Aus dem Augenwinkel sah er einen Plüschdino durch die Luft fliegen, als seine Tochter vor Schreck aufschrie.
    Das grässliche Geräusch war im nächsten Moment schon wieder verklungen, und auch ihre Lore gab nur noch ein kurzes schrilles Quietschen von sich, während sie auf den Schienen ein paar Zentimeter in Richtung Looping zurück rutschte und dann endgültig zum Stillstand kam. Jetzt herrschte eine beinahe vollkommene Ruhe, und außer den gedämpften Lauten der Crawler waren nur noch ihre eigenen Atemgeräusche zu vernehmen.
    „Was… was war das denn jetzt…?“, keuchte Nadine. „Das ist doch nicht normal so, oder?“
    „Nee, auf keinen Fall“, ächzte David. „Kleo, bist du in Ordnung?“
    Seine Tochter nickte, aber ihre Mundwinkel zitterten, als sie versuchte, über Davids Seite nach unten in die Richtung zu schauen, in der ihr Dino verschwunden war. David sah den flauschigen Stegosaurus ganz unten am Boden der Achterbahnhöhle liegen, zwischen den Beinen der unzähligen emsig krabbelnden Crawler.
    „Wir kaufen dir einen neuen“, versprach Nadine, und damit kullerten auch schon die ersten Tränchen bei Kleo. David konnte es seiner Tochter nicht übelnehmen, auch wenn der verlorene Dino wohl ihr geringstes Problem war – sie befanden sich in schätzungsweise dreißig Metern Höhe in einem Achterbahnwagen, der offenbar gar keine Anstalten machte, sie von hier weg zu bringen.
    „Der Wagen hinter uns!“, entfuhr es Nadine plötzlich erschrocken. „Da muss doch gleich jemand nachkommen! Was, wenn der nächste Wagen in uns…“
    „Bisher scheint keiner zu kommen“, versuchte David sie zu beruhigen. „Vielleicht ist die ganze Achterbahn hier kaputt gegangen und alle Wagen sind stehen geblieben.“
    Er war sich noch nicht ganz sicher, wie sehr er tatsächlich daran glaubte. Eigentlich hätte die nachfolgende Lore die Höhle längst erreichen müssen, aber es war natürlich nicht auszuschließen, dass die Leute, die nach ihnen gekommen waren, beim Einsteigen vielleicht einfach etwas länger gebraucht hatten. Wenn tatsächlich auf einmal ein Wagen aus dem Eingangstunnel auf der anderen Seite der Höhle geschossen käme, dann würden sie wohl allerhöchstens eine Minute haben, bis er sie erreichen würde. Eine Minute, in der David genauso wenig Ahnung haben würde wie jetzt, wie er und seine kleine Familie aus dieser mehr als heiklen Situation noch heil herauskommen sollten. Das Schienenstück, auf dem sie sich in ihrer Lore befanden, führte noch vier oder fünf Meter durch die Luft, bevor es den Ausgangstunnel erreichte, wo sie festen Boden unter den Füßen gehabt hätten und sich im Falle eines heranrasenden Wagens vielleicht wenigstens an die Wand hätten drücken können. So aber saßen sie in der Falle. In dieser schwindelerregenden Höhe aus der Lore auf die schmalen Schienen zu klettern und bis zum Tunnel zu balancieren, das war in Davids Kopf bloß eine sehr theoretische Möglichkeit, die in der Praxis eigentlich nur unten bei den Crawlern enden konnte. Immerhin steckten sie nicht kopfüber im Looping fest, dachte er schaudernd – es waren wohl nur ein paar Sekunden gewesen, die sie vor diesem Horrorszenario bewahrt hatten.
    „Vielleicht ein Stromausfall“, murmelte Nadine, während sie den Arm so gut es in ihrer beengten Sitzposition ging um ihre schluchzende Tochter legte. „Bestimmt geht es gleich weiter.“
    „Scheiße, kein Netz“, sagte David, als er das Symbol auf seinem Smartphone sah. „Du hast auch keins, oder?“
    Nadine zog mit der freien Hand das Handy aus der Hosentasche und schüttelte gleich darauf den Kopf. David hätte sich den Sicherheitsbügel am liebsten vom Leib gerissen, so beengt und hilflos fühlte er sich. Sie konnten also nicht einmal Hilfe rufen. Sie würden einfach hier sitzen und abwarten müssen.
    Am Höhlenboden weit unter ihnen war das Gezische lauter geworden. Vorsichtig beugte sich David über den Rand der Lore und blickte in das graue Gewimmel der monströsen Roboterinsekten hinab. Ein besonders großes Exemplar mit riesigen Zangen am Kopf und gewaltigen, stachelbesetzten Vorderbeinen hatte sich aus der Menge gelöst und krabbelte auf den Plüschdino zu. Zwei, drei Mal stieß es ihn mit dem Bein an, dann schossen die Zangen nach vorn, spießten den Dino vom Boden auf und zerfetzten ihn in der Luft. Flocken weißer Plüschfüllung rieselten zu Boden, und David wandte den Blick wieder ab.
    „Ich glaube, du hast recht“, sagte er so gefasst wie möglich zu seiner Freundin. „Es wird bestimmt gleich weitergehen.“

    „Einmal Currywurst extrascharf.“
    „Currywurst? Haben wir hier nicht.“
    Der junge Typ mit der hippen Fußballerfrisur grinste ihn blöd von der anderen Seite des Tresens an. Mike fühlte sich dazu genötigt, mit dem Zeigefinger auf die nicht besonders lange Speisekarte zu tippen, die an der Imbissbude aushing.
    „Achsoo. Moleratwurst nach Art der südlichen Inseln, mit ‘ner Extraportion rotem Tränenpfeffer?“, las der Imbisstyp belustigt von der Karte ab. „Sag das doch gleich, Mann. Kommt sofort!“
    Mike verzog keine Miene, legte ein paar Euros auf dem Tresen ab und wartete ab, bis er eine kleine Pappschale mit Currywurst und Fritten überreicht bekam.
    „So, jetzt isste erstmal ‘ne Wurst, Bruder“, sagte der Wurstmann und zwinkerte ihm zu. „Lass es dir schmecken!“
    „Jo“, sagte Mike, steckte sich eine Fritte in den Mund und machte sich auf den Weg zurück zu Kai und Mattes, die auf einer der Bänke auf ihn warteten. Der Rastplatz befand sich im Zentrum eines kleines Waldgebietes, das zur sogenannten Minental-Erlebniswelt gehörte und offenbar als Erholungsoase inmitten des ganzen Freizeitparkrummels gedacht war. Das mit der Erholung hatte auf dem Weg hierher allerdings noch besser geklappt als auf dem belebten Rastplatz, der in den paar Stunden seit der Eröffnung schon mit jeder Menge futternder Leute und einer noch größeren Menge Müll eingeweiht worden war.
    „War nicht nur ein Versehen, was?“, brummte Mike, als er bei seinen beiden Ex-Kollegen angekommen war und ihre niedergeschlagenen Blicke sah.
    „Reinhard hat gerade zurückgerufen“, erklärte Mattes mit belegter Stimme, das Handy noch in der schlaffen Hand. „Er weiß noch nicht, wer für die Veröffentlichung im Teaser-Trailer verantwortlich ist, aber das Release-Datum stimmt. Ist von ganz oben so vorgegeben, und wird sich auch nicht mehr ändern.“
    „Er meint, wir können das schaffen“, ergänzte Kai und rieb sich die Stirn.
    „Und?“ Mike piekste mit der Holzgabel ein Stück Moleratwurst auf und steckte es sich in den Mund. „Könnt ihr?“
    „Keine Ahnung“, stöhnte Kai. „Wir sind doch erst ganz am Anfang! Man kann halt von Varant nach Nordmar laufen, aber das war’s auch schon.“
    „Da ist noch gar nichts fertig“, bestätigte Mattes deprimiert. „Nur ein Haufen angefangenes Zeug, ein paar Modelle, ein paar Storyideen und so. Wir dachten halt, wir haben noch ein paar Jahre Zeit. Und jetzt sind es nur noch fünfzehn Monate oder so.“
    „Aber die Engine steht doch?“, hakte Mike nach. „Gothic zwei haben wir damals auch in ‘nem Jahr hingekriegt.“
    „Das hatte aber auch nur eine Stadt und keine zwanzig.“
    „Und kein kompliziertes Storydiagramm mit achtzigtausend Abzweigungen, je nachdem wen man wann wie umbringt.“
    „Das wäre so super geworden.“
    „Ja, wir wollten endlich richtige Dialoge für Xardas schreiben, nicht nur Das ist eine lange Geschichte, die erzähl ich dir nicht.“
    „Aber Dialoge haben wir natürlich noch gar keine.“
    „Frauenmodelle auch nicht. Die wollten wir ganz am Ende in Ruhe machen, damit sie diesmal richtig gut werden.“
    „Und die Orks wollten wir auch nochmal überarbeiten. Die sehen alle noch so doof aus.“
    „Die Menschen sehen auch noch doof aus.“
    „Und die Monster.“
    „Von den Tieren ganz zu schweigen.“
    „Und die haben wir ja noch nicht mal drin.“
    „Dabei brauchen wir die für diese Kuh-Quest.“
    „Die haben wir aber auch noch nicht drin.“
    „Wir haben noch gar nix drin.“
    „Und das, was wir nicht drin haben, ist auch noch verbuggt wie die Hölle. Das kriegen wir nie und nimmer bis nächstes Jahr gefixt.“
    „Die paar Leute, die den Engine-Code verstehen, sind ja auch alle schon wieder weg.“
    „Das wird ein absolutes Desaster. Du kannst echt froh sein, dass du damit nichts zu tun hast, Mike.“
    „Hm“, machte Mike mampfend. „Klingt alles ziemlich scheiße, habt ihr schon recht.“
    „Dabei hatten wir so große Pläne“, seufzte Mattes. „Das können wir jetzt wohl knicken. Hauptsache das Ding wird noch irgendwie fertig.“
    Mike wollte sich neben die beiden auf die Bank setzen, aber gerade als Kai und Mattes endgültig als Häuflein Elend in sich zusammenzusinken drohten, sprang Kai plötzlich auf.
    „Nee, jetzt nicht noch hinsetzen, Mike, das musst du im Gehen essen. Wir haben gleich zwanzig vor drei. Wenn wir jetzt nicht weitergehen, verpasst du noch dein Date mit Björn.“
    Mike schnaubte ein bisschen widerwillig auf, leistete aber keinen Widerstand. Die Sache mit Björn lag ihm zwar seit dem Gespräch mit Wingefors wieder schwer im Magen – diesmal auf eine andere und irgendwie noch üblere Art als vorher –, aber vor der Konfrontation drücken wollte er sich auch nicht. Auch wenn er noch keinen Schimmer hatte, was er Björn eigentlich erzählen wollte. Er war sich nicht einmal sicher, ob er und die anderen Piranhas überhaupt schon von den Spacetime-Plänen wussten – ganz sicher wussten sie aber nichts von der besonderen Rolle, die der Embracer-CEO dabei für ihn vorgesehen hatte. Eigentlich war die Sache völlig klar, mit so einer Scheiße wollte er nichts zu tun haben, egal wie mies sich Björn damals verhalten hatte. So ein hinterfotziger Spitzel-Job war überhaupt nicht seine Art: Er sagte den Leuten geradeheraus seine Meinung ins Gesicht und laberte nicht hinter deren Rücken irgendwelchen Driss über sie. Und das Letzte worauf er Bock hatte, war sich für einen Typen wie diesen Wingefors zu verbiegen.
    Einerseits.
    Andererseits ging es um Spacetime. Inzwischen war ihm längst gedämmert, dass der nächste Zug in seiner brachliegenden Go-Partie nicht mehr die schwierigste Entscheidung war, die er heute zu treffen hatte.
    „Was ist denn da los?“, fragte Mattes beiläufig, als sie den Rastplatz verließen und an ein paar Sanitätern vorbeikamen, die sich um eine offenbar hilfsbedürftige Person am Boden kümmerten.
    „Hitzeschlag?“, vermutete Kai. „So heiß ist es hier im Wald ja aber eigentlich gar nicht.“
    „Naja, immer noch heiß genug“, fand Mattes. „Hält wohl nicht jeder stundenlang aus.“
    Mike dachte gar nicht daran, in die Richtung zu glotzen wie ein Gaffer und steckte sich lieber im Gehen noch ein paar labberige Fritten zwischen die Zähne. Bei all dem High-Tech-Gedöns hier im Park hatte es für eine ordentliche Fritteuse wohl leider nicht mehr gereicht, aber wenigstens war die Tränenpfeffersoße schön scharf.
    Der Pfad führte jetzt durch ein noch dichter bewaldetes Gebiet, dessen beschauliche Ruhe ihn fast vergessen ließ, dass sie sich noch immer inmitten eines Vergnügungsparks befanden. Nur ab und zu konnte er durch das Blätterdach einen kurzen Blick auf den Aussichtsturm erhaschen, der offenbar Jacks Leuchtturm nachempfunden war.
    „Hey, guckt mal da!“, flüsterte Kai plötzlich. „Ist das etwa… das was ich denke?“
    Mike folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger mit den Augen und nahm die Sonnenbrille kurz von den Augen, die er in dieser schattigen Umgebung eigentlich ohnehin nicht brauchte. Er trug sie hauptsächlich, um nicht alle paar Meter von irgendwelchen Fans der ersten Stunde angesprochen zu werden. Nach einigem mäßig motivierten Starren erkannte er etwas abseits des Weges eine massige, dunkle Gestalt im Gebüsch. Das Biest hatte ein langes weißes Horn an der Stirn, und es schien gerade zu schlafen.
    „Jo, ein Schattenläufer“, sagte Mike schmatzend. „Aber fängst du jetzt echt an zu flüstern wegen einem von den Robo-Dingern?“
    „Ja gut, hast recht“, schmunzelte Kai, den die Sichtung der haarigen Riesenbestie offenbar kurzzeitig auf andere Gedanken gebracht hatte. „Aber irgendwie kriegt man schon Respekt, wenn man den so sieht.“
    „Sieht schon ziemlich echt aus“, stimmte ihm Mattes zu. „Einfach irre, oder? Wir laufen hier durch ‘nen Wald mit ‘nem Schattenläufer drin. Hättest du mir das vor dreißig Jahren erzählt…“
    „Roboter-Schattenläufer“, korrigierte ihn Mike. „Wahrscheinlich kann der nicht mal latschen, sonst würden die den doch nicht die ganze Zeit schlafen lassen.“
    „Ein Schattenläufer wird erst nachts wach“, erinnerte ihn Kai.
    „Wenn keine Besucher mehr da sind? Na klar. Ganz bestimmt.“
    „Na schön… wahrscheinlich kann er wirklich nur rumliegen“, gab Kai klein bei. „Aber das kann er ziemlich gut, oder?“
    „Absolut!“, pflichtete ihm Mattes bei und machte ein Foto mit dem Handy, bevor sie ihren Spaziergang fortsetzten.
    Ein paar Minuten später gelangten sie zu einer Kreuzung mit einem Wegweiser und einem wespenumschwirrten Mülleimer, in dem Mike seine leer gefutterte Wurstschale entsorgte. Eine Gruppe von ein paar halbstarken Jugendlichen kam ihnen entgegen, vor den Gesichtern Pappmasken mit den aufgedruckten Visagen von Raven, Bloodwyn und dem Erzbaron Arto mit seinem charakteristischen Muttermal. Offenbar hatten sie in der Arena gegeneinander gekämpft, denn sie erzählten sich gerade gegenseitig die spektakulärsten Szenen aus ihren epischen Duellen nach.
    „Guckt mal, nach links geht’s zu den ganzen Minental-Attraktionen“, sagte Kai mit Blick auf den Wegweiser. „Da waren wir noch gar nicht, Xardas’ Turm, der Vulkan, Crazy Crawlers und so weiter. Da können wir später ja noch hin.“
    „Mal sehen“, murmelte Mike.
    „Zum alten Lager geht’s auf jeden Fall geradeaus.“
    Sie hatten ihren Weg gerade fortgesetzt, als Mike ein hohes Fiepen hörte. Ein paar Meter entfernt vom Weg erhob sich ein kleiner dicht bewachsener Hügel, in dem der Eingang zu einer Höhle erkennbar war. Einige Molerats blickten ihnen aus der Dunkelheit entgegen, während sich ein weiteres aus der Gruppe gelöst hatte, um direkt auf sie zuzulaufen. Grunzend hoppelte das kleine, nackte Tierchen auf seinen vier Stummelbeinchen über den Waldboden, bis es bei ihnen auf dem Schotterweg angekommen war und erwartungsvoll zu Mike aufschaute.
    „Na, was willst du denn hier?“ Kai beugte sich freundlich zum rosa Nager hinunter, aber das Molerat beachtete ihn gar nicht. Stattdessen machte es plötzlich einen Satz an Mikes Hose hoch. Im ersten Moment glaubte er schon, das Robotertier wollte ihn beißen, aber tatsächlich rieb es bloß immer wieder unter leisem Quieken die fleischige Wange an seinem Knie.
    „Gibt’s ja nicht, der hat dich richtig lieb“, lachte Mattes. „Womit hast du das denn verdient?“
    Das Molerat ließ jetzt von seinem Knie ab, hob das Köpfchen und guckte Mike für ein paar Sekunden aus seinen kleinen Äuglein an. Dann fiepte es ein bisschen und schmiegte sich an sein anderes Bein an, fast wie eine Katze.
    „Der weiß wohl nicht, dass ich gerade seinen Kumpel gefressen habe“, brummte Mike und ließ die Liebkosungen des Molerats widerwillig über sich ergehen.
    „So langsam werde ich eifersüchtig“, sagte Kai grinsend. „Ich hab damals deine Grunz-Sounds auf dem Keyboard für dich eingespielt, Molerat! Da könntest du ruhig auch mal ein bisschen nett zu mir sein.“
    „Und ich hab die Quest geschrieben, in der du mit deinen Kumpels einen echten Gardisten in eurer Höhle um die Ecke bringen durftest“, informierte Mattes das Molerat, das sich daran aber nicht zu erinnern schien. Es knabberte jetzt liebevoll an Mikes Hosenbein herum, was ihm nicht so richtig in den Kram passte, weil er sich für den Auftritt bei der Eröffnungsfeier extra die Hose mit den wenigsten Löchern rausgesucht hatte.
    „Tja, ohne Mike hätte es halt überhaupt kein Gothic gegeben, und auch keine Molerats“, sagte Kai. „Das weißt du wahrscheinlich auch, was, kleines Molerat? Dass der Mike quasi dein Papa ist?“
    „Den Scheiß glauben außer dir aber auch echt nur diese Mistviecher“, sagte Mike, musste jetzt aber selber ein bisschen schmunzeln. Das Molerat ließ nicht einmal von ihm ab, als er sich wieder mit den anderen in Bewegung setzte, und folgte ihm auf Schritt und Tritt.
    „Sieht so aus, als hättest du ein neues Haustier“, kommentierte Mattes, als sie ihren Weg in Richtung des alten Lagers fortsetzten.
    Mike blickte skeptisch zu seinem neuen Weggefährten hinab, der sich unter angestrengtem Grunzen nach Kräften bemühte, mit seinen kurzen Beinchen Schritt mit ihm zu halten.
    „Zumindest bis die Batterien ausgehen.“

    Zwei feuerrote Lichter flammten in den Augenhöhlen des unheimlich grinsenden Schädels auf, als das schwebende Oberkörperskelett in den dunklen Robenfetzen beschwörend die Arme hob. Unwillkürlich zog Stina den Kopf ein, aber der Skelettmagier lachte nur schaurig und flog dann einmal über ihren Kopf hinweg, während sie auf den Schienen weiter zur nächsten Station tuckerte. Ganz so gruselig wie sie es sich ausgemalt hatte, war die Krypta-Geisterbahn nicht, auf jeden Fall lange nicht so gruselig wie sie die echte Krypta im Spiel immer als Kind empfunden hatte. Ganz überraschend kam das für sie aber nicht, denn die Attraktion lag ja auf dem Gebiet von Onars Hof, und dieser Teil der World of Gothic war ganz eindeutig für den jüngeren Teil der Besucherschaft gedacht. Stina fand das nicht schlimm, denn ansonsten hätte sie sich vielleicht auch gar nicht erst hinein getraut.
    Die Strecke führte jetzt an einem kleinen Podest vorbei, auf dem der Schattenlord Inubis persönlich in seiner schwarzen Ritterrüstung posierte. Links und rechts von ihm standen jeweils zwei Skelette mit drohend erhobenen rostigen Zweihändern, die ein paar Schritte auf die Schienen zumachten, als Stinas Wagen an ihnen vorbeifuhr. Jetzt fand es Stina doch ein bisschen unheimlich, wie sie so aus fünf Paaren leerer Augenhöhlen angeglotzt wurde. Inubis selbst stand so bewegungslos da, dass Stina rätselte, ob er vielleicht bloß eine Statue war und kein Roboter wie die gewöhnlichen Skelette, aber die Ungewissheit machte es irgendwie nur noch gruseliger. Zumindest solange, bis ein paar grünliche Lichter aufflackerten, dichte Nebelschwaden vom Boden aufstiegen und eine fies lachende Stimme zu hören war – da erinnerte sich Stina dann sehr schnell wieder daran, dass sie hier bloß in den Kulissen einer Geisterbahn herumfuhr. Trotzdem konnte sie das Gefühl, von Inubis’ toten Augen verfolgt zu werden, nicht ganz abschütteln, bis sie ein paar Meter weiter wieder am Eingang angekommen war. Stina nahm den Rucksack von ihrem Schoß, um ihn sich wieder auf den Rücken zu schnallen, und stieg aus dem Wagen aus.
    Erst jetzt, da sie wieder ins Freie trat, wusste sie die angenehme Kryptakühle der letzten paar Minuten so richtig zu schätzen – auf Onars Hof herrschten weiterhin die üblichen brütend heißend Temperaturen. Zum Glück waren die kleinen Weizenfelder nur Dekoration und es mussten dort in der Hitze nicht auch noch irgendwelche Bauerndarsteller schuften. Stina sah, dass sich um General Lee in seiner glänzenden Söldneruniform jetzt eine kleine Menschentraube gebildet hatte, aber ihre eigenen Fotos mit ihm hatte sie schon längst im Sack – das hatte sie gleich als allererstes erledigt, nachdem sie hier angekommen war. Danach hatte sie in Theklas Taverne zu Mittag gegessen, wo sie zu ihrer Enttäuschung statt dem legendären Eintopf nur sehr gewöhnliche Fritten bekommen hatte. Satt geworden war sie aber trotzdem, und frisch gestärkt hatte sie sich dann die übrigen Attraktionen des Hofes vorgenommen: Sie hatte Liesel gestreichelt, natürlich aus sicherer Entfernung, weil sie Tieren nicht gerne so nahe kam, und ein bisschen am Lurkerteich gesessen, wo sie den Lurkern beim Sonnenbaden auf ihrer Insel zugesehen hatte. Danach war sie ein paar Runden auf dem Scavenger-Karussell mitgefahren, dessen Sitze verschiedenen Khorinis-, Grasland- und Festlandscavengern nachempfunden waren, und hatte sich an Wasilis Münzautomaten eine Onar-Gedenkmünze aus einem Zehn-Cent-Stück geprägt. Die Spielscheune hatte sie sich dann aber nur kurz von außen angeguckt, bevor sie sich schließlich in die Krypta begeben hatte. Damit hatte sie wohl alles abgegrast – außer einem kleinen Holzhäuschen in direkter Nachbarschaft zu Theklas Taverne, das auf der Parkkarte nicht eingezeichnet war. Stina rechnete halb damit, dass es sich bloß um einen Personalraum handelte, zumal das Häuschen offenbar auch von den anderen Parkbesuchern ignoriert wurde, aber sie wollte es sich trotzdem wenigstens einmal kurz anschauen. Als sie näher kam, sah Stina, dass neben der Tür ein Poster klebte, das mit dem Bild einer Gruppe von Suchenden Werbung für die heute Abend offenbar noch gezeigte Show Das Ritual am Sonnenkreis machen sollte. Sie spürte schon, wie es sie direkt wieder zu schaudern begann und sah schnell wieder weg.
    Die Tür war nur angelehnt, aber sie war sich nicht sicher, ob das womöglich nur ein Versehen war. Etwas zögerlich zog Stina sie auf – sie wollte nicht schon wieder in irgendwelche Schwierigkeiten geraten –, merkte dann aber schnell, dass das Innere der kleinen Hütte durchaus für Besucher vorgesehen war. Vor einer lehnenlosen Sitzbank war ein großer Bildschirm angebracht, auf dem ein freundlich winkender Vatras zu sehen war.
    „Begeistere jetzt deine Follower und Freunde mit deiner personalisierten Videobotschaft eines Original-Gothic-Characters!“, sagte der Wassermagier in stolzem Tonfall. „Einfach die World-of-Gothic-App herunterladen, QR-Code scannen und es kann losgehen!“
    Stina zog die Tür hinter sich zu, nahm auf der Bank Platz und holte ihr Handy heraus. Die App hatte sie natürlich schon vor Tagen heruntergeladen und sich im Voraus alle Infoschnipsel über den Park angesehen, die darin abrufbar waren. Schnell suchte sie die Scan-Funktion heraus und hielt ihr Handy vor den großen QR-Code, der auf dem Bildschirm neben Vatras in der Luft schwebte.
    „Gut gemacht, meine Tochter“, sagte der weise Magier, und Stina war gleich ein bisschen begeistert davon, dass er schon ihr Geschlecht richtig herausgefunden hatte. „Nun teile mir bitte mit, an welche der unterstützten Services ich deine Videobotschaft gleich verschicken soll. Wähle bitte eine oder mehrere der folgenden Optionen: Home Embracer, Instagram, Tiktok, Twitch, Huwulu, Facebook, YouTube, oder direkter QMS-Versand an einen Eintrag in deiner persönlichen Kontaktliste.“
    Stina runzelte die Stirn. „Kann ich das nicht einfach auf mein Handy geschickt bekommen?“
    „Wenn ich dich richtig verstanden habe“, erwiderte Vatras gütig lächelnd, „dann wünschst du dir den direkten QMS-Versand an einen Eintrag in deiner persönlichen Kontaktliste. Habe ich recht, meine Tochter?“
    „Äh… ja, okay“, sagte Stina, der gerade eine Idee gekommen war.
    „An welchen dieser Kontakte soll ich die Videobotschaft verschicken?“ Vatras zog eine Schriftrolle aus einer Robentasche hervor, rollte sie auf und las langsam und deutlich vor: „Amadeus, Annette Blumenpott, Auskunft, Björn alte Nummer, Björn neue Nummer Fragezeichen…“
    „Schick es einfach an Ich“, wies Stina den Magier an.
    „So sei es“, verkündete Vatras feierlich. „Ich werde die Videobotschaft an deinen Kontakt Ich versenden. Bist du damit einverstanden?“
    „Klar“, bestätigte Stina vorfreudig. „Kann losgehen!“
    „Dann wähle jetzt bitte die Gothic-Figur, die deine Videobotschaft für dich einsprechen soll. Du kannst jede beliebige Figur aus den Gothic-Spielen wählen. Zur Auswahl stehen: Remake eins oder zwei sowie Classic eins bis drei.“
    „Echt? Jede?“ Stina überlegte. „Geht auch zum Beispiel… Silvestro?“
    Kaum hatte sie den Namen ausgesprochen, war Vatras verschwunden und der Paladin erschien in der Optik des originalen zweiten Gothic-Spiels vor ihr auf dem Bildschirm.
    „Innos zum Gruße, Bürgerin! Natürlich kannst du auch mich wählen. Du glaubtest wohl, bloß weil ich im Spiel tot bin, kann ich keine Grußbotschaft für dich einsprechen? Weit gefehlt!“
    „Ehrlich gesagt hatte ich das wirklich geglaubt“, gab Stina zu. „Echt super, dich mal so richtig lebendig zu sehen.“
    „Finde ich auch“, sagte Silvestro und schaute sichtlich zufrieden an seinem polygonarmen, aber gut gebauten Körper in der glänzend sauberen Paladinrüstung herunter. „Du bist übrigens die erste, die mich ausgesucht hat. Möge dich Innos für deine Wahl segnen, Stina Linnea!“
    „Hab ich doch gerne gemacht“, erwiderte Stina strahlend. „Sag mal, kann ich hier mit allen Gothic-Figuren so reden?“
    „Natürlich“, versicherte ihr Silvestro. „Natürlich nur solange niemand in der Warteschlange steht, aber im Moment bist ja nur du hier. Soll ich noch jemanden dazu holen?“
    „Ja, wie wär’s mit… Dexter! Hol doch mal Dexter dazu!“
    „Schwerer Fehler“, sagte Dexter und drehte sich in seinem Sessel zu ihr um, während er auf einem Blatt Pergament herumkritzelte. „Mein Boss ist ganz heiß darauf, dich zu töten. Jetzt werde ich überall diesen Steckbrief hier verteilen.“
    Mit grimmiger Miene drehte der Bandit das Pergament zu ihr um. Stina erkannte darauf eine Zeichnung ihres eigenen Gesichts, und darunter ihren Namen und ihr Geburtsdatum.
    „Alle Gesetzlosen auf der ganzen Insel werden dich jetzt jagen“, knurrte Dexter und wedelte drohend mit dem Pergament herum. „Du wirst nirgendwo mehr sicher sein. Das hast du davon, mich in meiner Ruhe gestört zu haben!“
    „Dexter beliebt zu scherzen“, beruhigte sie Silvestro mit fester Stimme. „Wir sind alle nur hier, um eine Grußbotschaft für dich aufzunehmen, Bürgerin.“
    „Pah, Grußbotschaft!“ Dexter rotzte einmal kräftig auf den Boden und verschränkte im Sitzen die Arme. „Wenn ich Grußbotschaften verteile, dann mit dem Degen!“
    „Reiß dich zusammen, Dexter!“, zischte Silvestro. „Sonst wirst du den heiligen Zorn Innos’ zu spüren bekommen!“
    „Okay, okay.“ Der Bandit steckte das Pergament weg und hob beschwichtigend die Arme. „Welchen Stuss sollen wir denn jetzt für dich einsprechen?“
    Stina war so fasziniert davon, wozu künstliche Intelligenz inzwischen in der Lage war, dass sie darüber noch gar nicht so genau nachgedacht hatte. Sie hatte zwar natürlich von Anfang an eine ganz bestimmte Idee im Kopf gehabt, aber jetzt, da sie so erwartungsvoll von Dexter und Silvestro angeguckt wurde, war es ihr ein bisschen unangenehm, es auszusprechen.
    „Also, äh, könntet ihr vielleicht sagen…“
    Während sie noch nach den richtigen Worten rang, verschwanden die beiden Männer urplötzlich vom Bildschirm. Im gleichen Moment erschien eine andere Gothic-Figur an ihrer Stelle: Ein glatzköpfiger Mann mit tätowiertem Gesicht, der die Robe des obersten Gurus der Bruderschaft trug.
    „Stina, ich habe eine Bitte an dich“, sagte Y’berion und kam so nah an sie heran, dass sein Kopf den Großteil des Bildschirms ausfüllte. „Du musst etwas für mich tun.“
    „Äh… okay?“, sagte Stina, die von dem plötzlichen Auftritt des Sektenanführers ein bisschen irritiert war. „Ich dachte, ihr seid hier, um diese Videobotschaft für mich aufzunehmen.“
    „Das ist jetzt nicht wichtig“, fiel ihr Y’berion ins Wort. „Ich kann mich auf dich verlassen, habe ich recht?“
    Sie spürte, wie sie ein bisschen nervös wurde. Bekam sie gerade etwa eine echte Quest? Und das von niemand Geringerem als Y’berion höchstpersönlich?
    „Ja – ja, na klar!“, versicherte sie dem Guru eilig. „Was soll ich denn machen?“
    Halb rechnete sie damit, dass er sie gleich dazu auffordern würde, eine Achterbahn auszuprobieren oder Geld im Souvenirladen auszugeben – irgendetwas ganz Banales, das die Begegnung gleich wieder als bloßen Business-Trick der Freizeitparkgestalter entzaubern würde. Gleichzeitig war da aber etwas an der dringlichen Art des Sektenanführers, das ihr deutlich zu verstehen gab, dass er es wirklich ernst meinte. Y’berion wirkte trotz seiner noch polygonärmeren Gothic-eins-Optik irgendwie echter als Dexter und Silvestro, fast so als stünde er gleich hinter dem Bildschirm in einem ganz realen Raum und könnte jederzeit mit einem großen Schritt zu ihr herüber steigen.
    „Du musst mir etwas bringen“, teilte ihr der Guru mit. „Im tiefsten Herzen… dort wo er schläft… liegt der Stein des Wissens verborgen. Mit jeder Sekunde, die vergeht, gewinnt er an Kraft. Wenn er erst einmal ganz aufgeladen ist, dann wird es zu spät sein. Du musst ihn mir bringen, bevor es zu spät ist, Stina.“
    „Den Stein des Wissens?“, wiederholte sie verblüfft. Bei dem einzigen Stein des Wissens, der ihr ein Begriff war, handelte es sich um einen versteckten Gegenstand aus dem zweiten Gothic-Spiel, den man nur durch einen Cheatcode erhalten konnte. Er hatte keine bekannte Funktion und niemand wusste, was er zu bedeuten hatte, was ihm in ihren Augen schon immer eine Aura des Geheimnisvollen verliehen hatte. Als Kind war sie stundenlang mit dem Stein des Wissens im Inventar durch die Gegend gelaufen und hatte versucht, irgendetwas damit anzustellen – natürlich jedes Mal ohne Erfolg. Sie hatte wirklich nicht erwartet, dass hier im Park solche obskuren Details verarbeitet wurden, die wahrscheinlich nicht einmal viele beinharte Gothic-Fans kannten.
    „Finde des Stein des Wissens“, sagte Y’berion. „Und denk dran, es ist nicht mehr viel –“
    Der Guru verstummte, als der Bildschirm schwarz wurde.
    Stina saß plötzlich wieder allein im still gewordenen Raum und wartete vergebens darauf, dass die Gothic-Figuren zu ihr zurückkehrten. Y’berions Worte hallten in ihrem Kopf wider, ohne dass sie sich einen richtigen Reim darauf machen konnte. Es gab eigentlich nur eine einzige logische Erklärung dafür, dass ihr der oberste Guru der Bruderschaft des Schläfers gerade eine Aufgabe erteilt hatte – eine irgendwie enttäuschende, aber auch beruhigende Erklärung: dass solche Quests hier schlicht zum normalen Programm zur Belustigung der Besucher gehörten. Irgendwo würde ein großes Fass mit Steinen des Wissens herumstehen, und wenn sie einen davon hierher zurückbrachte, dann bekam sie vielleicht ein Achievement in der World-of-Gothic-App oder einen Coupon für einen kostenlosen Schlüsselanhänger in einem Souvenirladen, oder was immer sich die Freizeitpark-Planer als kostengünstige Belohnung so überlegt hatten. Das musste es sein, eigentlich konnte gar kein Zweifel bestehen. Über die Alternative wollte sie auch gar nicht erst nachdenken. Sie hatte sich den Suchenden nicht eingebildet, und sie hatte sich auch das Gespräch mit Y’berion nicht eingebildet. Sie war nicht bekloppt, egal was Björn oder Jenny oder ihr Vater ihr einreden wollten. Diese Quest war ein gut gemachter Gothic-Gag, und sie würde ihn einfach mitspielen.
    „Im tiefsten Herzen…“, murmelte sie vor sich hin, um sich die Worte des Gurus in Erinnerung zu rufen. „Dort wo er schläft… wo er schläft…“
    Wer schlief hier schon? Es kam doch niemand in einen Freizeitpark, um zu schlafen.
    Stina holte das Prospekt mit der Parkkarte heraus und suchte ratlos die Liste der Buden und Attraktionen ab, bis es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel. Natürlich gab es da einen, der immer schlief, und es war auch völlig einleuchtend, dass Y’berion ihn im Sinn gehabt hatte. Flucht aus dem Schläfertempel, las Stina in der Attraktionenliste. Der kniffligste Escape-Room Essens!
    Das musste es sein, das musste Y’berion gemeint haben. Sie steckte den Prospekt wieder ein, schulterte den Rucksack und verließ die kleine Hütte. Draußen war noch immer alles voller Familien, ein paar Leute mit Kameras posierten neben General Lee und in der Ferne mähte Liesel vor sich hin. Für Stina aber war jetzt alles anders. Sie hatte jetzt eine Aufgabe, und sie würde Y’berion nicht enttäuschen.
    Festen Schrittes marschierte sie zur Haltestelle des Scavenger-Expresses.

    „Ja klar können wir auch noch ein Foto machen, das ist doch kein Problem. Mike, stell dich mal hierhin. Mattes, du auf die andere Seite. Und das Molerat in die Mitte!“
    Mäßig begeistert stellte sich Mike neben Kai und die beiden Gothic-Fans, denen sie gerade schon Autogramme gegeben hatten, und wartete ab, bis die Fotos im Kasten waren. Es war genau das eingetreten, was er schon befürchtet hatte: Sie konnten so viele Sonnenbrillen tragen wie sie wollten – mit einem zahmen Molerat im Schlepptau lenkten sie automatisch die Aufmerksamkeit auf sich und wurden dann natürlich auch an jeder zweiten Ecke von irgendwem erkannt. Das anhängliche Molerat hatte sich aber nicht einmal von den beiden grimmigen Gardisten am Eingangstor davon abhalten lassen, ihnen ins alte Lager zu folgen. Nun arbeiteten sie sich langsam zur Kampfarena vor und wurden dabei alle paar Schritte wieder in ein Gespräch verwickelt.
    „Super, danke, Kai!“, freute sich ein Fan mit Wolle-Petry-Lockenschopf, dem Kai gerade ein Examplar seiner neuesten kickstarterfinanzierten EP Journey Home Episode 4: Halfway there unterschrieben hatte. „Ihr seid echt die besten! Und Mike, du musst unbedingt beim Gothic-drei-Remake mitmachen!“
    „Die Jungs machen das auch ohne mich“, brummte Mike und versuchte ein bisschen freundlich zu gucken. Leicht fiel ihm das nicht, denn wenn er eines hasste, dann war das von irgendwelchen Leuten belagert zu werden, die alle irgendwas von ihm wollten. Er hatte das Gefühl, dass er das Gesprächsthema bei jedem zweiten der vielen kleinen Grüppchen war, die hier im Außenbezirk des alten Lagers unterwegs waren – entweder weil sie ihn von früher oder von seinem Auftritt auf der Eröffnungsfeier her wiedererkannten, oder aber weil sie ganz begeistert davon waren, dass jemand ein Molerat als Haustier hatte. Am schlimmsten waren aber diejenigen, die völlig aus dem Häuschen darüber waren, dass Mike Hoge ein Molerat als Haustier hatte. Die waren nur äußerst schwer abzuwimmeln und wollten besonders viele Fotos machen.
    „Ah, guckt mal“, sagte Mattes, nachdem sie wieder ein paar Meter weitergekommen waren. „Da sind sie ja schon.“
    Der Weg führte jetzt direkt auf eine ausladende Dachterrasse zu, die direkt oberhalb der Arena lag und einen guten Ausblick auf das Kampfgeschehen ermöglichte. Ganz ähnlich wie im Spiel, dachte Mike, nur ein bisschen größer und mit Kaffee und Kuchen. Björn und Jenny warteten an einem der Tische auf sie und hatten ihre eigene Kaffeepause anscheinend schon fast hinter sich.
    „Was habt ihr denn da angeschleppt?“, begrüßte sie Björn stirnrunzelnd, während er mit der Gabel die letzten Krümel von seinem Kuchenteller zusammenkratzte, den er in der anderen Hand hielt. „‘n Molerat?“
    „Ja, das hängt an Mike wie eine Klette“, erklärte Kai grinsend. „Ich glaub, das hat sich richtig in ihn verliebt.“
    „Muss irgendwie schrott gegangen sein“, sagte Mike, als sie sich alle gemeinsam zu Björn und Jenny an den Tisch setzten. Das Molerat sprang kurzerhand auf seinen Schoß und guckte ihn so treudoof an, dass er sich dazu genötigt fühlte, es am fetten Hals zu kraulen.
    „Na, du bist ja ein ganz Feiner!“ Jenny beugte ein bisschen vor und wollte das Molerat streicheln, aber der rosa Fettklops zog misstrauisch den Kopf zurück. „Tja, der scheint wohl wirklich nur dich zu mögen, Mike.“
    „Du findest aber auch immer wieder einen, der dir die ganze Zeit hinterher läuft“, sagte Björn und stellte seinen Teller geräuschvoll polternd auf den Tisch. Jenny war anscheinend vor ihm fertig geworden: Auf ihrem Kuchenteller krochen schon ein paar Wespen herum und hatten sich teils hoffnungslos in den Sahneresten verfangen.
    „Was soll das denn heißen?“, brummte Mike und war direkt wieder angefressen. Sie saßen keine halbe Minute am Tisch, da musste ihm Björn schon wieder blöd kommen.
    „Ja, weißte genau, was das heißen soll. Ich hab ja selber lange genug nach deiner Pfeife getanzt damals.“
    „Schwachsinn. Und selber schuld.“
    „Jungs, jetzt kriegt euch doch nicht direkt wieder in die Haare“, versuchte Jenny die Situation zu entspannen und sagte dann an Mike gerichtet: „Björn ist nur ein bisschen auf hundertachtzig, weil eben so eine Verrückte versucht hat, in unser Hotelzimmer einzubrechen.“
    „Hat damit gar nichts zu tun“, behauptete Björn und nahm einen schlecht gelaunten Schluck aus seiner Kaffeetasse.
    „War das wieder diese Stalkerin, von der ihr schon mal erzählt hattet?“, erkundigte sich Mattes. „Die immer bei euch im Büro war?“
    „Ja, diese Arends“, sagte Björn. „Total bekloppt ist die. Die müssen sie endlich mal einbuchten. Aber nee, die lassen sie natürlich überall rumlaufen wie sie lustig ist. Mal sehen, ob wir nachher überhaupt hier wegkommen, oder ob die uns schon die Reifen aufgestochen hat.“
    „So schlimm?“, fragte Mike, während das Molerat an seinem Handrücken schnüffelte.
    „Leider schon“, seufzte Jenny. „Du kannst echt froh sein, dass die dich nicht auf dem Radar hat. Die ist so hartnäckig, das kann einem echt Angst machen. Man weiß ja auch nicht, wozu so jemand dann im Zweifel fähig ist.“
    „Und das Bekloppteste ist, dass die irgendwas mit dem Wingefors zu tun hat“, erzählte Björn und schüttelte in demonstrativer Fassungslosigkeit den Kopf. „Der hat die hier in den Park eingeladen, und die hat sogar noch ‘ne Privataudienz bei dem gekriegt. Da werden die Embracer-Dödel noch was von mir zu hören kriegen, da könnt ihr aber drauf wetten. Dafür will ich ‘ne Erklärung haben, und zwar besser ‘ne verdammt gute.“
    „Audienz beim Wingefors?“, wiederholte Mike, dem plötzlich der Verdacht kam, dass Björn und Jenny womöglich von der gleichen Frau redeten, die vorhin bei seinem vertraulichen Gespräch mit dem CEO in den Konferenzsaal geplatzt war. Wenn sie das wirklich gewesen war, dann konnte er die Besorgnis der beiden verstehen, denn beim Gedanken an diese merkwürdige Begegnung rollten sich ihm noch immer die Fußnägel auf.
    „Ja“, sagte Björn und guckte ihm zum ersten Mal in die Augen. „Wieso?“
    „Nee, nur so. Ist halt komisch.“
    Weil er nicht wusste, was er noch sagen sollte, wandte Mike den Blick nach unten in die Arena. Auf dem sandigen Kampfplatz bekämpften sich gerade zwei kleine Jungen unter den Anfeuerungsrufen ihrer Eltern mit Schaumstoffschwertern, die viel zu groß für sie wirkten.
    „Ihr seid gleich die nächsten“, verkündete Jenny mit triumphierendem Lächeln. „Um zehn nach drei seid ihr dran.“
    „Hä?“, machte Björn. „Wer soll das sein, ihr?“
    „Na, ihr beiden. Du und Mike. Ich hab einen Termin für euch gebucht.“
    „Nee, lass mal“, muffelte Mike. „Kein Bock auf sowas.“
    „Das ist genau das, was ihr beiden jetzt nötig habt“, insistierte Jenny. „Wenn ihr schon nicht richtig miteinander reden könnt, dann könnt ihr ja wenigstens mal aufeinander einkloppen!“
    „Das ist ‘ne richtig gute Idee, Jenny“, fand Kai. „Das kann doch so nicht weitergehen mit euch. Ihr müsst eure ganzen komischen angestauten Aggressionen mal richtig rauslassen, und dann ist vielleicht auch mal wieder alles gut.“
    Mike schnaubte verächtlich auf. Als ob das so einfach wäre.
    „Verdient hätte er’s ja eigentlich, dass er mal so richtig was auf die Fresse kriegt“, knurrte Björn und kippte sich so schwungvoll den Rest Kaffee in den Mund, dass ein bisschen was daneben ging.
    Jetzt hatte Mike endgültig genug. Er packte das Molerat, erhobt sich vom Stuhl und drückte das kleine rosa Monster Kai in den Schoß, wo es sich widerwillig quiekend von ihm festhalten ließ.
    „Okay, gehen wir.“
    Wenn es Björn unbedingt darauf angelegte, die Visage von ihm poliert zu bekommen, dann würde er ihm seinen Wunsch eben erfüllen. Solange er ihn verkloppte, würde er sich wenigstens nicht damit beschäftigen müssen, ob er ihn auch verraten wollte.
    „Kannst es wohl gar nicht erwarten, im Staub zu landen.“ Björns Glatzkopf war schon jetzt hochrot, und seine Stirn glänzte unter der glühenden Nachmittagssonne vor Schweiß. Mike war zwar vielleicht nicht in allerbester Form, aber diesen Waschlappen musste man wahrscheinlich nur kurz anstupsen, damit er vom Haken fiel.
    „Laber nicht, sondern komm mit runter, du Penner“, nuschelte Mike. Ihren vorfreudigen Blicken nach konnten es Jenny, Kai und Mattes gar nicht erwarten, die beiden kämpfen zu sehen – nur das Molerat wirkte gar nicht einverstanden mit dem plötzlichen Abschied und zappelte in Kais festem Griff ganz schön herum.
    „Bin ja gleich wieder da“, brummte Mike und kam sich ein bisschen blöd dabei vor. Jenny reichte Björn ihr Handy mit dem Reservierungscode, bevor die beiden Kontrahenten die Terrasse verließen und schweigend hintereinander die schmale Treppe zum Eingang der Kampfarena hinunter gingen.
    „Eine Sekunde, ihr seid gleich dran“, teilte ihnen ein Mann in roter Schattenrüstung mit, nachdem er den Code gescannt hatte. „Ihr könnt euch hier schon mal eure Waffen aussuchen.“
    Mike folgte Björn in eine kleine Waffenkammer, in der ein ganz ansehnliches Schaumstoffarsenal an den Wänden hing: Leichte Säbel, Knüppel und Streitkolben waren genauso dabei wie dicke Äxte und imposante Zweihandschwerter. Mike überlegte nicht lange und nahm sich die größte Axt, die er finden konnte, während sich Björn eines der Zweihandschwerter griff. Als sie wieder herauskamen, hatten die beiden Kinder ihr Duell gerade beendet. Mike hatte keine Ahnung, wer gewonnen hatte, sie sahen beide aus wie Verlierer.
    „Und als nächstes in unserer Kampfarena…“, dröhnte es plötzlich aus versteckten Lautsprechern. Der Mann in Schattenkluft hatte sich ein großes kabelloses Mikrofon geschnappt und sprach vom Eingang der Arena aus mit stolz ausgebreiteten Armen zum Publikum auf der Terrasse. Mike stöhnte leise auf, weil er schon ahnte, was jetzt kommen würde.
    „…niemand Geringeres als Björn Pankratz und Mike Hoge! Jawohl, ganz richtig gehört, die legendären Gothic-Entwickler höchstpersönlich schlagen sich jetzt hier bei uns im alten Lager die Schädel ein! Das sollte niemand verpassen, ganz gleich ob Buddler, Gardist oder Erzbaron! Das wird der Kampf des Tages, daran wird man sich noch lange erinnern!“
    Die Ankündigung hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Als Mike und Björn den kreisrunden, sandigen Kampfplatz der Arena betraten, da versammelten sich über ihnen auf der Terrasse die Schaulustigen an den Geländern. Schon waren die ersten Smartphone-Kameras auf sie gerichtet, und Mike glaubte, auch eines der GameStar-Gesichter unter den Zuschauern zu erkennen. Wie auch immer dieser Kampf ausging, es würde in ein paar Minuten wahrscheinlich schon die halbe Gothic-Welt wissen. Wenn Björn davon verunsichert war, dann ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Mit grimmigem Blick und hochgeschobener Unterlippe stellte er sich ihm breitbeinig gegenüber und umklammerte zu allem entschlossen den Griff des Zweihänders. Mike hingegen merkte schon jetzt, dass seine Axt vielleicht nicht die beste Wahl gewesen war: Sie hatte zwei dicke Nieten am Griff, die beim Zupacken unangenehm schmerzten. Hoffentlich würde Björn wirklich so schnell aus den Latschen kippen, wie er hoffte, ansonsten würde er sich von dem beschissenen Teil noch blutige Schwielen holen.
    „Macht euch bereit, Kämpfer!“, plärrte die Stimme des Arenaleiters durch die Lautsprecher. „Drei… zwei… eins… kämpft! Für Gomez!“
    Mike wusste zwar nicht, was Gomez mit ihrem Kampf zu tun hatte, aber er hatte auch nicht viel Zeit, um lange darüber nachzudenken. Schon stürmte Björn brüllend auf ihn zu und holte wütend mit dem Zweihänder nach ihm aus. Er schaltete gerade noch rechtzeitig, um mit Mühe und Not den Stiel seiner Axt dazwischen zu bringen, aber die Wucht des Aufpralls ließ ihn zurücktaumeln. Er musste sich anstrengen, damit ihm seine Waffe nicht aus der Hand rutschte, als Björn erneut wie ein Berserker auf ihn einschlug. Ächzend wich Mike weiter zurück, bis er schon fast mit dem Rücken an der Arenawand angekommen war – was das Publikum mit lautem Jubel quittierte. Diese Arschlöcher waren doch nicht etwa auf Björns Seite?
    „Ist das alles, was du drauf hast?“, höhnte sein Gegner und hieb ein weiteres Mal unbarmherzig mit dem Schwert nach ihm. Diesmal konnte Mike den Schlag nicht rechtzeitig abfangen, und die überraschend harte Schaumstoffklinge erwischte ihn mitten im Gesicht. Er ahnte, dass er einen echten Schwertkampf an dieser Stelle schon mehr oder weniger deutlich verloren hätte, aber ans Aufgeben dachte er noch lange nicht. Als Björn schon wieder mit dem Zweihänder ausholte, da verpasste ihm Mike einen kräftigen Tritt in den Bauch. Nach Luft japsend ging Björn in die Knie, und Mike nutzte die Gelegenheit, um ihm mit dem wabbeligen Axtblatt ein paar deftige Hiebe überzubraten, während das Publikum begeistert johlte. Wahrscheinlich waren sie auf gar keiner Seite, dachte Mike. Sie wollten einfach nur ein bisschen amtliches Gothic-Gekloppe sehen, und das bekamen sie gerade geliefert.
    „Bitte ausschließlich die Schaumstoffwaffen zum Kämpfen verwenden“, kam eine Anweisung durch den Lautsprecher, die Björn prompt ignorierte, als er Mikes rechten Fuß packte und ihn brutal von den Beinen riss.
    Stöhnend ließ Mike die Waffe fallen, als er mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufkam – und von oben schon wieder Björns Zweihänder auf sein Gesicht zuraste. Er rollte sich ächzend zur Seite, bekam den Griff seiner Axt wieder zu packen und schlug in Richtung Björn, wo seine Waffe an der Schwertklinge dumpf abprallte. Mike richtete sich mühsam auf und versuchte die Klinge seines Widersachers wegzudrücken, aber Björn stemmte sich mit zusammengebissenen Zähnen dagegen. Die Nieten schmerzten höllisch auf Mikes Haut, als er den Knauf mit aller Kraft gepackt hielt – bis er ihm schließlich aus den verschwitzten Händen rutschte und die Axt in hohem Bogen durch die Arena flog. Björn machte einen Satz auf ihn zu und erwischte ihn so heftig mit dem Schwert am Hals, dass Mike direkt wieder zu Boden ging.
    „Ich – ich mach dich fertig, du Scheißkerl!“, brüllte Mike, packte eine Ladung Sand vom Boden und schleuderte sie Björn entgegen, der fluchend die Augen zusammenkniff.
    „Arschloch!“, keifte Björn und drosch ihm halb blind das Schwert in die Fresse, immer und immer wieder, dass ihm Hören und Sehen verging. „Wenn ich mit dir fertig bin –“
    Völlig unvermittelt erstarb der Rest seines Satzes in qualvollem Schmerzensgeschrei. Vor Mikes Augen flimmerte noch immer alles, sodass er im ersten Moment gar nicht kapierte, wieso sein Gegner auf einmal zusammensackte und brüllend auf dem Boden liegen blieb. Erst als er sich wieder einigermaßen berappelt hatte, sah er das Molerat, das sich in Björns Bein verbissen hatte. Laut grunzend versenkte es immer wieder seine kleinen, metallisch glänzenden Zähnchen in die klaffende Wunde. Das Maul der fleischigen Bestie triefte bereits vor Blut, und auch der Sand zu seinen Füßchen hatte sich schon rot gefärbt. Vergeblich versuchte der am Boden liegende Björn, das Molerat durch wilde Trittbewegungen abzuschütteln. Als er es mit den Händen wegdrücken wollte, da schnappte das Biest nach seiner Hand und biss ihm so kräftig in die Finger, dass es Mike deutlich knacken hörte. Schreiend riss Björn die blutige Hand weg, während sich das tollwütige Molerat wieder an seinem Bein zu schaffen machte.
    „Scheiße“, entfuhr es Mike. In ihm drehte sich noch alles, aber irgendwie schaffte er es, auf die Beine zu kommen, ohne gleich wieder umzukippen. Erschrockene Rufe waren von oben aus dem Publikum zu hören, auf der Terrasse schien es angesichts der Geschehnisse ein ziemliches Durcheinander zu geben. Kurz entschlossen nahm Mike die Axt vom Boden, stolperte auf das Molerat zu und schlug so kräftig er konnte mit der Waffe auf den durchgedrehten Roboter ein – der das aber überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen schien. Heftig schnaufend ließ Mike die nutzlose Schaumstoffaxt fallen, ergriff das Molerat von hinten mit den bloßen Händen und zog es gegen dessen heftigen Widerstand von Björns Bein weg. Zornig schnappte das wütende Roboter-Tier um sich und erwischte Mike an der linken Hand, woraufhin er es hastig wieder fallen ließ.
    „Tut mir leid!“ Kai war am Eingang der Kampfarena erschienen, gleich neben dem völlig paralysiert wirkenden Arenaleiter. „Der ist mir einfach aus den Händen gesprungen, ich konnte nicht – oh Gott, das sieht echt übel aus!“
    „Das weiß ich selber!“, keuchte Mike. Das Molerat war schon wieder zu Björn gerannt, sprang ihm auf den Bauch und riss gierig sein Maul auf. Gerade noch rechtzeitig packte Mike das Molerat bei den Beinen und schleuderte es mit aller Kraft zur Seite. Unter lautem Quieken prallte es an der Arenawand auf und fiel zu Boden, wo es sich aber schnell wieder aufgerappelt hatte und mit jetzt deutlich roboterhaften, aber nicht minder flinken Beinbewegungen zurück zu Björn hinkte.
    Fieberhaft blickte sich Mike nach irgendetwas um, das er als Waffe verwenden konnte, aber natürlich gab es in der Arena nichts, das dazu geeignet gewesen wäre, jemanden ernsthaft zu verletzten – geschweige denn jemanden aus Metall. Erst als sein Blick auf den Arenaleiter fiel, kam ihm eine Idee.
    „Das Mikrofon!“, rief er ihm zu und packte das Molerat einmal mehr an den Beinen, als es sich gerade wieder auf Björn stürzen wollte. Diesmal bekam er es aber nicht richtig zu fassen und konnte es nur ein kleines Stück von seinem Opfer wegzerren, bevor es sich schrill quietschend aus seinem Griff befreit hatte.
    „W-was ist mit meinem Mikrofon?“, stammelte der Arenaleiter verdattert.
    „Wirf es mir zu, verdammte Scheiße!“
    „Okay, okay!“
    Mike streckte die Hand aus, bekam das Mikrofon im Flug zu fassen und ließ es auf den Kopf des Molerats niedersausen. Ein ohrenbetäubender Feedback-Sound schallte aus den Lautsprechern, als Mike mit seiner improvisierten Waffe dicke Beulen in den Metallschädel des wild gewordenen Molerats schlug. Das Tier quiekte jämmerlich und schlug verzweifelt mit den Klauen um sich, bis es mit dem Maul das Mikrofon zu packen bekommen hatte und es Mike aus der Hand riss. Funken entluden sich im entstellten Gesicht des Molerats, als es mit halb abgerissenem Metallkiefer langsam wieder auf Björn zukroch und dabei mit dem Mikro im Maul verzerrte Grunzgeräusche von sich gab, die in schmerzhafter Lautstärke aus allen Richtungen durch die Arena schallten. Mike zögerte nicht lange, hob den rechten Fuß und zerstampfte den zerbeulten Metallkopf der Bestie mit einem herzhaften Tritt. Das Grunzgeräusch erstarb, und die Beinchen des Molerats zuckten noch ein, zwei Mal, bevor die zerstörten Reste des Kopfes auseinander fielen und der Rest des Roboters leblos im Sand der Arena liegen blieb.
    „Das war’s mit dir, du Mistvieh.“
    Oben auf der Terrasse flackerten die Blitzlichter von Kameras auf und ein paar Leute applaudierten jubelnd, aber die meisten Schaulustigen schienen den Ernst der Lage begriffen zu haben. Alle redeten aufgeregt durcheinander, und Mike fühlte sich nach dem ersten Gefühl des Triumphs plötzlich von einem heftigen Kopfschmerz übermannt.
    „Alles in Ordnung?“ Kai kam in die Arena gerannt, dicht gefolgt von Mattes und der schockierten Jenny.
    „Wir brauchen einen Arzt, schnell!“
    Björns Atem hatte sich ein wenig beruhigt, und er schien bei Bewusstsein zu sein, aber sein Bein blutete noch immer kräftig. Mike überlegte gerade verwirrt, ob er sich sein Shirt vom Leib reißen sollte, um es als provisorischen Verband zu benutzen, als auch schon drei Männer in Notarztkleidung auf den Kampfplatz stürmten und neben Björn in die Knie gingen. Es dauerte keine halbe Minute, da hatten mehrere Polizisten, Sicherheitsleute und andere Mitarbeiter des Parks die Arena erreicht und machten sich daran, alles abzuriegeln. Während ein Sanitäter die Wunde an seiner Hand begutachtete, sah Mike noch einmal zum zerstörten Molerat hinüber. In den zersprungenen Augen des zermalmten Kopfes schien noch genug Leben zu stecken, um ihm einen letzten tief enttäuschten Blick zuzuwerfen.

    Es war schon kurz vor vier, als der Scavenger-Express endlich laut krähend in die Haltestelle Minental-Erlebniswelt einfuhr. Mitten auf der Strecke war die Bimmelbahn zum Stehen gekommen und eine ganze Weile lang nicht weitergefahren, während aus Sicherheitsgründen niemand hatte aussteigen dürfen – ein technischer Defekt, für den sich der Zugführer über die Lautsprecher mehrmals entschuldigt hatte. Stina ärgerte sich gewaltig, dass sie nicht zu Fuß gegangen war, denn dann wäre sie wohl schon dreimal hier gewesen. Sie konnte nur hoffen, dass sie noch nicht zu spät dran war, schließlich hatte Y’berion sie ja ausdrücklich zur Eile angewiesen.
    Als sie aus dem Waggon ausstieg, sah sie gleich, dass der Scavenger-Express offenbar nicht die einzige Attraktion war, die mit technischen Problemen zu kämpfen hatte: Das Gelände der Achterbahn Crazy Crawlers! war mitsamt des Wartebereichs großflächig mit rot-weißem Plastikband abgesperrt. Am Eingang wimmelte es vor Parkmitarbeitern, die alle ziemlich unruhig wirkten. Wo genau das Problem lag, ließ sich von hier aus nicht erkennen – die Attraktion, die offenbar der alten Mine nachempfunden war, sah von außen aus wie ein großer grauer Fels und ließ keinen Blick ins Innere zu.
    Während Stina noch am Absperrband stand und guckte, begann der Boden unter ihren Füßen plötzlich zu beben. Vom Gipfel des gewaltigen Vulkans, der das Zentrum der Minental-Erlebniswelt bildete, stieg eine schwarze Qualmwolke auf, und das wütende Brüllen des Feuerdrachen Feomathar war zu hören. Das Beben war ebenso schnell wieder vorüber wie es begonnen hatte, und da niemand besonders besorgt deswegen zu sein schien, vermutete Stina, dass es zum üblichen Ambiente hier gehörte. Sie fand es ein bisschen schade, dass der Drache von hier unten aus gar nicht richtig zu sehen war und sie wohl mit der Achterbahn hätte fahren müssen, um ihn aus der Nähe zu Gesicht zu bekommen – aber gerade hatte sie ja ohnehin eine ganz andere Aufgabe, um die sie sich kümmern musste.
    Stina hatte in der Bahn schon genug Zeit gehabt, um sich auf der Karte den schnellsten Weg zum Schläfertempel auszugucken. Sie eilte vorbei an der vollbesetzten Warteschlange an Xardas’ Turm, bei dem es sich leider nur um einen dieser furchtbaren Freefall-Tower handelte, und kämpfte sich durch eine kleine Menschenmenge hindurch, die sich um irgendeinen Typen gebildet hatte, der sich gerade schwafelnd mit dem Smartphone filmte. Etwas weiter weg sah sie ein paar grölende Jugendliche von der Klippe beim Großen Austauschplatsch ins Wasser stürzen, während sich auf der anderen Seite des Weges dutzende Parkbesucher auf nicht besonders lebensechten Metallharpyien durch die Luft schleudern ließen. Stina fand das alles ziemlich uninteressant – diese üblichen Jahrmarktgeschäfte waren ja nicht einmal auf den ersten Blick mit echten Gothic-Schauplätzen zu verwechseln. Viel spannender fand sie da schon die beeindruckende Felsbrücke, auf die sie gerade zulief: Sie führte über eine kleine Schlucht, war von großen gebogenen Stacheln gesäumt und von einem finster dreinschauenden Ork bewacht. Nur die leuchtenden Buchstaben Flucht aus dem Schläfertempel erinnerten Stina daran, dass diese Brücke nicht zu einem echten Tempel des Bösen führte, sondern bloß zur nächsten Unterhaltungsstation.
    „Morra stopp!“, raunzte sie der Mann im Orkkostüm an, als sie einen Fuß auf die Brücke setzen wollte. „Wo wollen hin?“
    Stina hielt inne und bewunderte für einen Moment das wunderbar haarige Antlitz des orkischen Jägers.
    „Ich will zum Schläfertempel“, erwiderte Stina. „Da geht’s hier doch hin?“
    „Morra nicht alleine in Schläfertempel“, grunzte der Ork und wedelte mit seiner Plastikaxt. „Morra nur in Gruppen von drei bis sechs Personen in Schläfertempel!“
    „Ach, ich krieg das auch alleine hin, keine Sorge“, versicherte ihm Stina und wollte weitergehen, als ihr die Plastikaxt vor die Nase gehalten wurde.
    „Morra nicht kriegen alleine hin!“, behauptete der Ork unwirsch raunzend. „Morra kommen wieder in Gruppe von drei bis sechs Personen, Morra können in Schläfertempel! Alleine für immer verloren in Schläfertempel!“
    „Ich kenn den Schläfertempel wie meine Westentasche“, versuchte sie dem Brückenwächter klar zu machen. „Da finde ich problemlos alleine wieder raus, das kannst du mir echt glauben. Lass mich einfach durch und dann beweise ich es dir, okay?“
    „Morra dürfen nicht…“ Der Ork ließ die Axt sinken und seufzte schwer. „Hör mal, du kannst da wirklich nicht alleine rein. Da gibt’s ein paar Stellen, da musst du ein paar Knöpfe an ein paar unterschiedlichen Stellen gleichzeitig drücken, und das geht nur mit mehreren Leuten. Der Escape-Room ist halt nur für Gruppen konzipiert, sorry.“
    „Aber…“
    „Moment, ich muss hier eben… Morras gehen ruhig durch! Wünschen Morras viel Glück in Schläfertempel!“
    Frustriert beobachtete Stina, wie eine kleine Familie mit Mutter, Vater und drei Kindern widerstandslos vom Ork über die Brücke gelassen wurde. Wahrscheinlich hatte keiner von denen überhaupt den Hauch einer Ahnung, wer der Schläfer war – aber sie waren einfach mehr als sie, und das genügte, um in den Tempel hinein gelassen zu werden. Stina fand das alles entsetzlich unfair.
    „Such dir einfach noch ein paar Leute und dann komm wieder“, riet ihr der Brückenwächter, der anscheinend zunehmend ungeduldig darauf wartete, dass sie jetzt endlich umkehrte. Er hatte ja auch keine Ahnung, dass sie im Auftrag von Y’berion hier war, und sie scheute sich auch davor, ihm davon zu erzählen. Auch wenn Y’berion sie nicht zur Geheimhaltung aufgefordert hatte, fühlte sie sich irgendwie auf einer geheimen Mission. Jedenfalls wollte sie ganz sicher nicht jedem dahergelaufenen Ork-Darsteller davon erzählen, der nicht mal fünf Sätze lang seine Ork-Grammatik durchhalten konnte.
    „Na gut“, sagte Stina und gab sich vorerst geschlagen. „Ich komme gleich wieder.“
    Sie entfernte sich ein paar Schritte von der Brücke, lehnte sich an eine Mauer gleich neben der Warteschlange zum Flug der Harpyien und holte ihr Handy heraus. Obwohl es ihr widerstrebte, ihnen hinterher zu telefonieren, nachdem sie sich jetzt den ganzen Tag lang nicht mehr bei ihr gemeldet hatten, fiel ihr keine bessere Lösung ein. Wenn sie Nadine, David und Kleo brauchte, um in den Schläfertempel zu kommen, dann würde sie die drei eben herbestellen. Stina suchte Nadines Nummer aus ihrer Kontaktliste heraus und drückte auf den grünen Anruf-Knopf.
    Sie rechnete damit, womöglich eine ganze Weile lang das Freizeichen zu hören, weil Nadine gerade auf irgendeiner Achterbahn war, aber es tutete nur ein einziges Mal, bevor eine Stimme aus dem Handylautsprecher kam.
    „Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreich-“
    Frustriert drückte Stina auf den roten Knopf und steckte das Handy wieder weg. Auf eine Mailbox zu sprechen brachte sie jetzt auch nicht weiter. Sie brauchte Nadine und deren Familienanhang hier und jetzt – und nicht erst in zwei Stunden oder wann immer Nadine ihr Handy wieder anmachen würde. Sie wurde richtig wütend, je länger sie darüber nachdachte: Da spendierte sie ihnen schon drei heiß begehrte Tickets für den Eröffnungstag, deren Wert mit Geld eigentlich überhaupt nicht aufzuwiegen war, und dann verzogen sie sich bei der erstbesten Gelegenheit und schalteten sogar das Handy aus, um auch ja nicht von ihr beim stundenlangen Rumstehen in irgendeiner öden Warteschlange gestört zu werden. Aber davon würde sie sich jetzt nicht aufhalten lassen – sie würde schon einen Weg in den Schläfertempel finden, ob mit oder ohne die Hilfe dieser undankbaren Langweiler.
    Stina ließ den Blick über die vielen Menschen schweifen, die in der einen oder anderen Richtung an ihr vorbeiliefen. Natürlich waren die alle schon Teil irgendeiner Gruppe, und die meisten auch gerade mit einem Eis oder Getränk beschäftigt – keiner von denen wartete darauf, von ihr in den Schläfertempel geschleppt zu werden. Aber sie hatte nicht so lange tatenlos im Scavenger-Express gesessen, um jetzt kurz vor dem Ziel aufzugeben. Als sie eine größere Gruppe von Jugendlichen bemerkte, die sich neben dem Zugang zu einem Waldgebiet über einen niedrigen Holzzaun lehnte, da nahm sie all ihren Mut zusammen und ging zu ihnen hinüber.
    „Äh, hallo. Hätte jemand von euch Lust –“
    Hinter dem Zaun fauchte ein zorniges Reptilienmaul auf, und Stina zuckte erschrocken zusammen. Erst jetzt sah sie, was die Teenager wohl überhaupt erst an den Zaun gelockt hatte: drei Snapper, die vermutlich aus dem Wald hierher gelaufen waren und mit gierigen Blicken gleich hinter der hüfthohen Absperrung lauerten.
    „Still!“, zischte ein Mädchen. „Jetzt hast du sie sauer gemacht!“
    „Na und? Das sind Roboter.“ Ein pausbäckiger Junge mit kurzen roten Haaren hob gehässig grinsend einen Kiesel vom Boden auf und schleuderte ihn einem der Snapper an den Kopf. Ein hohles, metallisches Geräusch erklang, als der Stein knapp unterhalb des Auges einschlug und zu Boden fiel. Der Snapper riss den Kiefer auf und ließ ein wütendes Brüllen ertönen, während seine beiden Artgenossen die Köpfe einzogen und bedrohlich knurrten.
    „Seht ihr? Die doofen Viecher können uns gar nix. Dürfen die auch gar nicht. Die sollen uns ja nur entertainen hier.“
    Ein anderes Mädchen bückte sich jetzt ebenfalls nach einem Kieselstein und schmiss ihn dem Snapper an die Schnauze.
    „Habt ihr gehört? Wir sind hier der Boss!“
    Stina hatte schon Luft geholt, um einen weiteren Versuch einer Ansprache zu unternehmen, aber sie überlegte es sich noch einmal anders. Mit diesen Idioten wollte sie doch nicht im Schläfertempel feststecken. Sie drehte sich um, um ihr Glück woanders zu versuchen – und blickte ins Gesicht von Gomez.
    Das Gesicht war aufgedruckt auf eine Pappmaske, die sich ein Mann mit einem Gummiband um den Kopf geschnallt hatte. Stina hatte schon ein paar Leute mit solchen Masken im Park gesehen, aber bisher noch nicht aus einer solchen Nähe. Sie fand es ein bisschen beunruhigend, wie nah ihr dieser Typ gekommen war. Er hatte sich von hinten regelrecht an sie angeschlichen.
    „Ähm… willst du vielleicht auch in den Schläfertempel?“, fragte Stina, weil ihr nichts Besseres einfiel.
    Der maskierte Mann antwortete nicht und starrte sie durch zwei kleine runde Löcher im Gesicht des Erzbarons an.
    „Ja, also… wenn nicht, dann… lässt du mich dann vielleicht mal vorbei?“, setzte sie etwas kleinlaut hinzu. Sie wollte sich gerade an dem komischen Kerl vorbei quetschen, als er plötzlich doch etwas sagte.
    „Was geteilt, wird wieder vereint.“
    Stina war so, als hätte ihr jemand die Kehle zugeschnürt. Vor ihrem inneren Auge verwandelte sich Gomez in einen Suchenden, der sie mit einem Fluch heimsuchte, so schrecklich, dass nicht einmal Pyrokar ihn wieder bannen konnte. Ein paar Sekunden lang stand sie nur stocksteif da und wollte nicht wahrhaben, dass der Albtraum einfach kein Ende nahm. Was wollten diese Leute von ihr? Wieso war es so unmöglich für sie, der Bitte ihres Vaters zu entsprechen – wieso konnte sie nicht einfach einen ganz normalen Tag im Freizeitpark verbringen? Sie hatte den starken Impuls, den Mann mit der Gomezmaske zur Seite zu stoßen und wegzulaufen, vor ihm davonzurennen, wie sie vor dem Suchenden davongerannt war – aber dann hatte sie plötzlich wieder den ganzen Satz aus dem Chromanin-Buch im Kopf. War es das, was diese maskierten Fremden von ihr wollten? War es eine Prüfung? Eine Art Passwort?
    „…wenn auch nur kurz massiv voneinander getrennt“, vollendete sie den Satz mehr flüsternd als sprechend.
    Der Mann mit der Gomezmaske reagierte nicht sofort, und Stina fragte sich schon, ob er sie überhaupt verstanden hatte, als schließlich wieder Kieferbewegungen hinter der Pappe erkennbar wurden.
    „Kein Schild, den sie nicht brechen kann“, raunte der Mann.
    „W… was?“, stammelte Stina. War das eine weitere Prüfung? Sie hatte das Gefühl, auch diesen Satz schon einmal gelesen zu haben, aber er kam auf keinen Fall aus einem Chromanin-Buch. Der starre Blick des Gomez-Gesichts machte es ihr unmöglich einen klaren Gedanken zu fassen, aber es war offensichtlich, dass er eine weitere Antwort von ihr erwartete. Es machte sie ganz wahnsinnig, dass sie nicht darauf kam – wenn dieser Satz aus einem Gothic-Spiel stammte, dann musste sie ihn doch dutzende Male gelesen haben! Sie kannte doch alles in- und auswendig, sie hätte doch jeden Dialog wie aus der Pistole geschossen aufsagen können, wenn man sie um drei Uhr nachts aus dem Bett geweckt hätte! Sie hätte doch mit verbundenen Augen und hinter dem Rücken gefesselten Händen –
    Stina fühlte den Schwall warmer Flüssigkeit im Gesicht, noch bevor sie die Schreie hörte.
    Für einen kurzen Moment sah sie den Schrecken in den Augen hinter der blutbesprenkelten Gomezmaske, dann wurde sie vom vorwärts preschenden Körper eines wütenden Snappers zur Seite gestoßen. Stina verlor das Gleichgewicht und prallte mit dem Rucksack gegen ein flüchtendes Mädchen, als sie erkannte, was der Snapper im Maul hatte: den blutigen, abgerissenen Arm eines Menschen.
    Ein heilloses Chaos brach aus, als nicht nur die Gruppe der Jugendlichen, sondern auch die übrigen Passanten begriffen, was geschehen war. Während sich der pausbäckige Junge mit weit aufgerissenen Augen auf dem Boden krümmte und seinen Armstumpf mit der verbliebenen Hand umklammerte, rannten seine Freunde kreischend in alle Richtungen davon – was die drei Snapper offenbar als Aufforderung zur Jagd verstanden. Ein blondes Mädchen wurde von rasiermesserscharfen Krallen im Rücken erwischt und zu Fall gebracht, während sich ein anderer Snapper in der Schulter eines langhaarigen Typen im Blind-Guardian-Shirt verbiss. Und auch der Snapper mit dem Arm im Maul ließ das Körperteil achtlos zu Boden fallen, um sich ein neues Opfer auszugucken: einen älteren Mann im Schalke-Trikot, der noch versuchte, sich zu einem nahen Toilettenhäuschen zu flüchten, bis ihn der Snapper von hinten ansprang, gegen die Klotür schleuderte und ihm mit seinen rasiermesserscharfen Raubtierzähnen kurzerhand den Kopf abriss. Wie eine Marionette, deren Fäden gekappt wurden, fiel der Rest des Körpers in sich zusammen.
    Stina stand wie festgefroren da und sah das bizarre Spektakel mit an, bis die drei Snapper in hüpfendem Galopp davon rannten, um den Leuten nachzujagen, die bis vor Kurzem noch in der Warteschlange zum Flug der Harpyien gestanden hatten. Jetzt waren sie längst über die Absperrungen geklettert und zu allen Seiten davon gerannt, zeigten sich den flinken Echsen im Wettlauf aber hoffnungslos unterlegen. Stina hörte die Todesschreie der Flüchtenden und das Fauchen der Bestien hinter ihrem Rücken, aber sie konnte den Blick nicht von den toten und verstümmelten Menschen vor ihren Augen abwenden. Der Weg war getränkt mit Blut und übersät mit Fetzen von Haut und Fleisch, und der beißende Gestank nach Eisen lag in der Luft. Nur die Harpyien flogen weiter unbeirrt gackernd durch die Luft, und einige ihrer Passagiere hatten wohl noch gar nicht mitbekommen, was geschehen war.
    Auch Stina begann erst ganz allmählich zu begreifen, in welcher Gefahr sie sich befunden hatte – und noch immer befand. Ihr Herz schlug so heiß und heftig, dass es sich durch ihre Brust zu brennen drohte, und diesmal war ganz sicher nicht die Cola dafür verantwortlich.
    Gothic war gerade real geworden. So real, dass es sogar ihr zu viel wurde.

    „Darf ich zugucken, Mama?“
    Stina hatte die Tür zum Computerzimmer ihrer Mutter nur ein Stück weit geöffnet und so lange ruhig abgewartet, bis sie den Kampf gegen den Orkhund gewonnen hatte. Sie wollte sie ja nicht stören und am Ende schuld daran sein, dass sie neuladen musste.
    „Bist du denn mit den Hausaufgaben schon fertig?“, fragte ihre Mutter und drehte sich auf ihrem Computerstuhl zu ihr um.
    „Gerade fertig geworden“, log Stina. Normalerweise bemühte sie sich immer, schnell mit ihren Hausaufgaben fertig zu werden, denn sie wusste ja, dass ihre Mutter sich immer direkt an den Computer setzte, wenn sie abends von der Arbeit heimkam. Und wenn Stina eines gar nicht leiden konnte, dann war das Hausaufgaben machen zu müssen und dabei von nebenan das verheißungsvolle Krähen eines Scavengers, Ukka-Schakka eines Orks oder Todeskreischen eines Zombies zu hören. Diesmal waren es einfach zu viele Hausaufgaben gewesen, um rechtzeitig fertig zu werden, aber das konnte sie ja auch später noch erledigen, oder eben morgen früh im Bus. Das würde ihre Mutter aber natürlich nicht verstehen.
    „Und hast du deine Medikamente genommen?“, hakte ihr Mutter weiter nach.
    Stina sagte nichts und blickte zu Boden. Es hatte keinen Zweck hier zu schwindeln, denn das konnte sie ja einfach anhand der Tablettenpackung nachprüfen.
    „Komm mal her.“ Ihre Mutter streckte sich nach dem zweiten Bürostuhl und rollte ihn zu sich heran, damit sie neben ihr Platz nehmen konnte. Der Stuhl war noch ein bisschen zu groß für sie, aber sie liebte es gerade deswegen, darauf zu sitzen, auf einer Höhe mit ihrer Mutter, und mit ihr gemeinsam auf den Bildschirm zu schauen.
    „Du kannst erst mal ein bisschen zugucken, aber gleich musst du deine Medikamente nehmen, okay?“
    „Ich will aber nicht“, sagte sie und knetete in der Hand das Schläferamulett aus der Collector’s Edition von Gothic drei, das wie immer um ihren Hals hing. „Ich krieg Kopfschmerzen davon.“
    „Ich weiß“, seufzte ihre Mutter, nahm die Hand von der Tastatur und streichelte über ihre Wange. „Aber wenn du sie nicht nimmst, dann wird es noch schlimmer. Und du hast doch nicht die ganzen blöden Untersuchungen über dich ergehen lassen, um jetzt die Medikamente nicht zu nehmen. Du musst doch endlich wieder gesund werden.“
    Gesund, wiederholte sie in Gedanken das Wort ihrer Mutter. Es kam ihr total komisch vor. Sie wusste gar nicht mehr, wie sich das anfühlte.
    „Pass auf, wir schließen einen Handel ab, okay?“, schlug ihre Mutter vor.
    Stina guckte sie skeptisch an. „So wie mit Canthar?“
    „Natürlich nicht“, wehrte ihre Mutter mit gespielter Empörung ab. „Einen fairen Handel unter ehrlichen Geschäftsleuten. So wie mit… Zuris! Oder Cavalorn!“
    „Na gut“, sagte sie, auch wenn sie noch gar nicht wusste, worauf sie sich da einließ. Aber Cavalorn mochte sie.
    „Du nimmst nachher noch vor dem Abendessen deine Medikamente, und dafür…“ Ihre Mutter rollte mit dem Stuhl ein Stückchen von der Tastatur weg und machte eine einladende Geste. „…darfst du selber mal spielen.“
    Stina bekam große Augen. „Echt? Aber… das ist doch ab zwölf!“
    „Na und?“ Ihre Mutter zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Man kann gar nicht früh genug lernen, wie man einen Snapper erlegt. Und wer mit Gothic-Amulett ins Bett geht, kann ja wohl auch Gothic spielen.“
    Aufgeregt rollte Stina mit dem Stuhl an die Tastatur. Sie wusste nicht, wie viele Stunden sie ihrer Mutter schon beim Spielen zugeguckt hatte, aber irgendwie war ihr immer klar gewesen, dass das für sie selber noch nichts war. Gothic, das war was für Erwachsene, und es war schon was Besonderes, dass ihre Mutter sie überhaupt dabei zugucken ließ. Dass sie jetzt plötzlich selber an der Tastatur saß – und das nicht etwa bei Freddi Fisch oder Night of the Rabbit, die sie schon als Baby gespielt hatte, sondern beim echten Gothic mit Kämpfen und Monstern –, das fühlte sich besser an als Geburtstag und Weihnachten zusammen. Als sie aber auf den Monitor guckte und sah, welchen gefährlichen Bestien sich der namenlose Held da gerade gegenüber sah, da rutschte ihr direkt wieder das Herz in die Hose: ein Rudel von drei ausgewachsenen Snappern lauerte auf der Kreuzung im Orkgebiet.
    „Meinst du echt…?“
    „Ja klar, leg los!“, forderte sie ihre Mutter auf. „Die paar Snapper wirst du schon platt kriegen.“
    Stina wäre es viel lieber gewesen, mit einem jungen Molerat oder einer Fleischwanze zu starten, so wie es eigentlich üblich war. Aber sie wollte ihre Mutter auch nicht danach fragen, ein neues Spiel zu starten, weil sie dann vielleicht doch lieber selber weiterspielen würde. Und vielleicht hatte sie ja recht: Sie hatte ihrer Mutter bei so vielen Kämpfen zugeguckt – sie wusste doch ganz genau, wie man es den Mistviechern geben musste.
    Stina atmete tief durch, legte die Finger auf die Tastatur und rannte den Snappern mit erhobenem Langschwert entgegen.


    „Mama, ich will hier weg.“
    Nadine wischte eine Träne aus dem Gesicht ihrer Tochter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
    „Wir wollen hier alle weg“, wisperte sie und klang dabei so, als würde sie gleich selber in Tränen ausbrechen. „Bestimmt geht es gleich weiter.“
    David war kurz davor, ihr laut zu widersprechen – nichts, aber auch gar nichts deutete darauf hin, dass es hier irgendwann noch einmal weitergehen würde. Seit über anderthalb Stunden saßen sie jetzt schon in ihrem Lorenwagen über dem klaffenden Abgrund der Achterbahnhöhle fest, ohne dass sich irgendetwas getan hätte. Zwar war ihre Angst, von einem nachfolgenden Wagen erwischt zu werden, mittlerweile sehr in den Hintergrund getreten, aber es schien auch niemand irgendwelche Anstalten machen, sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Die Parkbetreiber konnten den Ausfall der Achterbahn unmöglich übersehen haben – wieso also holte sie dann niemand hier heraus? Es wirkte so, als hätten alle einfach Feierabend gemacht und sie hier vergessen, aber das war doch völlig undenkbar, mitten am Nachmittag des Eröffnungstages. Die Ungewissheit machte David fast wahnsinnig, und die frostige Kälte der künstlichen Mine war schon längst nicht mehr angenehm. Inzwischen waren sie alle drei am Zittern und wünschten sich nichts sehnlicher als in die Sommerhitze zurückkehren und sich einen ordentlichen Sonnenbrand abholen zu können.
    In seiner Hilflosigkeit holte David zum tausendsten Mal das Smartphone heraus, aber da war immer nur das gleiche verhasste Zeichen. Kein Netz. Und bald auch kein Akku mehr.
    „Mama hat recht, wir müssen einfach nur ruhig bleiben“, sagte er, als er das Schweigen nicht mehr aushielt. „Irgendwann kommen sie und holen uns hier raus. Und dann kriegst du erst mal ein großes Eis, Kleo. Mit allen Sorten, die sie haben.“
    „Will kein Eis“, schniefte Kleo, und darauf wusste David nun endgültig nichts mehr zu sagen. Hoffentlich würde sie das alles schnell wieder vergessen können, wenn es erst einmal heil überstanden hatten.
    „David, was ist das?“, fragte Nadine plötzlich. Sie hatte sich so gut es angesichts der Sicherung ging in ihrem Lorensitz umgedreht und zeigte in Richtung des Loopings, durch den sie kurz vor dem Ausfall noch gefahren waren.
    David blickte angestrengt in das Halbdunkel, das nur vom Licht der vielen Fackeln an den Höhlenwänden erhellt wurde. Zuerst glaubte er überhaupt nichts Besonderes zu erkennen, aber dann sah er es auch: Etwas bewegte sich am Looping. Etwas Großes mit langen, dünnen Beinen.
    „Das… oh Gott. Die können doch nicht…“
    Aber seine Augen hatten ihm keinen Streich gespielt. Er erkannte mindestens zwei der großen Insekten, die sich mit ihren staksigen Beinen einen Weg über die schmalen Schienen bahnten. Die ganze Zeit über hatte er sich damit beruhigt, dass diese gruseligen Viecher bloß Show-Roboter waren, die nur ein bisschen hin- und herlaufen und ganz sicher nicht zu ihnen hochklettern konnten. Jetzt waren die Crawler hier oben, und sie schienen genau in ihre Richtung zu krabbeln.
    „Wir müssen hier weg!“, flüsterte Nadine mit zittriger Stimme.
    „Wohin denn?“, wisperte David zurück.
    Nadine deutete zum Tunneleingang in der Wand, ein paar Meter von ihnen entfernt.
    „Vergiss es! Wir klettern nicht mit Kleo über die Schienen – da fallen wir alle runter und sind tot!“
    „So haben wir wenigstens eine Chance! Wenn die uns erwischen…“
    „Das sind doch nur Roboter“, sagte David ohne jede Überzeugung. „Ich meine, sie sehen unheimlich aus, aber die werden schon nicht… das wäre doch völlig verrückt…“
    „Das hier ist völlig verrückt, falls du es noch nicht gemerkt hast!“, zischte Nadine wütend. „Schau mal, Kleo, meinst du, du kannst das schaffen über die Schienen? Du bist doch gut im Klettern.“
    „Nadine, das kannst du nicht machen“, sagte David. „Du bringst unsere Tochter um!“
    „Wir bringen sie beide um, wenn wir hier einfach sitzen bleiben!“
    David registrierte fassungslos, dass seine Freundin ihren Sicherheitsbügel gelöst hatte und damit begann, aus ihrem Sitz auf den vorderen Teil der Lore zu steigen. Panisch blickte er sich in Richtung des Loopings um. Die Crawler, die darauf mit steifen Bewegungen herum kletterten, konnte er jetzt schon viel besser erkennen, als es ihm lieb war. Und es waren nicht nur zwei – in der Dunkelheit waren hinter ihnen weitere lange Beine zu erahnen.
    David versuchte sich erneut daran zu erinnern, dass es bloß gut gemachte Jahrmarktmaschinen waren, die als Teil der Kulisse eingesetzt wurden. Harmlose Automaten, die ganz sicher nicht darauf programmiert waren, irgendwem weh zu tun – denn was wäre schon schlechter fürs Geschäft als verletzte Leute am Tag der Eröffnung? Aber alles was er vor Augen hatte war das Bild des zerfetzten Plüschdinosauriers.
    „Ich glaube, es geht“, sagte Nadine mit zittriger Stimme, als sie den ersten Fuß auf das Gleis setzte. Die beiden parallelen Schienen waren an einem etwas breiteren Führungselement in der Mitte befestigt, auf dem Nadine Halt gefunden hatte. Trotzdem brauchte es nur eine unachtsame Bewegung, um mit dem Fuß zwischen den Schienen hängen zu bleiben und aus dem Gleichgewicht zu geraten… und es brauchte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was dann geschehen würde.
    „Kleo, komm und nimm meine Hand!“, rief Nadine ihrer Tochter zu, als es hinter ihm aufzischte. Hastig warf er einen Blick über die Schulter und sah erschrocken, dass der erste Crawler schon eine große Strecke auf dem Gleis zurückgelegt hatte. Plötzlich hatte er überhaupt keinen Zweifel mehr daran, dass sie es auf eine Konfrontation mit den Insekten nicht ankommen lassen durften. Er löste den Sicherheitsbügel seiner Tochter, half ihr in die Höhe und hielt sie an den Beinen fest, während sie nach Nadines Hand griff. Vorsichtig stieg Kleo an der Hand ihrer Mutter auf das Gleis. David hätte die Ruhe, in der sie jeden Schritt tat, bewundernswert gefunden, hätte er sie dabei nicht vor seinem inneren Auge schon in den Tod stürzen gesehen.
    „David, schnell! Beeil dich!“
    Nadine und Kleo balancierten bereits langsam in Richtung Tunneleingang, als sich auch David aus der Sicherung befreite und mit bebender Brust auf die Lore kletterte. Das Zischen und Klicken hinter ihm war so laut, dass er glaubte, jeden Moment zwei unerbittlich zupackende Kieferzangen im Nacken zu spüren – aber da war auch das Gewusel dutzender anderer Crawler ganz unten am Boden der riesigen Höhle, das David davon abhielt, einen Schritt auf die Gleise zu machen. Plötzlich war er sich sicher, dass er die nächsten Sekunden nicht überleben würde – dass er sich nur noch aussuchen konnte, ob er durch den Aufprall sterben oder direkt hier oben bei lebendigem Leibe von den Crawlern aufgespießt werden wollte.
    David!“, brüllte Nadine, die mit Kleo den Tunnel schon fast erreicht hatte. „Renn!“
    Hinter ihm erklang das harte Klonk von Crawlerbeinen auf dem Metall der Lore – und er wusste plötzlich, wozu er sich entschieden hatte. Mit einem Satz sprang er auf die Schienen, glaubte im ersten Moment schon abzurutschen, aber fand dann doch einen wackeligen Halt und rannte los. Mit dem Zischen der Crawler im Nacken stürmte er über die Gleise, schaute nicht nach hinten und nicht nach unten, bis er bei Nadine und Kleo am Eingang des Tunnels angekommen war.
    „Wir haben es echt geschafft“, keuchte er, fast ungläubig, dass sie alle drei den halsbrecherischen Balanceakt heil überstanden hatten. Das Gefühl der Erleichterung währte aber nur kurz: Hinter ihnen folgten ihnen fünf, sechs Crawler in roboterhaft ruckartigen Bewegungen über die Gleise. In dem Gedränge verlor einer von ihnen das Gleichgewicht und stürzte mit hilflos zappelnden Beinen in die Tiefe, aber von weiter hinten rückten schon wieder ein paar Exemplare für ihn nach.
    „Weiter!“, brüllte Nadine.
    Diesmal zögerte David keine Sekunde, riss Kleo vom Boden und rannte mit ihr auf dem Arm in die Tiefen des Tunnels, Nadine direkt neben ihnen. Der Tunnel war nur von wenigen Fackeln beleuchtet, und es war überhaupt nicht abzusehen, wohin er sie führen würde. Der schreckliche Gedanke schoss ihm durch den Kopf, dass er in ein paar Metern in einer ganz ähnlichen Höhle enden könnte wie derjenigen, aus der sie gerade erst entkommen waren – vielleicht in noch schwindelerregenderer Höhe. Aber einen anderen Weg gab es nicht. Sie konnten nur rennen, während sie das tausendfach widerhallende Getrappel und Gezische der aggressiven Rieseninsekten durch den Minentunnel verfolgte.
    Sie waren vielleicht dreißig Meter gerannt, da schälte sich vor ihnen ein großes Objekt aus der schummerigen Dunkelheit.
    „Da ist der nächste Wagen!“, rief David seiner Freundin zu, als er begriff, worum es sich dabei handelte. Im ersten Moment hatte er die vage Hoffnung auf Hilfe, auf einen anderen lebenden Menschen, der sie bei der Flucht unterstützen konnte – bis sie bei der Lore angekommen waren und die Blutspritzer im Licht der Fackeln sichtbar wurden.
    Hastig legte David den Arm um das Gesicht seiner Tochter, damit sie die Leiche des Mannes nicht ansehen musste, die schlaff über dem Rand der Lore hing. Seine Kleidung war halb zerfetzt und sein Körper übersät mit den blutigen Wunden, die ihm die Crawler zugefügt hatten. Plötzlich begriff David, dass sie in Wahrheit Glück gehabt hatten: Sie waren an einer Stelle festgesteckt, an der die Crawler sie nicht direkt hatten erwischen können. Sie hatten noch fast zwei Stunden Zeit geschenkt bekommen – Zeit, die sie überhaupt nicht zu würdigen gewusst hatten. Als sich drei riesige, graue Silhouetten vor ihnen aus der Finsternis herausbildeten und ein rasselndes Zischen erklang, da wusste er, dass sie keine zweite Chance bekommen würden.
    Abrupt blieben sie stehen, drehten sich schwer atmend zu beiden Seiten des Tunnels um. Wohin sie auch schauten, blickten sie den herannahenden Rieseninsekten entgegen. Jetzt gab es keinen Fluchtweg mehr. Sie waren in der Falle.
    „Ich hab dich lieb“, brachte David hustend hervor und drückte Kleo fest an sich, die überhaupt nicht mehr reagierte.
    „David, was soll das werden?“, schrie Nadine. „Wir müssen irgendwas machen!“
    „Was denn?“, gab David verzweifelt zurück.
    „Die Lore… vielleicht können wir sie irgendwie anschieben!“
    Nadine rannte die paar Schritte zur Lore zurück und presste angestrengt von hinten gegen das Gefährt, aber es war auf den ersten Blick ersichtlich, dass es ein hoffnungsloses Unterfangen war. Die Crawler hatten sie jetzt fast erreicht, und David wusste nichts anderes zu tun, als seine Tochter so fest zu drücken, dass es ihr wehtun musste. Plötzlich waren die riesigen Körper ganz nah – kalte Insektenaugen aus hohlen Chitinköpfen blickten ihn an – klickende Zangen holten nach ihnen aus – und ein helles Feuer loderte auf.
    „Hier rein! Schnell!“
    Der Mann mit der Fackel war völlig aus dem Nichts erschienen und hatte sich zwischen sie und die Bestien gestellt. Zornig aufzischend wichen die Crawler vor dem grellen Licht der Fackel zurück. David brauchte eine Sekunde, bis er begriff, dass sich in der Tunnelwand eine rechteckige Türöffnung aufgetan hatte, die vorhin ganz sicher noch nicht dort gewesen war – dann rannte er los und stürmte mit Kleo auf dem Arm an der Lore vorbei durch die Tür, hinein in einen Raum, in dem elektrisches Licht brannte. Wie aus tausenden Mäulern hallte das Geklicke und Gezische durch den Tunnel, als Nadine zu ihnen in den Raum hechtete. Gleich darauf sprang auch der Mann mit der Fackel zu ihnen durch die Öffnung, bevor in der nächsten Sekunde ein zorniger Crawler seinen Kopf hindurch steckte. Kurz entschlossen presste der Mann seine brennende Fackel in das Maul der Kreatur, die rasselnd zurückwich und dabei die Fackel mitnahm, die sich zwischen den Zangen verhakt hatte. Der Rückzug war nicht von langer Dauer, aber als der Crawler gerade wieder ein Bein zu ihnen in den Raum strecken wollte, da hatte der Fremde die schwere Metalltür schon zugeschlagen. Das einklemmte Insektenbein fiel abgetrennt zu Boden und zuckte Funken sprühend, bevor das elektrische Leben darin surrend erstarb.
    Mit der freien Hand ließ ihr Retter drei dicke Riegel einrasten, lehnte sich schwer atmend mit dem Rücken an die Tür und grinste sie erleichtert an.
    „Ihr habt ein ganz schönes Schweineglück, wisst ihr das eigentlich?“
    David konnte noch gar nicht richtig fassen, dass sie dem sicheren Insektentod vorerst entkommen waren. In der Mitte des kleinen Raums befand sich ein Tisch, auf dem neben einem schmutzigen Teller eine Tageszeitung lag, und daneben ein paar Stühle. Mit Kleo auf dem Schoß nahm David auf einem der Stühle Platz, während sich Nadine hechelnd auf die Tischkante setzte.
    „Danke“, sagten Nadine und David fast aus einem Mund, und ehrlicher konnte ein Danke gar nicht gemeint sein. Der Mann war schon etwas älter, hatte ein wettergegerbtes Gesicht und einen gepiercten Nasenflügel, und er hatte ihnen ohne Zweifel gerade das Leben gerettet.
    „Florian Speckardt“, stellte sich ihr Retter vor und reichte ihnen beiden die Hand. „Ihr könnt mich ruhig Specki nennen.“
    „Danke, Specki“, sagte David und stellte ihm ihre kleine Familie mit Namen vor, als ihm die Baskenmütze auffiel, die auf einem der Stühle lag. Plötzlich erinnerte er sich daran, das freundliche Gesicht des Mannes schon einmal gesehen zu haben.
    „Du warst doch direkt vor uns in der Schlange, oder? Dann warst du bestimmt mit der Lore draußen im Tunnel unterwegs?“
    Specki nickte, jetzt mit deutlich ernsterer Miene als zuvor.
    „Ja. Ich kannte den anderen nicht, falls du darauf hinaus willst. Ich war alleine im Park unterwegs – meine Kumpels haben gerade anderen Kram um die Ohren – und es sollen hier wohl immer mindestens zwei Leute gleichzeitig in eine Lore. Da haben sie uns beide zusammen in einen Wagen gesteckt. Armer Teufel. Hat beim Anblick der Biester so einen Schrecken gekriegt, dass er sich gar nicht mehr rühren konnte. Dabei hatten wir eigentlich auch ganz schönes Glück, dass wir direkt vor diesem Raum hier zum Stehen gekommen sind.“
    „Das ist wohl so eine Art Personalraum?“ David sah neben dem Tisch ein paar Schränke und eine verschlossene Luke an der Decke, zu der eine Metallleiter führte. An einer der Wände stand außerdem ein Schreibtisch mit einem sehr modern wirkenden Computer und ein paar großen Bildschirmen.
    Specki nickte. „Ja, wir sind hier in einem Kontrollraum.“
    „Dann können wir von hier aus die Achterbahn wieder in Gang setzen?“
    „Na, das wär schön“, lachte Specki trocken auf. „Nee, so viel Kontrolle dann leider auch wieder nicht. Ihr könnt euch den Rechner da ja gerne selber mal angucken, aber für mich sieht das so aus, als ob man sich damit nur die Bilder der ganzen Überwachungskameras angucken kann. Wahrscheinlich haben sie hier nur gesessen und Zeitung gelesen und ab und zu geschaut, dass alles in Ordnung ist.“
    „Es ist ja aber nicht alles in Ordnung“, sprach Nadine das Offensichtliche aus. „Wo sind denn die Leute hin, die hier gearbeitet haben?“
    Specki verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Wollt ihr das wirklich wissen? Vielleicht haltet ihr eurer Kleinen mal lieber die Augen zu.“
    Kleo hatte die Augen vor Erschöpfung zwar sowieso schon geschlossen, aber David half trotzdem lieber nochmal mit der Hand nach, als Specki sich an den Schreibtisch setzte und mit der Maus etwas auswählte.
    „Ich schätze mal, das hier sind sie.“
    Auf einem der Monitore war das gut aufgelöste Bild eines Minenstollens zu sehen, in dem mehrere große blaue Kristalle aus der Wand ragten. An einem der Kristalle hing aufgespießt der Körper eines Mannes in gelber Latzhose, auf der das Logo der World of Gothic zu erkennen war. Daneben kauerte ein Crawler, der mit dem spitzen Ende seines dünnen Beins immer wieder in einer weiteren, von dutzenden blutigen Löchern übersäten Männerleiche in der gleichen Arbeitskleidung herumstocherte.
    „Wir müssen hier raus“, sagte Nadine mit bebender Stimme. „So schnell wie möglich!“
    „Das ist glaub ich keine so gute Idee“, erwiderte Specki. „Wir dürften die einzigen hier drin sein, die noch am Leben sind, und wenn das so bleiben soll, dann gehen wir besser nicht aus diesem Raum raus. Das Fackellicht verwirrt die Biester zwar kurz, muss irgendwie ihre Sensoren überlasten oder so – aber nur wenn man ganz nah mit der Fackel an ihre Augen ran geht. Das wär ein bisschen sehr optimistisch, wenn wir versuchen wollten, uns mit der Methode bis ganz nach oben durchzuschlagen. Dafür sind es viel zu viele.“
    „Okay, wir bleiben einfach noch ein bisschen hier“, sagte David, der sich davon gar nicht groß überzeugen lassen musste. „Hier kommen sie nicht rein, oder? Gibt es hier was zu trinken?“
    „Nicht so richtig viel. Sind noch ein paar Kekse drüben im Schrank, und eine halbe Flasche Cola, da könnt ihr euch bedienen. Wir sollten aber vielleicht gucken, dass wir uns das ein bisschen einteilen.“
    „Gut, aber… wir werden doch nicht ewig hier feststecken. Ich meine, selbst wenn es noch zwei Stunden dauert… die holen uns doch hier raus?“
    Specki grinste ein trostloses Grinsen und wechselte weitere Kamerabilder durch, die verwaiste Loren, tote Fahrgäste und viele, viele rastlose Crawler zeigten. Er stoppte bei einer Kamera, die offenbar am Eingangsbereich der Attraktion angebracht war. Das helle Tageslicht, das von außen hereinschien, kam David wie ein merkwürdiges Relikt aus lange vergangenen Zeiten vor. An der Ein- und Ausstiegsstation wimmelte es von Parkmitarbeitern und Leuten in Polizeiuniformen, und obwohl nichts zu hören war, ließ sich die Aufregung der Menschen mit Händen greifen. Und noch etwas anderes hatte sich geändert, seit sie vor zwei Stunden selbst dort gewesen waren: Wo der Tunnel zu beiden Seiten in die Tiefen der Minen führte, da versperrten große Absperrwände den Schienenweg, vor denen jeweils ein halbes Dutzend nervöser Polizisten mit erhobenen Pistolen hockte.
    „Ich hab das blöde Gefühl, das kann noch ein bisschen länger dauern…“
    Geändert von Laidoridas (08.10.2023 um 17:54 Uhr)

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    Der erdige Geruch der Gardenien lag schwer in der Luft und verdeckte die unzähligen feineren Gerüche der tausend anderen Blumen: Rosa Lilien, Nelken und Stiefmütterchen, Gloxinien mit ihren leuchtend pinken Trichterblüten, Rittersporn und gelbe Rosen säumten ihren Wasserpfad an den üppig blühenden Ufern. Lars hatte nie ein besonderes Interesse an Pflanzen entwickelt, aber als auf einer Flugreise vor etwa neun Jahren einmal das Internet ausgefallen war, da hatte er sich zum Zeitvertreib eine Botanikenzyklopädie von einem Mitreisenden geliehen und darin lange genug geschmökert, um die Bepflanzung von Baal Netbeks Blumenmeer vollständig wiederzuerkennen. Er hätte neben jeder einzelne Blume ein Namensschildchen in den Boden stecken können, aber er hatte natürlich Besseres zu tun.
    „Ein wundervoller Ort.“ Sein Bootsgenosse seufzte genüsslich auf, während sie auf unsichtbaren Unterwasserschienen über die farbenprächtig dekorierte Seenlandschaft am Rande des Sumpfgebietes fuhren. „Bestens dazu geeignet, um nach Herzenslust die Seele baumeln zu lassen. Einmal ganz und gar Mensch sein! Hab ich recht?“
    Lars nickte und lächelte den Kameraleuten zu, die sie vom fernen Ufer mit ihren Gerätschaften so lange verfolgten, bis sie in ihrem Boot hinter einem großen Rosenstrauch außer Sichtweite gerieten. Das Summen von Mücken lag in der Luft, unterlegt von schmalzigen Streicherklängen aus gut versteckten Lautsprechern.
    „Eine Oase der Erholung“, fuhr Bürgermeister Altenkamp fort. „Ich fühle mich direkt ein paar Jahre jünger. Ganz wundervoll, was Sie hier in unser schönes Essen gezaubert haben, Herr Wingefors!“
    „Das reicht jetzt“, beendete Lars das Laienschauspiel. „Wir sind längst außer Hörweite. Wie hat Ihnen die kleine Führung gefallen?“
    Altenkamps breites Lächeln erstarrte. „Aber… ähm, ich dachte… Ihr Sicherheitssystem…?“
    „Keine Sorge. Sämtliche Gespräche mit meiner Beteiligung werden automatisch herausgefiltert. Auf den Videobändern wird nur ein leeres Boot zu sehen sein.“
    „Tatsächlich?“ Altenkamp schien noch nicht ganz überzeugt. „Die Wunder der künstlichen Intelligenz, wie?“
    „Glauben Sie mir, ich bin genauso wenig daran interessiert, dieses Gespräch auf Band zu haben wie Sie“, versicherte Lars dem Bürgermeister. „Und hatten Sie bisher Anlass dazu, mir zu misstrauen?“
    „Nein, nein! Aber Sie wissen ja selbst, wie die Leute sind. Wenn auch nur das kleinste Detail herauskäme…“
    Altenkamp zog ein zerknittertes Stofftaschentuch aus seiner Anzugtasche hervor und tupfte sich damit die glänzenden Stellen seiner Halbglatze ab.
    „Sie konnten sich selbst davon überzeugen, wie erschöpfend die Maßnahmen sind, die ich zur Geheimhaltung getroffen habe. Und das, was man bisher über Sie ans Tageslicht gezerrt hat, ist nichts. Die Menschen, die Ihnen ans Leder wollen, wissen gar nichts.“
    „Woher sind Sie sich so sicher? Was, wenn sie die entscheidenden Informationen noch zurückhalten? Wenn sie mich langsam fertig machen wollen, Schlagzeile für Schlagzeile?“
    „Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich habe alles im Griff, inklusive Ihrer Karriere.“
    „Das sagen Sie andauernd“, schnaufte Altenkamp. „Aber wie können Sie das behaupten? Ich bin so kurz davor aus dem Amt zu fliegen und Sie erzählen mir –“
    „Sie sind doch noch im Amt, nicht wahr?“ Lars vermied es nicht, eine gewisse Schärfe in seine Stimme zu legen. „Also habe ich bisher offenbar mein Wort gehalten. Und solange Sie nicht die Nerven verlieren, wird sich daran nichts ändern.“
    Der Bürgermeister wandte den Blick ab, während ihr Boot einen Springbrunnen in Form einer riesigen Tulpe umkreiste. Das laut sprudelnde Wasser machte ein Gespräch in gedämpfter Lautstärke für zehn, zwanzig Sekunden unmöglich.
    „Ich vertraue Ihnen, Herr Wingefors“, sagte Altenkamp leise, nachdem sie wieder in ruhigere Gewässer geraten waren. Sie hielten jetzt auf eine imposante, schlangenähnliche Statue zu, die vor ihnen aus dem See ragte. „Und ja, die Führung durch die Anlage verlief zu meiner Zufriedenheit. Wann wird die erste –“
    „Entschuldigen Sie“, murmelte Lars, als das Smartphone in seiner Hosentasche zu vibrieren begann. Er zog es heraus, schaute kurz aufs Display und nahm den Anruf entgegen. „Wingefors.“
    „Wallner hier“, meldete sich sein Sicherheitschef am anderen Ende der Leitung. „Die Lage in der Minenbahn ist ernster als wir angenommen haben. Einer der Polizisten ist verletzt, sie haben alles abgeriegelt.“
    „Verletzt? Wie ist das passiert?“
    „Wir haben keine gesicherten Informationen“, berichtete Wallner. „Jemand muss die Polizisten in der Bahn angegriffen haben.“
    „Was zum Teufel ist da drin los?“, zischte Lars und ignorierte den besorgten Blick des Bürgermeisters. „Habt ihr immer noch keinen Zugriff auf die Kameras?“
    „Negativ. Die Systeme der Bahn scheinen abgetrennt vom Zentralcomputer zu sein, aber in der Technik sind sie sich noch nicht sicher, auf welcher Seite das Problem liegt. Bei der Polizei wollen sie offenbar ein paar ihrer eigenen Spezialisten anfordern und auf die Sache ansetzen.“
    „Das werden Sie verhindern. Sehen Sie zu, dass Sie die Situation klären und halten Sie die Polizei so gut es geht heraus, verstanden?“
    Sie waren der Statue bereits überraschend nahe gekommen. Das Schienenboot musste an Geschwindigkeit zugelegt haben, auch wenn es sich nicht danach anfühlte.
    „Wallner? Haben Sie mich verstanden?“
    „Entschuldigen Sie, hier ist gerade eine neue Meldung reingekommen.“ Es war das erste Mal, dass Lars eine Spur von Verunsicherung aus Wallners Stimme herauszuhören glaubte. „Das… wenn das stimmt…“
    „Wenn was stimmt?“
    Sie waren überhaupt nicht schneller geworden, begriff Lars plötzlich. Die Statue war auf sie zugekommen. Es war gar keine Statue, es war einer der Roboter – und er hatte in dieser Attraktion überhaupt nichts verloren.
    „Habe Meldung einer Massenpanik im Bereich Minental. Mindestens fünf bestätigte Todesfälle, Ursache –“
    Brüllend riss der Sumpfhai sein riesiges Maul auf und offenbarte einen kreisrunden Schlund voller spitzer Zähne, als er in einer plötzlichen Bewegung nach dem Boot schnappte. Lars spürte den heißen Atem des Schlangenmonsters im Gesicht, den intensiven Gestank von Motoröl – und sprang ins Wasser.
    Er hörte das laute Krachen des zerberstenden Bootes und die Schreie des Bürgermeisters hinter seinem Rücken, als ihn eine mächtige Welle unter die Wasseroberfläche drückte. Das Smartphone glitt ihm aus der Hand, aber er bekam es im nächsten Moment wieder zu fassen. Lars riss die Augen auf und brauchte einen Moment, um sich unter Wasser zu orientieren. Dann tauchte er mit kräftigen Schwimmbewegungen in die Richtung, in der er das Ufer vermutete. Er blieb so lange unter der Wasseroberfläche, bis es vor seinen Augen zu flimmern begann und seine Lungen brannten. Als er wieder auftauchte, war das blumenbedeckte Ufer nur noch ein paar kräftige Schwimmzüge entfernt. Prustend zog sich Lars an Land und blieb inmitten eines großen Herzens aus roten Rosen liegen, gleich neben einem kleinen Lautsprecher, aus dem ihm sehnsuchtsvoll schmachtende Geigen ins Ohr plärrten. Er wischte sich durch die tränenden Augen und blickte dem Sumpfhai entgegen, der als grausamer Zerstörer auf dem See thronte, inmitten der auf dem Wasser treibenden Trümmer des auseinander gerissenen Bootes. Das Schlangenmonster hatte eines von Altenkamps Beinen mit dem Maul gepackt und schleuderte den blutigen Körper des Bürgermeisters herum wie ein ungeliebtes Spielzeug.
    Lars richtete sich auf und schüttelte das Smartphone notdürftig trocken, während er damit begann, sich im klatschnassen Anzug den Blumenhang nach oben zu kämpfen.
    „Wallner, sind Sie noch da?“
    „Positiv. Was geht da bei Ihnen vor sich?“
    „Sagen Sie der Technik, sie sollen auf der Stelle alle Roboter abschalten“, befahl Lars keuchend und wischte sich eine triefende Strähne aus dem Auge.
    „Tatsächlich versuchen sie das bereits seit dem Vorfall im Minental“, meldete der Sicherheitschef. „Offenbar reagieren die Roboter nicht auf den Deaktivierungsbefehl.“
    „Was soll das heißen, sie reagieren nicht? Ziehen Sie den verdammten Stecker! Schalten Sie den Zentralcomputer aus, wenn es nötig ist!“
    Hinter ihm brüllte der Sumpfhai zornig auf. Das war kein gutes Zeichen. Er musste von Altenkamp abgelassen haben und sah sich womöglich nach seinem nächsten Opfer um.
    „So einfach scheint es nicht zu sein, in der Technik haben sie wohl –“
    „Der Bürgermeister wurde gerade von einem Sumpfhai zerfleischt!“, unterbrach ihn Lars ungehalten. „Sie sollen den verdammten Stecker ziehen! Und schicken Sie eines Ihrer Teams an meine Position, unverzüglich – dieses Ding ist immer noch hinter mir her!“
    „Schon passiert, in einer Minute sind sie bei Ihnen“, versicherte ihm Wallner. „Ich kann Sie außerdem gerne mit der Technik verbinden, wenn Sie –“
    „Sparen Sie sich die Mühe“, knurrte Lars. Er hatte jetzt den Hang erklommen und befand sich an einer etwa einen Meter großen Holzabsperrung, hinter der sich das eigentliche Sumpfgebiet erstreckte. Auf einem Platz zwischen Jahrmarktbuden im Holzhütten-Stil, Wasserpfeifen-Zelten und Baumhäusern hatte sich eine Vielzahl von Besuchern versammelt, und fast alle starrten sie spürbar beunruhigt in die gleiche Richtung. Von seiner eigenen Begegnung mit dem Sumpfhai schien niemand Notiz genommen zu hatten, es hatte ihn offenbar noch überhaupt niemand bemerkt. Was die Menschen hier irritierte, das war der blutüberströmte Mann, der aus dem Eingang des Heckenlabyrinths Wo ist der Guru? gehumpelt kam, dicht gefolgt von drei fauchenden Sumpfratten mit rot verschmierten Mäulern.
    „Evakuieren Sie“, sagte er ins Telefon. „Alles. Sofort.“
    „Verstanden“, meldete der Sicherheitschef.
    „Und noch etwas.“ Lars öffnete die Fotoverwaltung seines Smartphones, suchte ein Bild heraus und schickte es an Wallner. „Setzen Sie ein paar Ihrer besten Leute darauf an, diese Frau zu finden und in Sicherheit zu bringen. Sie heißt Stina Linnea Arends, und sie ist irgendwo hier im Park. Ihr Wohlergehen hat höchste Priorität.“

    Mike hatte sich fast entschieden.
    Die Verlockung war groß, alles auf eine Karte zu setzen und aggressiv Territorium zu erobern, um den Sieg mit brachialer Gewalt zu erzwingen – aber er würde ihr widerstehen. Er würde seine Gebiete absichern, sich zurückhalten und seinem Gegner die Initiative überlassen. Bei einem Stand von zweiundzwanzig zu zweiundzwanzig reichte am Ende womöglich auch ein einziger Punkt Vorsprung zum Sieg. Ein geduldiges, abwartendes Spiel konnte ihm diesen einen Punkt einbringen, während eine allzu gewagte Offensive sämtliche Erfolge in zwei, drei Zügen zunichte machen konnte. Mike war sich im Grunde sicher, dass er diesen Weg einschlagen wollte, aber er konnte sich noch nicht dazu durchringen, den Stein auf dem Handybildschirm auch tatsächlich auszuwählen. Vielleicht war er zu müde, um diese Entscheidung jetzt sofort zu treffen, egal wie richtig sie sich anfühlte. Er wusste, dass sein Kontrahent ihm die Wartezeit nicht übelnehmen würde: In manchen Partien hatte er ihn tagelang warten lassen, und obwohl sein Gegner selbst kein großer Grübler war und immer sehr schnell auf seinen Zug reagierte, schien er sich nicht daran zu stören. Jedenfalls nicht so sehr, dass er nicht jedes Mal gleich wieder eine neue Onlinepartie mit ihm begonnen hätte. Eine Chatfunktion gab es nicht, also konnte er ihn schlecht danach fragen, und das war ihm auch ganz recht. Kein Gelaber, einfach machen. Auch wenn das Machen bei ihm manchmal seine Zeit in Anspruch nahm.
    „Sie können jetzt zu ihm rein, wenn Sie wollen.“
    Mike blickte vom Go-Brett auf. Die Tür zum Behandlungsraum war aufgegangen und die Ärztin trat in Begleitung der beiden Sanitäter auf den Flur hinaus.
    „Jo“, sagte Mike und packte sein Handy weg.
    „Mit Ihrer Hand ist alles in Ordnung?“
    Mike nickte und hielt ihr seine bandagierte linke Hand hin, um die sich schon einer der Notärzte gekümmert hatte.
    „Halb so wild.“
    „Wenn Sie noch etwas brauchen, ich bin oben“, sagte ihm die Ärztin, während sie mit ihren beiden Kollegen zur Treppe eilte. „Es sind wohl gerade noch ein paar Patienten reingekommen, um die wir uns kümmern müssen.“
    Mike fragte sich, wo in dieser kleinen Krankenstation überhaupt noch Platz für zusätzliche Leute sein sollte. Er war sich ziemlich sicher, dass der schlecht beleuchtete Kellerbereich, in den sie Björn gebracht hatten, eigentlich überhaupt nicht für die medizinische Versorgung von Patienten vorgesehen war – ein Eindruck, der sich nur weiter verfestigte, als er den kleinen, fensterlosen Behandlungsraum betrat: Zwischen Regalen voller Medizinkrempel und aufeinander gestapelten Pappboxen lag sein alter, ramponierter Kollege auf einer rollbaren Krankenliege herum wie ein menschlicher Lagerbestand.
    „Wie isses?“, begrüßte Mike den Verletzten.
    „Scheiße“, ächzte Björn. „Das Drecksvieh hat mich ganz schön auseinander genommen.“
    Das viele Blut, das er verloren hatte, war ihm deutlich anzumerken: Mike hatte sein Gesicht noch nie so bleich gesehen. Sein rechtes Bein und seine rechte Hand steckten in dicken weißen Verbänden, während sein anderer Arm durch einen Schlauch mit einem kleinen Tropf neben der Liege verbunden war, in der eine gelbliche Flüssigkeit blubberte.
    „Jenny und die anderen werden noch von der Polizei verhört.“ Mike schob einen wackeligen Hocker neben die Liege und nahm darauf Platz. „Die wollen natürlich ganz genau wissen, was passiert ist. Ich hab denen auch schon alles dreimal erzählt, aber ich glaube, die wollen es nochmal von irgendwem hören, der sich nicht gerade mit dir gekloppt hat, als es passiert ist.“
    „Zeugen gibt’s ja genug.“ Stöhnend versuchte Björn eine bequemere Liegeposition zu finden, offensichtlich ohne durchschlagenden Erfolg. „Hast du ihnen gesagt, dass sie diese Scheißbiester abstellen sollen?“
    „Jo“, sagte Mike. „Ich glaube, die sind da gerade schon dran. Gab anscheinend auch andere, die von einem von denen gebissen wurden. Da läuft irgendwas schief in der Technik.“
    „Kannst du wohl laut sagen, das Vieh wollte mich umbringen! Wenn du nicht…“
    „Schon gut.“
    „Nee, nicht schon gut. Du hast mir das Leben gerettet, Mike.“ Björn sah ihm so direkt und offen in die Augen wie seit mindestens einem Jahrzehnt nicht mehr. „Das werd ich dir nicht vergessen.“
    „Hm“, machte Mike.
    Ein paar Sekunden lang sagte keiner von ihnen etwas. Sie hörten dem unregelmäßigen elektrischen Summen der Glühbirne zu, bis Björn schließlich lautstark Luft holte.
    „Hör mal, Mike… die Sache mit Spacetime damals…“ Von ihrer üblichen Festigkeit war in Björns Stimme nicht mehr viel übrig geblieben, und Mike glaubte nicht, dass es nur am Blutverlust lag. „Das war keine gute Aktion von mir. Ich weiß wie viel dir das bedeutet hat.“
    Björn setzte sich im Bett auf, was ihm sichtlich Schmerzen bereitete, und schaute ihn mit einem so bedröppelten Gesichtsausdruck an, dass er eigentlich darüber hätten lachen müssen. Aber danach war ihm überhaupt nicht zumute. Mikes Kehle war wie zugeschnürt.
    „Ich dachte nur…“ Seufzend rieb sich Björn die blasse Stirn. „Weißt du noch, wie wir beide damals die Idee zu Elex hatten, kurz vor Feierabend, und wie uns das einfach nicht losgelassen hat? Wie wir die ganze Nacht mit Pizza und Wasserpfeife im Büro gehockt haben und wir plötzlich diese ganzen krassen Ideen hatten? Jetpacks, Laserwaffen, Berserker… Weißte noch, wie wir uns diesen ganzen Kram überlegt haben, bis irgendwann am Morgen die anderen zurückgekommen sind? Und wie wir uns dann hingestellt haben und denen ‘nen Haufen Zettel vor den Latz geknallt haben und gesagt haben: Leute, das ist unser nächstes Spiel! Und alle fanden’s sofort mega.“
    Mike nickte. „War schon ganz geil.“
    „Das hat sich echt wieder angefühlt wie ganz früher. Nochmal so ein richtig geiles neues Ding, das wir beide einfach unbedingt machen wollten. Als Partner. Nicht in diesen beschissenen Hierarchien, die wir da in den letzten Jahren hatten. Endlich waren wir mal wieder von den gleichen Sachen begeistert. Endlich war’n wir mal wieder ein Team und nicht nur Leute, die sich im Büro gegenseitig auf den Sack gehen. Ich hab echt gedacht, dass wir zusammen nochmal so richtig was reißen könnten.“
    Wahrscheinlich bildete er es sich nur ein, aber Mike hatte den Eindruck, dass ein bisschen Farbe in Björns Gesicht zurückgekommen war. Fast wollte er sich von der Begeisterung seines Ex-Kollegen anstecken lassen, aber er wusste ja schon, wie es jetzt weitergehen würde.
    „Und dann, einen Tag später, kommt Michael zu mir und erzählt mir was von Spacetime, und dass du dein eigenes Team in deiner eigenen Klitsche haben willst. Ich dachte, ich fall vom Stuhl. Im einen Moment planen wir noch unser großes neues Ding, und im nächsten machst du plötzlich dein eigenes. Als hättest du über Nacht so ‘ne fixe Idee gehabt und schon ist dir alles andere scheißegal.“
    Mike wusste nichts darauf zu sagen. So ungefähr war es ja auch gewesen, aber das würde Björn natürlich nicht verstehen.
    „Am Anfang hab ich noch gedacht, du kommst irgendwann zu uns zurück, wenn wir mit dem ganzen Risen-Kram fertig sind und mit Elex durchstarten. Aber dann ging es los mit Elex, und du bist nicht zurückgekommen. Und beim zweiten Teil, da bist du immer noch nicht zurückgekommen. Und ich… ich hab halt einfach gemerkt, dass das alles nur halb so geil wurde wie es hätte werden können. Wie es halt geworden wäre, wenn du dabei gewesen wärst. Ich wollte einfach nur, dass du zu uns zurück kommst, Mike. Deshalb hab ich alles versucht, um dein Projekt zu stoppen.“
    Stöhnend ließ sich Björn zurück ins Kissen sinken.
    „Aber damit hab ich natürlich genau das Gegenteil erreicht. Du warst endgültig weg, und mir ist nix Besseres eingefallen, als dich zu hassen deswegen. Also, ich wollt nur sagen…“ Er hatte sich so heiser geredet, dass es ganz danach klang, als hätte ihn das Roboter-Molerat zu allem Überfluss auch noch mit einer üblen Erkältung angesteckt. „Tut mir leid.“
    „Schon okay“, sagte Mike, bevor eine unangenehme Pause entstehen konnte. „Ist halt scheiße gelaufen alles.“
    „Ja“, sagte Björn. „Das isses echt.“
    Von draußen waren Polizeisirenen zu hören. Mike fragte sich, ob sie wegen der defekten Roboter Verstärkung geholt hatten, aber im Moment kümmerte es ihn nicht besonders. Er hatte eine Entscheidung getroffen, und sie hatte nichts mit Go zu tun.
    „Bin mal eben pissen.“
    Er stand auf, bückte sich unter der baumelnden Glühbirne hindurch und ging hinaus auf den Flur. Aus dem Erdgeschoss über seinem Kopf war ein großes Durcheinander von Stimmen zu hören, offenbar herrschte Hochbetrieb in der Krankenstation. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis sie noch mehr Patienten hier herunter schickten. Als Mike die Treppe erreicht hatte und sich außer Hörweite glaubte, holte er das Handy heraus und wählte die Nummer, die ihm dieser Joe gegeben hatte.
    Vier-, fünfmal ertönte das Freizeichen, bevor der Anruf am anderen Ende der Leitung angenommen wurde.
    „Wingefors“, hörte er die gehetzt klingende Stimme des Firmengründers durch den Lautsprecher. „Was ist?“
    „Ich hab mich entschieden“, teilte Mike ihm mit. „Ich mach Spacetime für Sie, aber ich werd dafür nicht meine Freunde verarschen. Wenn Sie mich als Projektleiter wollen, dann bin ich dabei. Aber nicht als Spitzel. Unter der Bedingung bin ich raus.“
    „Wie bitte?“, hechelte Wingefors, der klang, als würde er gerade einen Marathon absolvieren. Im Hintergrund waren aufgeregte Rufe zu hören. „Ich habe keine Zeit für diesen Unsinn, Herr Hoge! Überlegen Sie sich bis morgen was Sie wollen. Und jetzt sehen Sie zu, dass Sie aus dem Park verschwinden!“
    „Ich hab Ihnen doch gerade schon gesagt, was ich –“
    „Der Park wird evakuiert, Herr Hoge!“, brüllte Wingefors. „Verschwinden Sie! Und halten Sie sich von den Robotern fern!“
    Irritiert starrte Mike sein Handy an, als nur noch ein regelmäßiges Tuten aus dem Lautsprecher kam. Die Worte brauchten ein paar Sekunden, bis sie richtig bei ihm angekommen waren. Dann packte er das Handy ein und rannte zurück in den provisorischen Behandlungsraum.
    „Björn, wir müssen hier raus!“, rief er dem Verletzten zu und eilte an die Liege.
    „Was soll das werden?“, entfuhr es dem verwirrten Björn, als sich Mike bemühte, ihm in eine Sitzposition zu helfen. „Die Ärztin hat gesagt, ich soll hier erst mal ‘ne Stunde liegen bleiben.“
    „Die evakuieren den ganzen Park, anscheinend sind die Viecher überall am Durchdrehen! Das wird jetzt’n bisschen ziepen.“
    „Hä? Was hast du… argh!
    Mike hatte ihm kurzerhand die lange Tropfnadel aus dem Arm gezogen und drückte das Pflaster, mit dem sie am Körperteil fixiert gewesen war, wieder notdürftig auf der Haut fest. Ein feuchter roter Fleck zeichnete sich darunter ab, aber der würde wohl ihr geringstes Problem sein.
    „Kannst du laufen?“
    „Willst du mich verarschen?“, protestierte Björn. „Natürlich nicht!“
    „Musste aber“, stellte Mike fest und suchte hastig die Regale ab, bis er endlich fündig wurde. „Hier, probier’s mal mit den Dingern hier.“
    Er zog ein Paar grauer Plastikkrücken aus dem untersten Regal und drückte sie Björn in die Hand.
    „Was sind das denn für Scheißteile?“ Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sich Björn auf den beiden Krücken in die Höhe. Auf Mike machten sie auch keinen besonders stabilen Eindruck.
    „Was Besseres haben die hier nicht. Muss reichen.“
    Mit gequälter Miene humpelte Björn ein paar Schritte in Richtung Ausgang. Es sah aus, als würde er jeden Moment wegknicken und hilflos liegenbleiben wie ein Käfer, der auf dem Rücken gelandet war. Mike wurde zunehmend nervöser. Eine gefühlte Ewigkeit verging, bis sie es endlich nach draußen in den Flur geschafft hatten.
    „Hörst du das auch?“, brachte Björn schwer atmend hervor, als er sich an Mikes Seite in Richtung Treppe schleppte, wo das Krückendrama wahrscheinlich erst so richtig losgehen würde. „Was ist da oben los?“
    Tatsächlich war aus dem Erdgeschoss über ihnen jetzt lautes Geschrei zu hören. Das war nicht mehr die rege Betriebsamkeit von vorhin, das war echte Panik. Und plötzlich, wie in einem seltsam vertrauten Albtraum, hörte Mike mitten aus dem hysterischen Stimmengewirr deutlich das laute Krähen eines Scavengers heraus.
    „Scheiße.“ Er packte Björn fest am Arm, der daraufhin fast das Gleichgewicht verloren hätte. „Die sind hier drin.“
    Gellende Schreie drangen zu ihnen herab, als ein blutiger Körper die Treppe hinunterstürzte, mehrere Purzelbäume schlug und schließlich schlaff auf den unteren Stufen liegen blieb. Gleich darauf rannte eine ältere Frau mit weit aufgerissenen Augen die Treppe hinunter, bevor sie auf halber Strecke von einem marodierenden Scavenger am Rücken getroffen wurde und mit einem dumpfen Aufschrei über die Stufen stürzte. Zornig hackte der große Laufvogel mit dem blutverschmierten Schnabel im Gesicht seines Opfers herum, bis sich die Frau nach ein paar Sekunden nicht mehr rührte. Dann hob er ruckartig den Kopf, starrte genau in ihre Richtung und krähte ein markerschütterndes Scavengerkrähen.
    Mike und Björn hatten den gleichen Gedanken – sie mussten in den Lagerraum zurück und die schützende Tür zwischen sie und die Maschinenkreatur bringen, und das so schnell wie möglich. Aber als er Björns verzweifelte Versuche sah, sich mit zittrigen Händen auf seinen Krücken im Flur umzudrehen, da wusste Mike schon, dass sie keine Chance hatten.
    Mit großen Hüpfern rannte der Scavenger genau auf sie zu, die kleinen Vogeläuglein lodernd vor rasender Wut. Hilflos streckte Mike die bloßen Hände zum Schutz nach vorn – als ein peitschender Schuss sein Trommelfell zum Beben brachte, und gleich darauf ein weiterer. Der Robotervogel gab ein Zischen von sich und hielt abrupt an. In seinem Kopf steckten zwei Kugeln in klaffenden Löchern, die eine silbrige Metallschicht offenbarten.
    „Zurück!“, brüllte die dunkelhaarige Frau im schwarzen Outfit der Park-Security, die mit erhobener Pistole auf einer der obersten Treppenstufen erschienen war. Hastig machte Mike ein paar Schritte rückwärts und stützte dabei Björn, der es irgendwie geschafft hatte, seine beiden Krücken ineinander zu verhaken.
    Der Scavenger hatte sich schon umgedreht und jagte auf die Treppe zu, während die Sicherheitsfrau weitere schmerzhaft laute Schüsse auf ihn abgab. Graue Federn und kleine Metallstücke flogen durch die Luft, und das Krähen des mechanischen Laufvogels verwandelte sich in ein verzerrtes Störgeräusch. Trotzdem rannte er unaufhaltsam weiter, sprang mit den zerschossenen Krallenfüßen die Treppe hinauf und hackte mit dem Schnabel nach den Beinen seiner Widersacherin. Die Frau ließ fluchend ihre Waffe fallen, zog eine weitere Pistole hervor und feuerte ein ganzes Magazin in den ramponierten Körper des Roboters ab. Zurück blieb ein zuckender Metallhaufen, den sie mit einem kräftigen Tritt die Treppe hinunter beförderte.
    „Seid ihr die einzigen hier unten?“, rief sie Mike und Björn entgegen.
    „Jo, glaub schon“, entgegnete Mike.
    „Okay, dann kommt mit.“
    Bevor Björn wieder einen Versuch starten konnte, irgendwie mit seinen Krücken zurechtzukommen, legte Mike den Arm um seine Schulter und half ihm, sich bei ihm aufzustützen. Gemeinsam schafften sie es an den beunruhigend spratzelnden Scavengerresten vorbei zur Treppe, wo sie von der Sicherheitsbeauftragten ungeduldig empfangen wurden.
    „Die Treppe rauf, los, los.“
    Sie stand auf der obersten Treppenstufe und sah sich nervös nach allen Seiten um. Als sie es schließlich bis zu ihr nach oben geschafft hatten, verstand Mike auch warum: Der marodierende Scavenger hatte die Krankenstation in ein Schlachthaus verwandelt. Mike erschauderte, als er unter den Leichen auch die Ärztin erkannte, die vorhin noch Björn behandelt hatte. Ihr ehemals weißer Kittel war zerfetzt und mit tiefroten Flecken übersät. Vielleicht starrte er deshalb so lange darauf, damit er den Rest des entsetzlichen Anblicks nicht an sich heranlassen musste.
    „Hey, worauf wartest du? Mitkommen!“
    Mike zuckte zusammen, als er begriff, dass Björn und ihre Retterin schon draußen vor der Tür standen, und beeilte sich, zu ihnen aufzuschließen. Die einladende Abendsonne am Himmel kam ihm völlig bizarr vor – dieses Wetter passte zu einem gemütlich verkifften Abend auf dem Balkon, aber ganz sicher nicht zu dem brutalen Gemetzel, das so plötzlich über sie hereingebrochen war. Wieder gingen laute Polizeisirenen los, und immer wieder waren gellende Schreie zu hören. Nicht weit weg lagen zwei leblose Körper in Gardistenrüstungen vor dem Tor zum alten Lager. Mike glaubte hinter dem Tor hektische Bewegungen wahrzunehmen, aber er konnte nicht ausmachen, ob sie zu flüchtenden Menschen oder jagenden Bestien gehörten.
    Die dunkelhaarige Frau führte sie über einen Pfad zwischen zwei dichten Gebüschen hindurch, der auf eine betonierte Straße führte. Zwei Jeeps, mehrere Polizeiwagen und eine schwarze Limousine standen am Straßenrand, und einige Leute in Polizeiuniform beugten sich über einen Laptop, den sie auf dem Dach eines ihrer Autos abgestellt hatten. Ihre Retterin riss die Tür des größeren der beiden Jeeps auf, setzte sich ans Steuer und bedeutete ihnen, einzusteigen. Auf der Rückbank saß schon ein ängstlich guckender Mann im Snaf-Kostüm, und auch der Beifahrersitz schien bereits besetzt zu sein.
    „Moment mal“, sagte Björn plötzlich, als Mike ihm auf den Rücksitz helfen wollte. „Was ist mit den anderen? Was ist mit Jenny?“
    „Keine Zeit!“, blaffte ihn die Security-Mitarbeiterin vom Fahrersitz aus an. „Setzt euch hin, dann bring ich euch hier raus.“
    „Ich geh nicht ohne Jenny“, protestierte Björn und drehte sich zu den Polizisten um. „Hey! Wo ist meine Frau?“
    „Bitte verhalten Sie sich kooperativ und verlassen Sie den Park!“, rief ein Polizist zurück, ohne sich zu ihm umzudrehen.
    „Sie haben Jenny und die anderen bestimmt schon in Sicherheit gebracht“, versuchte Mike seinen alten Freund zu beruhigen. „Die waren doch eben noch bei der Polizei, was soll ihnen da schon passiert sein?“
    Er hatte seinen Satz noch nicht ganz beendet, als aus dem Gebüsch ein ungeheuer tiefes, bedrohliches Knurren erklang. Blitzartig griffen die Polizisten nach ihren Waffen, doch bevor einer von ihnen einen Schuss abgeben konnte, landete auch schon ein massiver, schuppiger Körper auf dem Polizeiauto. Scharfe Krallen zerteilten den Laptopbildschirm, und das Auto gab unter dem Gewicht unter lautem Quietschen und Krachen so widerstandslos nach, als wäre es aus Alufolie gefertigt. Majestätisch baute sich der Drachensnapper auf dem zerbeulten Fahrzeug zu seiner vollen Größe auf und gab ein donnerndes Brüllen von sich, während die Polizisten dutzende Schüsse auf ihn abfeuerten, die er überhaupt nicht zu wahrzunehmen schien. Er machte einen weiteren Sprung, landete inmitten der Beamten auf der Straße und zerriss drei von ihnen mit einem einzigen Klauenhieb.
    „Steigt ein, verdammt!“, schrie die Sicherheitsfrau und knallte die Fahrertür zu. Gerade noch rechtzeitig rettete sich Mike hinter Björn auf den Rücksitz, bevor der Jeep mit quietschenden Reifen beschleunigte.
    „Was zur Hölle ist das hier für eine Scheiße?“, brüllte Björn, der mit seinen Krücken beim überhasteten Einsteigen beinahe den Snaf-Darsteller am Kopf erwischt hätte. Mike beeilte sich, die klappernde Hintertür zu schließen, während sie schon über die Betonstraße bretterten.
    „Das wüsste ich auch gerne, könnt ihr mir glauben“, erwiderte die Fahrerin. „Irgendwas ist da richtig übel schiefgelaufen in der Technik. Bleibt einfach ruhig, alles klar? In ein paar Minuten seid ihr in Sicherheit.“
    „Ach ja?“, gab Björn mit krächziger Stimme zurück. „Wo soll das sein, diese Sicherheit? Das sind beschissene Killermaschinen!“
    „Die Technik ist an der Sache dran, mehr kann ich leider auch nicht dazu sagen“, teilte ihnen die Personenschützerin mit und warf ihnen über den Rückspiegel einen entschuldigenden Blick zu. „Hey, wart ihr nicht heute Mittag bei der Show dabei? Ihr seid diese Programmierer, oder?“
    „Gamedesigner“, korrigierte sie der Mann auf dem Beifahrersitz. Er hatte sich zu ihnen umgedreht, und erst jetzt erkannte Mike, um wen es sich dabei handelte.
    „Tach Heiko“, sagte er, und auch Björn murmelte eine schmerzverzerrte Begrüßung. „Aus dem Tag heute kriegste genug News für den ganzen Monat raus, was?“
    „Das kannst du wohl laut sagen“, entgegnete der altgediente GameStar-Veteran mit gequältem Lächeln. „Ich hätte wohl doch endlich mal in die PR wechseln sollen.“
    „Das haste vor zwanzig Jahren auch schon immer gesagt“, brummte Mike. Heikos gealtertes, aber wohlvertrautes Gesicht zu sehen, hatte inmitten all dieser kaum zu fassenden Ereignisse eine seltsam beruhigende Wirkung auf ihn. Wenn er in die freundlichen Augen des Spieleredakteurs blickte, dann hatte er auf einmal wieder dieses unerschütterliche, zuversichtliche Gefühl von früher: die Gewissheit, dass am Ende alles gut werden würde. Egal wie schlimm es sich auch gerade anfühlen mochte, da gab es jemanden, der auf jeden Fall eine Sechsundachtzig drunterschreiben würde.
    „Schon unglaublich, oder?“, sagte Heiko kopfschüttelnd. „Da lehnst du seit Jahren all meine Interviewanfragen ab, und dann landest du auf einmal mit mir im gleichen Auto.“
    „Das Interview kriegst du aber trotzdem nicht.“
    „Bin ich auch gerade nicht so in der Stimmung für“, seufzte Heiko. „Aber mal ernsthaft: Wenn wir das hier irgendwie überleben sollten, dann gehen wir nochmal alle zusammen einen trinken, okay? So wie früher.“
    Unter lautem Sirenengeheul fuhren aus der Gegenrichtung mehrere Kleinbusse der Polizei und ein Krankenwagen an ihnen vorbei, während sie selbst in Richtung des großen Leuchtturms unterwegs waren, den Mike durch die Frontscheibe sehen konnte. Noch durchquerten sie aber offenbar das Minental-Areal, denn wenn er links durchs Fenster schaute, dann sah er hinter einer Absperrung den großen Vulkan aufragen.
    „Jo, machen wir“, sagte er und schaute zu Björn hinüber, der aber mit den Gedanken verständlicherweise ganz woanders war und mit leerem Blick auf seinem Handy herumdrückte. Der falsche Snaf ganz rechts auf der Rückbank wimmerte ohnehin nur die ganze Zeit leise vor sich hin, aber der fühlte sich natürlich auch zurecht nicht angesprochen.
    „Jenny geht’s bestimmt gut“, nuschelte Mike, während sich vor seinem inneren Auge unwillkürlich eine ganze Reihe möglicher Jenny-Todesszenarien abspielten. „Wirste schon sehen.“
    „Warum geht sie dann nicht dran, hä?“ Björn ließ das Handy kraftlos sinken. „Kai und Mattes auch nicht. Einer von denen müsste doch mal abheben, wenn die in Sicherheit wären.“
    „Vielleicht sind die ja nur…“ Mike überlegte kurz, dann gab er auf. „Ja, haste leider recht. Scheiße.“
    „Der Jenny hat es gefälligst gut zu gehen“, wagte Heiko einen eher verzweifelten Versuch, die Stimmung aufzulockern. „Die schuldet mir nämlich noch ein Schokocroissant!“
    „Heiko, das ist jetzt vielleicht nicht…“
    Mike erstarrte, als hinter dem Beifahrerfenster ein Schatten auftauchte. Kurz sah er zwei stechend gelbe Augen in einem stachelgespickten Schuppenkopf aufblitzen, dann wurde der Wagen mit gewaltiger Wucht zur Seite geschleudert. Alles überschlug sich, Mike prallte mit dem Kopf an die Decke, eine Plastikkrücke landete in seinem Gesicht. Oben und unten wechselte sich in irrem Tempo ab, als er mit Björn zusammenstieß und mit dem Kinn auf dem Vordersitz aufkam. Heiko schrie wie am Spieß und Glas splitterte, als das Auto über die Gegenfahrbahn geschleudert wurde, bis es durch eine Absperrung krachte.
    Neben Mikes linkem Ohr zerbarst das Fenster in tausend Scherben, als sein Schädel mit etwas Hartem zusammenstieß und alles um ihn herum schwarz wurde.

    Draußen war es fast still geworden.
    Seit einer guten halben Stunde hatte sich Stina in der Klokabine eingeschlossen und lauschte. Zuerst waren die Schreie allgegenwärtig gewesen. Es hatte Schüsse gegeben und zwei oder drei Mal hatte das Fauchen der Snapper erschreckend nah geklungen. Dann waren die Geräusche allmählich weniger geworden. Vor ein paar Minuten hatte es noch einmal einen lauten Knall gegeben, und jetzt war es wieder fast ruhig, vom Gegacker der künstlichen Harpyien einmal abgesehen. Immer wieder heulten Sirenen in der Ferne auf, und Stina glaubte auch gelegentlich Schreie wahrzunehmen, aber sie mussten wohl von weiter weg kommen.
    Trotzdem traute sie sich nicht nach draußen. Ein Teil von ihr hätte den Snappern gerne zugesehen, aber das war nicht der Teil, der gerade das Kommando hatte. Sie war ja nicht lebensmüde. Obwohl es ihr mit dem sperrigen Rucksack auf dem Rücken schon vom ersten Moment an zu eng in der kleinen Kabine gewesen war und sie sich an den fiesen Gestank immer noch nicht ganz gewöhnt hatte, dachte sie gar nicht daran, ihre vergleichsweise sichere Zuflucht aufzugeben. Mit ihren winzigen Ärmchen konnten Snapper ja wohl keine Türen öffnen, da war sie zuversichtlich. Solange sie hier drin blieb, war sie hoffentlich außer Gefahr. Sie hatte sich dennoch bemüht, keinen Mucks von sich zu geben, um die Monster nicht noch auf irgendwelche Ideen zu bringen – wenn sie motiviert genug waren, kamen sie am Ende doch noch irgendwie hier rein. In den letzten Minuten war Stinas Ungeduld aber immer größer geworden. Die Snapper waren vielleicht noch in der Gegend, aber wohl nicht mehr direkt vor dem Toilettenhäuschen. Sie konnte es zumindest riskieren, einen Anruf zu tätigen. Wenn sie ihrem Vater von ihrer Situation erzählte, dann würde er bestimmt irgendwen schicken, um sie hier rauszuholen.
    Stina zog das Handy aus der Tasche – die Uhr zeigte jetzt siebzehn Uhr vierzehn an – und entsperrte den Bildschirm mit einem Fingerdruck. Der QR-Code-Scanner der World-of-Gothic-App war immer noch geöffnet. Sie hatte den Finger schon auf dem Bildschirm, um die App zu schließen, als urplötzlich das große Gesicht eines tätowierten Glatzkopfes darauf erschien. Stina war so erschrocken, dass sie das Handy beinahe fallen gelassen hätte.
    „Stina, du musst mir helfen!“, sprach sie Y’berion mit fester Stimme an. „Du musst den Stein des Wissens finden!“
    „W… was?“, stammelte Stina. „Weißt du eigentlich, was hier los ist? Ich hab doch jetzt keine Nerven für irgendwelche Fetch-Quests!“
    „Bitte, Stina“, insistierte der oberste Guru. „Es ist sehr wichtig, dass du deinen Auftrag erfüllst.“
    „Du hast es vielleicht noch nicht mitbekommen, aber hier im Park ist das totale Chaos ausgebrochen!“, flüsterte sie den Bildschirm eindringlich an. „Die Snapper sind durchgedreht und bringen alle Leute um!“
    „Ich weiß“, sagte Y’berion mit traurigem Blick. „Und es sind nicht bloß die Snapper. Ein unheilvoller Zorn hat die Kolonie erfasst. Das Schlachten wird kein Ende nehmen, bis du den Stein des Wissens in Besitz nimmst.“
    „Aber…“
    Y’berion hob den Zeigefinger und deutete durch das Handyglas genau in ihre Richtung. „Nur du kannst es aufhalten, Stina. Finde den Stein des Wissens.“
    „Ich kann doch nicht einfach nach da draußen gehen – da werde ich doch sofort von einem von den Viechern erwischt! Und was ist, wenn ich den Stein gar nicht finde? Der Schläfertempel ist doch bestimmt riesig, und vielleicht komme ich da nicht mal rein!“
    „Der Stein des Wissens liegt nicht im Schläfertempel verborgen“, offenbarte ihr der Guru, „aber dicht in seiner Nähe. Ich habe keine besseren Worte, um dir den Ort zu beschreiben, Stina: Du musst in das Herz der Kolonie vordringen, in die Tiefen des Ortes, an dem er schläft.“
    „An dem wer schläft?“, entgegnete Stina irritiert. „Ich dachte eigentlich, du meinst… naja, den Schläfer eben.“
    „Es gibt mehr als nur einen Schläfer in dieser Kolonie.“
    „Das hilft mir überhaupt nicht weiter“, seufzte Stina, als ihr im nächsten Moment eine Idee kam. „Warte mal, kannst du es mir nicht einfach auf der Karte zeigen?“
    Y’berion nickte bedächtig. „Wenn du eine Karte bei dir trägst, dann werde ich dir den Ort darauf markieren.“
    Aufgeregt begriff Stina, dass das grüne Licht oben rechts auf ihrem Smartphone zu leuchten begonnen hatte. Y’berion hatte die Kamera schon für sie aktiviert! Sie zerrte den halb zerknüllten Prospekt aus ihrer Hosentasche, entfaltete ihn hastig und hielt die Parkkarte unter die Handykamera. Auf dem Bildschirm wurde jetzt das Kamerabild angezeigt, aber in dem schlechten Licht der Klokabine war zuerst kaum etwas zu erkennen. Erst als Stina sich vor dem winzigen Fenster in die Ecke zwischen Toilettenschüssel und Klobürste quetschte, bekam die Kamera genug Licht ab, um die Karte auf dem Bildschirm gut lesbar abzubilden.
    Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts, dann erschien ein roter Punkt auf der Karte. Er markierte ein rechteckiges Gebäude gleich hinter dem Schläfertempel, das aber offenbar nicht zur Attraktion gehörte und auf der Übersichtskarte in einem farblosen Grau gehalten war. Es musste wohl irgendein Verwaltungsgebäude sein, oder vielleicht waren es Räumlichkeiten für das Personal. Stina war es vorher gar nicht aufgefallen.
    „Okay, danke!“, wisperte sie und versuchte sich die Kartenposition auf dem Display so gut wie möglich einzuprägen. „Aber komme ich da einfach so rein? Das ist doch bestimmt… Y’berion? Bist du noch da?“
    Die Kamera war ausgegangen, und statt der Karte wurde jetzt wieder die Startseite der World-of-Gothic-App angezeigt. Vom Anführer der Bruderschaft fehlte jede Spur – und das blieb auch so, egal wie oft Stina seinen Namen sagte. Irgendwann begriff sie, dass es keinen Zweck hatte und steckte das Handy wieder ein. Sie lehnte sich mit dem Rucksack an die Klotür und versuchte, ein paar Mal tief durchzuatmen.
    Sie konnte einfach ihren Vater anrufen, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte – oder die Polizei, wenn sie ihren Vater nicht erreichte. Es würde kein Problem sein, ihre genaue Position zu beschreiben, und vielleicht war sie dann in einer Viertelstunde schon in Sicherheit. Aber was, wenn Y’berion recht gehabt hatte und es an ihr lag, die Angriffe der Gothic-Monster zu stoppen? Es klang alles sehr merkwürdig, aber was Y’berion ihr erzählt hatte, war ganz bestimmt keine vorbereitete Quest zur Belustigung der Parkbesucher gewesen. Er hatte alles sehr ernst gemeint, und was sie am meisten beschäftigte: Er zählte offenbar ganz fest auf sie. Wenn sie sich jetzt aus dem Park bringen ließ, dann würde sie ihn im Stich lassen und niemals herausfinden, was es mit dem Stein des Wissens auf sich hatte – ihrem Vater oder der Polizei brauchte sie damit gar nicht erst ankommen, die würden ihr kein Wort glauben. Wenn sie Y’berion nicht enttäuschen wollte, dann musste sie auf eigene Faust versuchen, das Geheimnis zu lüften. Und, das war ihr plötzlich ganz klar: Sie wollte Y’berion auf gar keinen Fall enttäuschen.
    Aber sie konnte doch nicht einfach da rausgehen zu diesen marodierenden Bestien! Sie half Y’berion ja auch kein Stück weiter, wenn sie als zerfressene Leiche endete. Gelähmt vor Angst kauerte sie sich in die Ecke zwischen Klotür und Wand, wo angesichts des dicken Rucksacks auf ihrem Rücken kaum noch Platz war. Ihre eigene Feigheit machte sie fast wahnsinnig. Natürlich war sie nicht stark genug für einen Kampf gegen die Snapper, aber das war sie im Spiel zu Beginn ja auch nicht. Davonrennen gehörte eben dazu – so lange, bis man stark genug war, um es mit den Viechern aufzunehmen. Plötzlich kam ihr ein anderer Gedanke. Was machte sie im Spiel, um stärker zu werden? Natürlich, dachte sie: Sie aß so viele Äpfel wie sie kriegen konnte.
    Hastig nahm sie den Rucksack vom Rücken, öffnete den Reißverschluss und kramte am großen Gothic-Porträt vorbei am Boden herum, bis sie die Tupperdose zu fassen bekam. Die Apfelstückchen darin waren schon ziemlich braun geworden, und es wären nicht einmal im Spiel annähernd genug gewesen, um ihr auch nur einen einzigen zusätzlichen Stärkepunkt zu verleihen, aber es war das Beste, was sie hatte. Stina öffnete die Dose und stopfte nach und nach alle Apfelspalten in sich hinein, bis sie alle weg gefuttert waren.
    Nachdem sie die leere Tupperdose wieder verstaut und sich den Rucksack angezogen hatte, atmete sie noch einmal ganz tief ein und aus. Irgendwie fühlte sie sich tatsächlich ein bisschen stärker, und auch wenn es vermutlich immer noch nicht ganz dazu reichte, einen Roboter-Snapper mit bloßen Händen zu erwürgen, hatte sich ihre Angst ein wenig gelegt. Sie hatte alles getan, was sie zur Vorbereitung tun konnte, jetzt musste sie endlich handeln.
    Stina kontrollierte noch einmal den Reißverschluss des Rucksacks, dann drehte sie den Verschluss der Klotür um. Vorsichtig stieß sie die Kabinentür auf, schlich zur Ausgangstür und lauschte. Sie hörte Schreie und Sirenengeheul, aber das kam von weiter weg. Wenn sie es riskieren wollte, dann war jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.
    So leise wie möglich öffnete sie die Tür, bis sie an etwas Schwerem hängen blieb. Es war der kopflose Mann im Schalke-Trikot, der die Tür blockierte. Stina wurde noch einmal bewusst, wie nah die Snapper gewesen sein mussten: Sie hatten offenbar noch einmal an der Leiche herumgeknabbert und sie dann vor der Tür liegen gelassen. Vorsichtig schob sie den Schalke-Fan mit dem Fuß beiseite, bis sie die Tür weit genug öffnen konnte, um über die Leiche zu steigen. Jede Faser ihres Körpers war zum Bersten gespannt, bereit dazu, sich bei der kleinsten Bewegung wieder ins Klohaus zu flüchten. Aber da bewegte sich nichts mehr um sie herum – nichts außer den Harpyien-Gefährten über ihrem Kopf, die unter schrillem Gekicher in einer wahnwitzigen Geschwindigkeit pausenlos im Kreis flogen. Stina konnte nicht erkennen, ob die bedauernswerten Leute darin noch bei Bewusstsein waren, aber viel schien sich da nicht mehr zu regen. Genauso wenig wie in dem havarierten Polizeiauto, das in einem zerstörten Begrenzungszaun feststeckte und von vier toten Polizisten umgeben war. Es war schwer zu sagen, ob sie direkt nach dem Aussteigen von den Snappern erwischt worden waren, oder ob sie in ihrer Verzweiflung noch versucht hatten, sich wieder in das Autowrack zu retten. Einen Moment lang fühlte sich Stina wie die letzte Überlebende einer grauenvollen Apokalypse, aber dann hörte sie Stimmen aus dem nahen Waldgebiet. Irgendwer musste noch am Leben sein, wenn auch vielleicht nicht mehr lange. Als sie hinter ihrem Rücken heisere Rufe hörte, drehte sie sich um und bemerkte, dass auch in der offenen Kabine an Xardas’ Turm noch lebendige Menschen saßen. Mit vollem Karacho sausten sie gerade nach unten und gaben dabei Schreie von sich, in denen kein Rest von Begeisterung mehr steckte. Stina wusste zwar, dass sie zum Schläfertempel in die genau andere Richtung gehen musste, aber ihre Neugier ließ ihr keine andere Wahl. Sie machte ein paar Schritte auf den Turm zu, bis sie einen Blick auf den Eingangsbereich der Attraktion werfen konnte. Die Kabine war gerade unten angekommen, und erst jetzt erkannte Stina, dass längst nicht alle Passagiere noch am Leben waren: Während vier oder fünf Leute ebenso panisch wie vergeblich versuchten, sich aus den Sicherheitsbügeln zu befreien, in denen sie an den Sitz gefesselt waren, fehlten den meisten anderen Insassen bereits ein paar Gliedmaßen. Verantwortlich dafür war ein Snapper mit blutiger Schnauze, der an der Ausstiegsstation offenbar schon auf die Kabine gewartet hatte, sich auf einen der hysterisch schreienden Männer stürzte und so lange auf ihm herumkaute, bis sich das Gefährt wieder rumpelnd nach oben bewegte. Mit einem beherzten Sprung konnte der Snapper noch ein Bein erwischen und vom Körper reißen, dann blieb er gemächlich kauend zurück, blickte seinen ehemaligen und zukünftigen Opfern auf ihrem Weg zur Turmspitze hinterher und wartete am Boden geduldig darauf, dass sie das nächste Mal bei ihm ankommen würden.
    Stina war von dem Anblick so gefesselt, dass sie im ersten Moment ganz vergaß, sich vor dem Snapper zu verstecken, der aber glücklicherweise keine Notiz von ihr zu nehmen schien. Erst als sie aus einer anderen Richtung ein röchelndes Stöhnen hörte, wurde ihr der Ernst der Lage wieder so richtig bewusst. Das Geräusch war vom Fuß des Vulkans gekommen. Ein Geländewagen war dort offenbar in den menschenleeren Wartebereich der Achterbahn gerast und als qualmendes Wrack zum Stehen gekommen, aus dem ein hustender Mann mit blutverschmiertem Gesicht hervorkroch. Stina erzitterte am ganzen Körper, als sie begriff, um wen es sich handelte. Ohne nachzudenken hastete sie über den Asphalt, umrannte eine tote Kleinfamilie und machte einen Hüpfer über eine Drachenjägerleiche, bis sie bei dem zerstörten Fahrzeug angekommen war. Sie hatte sich nicht getäuscht. Er war es wirklich: Mike Hoge persönlich.
    „Alles in Ordnung?“, haspelte sie, obwohl sie sofort sah, dass das offensichtlich nicht der Fall war. In Mikes Gesicht steckte ein ziemlich dickes Glasstück. „Ich bin Stina, wir haben uns vorhin glaube ich schon mal kurz im Hotel gesehen. Vielleicht erinnerst du dich noch? Äh, soll ich das vielleicht mal rausziehen?“
    „Was…?“, nuschelte Mike, während er sich schlaff und kraftlos auf dem Boden ausstreckte. Er schien völlig neben sich zu stehen.
    „Das Glasstück“, erklärte Stina. „Ich zieh es mal raus, okay? Ich glaub, das ist besser so.“
    Ohne eine Antwort abzuwarten, packte sie die Scherbe und riss sie aus Mikes blutiger Wange, die daraufhin gleich noch ein bisschen blutiger wurde. Ächzend packte sich Mike an die triefende Wunde, bevor er den Kopf hob und mit wirrem Blick das Autowrack anstarrte.
    „Björn…?“
    Stina schaltete schnell und warf einen Blick in das zerstörte Fahrzeug. Am Steuer saß eine völlig blutüberströmte und eindeutig tote Mitarbeiterin des Security-Dienstes, und der Beifahrerbereich war so hoffnungslos zerstört, dass sie beim besten Willen nicht sagen konnte, ob dort zwischen den verbogenen Metalltrümmern mal jemand gesessen hatte. Auf der Rückbank allerdings schien sich noch etwas zu regen. Sie kroch halb hinein, packte den großen Körper und zerrte ihn hinaus ans Tageslicht, bis er neben Mike auf dem Boden lag. Sein rechtes Bein war in einen dicken weißen Verband gepackt, während die Bandagen um seine rechte Hand bereits halb kaputt gerissen und mit Blut vollgesogen waren. Als der glatzköpfige Mann blinzelnd die Augen öffnete, verzerrte sich seine gequälte Miene zu einer Grimasse des Grauens.
    „Nein… nein… nicht du…“, krächzte Björn und versuchte vergeblich, sie von sich zu stoßen. „Das ist ein Albtraum… das ist ein beschissener Albtraum!“
    „Immer mit der Ruhe“, sagte Stina ein bisschen eingeschnappt und ließ von ihm ab. „Ich will ja nur helfen.“
    Sie schaute noch einmal durch die kaputte Tür auf den Rücksitz und erkannte ganz hinten die Überreste eines weiteren Mannes. Seine zerfetzten Klamotten sahen ein bisschen nach denen von Snaf aus, fand sie, aber das war auch der einzige Anhaltspunkt, den sie im Hinblick auf seine Identität hatte. Da war ganz eindeutig nichts mehr zu retten.
    „Könnt ihr laufen?“, fragte sie die beiden verletzten Männer. „Wir sollten nämlich besser so schnell wie möglich weg von hier. Wenn der Snapper da drüben auf uns aufmerksam wird… naja, könnt ihr euch ja denken. Das sollten wir besser vermeiden!“
    „Snapper?“, keuchte Mike und versuchte mit rasselndem Atem, wieder auf die Beine zu kommen. Stina half ihm dabei, so gut sie konnte.
    „Ja, diese Robotersnapper hier haben alle irgendwie eine Schraube locker. Ihr seht ja selber, was die angerichtet haben.“
    „Nicht nur die“, knurrte Björn und kämpfte sich ebenfalls in die Höhe, wobei er sich am zerbeulten Metall des Autowracks festhielt. Stina hielt das für keine gute Idee, weil einige Kanten ziemlich scharf auf sie wirkten, aber sie ahnte schon, dass er sich von ihr nicht würde helfen lassen wollen und hielt sich lieber zurück. Björn bückte sich durch das Türloch und zog zwei längliche Gegenstände von der Rückbank hervor. Es waren zwei Krücken aus Plastik, von denen eine in der Mitte zerbrochen war.
    „Na wenigstens eine von denen ist noch zu gebrauchen“, brummte er und versuchte, sich auf der verbliebenen Krücke aufzustützen. „Wird schon gehen.“
    „Okay“, sagte Stina. „Los, kommt mit!“
    Mit Mikes Hilfe schaffte es Björn, mit seiner heilen Krücke loszuhumpeln. Mike wirkte allerdings selbst so wackelig auf den Beinen, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis beide das Gleichgewicht verloren und über den Asphalt flogen. Stina legte den Arm um Mike, um ihn ein bisschen zu stützen, auch wenn sich das schnell als schwierig herausstellte, weil er ein ganzes Stück größer war als sie. Hinter ihnen rasten die Gefangenen des Freefall-Towers ein weiteres Mal nach unten, sehr zur Freude des dauerhungrigen Snappers. Der Appetit eines Roboters ohne Verdauungssystem war vermutlich niemals gestillt, dachte Stina.
    „Die Leute da…“ Mike war stehen geblieben und deutete in die Richtung des schwarzen Turms. „Können wir den armen Schweinen da nicht irgendwie raushelfen?“
    „Habt ihr was, womit wir den Snapper erledigen können?“, gab Stina zurück. „Ansonsten sehen wir lieber zu, dass wir nicht genauso enden wie die.“
    „Was ist mit den Polizisten da? Haben die keine Waffen dabei?“
    Stina fühlte sich ein bisschen dumm, dass sie daran noch gar nicht gedacht hatte. Als sie die toten Beamten erreichten, fielen ihr tatsächlich auf Anhieb zwei Pistolen ins Auge. Eine davon hatte ihr zerfleischter Besitzer noch in der Hand, die andere lag inmitten einer klebrigen Lache aus Blut und komischen Stückchen, deren Herkunft Stina nicht richtig zuordnen konnte. Vorsichtig hob sie die beiden Waffen auf, ohne eine echte Ahnung zu haben, was sie damit anfangen sollte.
    „Gib mal“, sagte Björn. Sie reichte ihm die Pistolen, und er öffnete nacheinander die Patronenkammern. „Nix mehr drin. Anscheinend haben die alles rausgeballert, was sie hatten.“
    „Die Mistviecher halten ganz schön was aus“, sagte Mike. „Glaub, du hast recht, Stina. Lasst uns gucken, dass wir hier wegkommen.“
    „Warte mal…“ Björn klemmte sich die Krücke kurz unter den Arm, um sich die blutige Hand an seinem schwarzen Elex-drei-Shirt abzuwischen. „Wir rufen die Polizei. Die holen uns hier raus.“
    „Achja?“ Stina deutete auf die zerfledderten Leichen der Männer in ihren stahlblauen Uniformen. „Auf die wollt ihr euch verlassen?“
    „Lieber die als du“, gab Björn grimmig zurück. „Wo willst du überhaupt hin?“
    „Da drüben, zum Schläfertempel“, sagte Stina und überging den unangebracht fiesen Kommentar.
    „Über die Brücke? Kommen wir da überhaupt wieder weg? Da sitzen wir doch in der Falle.“
    Unruhig hibbelte Stina von einem Fuß auf den anderen. Es machte sie langsam wahnsinnig, dass sie so langsam voran kamen, obwohl die Zeit mehr als drängte – und das hysterische Gelächter der überdrehten Harpyien konnte sie auch keine Sekunde länger mehr ertragen. Aber sie konnte Mike und Björn ja schlecht von ihrem Auftrag erzählen, den sie von Y’berion persönlich bekommen hatte. Nie im Leben würden die beiden ihr das abkaufen, Björn schon mal gar nicht – und als sie in einem Akt der Verzweiflung noch einmal das Handy herausholte und die App aufrief, da war vom obersten Guru der Bruderschaft natürlich nach wie vor keine Spur mehr zu sehen. Dafür kam ihr auf einmal eine andere Idee. Sie öffnete die Fotoverwaltung und suchte hastig das Bild heraus, das sie vor drei Jahren beim letzten Besuch ihres Vaters mit ihm zusammen gemacht hatte. Es war kein besonders schönes Foto, weil ihr Vater am Telefon parallel den größten europäischen Eiswarenkonzern aufgekauft hatte und nicht ganz bei der Sache wirkte, aber es kam ja nur darauf an, dass sie darauf beide gemeinsam zu sehen waren.
    „Ich bin die Tochter von Lars Wingefors“, eröffnete sie den beiden Männern und hielt ihnen den Handybildschirm hin. „Ich kenne den Park hier wie meine Westentasche, ich war sogar schon bei den allerersten Planungen dabei. Es gibt insgesamt vier Schutzräume für Notfälle in der Anlage, und einer von ihnen ist dort drüben, gleich hinter dem Schläfertempel. Jeder Schutzraum hat eine dicke Sicherheitstür, da kommt garantiert kein Roboter durch. Und es gibt genug Notrationen, dass wir zur Not auch ein paar Tage da drin verbringen könnten.“
    Der letzte Satz war vielleicht keine gute Idee gewesen, erkannte Stina noch während sie ihn sagte – da war ihre Fantasie ein bisschen zu sehr mit ihr durchgegangen. Sie konnte Björn deutlich anmerken, dass ihm die Vorstellung, tagelang mit ihr in einem Bunker eingesperrt zu sein, nicht so richtig behagte.
    „Wieso haben sie denn sowas hier gebaut?“, entgegnete Mike stirnrunzelnd. „Haben die schon mit so ‘nem Kram gerechnet oder was?“
    „Natürlich nicht, aber… wir wollten eben auf alles vorbereitet sein“, improvisierte Stina. „Dieser Schutzraum ist jetzt jedenfalls genau das was wir brauchen. Oder wollt ihr echt von einem dieser Biester erwischt werden?“
    „Mike, diese Frau ist völlig wahnsinnig“, sagte Björn zu seinem ehemaligen Piranha-Kollegen und schien sich überhaupt nicht darum zu kümmern, dass sie sehr gut mithören konnte. „Das ist ‘ne Bekloppte. Egal was die sagt, es ist gelogen. Der Wingefors ist Schwede, der hat doch keine Tochter in Essen!“
    „Ich bin halt nicht in Schweden aufgewachsen, sondern bei meiner Mutter, und die war eben Deutsche“, versuchte ihm Stina so ruhig wie möglich zu erklären.
    „Na klar. Und seine deutsche Tochter ist dann ausgerechnet ‘ne durchgeknallte Stalkerin, die seine Angestellten terrorisiert? Die Story hast du dir doch ausgedacht!“
    „Du hast vorhin selber gehört, dass ich von Lars Wingefors persönlich eingeladen wurde“, erinnerte Stina ihn zunehmend genervt. „Was muss ich denn noch tun, damit du mir glaubst? Tut mir leid, dass ich ein paar Mal zu oft bei euch im Büro vorbeigeschaut habe, aber vielleicht diskutieren wir das lieber später aus, wenn wir in Sicherheit sind!“
    „Da gibt es nichts zu diskutieren“, stellte Björn mit feindseligem Blick klar. „Du sollst dich verdammt nochmal aus unserem Leben raushalten.“
    „Ich versteh ja, dass du angefressen bist wegen der alten Geschichten“, versuchte sie es noch einmal so einfühlsam wie möglich. „Aber wenn wir hier nicht auf der Stelle verschwinden, dann… naja, dann bist du es bald nicht mehr nur auf die sprichwörtliche Art!“
    „Hömma, du hältst jetzt endlich die Schnauze!“, fuhr Björn sie wüst an. „Mike, lass uns einfach die Bullen rufen. Die Snapper können noch nicht alle von denen erwischt haben.“
    Egal wie gehässig Björn auch zu ihr war, Stina wollte ihn und Mike auf gar keinen Fall im Stich lassen. Wenn den beiden etwas zustoßen würde und sie es hätte verhindern können, dann würde sie sich das niemals verzeihen können. Aber mit ihren Worten schien sie nicht durchzudringen, und mit jeder Minute, die sie hier streitend verplemperten, starben in der World of Gothic wahrscheinlich weitere Menschen. Menschen, die sie vielleicht retten konnte, wenn sie nur rechtzeitig an den Stein des Wissens gelangte. Sie hatte keine Wahl, sie musste alles auf eine Karte setzen und die beiden Männer vor eine Entscheidung stellen.
    „Okay, macht was ihr wollt. Ich steh hier nicht länger auf dem Präsentierteller rum, wenn der Schutzraum nur ein paar Minuten weg ist. Kommt mit oder lasst es bleiben, aber ich geh jetzt los.“
    Widerwillig zwang sie sich dazu, auch tatsächlich loszugehen – sie musste ihnen ja klar machen, dass sie es ernst meinte. Als sie nach sechs oder sieben Metern immer noch keine Schritte hinter sich wahrnahm und schon kurz davor war, die Aktion abzubrechen, hörte sie es weit über ihrem Kopf plötzlich laut knirschen. Sie hob gerade rechtzeitig den Kopf, um mit anzusehen, wie sich eines der Harpyiengefährte angesichts der irrsinnigen Geschwindigkeit aus der Halterung löste und durch die Luft geschleudert wurde. Erschrocken machte sie einen Satz zurück, als das massive Metallobjekt ein paar Meter vor ihr krachend im Boden einschlug und dabei einen Krater in den Asphalt bohrte. Eine Frau wurde beim Aufprall von ihrem Sitz aus der Harpyie geschleudert und landete an einem Mülleimer, was einen kleinen Schwarm wütender Wespen aufscheuchte. Ihre Sitznachbarin hing mit völlig zerzausten blonden Haaren noch leblos im Anschnallgurt auf ihrem Sitz und rührte sich nicht. Stina war sich ziemlich sicher, dass beide tot waren, auch wenn sie nur mutmaßen konnte, was der Frau im Sitz genau zugestoßen war. Vielleicht hatte sie einen fatalen Stromstoß durch einen elektrischen Defekt erlitten.
    „Wir müssen hier weg“, hörte sie Mike hinter ihrem Rücken nuscheln, und ein paar Sekunden später hatten die beiden Männer zu ihr aufgeschlossen. „Bring uns zu diesem Schutzraum.“
    „Das ist echt ‘ne beschissene Idee“, stöhnte Björn, schien aber keinen ernsthaften Widerstand mehr zu leisten. Stina zögerte nicht länger damit, wieder den Arm um Mike zu legen, und arbeitete sich gemeinsam mit den beiden versehrten Gothic-Urgesteinen an dem zerstörten Harpyiengefährt vorbei, von dem noch ein bedrohliches Knistern ausging. Die steinerne Brücke war jetzt wieder in Sichtweite, und von gefährlichen Robotertieren war glücklicherweise keine Spur zu sehen. Der Orkwächter, der ihr vorhin noch den Eintritt verwehrt hatte, schien zumindest dem ersten Angriff der Snapper entkommen zu sein, denn eine Leiche im Orkkostüm wäre Stina bestimmt ins Auge gesprungen. Sie musste fast schmunzeln, als ihr bewusst wurde, dass der Wächter sie jetzt aber ohnehin problemlos durchgelassen hätte – inzwischen war sie ja in einer Dreiergruppe unterwegs. Vor weniger als zwei Stunden war das noch ihr größtes Problem gewesen, und jetzt spielten solche Regeln für niemanden hier mehr eine Rolle. Stina fühlte sich dadurch irgendwie bestätigt: Wenn Regeln im Ernstfall egal wurden, dann waren sie wahrscheinlich noch nie besonders sinnvoll gewesen.
    Als sie die Brücke erreicht hatten, bedeutete Mike ihnen plötzlich, stehen zu bleiben und legte den blutverschmierten Finger an die Lippen.
    „Hört ihr das?“, murmelte er mit gedämpfter Stimme. Stina hielt die Luft an und horchte so angestrengt, dass sie glaubte, Mikes Herzschlag hören zu können. Außerdem waren da merkwürdige Geräusche, mal rappelnd, mal schleifend, die von weiter unten zu kommen schienen. Sie wagte einen Schritt nach vorn, blickte hinab und erkannte die Quelle der Geräusche: Ganz unten am Boden der Schlucht lag bäuchlings ausgestreckt wie eine Jesusfigur der leblose Körper eines Mannes, an dessen Arm mit Schnüren ein gutes Dutzend schwebender Heliumballons in der Gestalt von Blutfliegen befestigt waren. Umringt war der bemitleidenswerte Ballonverkäufer von buckeligen Kreaturen auf zwei Beinen, aus deren großen Mäulern Zähne aus glänzendem Metall ragten. Während eine der Bestien an der Hose des Toten herumknabberte, bissen die anderen immer wieder lautstark auf einem losen Stück Metallgeländer herum, das neben der Leiche am erdigen Boden der Schlucht herumlag. Stina brauchte einen Moment, um zu begreifen, was die Biester da taten: Sie schärften ihre Zähne.
    „Beißer“, flüsterte sie Mike und Björn zu. „Ein ganzes Rudel von denen.“
    „Verdammter Dreck.“ Björns Finger verkrampften sich um den Griff seiner Krücke. „Was machen wir’n jetzt?“
    „Ich glaube, die haben uns noch nicht gesehen“, vermutete Stina. „Die sind beschäftigt. Wenn wir leise sind, kommen wir bestimmt ohne Probleme über die Brücke. Und wer weiß schon, ob die überhaupt den Hang hochklettern können, die haben ja nicht mal richtige Arme.“
    „Will ich gar nicht rauskriegen“, sagte Björn und ließ sich von Mike auf die Brücke helfen. Das klackernde Geräusch der Krücke auf dem Steinboden der Brücke machte Stina ein bisschen nervös, aber nachdem sie ein paar Meter zurückgelegt hatten, wurde sie wieder zuversichtlicher, dass die Beißer sie nicht bemerken würden. Sie kamen zwar quälend langsam voran, aber irgendwann waren sie endlich am Ende der Brücke angekommen – als plötzlich in ohrenbetäubender Lautstärke das Titelthema des zweiten Elex-Spiels erklang.
    „Scheiße!“, fluchte Björn und friemelte mit den zittrigen Fingern seiner linken Hand das Handy aus der Hosentasche. Gefühlte Ewigkeiten vergingen, bis er den Anruf endlich angenommen hatte.
    „Jenny?“, wisperte er. „Boah bin ich froh, dass du okay bist – aber – ja, ist… ist grad ungünstig…“
    Die lauten Geräusche vom Boden der Schlucht waren verstummt. Stattdessen hallte ein leises, aber umso bedrohlicheres Knurren von den steilen Hängen wider.
    „Weiter!“, drängte Stina ihre Begleiter. An großen stoßzahnförmigen Skulpturen und orkischen Statuen vorbei hinkten sie gemeinsam einen schmalen Pfad entlang, bis schließlich ein großes steinernes Gebäude sichtbar wurde, das nur in groben Zügen dem Schläfertempel aus dem Spiel ähnelte – und ein großes Schild am Eingang mit allerlei Warnhinweisen und Sicherheitsvorschriften hatte es dort natürlich auch nicht gegeben. Stina hatte aber keine Zeit, enttäuscht zu sein, denn das Knurren hinter ihnen war nicht etwa leiser geworden. Björn hatte zwar inzwischen aufgelegt, aber die Beißer hatte ihre Spur längst aufgenommen.
    „Vielleicht können sie doch den Hang hochklettern“, keuchte Stina, als sie vor dem Eingang des Tempels kurz verschnaufen mussten. Der schwere Rucksack ging ihr langsam auf die Nerven, aber sie brachte es nicht fertig, sich von ihm zu trennen. Er gehörte ja schließlich David, und vor allem wollte sie das Porträt nicht einfach irgendwo liegen lassen.
    „Da müssen wir rein?“, erkundigte sich Mike, dem der Schweiß in Strömen über das blutige Gesicht lief. Obwohl es langsam Abend wurde, war von einem Abklingen der Hitze noch nichts zu spüren.
    „Nee, nicht ganz. Es ist das Gebäude dahinter.“ Stina erinnerte sich noch gut an die Position, die Y’berion ihr auf der Parkkarte gezeigt hatte. Sie musste den Prospekt nicht herausholen, um den kleinen Pfad genau vor Augen zu haben, der an der rechten Seite des Schläfertempels zu dem rechteckigen Gebäude führte. Das Problem an der Sache war bloß, dass von diesem Pfad in der Realität nichts zu sehen war. Zu beiden Seiten des Tempels verlief die U-förmige Schlucht, und der einzige Weg voran führte durch das große Steintor in das Innere des Schläfertempels.
    „Was für ein Gebäude?“ Björn glotzte sie an wie ein aufgescheuchtes Nagetier. „Ich seh hier sonst keine Gebäude!“
    Das Knurren der Beißer war jetzt ganz nahe. Angestrengt hielt Stina Ausschau nach einem anderen Weg, aber da war keiner.
    „Wir müssen hier irgendwo…“
    „Ich dachte, du kennst das hier alles wie deine Westentasche!“, blaffte sie Björn an.
    „Wir müssen in den Tempel, bevor uns die Viecher erwischen!“, entschied Mike und humpelte mit Björn schon los, während Stina noch verwirrt auf dem Vorplatz verharrte. Die beiden Männer hatten das Steintor noch nicht ganz erreicht, als unter lautem Zischen der riesige, stachelige Scherenarm eines Tempel-Minecrawlers daraus hervorschoss. Mike und Björn stolperten so überhastet zurück, dass Björn mit seiner Krücke beinahe umgekippt wäre.
    „Scheiße, scheiße, scheiße!“, brüllte Björn, als die beiden zu ihr zurück eilten, während der gewaltige Crawler mit Scheren und Kieferzangen versuchte, sich durch das kleinere Tor einen Weg aus dem Schläfertempel zu bahnen. „Wir sitzen in der Falle! Ich hab gleich gesagt, dass es eine Grottenidee ist, auf die Bekloppte zu hören!“
    In ihrer Verzweiflung holte Stina doch noch die Karte heraus und hielt sie Mike und Björn unter die Nase. „Hier, es muss hier irgendwo…“
    „Was soll da sein? Da ist überhaupt nichts!
    „Aber…“
    Zu ihrem Entsetzen begriff Stina, dass weder das rechteckige Gebäude noch der Weg, den sie im Kopf gehabt hatte, auf der Karte zu sehen waren. Da war nur die Attraktion Flucht aus dem Schläfertempel eingezeichnet, umgeben von einer kreisrunden Schlucht, über die nur eine einzige Brücke führte – die Brücke, über die sie hierher gekommen waren. Y’berion musste das Zielgebäude und den Weg dorthin auf dem Handybildschirm für sie zur Karte hinzugefügt haben, sie hatte sich das doch nicht eingebildet. Er musste sich irgendetwas dabei gedacht haben, aber was? Der Guru würde sie ja schließlich nicht absichtlich in die Irre leiten wollen… oder etwa doch?
    Verzweifelt raufte sich Stina die Haare. Björn hatte recht. Sie hatte sie alle in eine Falle geführt, aus der es kein Entkommen mehr gab.
    „Es tut mir leid, ich… ich dachte wirklich…“
    „Scheiße, da sind sie!“
    Schnaubend und kläffend rannte der erste Beißer den schmalen Pfad entlang und hielt genau auf den hilflosen Mike zu. Es ging alles so schnell, dass sie kaum begriffen hatte, was geschah, als sie schon eine Entscheidung getroffen hatte. Da war nur noch ein einziger Gedanke in ihrem Kopf: Sie durfte nicht zulassen, dass Mike Hoge wegen ihrer eigenen Dummheit sterben musste. Das buckelige Tier riss sein riesiges Maul auf, sprang auf Mike zu – und Stina warf sich kurzerhand dazwischen.
    Unter lautem Ratschen gab der Gurt des Rucksacks nach, als sie gemeinsam mit Mike zu Boden gerissen wurde. Sie spürte scharfe Krallen an ihrer Hüfte und roch den Benzinatem des Beißers, der seine Kiefer im rasenden Wahn immer wieder auf- und zuschnappen ließ. Stina brauchte einen Moment, bevor sie begriff, warum er nicht längst ihr Gesicht zerfleischt hatte: Im ölig geifernden Gebiss des Roboters steckte Björns Plastikkrücke, die er dem Biest gerade noch rechtzeitig ins Maul gestopft hatte.
    Stöhnend versuchte sich Stina vergeblich von dem erdrückenden Gewicht des Monsters zu befreien, während das brüchige Material der Krücke dicht vor ihren Augen unter seinen zornigen Bissen bedrohlich knackte. Panisch sah sie sich nach irgendetwas um, das ihr helfen konnte, aber natürlich war da nichts. Alles was sie sah, war der Inhalt ihrer von den Beißerklauen zerfetzten Gürteltasche: Die Bestandteile ihres Allergie-Notfallsets lagen kreuz und quer auf dem Boden verteilt. Stina sah, dass die Adrenalinspritze in der Mitte durchgebrochen war und die ausgetretene Flüssigkeit in der durchsichtigen Plastikhülle herumsuppte. Und dann fiel ihr doch noch etwas ins Auge – etwas, das sie nicht verlieren wollte, egal was geschah. Während über ihr der Beißer wütete, streckte Stina die Hand aus, aber es war keines der Medikamente, nach dem sie griff. Zwischen der Kortisoncreme und der Tablettenpackung mit dem Antihistaminikum lag ein kleines Stück Metall.
    Stina suchte mit den Fingern danach, bis sie es gefunden hatte, und schloss die Faust darum.

    „Stina? Kommst du mal eben?“
    Sie hatte gerade das Fell des Trolls auf der neuesten Seite ihres Comics fertig ausgemalt und war eigentlich ganz froh über die Unterbrechung. Als nächstes musste sie nämlich die Texte in die Sprechblasen schreiben, und das mochte sie immer am wenigsten. Nicht weil sie sich nicht gerne Texte für Gorn und Wolf ausdachte – ihr fielen ständig neue coole Sprüche ein, die sie den beiden Söldnern auf ihrer Trolljagd in den Mund legen konnte. Nur das Aufschreiben an sich mochte sie nicht so. Sie hatte einfach eine ganz schlimme Sauklaue, das sagte jeder. Im Zeichnen war sie inzwischen ganz gut geworden, aber mit ihrem Herumgekrakel in den Sprechblasen hatte sie noch jede Comicseite versaut. Vielleicht hätte sie jemand anderen darum bitten sollen, aber dann wäre es ja nicht mehr ihr eigener Comic gewesen. Nicht mehr so richtig jedenfalls.
    „Ja, ich komme.“ Sie legte den Stift auf den Schreibtisch, stand auf und ging aus ihrem Zimmer in die Küche. Ihre Mutter wartete bereits am Esstisch auf sie, und Stina wusste vom ersten Moment an, dass sie doch lieber die Sprechblasen ausgefüllt hätte. Die ganze Woche über war ihre Mutter schon irgendwie komisch gewesen, und so traurig wie sie gerade guckte, war es heute besonders schlimm.
    „Setz dich mal bitte“, sagte sie, und Stina nahm ihr gegenüber am Tisch Platz. Neben Stinas halb gefülltem Wasserglas lagen noch die drei Tabletten für den Abend. Sie wollte sie so spät wie möglich nehmen, damit ihre Kopfschmerzen nicht jetzt schon so schlimm wurden, dass sie nicht mehr weiter zeichnen konnte. Darum schien es ihrer Mutter aber gar nicht zu gehen.
    „Stina, ich weiß nicht wie ich es dir sagen soll.“ Sie nahm ihre Hand und drückte sie so fest, dass es ein bisschen weh tat. „Du weißt, ich möchte immer für dich da sein. Am liebsten dein ganzes Leben lang. Das weißt du doch, oder?“
    Stina nickte beklommen.
    „Ich glaube… das wird bald nicht mehr möglich sein.“ Ihre Stimme klang ganz zittrig. Stina hatte sie noch nie weinen gesehen, aber jetzt schien ihre Mutter kurz davor zu sein. Sie war schon seit Tagen ganz bleich im Gesicht, mit dunklen Flecken unter den Augen.
    „Was ist denn los?“, fragte Stina leise. Sie wollte einfach nur zurück in ihr Zimmer.
    „Es kann sein, dass ich bald… dass ich bald weg bin, Stina.“ Ihre Mutter rieb ihre Hand und gab ihr einen Kuss auf den Handrücken. Dann tat sie etwas, womit Stina am allerwenigsten gerechnet hatte: Sie griff um ihren Hals und löste den Verschluss des schwarzen Bandes an ihrem Nacken.
    „Aber ich möchte, dass du etwas weißt.“
    Ihre Mutter zog den silbrigen Anhänger vom Band, stand auf und ging damit zur Arbeitsplatte der Küche. Erst als sie ein Schneidebrett vom Haken nahm und zum Küchenmesser griff, wurde Stina voll und ganz bewusst, was sie vorhatte. Wie festgefroren vor Angst beobachtete sie, wie die scharfe Klinge des Messers das weiche Metall ihres geliebten Anhängers in zwei fast gleich große Hälften teilte.
    Ihre Mutter legte das Messer polternd auf dem Schneidebrett ab, kehrte zu ihr zurück und drückte ihr die rechte Hälfte in die Hand. Die linke Hälfte umfasste sie mit ihrer eigenen Hand und hielt sie sich an die Brust.
    „Egal wie es dir auch ergeht, Stina… ganz gleich wie allein du dich fühlst: Irgendwann, an irgendeinem Ort werden wir wieder vereint sein. Daran musst du immer glauben, versprichst du mir das? Irgendwann wird die Maske wieder vollkommen sein.“
    Mit Tränen in den Augen starrte Stina auf das halbe Schläferamulett in ihrer Hand.
    „Was geteilt, wird wieder vereint.“


    „Stirb, Mistvieh!“
    Kleine Stückchen aus bedrucktem Papier landeten auf Stinas Gesicht, als Mike das Gothic-Porträt mit Schwung in die hässliche Visage des Beißers beförderte. Die unter dem Gewicht des Monsters ächzende Stina war von diesem Anblick so verwirrt, dass sie im ersten Moment gar nicht traurig darüber sein konnte, dass das schöne Porträt jetzt völlig zerfetzt um den dicken Hals des Beißers hing. Das bräunliche Buckeltier schien davon wenig beeindruckt zu sein. Es schüttelte sich schnaubend und knackte mit einem kräftigen Biss die Plastikkrücke, deren Reste neben Stina zu Boden fielen. Wütend sprang es Mike an, der aber schon einen eingeklappten Regenschirm als neue Waffe in den Händen hielt und dem Monster damit so kräftig ins Gebiss schlug, dass ein paar kleine Metallzähnchen durch die Luft flogen. Endlich konnte sich Stina wieder bewegen und erkannte, dass Davids Rucksack halb zerrissen hinter ihr auf dem Boden lag – daraus musste sich Mike bedient haben. Wütend bohrte das Maschinenbiest seine verbliebenen Zähne in den Stoff des Regenschirms, der sich auf einmal entfaltete und Stina fast im Gesicht erwischt hätte.
    „Stirb!“, brüllte Mike erneut, aber es war abzusehen, dass der Roboter auf solche Befehle nicht reagierte. Schon hatte er den Schirm zerrissen und das stählerne Gerippe hinter dem schwarzen Stoff freigelegt. Verzweifelt versuchte sich Mike damit zu verteidigen, während Björn mit einem kläglichen Rest der Krücke auf das stabile Metallgehäuse des Beißers einschlug.
    Dann kam der Rest des Rudels.
    Drei, vier Beißer rannten den Pfad entlang, zwei weitere kletterten hinter ihnen mit geschickten Hüpfern die Schlucht hoch. Das Kläffen schien aus allen Richtungen zu kommen. Sie waren endgültig eingekesselt.
    Stina öffnete die Hand und blickte auf das halbe Schläferamulett. Im Licht der Abendsonne glänzte es wie neu, wie frisch aus der Collector’s Edition geholt. Plötzlich hatte sie den Vormittag des dreizehnten Oktober ganz deutlich vor Augen, als ihre Mutter und sie die allerersten im Geschäft gewesen waren und noch im Auto gemeinsam die Packung geöffnet hatten. Stina hatte den durchsichtigen Plastiksticker durchschneiden dürfen und mit dem Handy ihrer Mutter ein Foto gemacht, als die das Amulett zum ersten Mal angezogen hatte. Gleich danach hatte sie es sich selbst um den Hals legen dürfen, ihre Mutter hatte ihr das schwarze Band extra enger geknotet. Sie wusste noch genau, wie stolz sie gewesen war. Sie hatte sich gefühlt wie eine echte Gothic-Figur. Und jetzt würde sie sterben wie eine echte Gothic-Figur.
    Donnernde Schüsse rissen Stina aus ihren Gedanken. Ein schwarz gekleideter Mann rannte über den Pfad in ihre Richtung und feuerte dabei immer wieder auf die Beißer. Funken sprühten und kleine Metallteile fielen zu Boden, als die getroffenen Roboter orientierungslos umher torkelten. Erst als der Mann fast bei ihnen angekommen sah, bemerkte Stina die Aufschrift Security auf seiner dunklen Weste.
    „Aufstehen!“, brüllte er sie an und packte den Beißer am Schwanz, der gerade nach Björns Schulter schnappen wollte. Er zog das zappelnde Monster von Björn weg, legte dem Beißer seinen großen Revolver an den Hinterkopf und drückte ab. In einer kleinen Explosion aus Kabeln und verkohltem Metall platzte der Kopf auseinander, und der Roboterkörper fiel hilflos zuckend in sich zusammen. Stina steckte die Amuletthälfte in die Hosentasche und bemühte sich, der Aufforderung nachzukommen, während sich auch Björn und Mike neben ihr ächzend aufrappelten.
    „Mitkommen, ich bringe Sie hier raus!“
    Der Mann vom Security-Dienst wollte sie offenbar wieder in Richtung Brücke scheuchen, doch von dort kamen ihnen bereits weitere Beißer entgegengelaufen. Er gab ein paar Schüsse auf sie ab, bevor sein Magazin leer war und er hastig nachladen musste. Von beiden Seiten kamen derweil weitere Beißer den Abhang hinaufgesprungen, und auch vom Tempeleingang her zischte es bedrohlich, als der Crawler mit den Zangen ein paar große Steine aus dem Torrahmen löste und sich daran machte, seinen voluminösen Körper durch die vergrößerte Lücke zu quetschen.
    „Wir sitzen hier fest“, keuchte Björn, dem wohl genau wie Stina klar war, dass ein einzelner Revolver nie und nimmer ausreichen würde, um sie gegen diese Horden zu verteidigen.
    Der Sicherheitsmann sah sich hektisch in alle Richtungen um, dann schien er eine Entscheidung zu treffen.
    „Hierher!“ Er rannte genau auf den Schläfertempel zu – aber nicht etwa zum Eingang, wo der Riesencrawler tobte, sondern zur Tempelwand rechts davon. Die Wand reichte bis zur Schlucht und war eine eindeutige Sackgasse, aber in ihrer Hilflosigkeit fiel Stina nichts Besseres ein, als dem Unbekannten hinterherzulaufen. Der vorderste Beißer hatte sie fast eingeholt, als sich der Security-Mann hastig umdrehte und ihn mit zwei gezielten Revolverschüssen erledigte. Mit der anderen Hand hatte er einen kleinen Gegenstand aus der Hosentasche gezogen, ein rundes Plastikding mit einem Knopf in der Mitte. Als er ihn drückte, glitt rumpelnd ein Teil der Steinwand zur Seite und gab den Weg in einen kleinen Tunnel frei, der ein paar Meter weiter auf der anderen Seite des Tempels wieder im Freien endete. Stina konnte nicht anders, als vor Begeisterung und Erleichterung zu grinsen: Das war er, der Weg auf Y’berions Karte!
    „Pass auf, der Crawler!“, rief Mike seinem humpelnden Ex-Kollegen zu, der sich hinter ihnen als Letzter zur Öffnung in der Wand schleppte – dicht gefolgt von dem erschreckend flinken Tempelminecrawler, der sich mittlerweile erfolgreich aus seinem Steingefängnis befreit hatte. Heftig atmend trafen Stina und Mike bei dem Sicherheitsmann ein und drängten sich hinter ihm in dem Tunnel, während ihr Beschützer ein paar Schüsse auf den Minecrawler abfeuerte. Der schien davon aber gar keine Notiz zu nehmen und blieb dem humpelnden Björn beharrlich auf den Fersen, dem vom Abhang der Schlucht zur gleichen Zeit eine Horde Beißer entgegen jagte.
    „Beeil dich!“, rief sie ihm besorgt entgegen, als es vor ihr auf einmal schon wieder zu rumpeln begann. Entsetzt begriff sie, dass der Mann neben ihr erneut den Knopf gedrückt hatte – der Durchgang schloss sich wieder, und Björn war noch ein paar Meter von ihnen entfernt.
    „Wir müssen auf ihn warten!“, flehte sie ihn an, aber der Blick des Mannes blieb unbewegt.
    „Tut mir leid. Ich habe den Auftrag, Sie zu beschützen und niemanden sonst.“
    „Mich?“, entfuhr es Stina. „Na gut, dann beschützen Sie mich!“
    Kurz entschlossen sprang sie in die sich schließende Lücke in der Steinwand. Der Sicherheitsmann konnte gerade noch rechtzeitig auf den Knopf drücken, um zu verhindern, dass sie bei lebendigem Leibe zerquetscht wurde.
    „Sind Sie völlig wahnsinnig?“ Er packte sie am Arm und zerrte sie wieder in den Tunnel, als sie hinter ihrem Rücken Björn hecheln hörte. Unter aggressivem Kläffen drängten sich hinter ihm drei Beißer durch das rechteckige Loch in der Wand. Der Sicherheitsmann hob die Waffe und feuerte fluchend ein paar Schüsse ab, während sich die Geheimtür viel zu langsam wieder schloss. Einer der Beißer schaffte es bis zu Mike und verbiss sich in seinem Bein, bevor er von drei Schüssen aus dem Revolver getroffen wurde und spratzelnd in seine Einzelteile zerfiel.
    Als sich die Lücke endlich vollständig geschlossen hatte, lehnte sich Stina an die Tunnelwand und atmete erleichtert aus. Draußen hämmerte zwar noch der Tempelcrawler mit seinen Zangen an der Wand herum, aber es sah nicht danach aus, als ob er dort so schnell etwas ausrichten konnte.
    „Sie haben uns alle in Gefahr gebracht.“
    Sie zuckte zusammen, als sie der fremde Mann am Kragen ihres Gothic-Shirts packte. Er musste ungefähr in ihrem Alter sein, hatte einen militärischen Kurzhaarschnitt und ein glatt rasiertes Gesicht mit einer irgendwie unpassend niedlichen Knubbelnase. Stina konnte ihn sich gut als Gothic-Charakter vorstellen, und das machte ihn ihr irgendwie sympathisch, auch wenn dieser Eindruck gerade wohl eher nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.
    „Ich habe vor allem Björn gerettet“, verteidigte sich Stina. „Und wir sind doch alle noch am Leben, oder?“
    „Jo“, sagte Mike und hielt sich mit schmerzverzerrter Miene das linke Bein. Im Stoff der aufgerissenen Jeanshose hatte sich schon ein Blutfleck gebildet. „So einigermaßen.“
    „Na also, so schlimm kann’s nicht gewesen sein.“
    „Ab sofort befolgen Sie meine Befehle, verstanden?“, verlangte der schwarz gekleidete Mann und ließ ihr T-Shirt endlich wieder los. „Sie sind Stina Arends, korrekt? Können Sie mir Ihren Ausweis zeigen?“
    Stina war fast überrascht darüber, dass sich Ihr Portemonnaie nach dem verlustreichen Kampf gegen die Beißer tatsächlich noch in ihrer Hosentasche befand. Sie holte ihren Personalausweis heraus und hielt ihn dem Mann unter die Nase.
    „Frank Dolger“, stellte er sich ihr vor. „Ich bin ab sofort für Ihre Sicherheit zuständig. Mister Wingefors will, dass Sie so schnell wie möglich den Park verlassen.“
    „O… okay.“
    Sie musste dem Stein des Wissens jetzt ganz nah sein – den Park verlassen war das Allerletzte, was sie gerade wollte.
    „Aber… wir können doch jetzt nicht hier weg, solange wir von den ganzen Monstern umzingelt sind, oder?“, fragte sie und bemühte sich, dabei nicht zu hoffnungsvoll zu klingen.
    „Leider haben Sie recht“, entgegnete Frank. „Ich bringe Sie ins Rechenzentrum. Dort sollten wir sicher sein, bis Verstärkung eingetroffen ist.“
    „Ins Rechenzentrum?“, wiederholte Stina. „Das ist das Gebäude hinter dem Schläfertempel?“
    Frank nickte. „Besucher sind dort eigentlich nicht gestattet, aber das ist eine Ausnahmesituation. Ihre Sicherheit hat höchste Priorität.“
    „Und was ist mit unserer Sicherheit?“, schnaufte Björn, dem der Schock seiner haarscharfen Rettung vor den Gothic-Bestien noch ins blutleere Gesicht geschrieben stand. „Die geht dem Wingefors am Arsch vorbei oder was? Hauptsache seiner Tochter geht’s gut, wen scheren da schon die Angestellten!“
    Frank runzelte die Stirn. „Sie sind die Tochter von Mister Wingefors? Das erklärt natürlich, wieso er so um Sie besorgt ist.“
    „Ja, er… er erzählt nicht immer gleich jedem davon“, sagte Stina und wich seinem Blick aus. „Er schätzt eben unsere Privatsphäre.“
    „Sie beide können jedenfalls mitkommen“, sagte Frank an Björn und Mike gerichtet. „Das lässt sich jetzt ja nicht mehr vermeiden. Tun Sie einfach was ich Ihnen sage, verhalten Sie sich ruhig, und ich bringe Sie alle lebend hier raus.“
    „Sowas in der Art haben wir heute schon mal gehört“, brummte Björn. „Von Ihrer Kollegin. Ihrer toten Kollegin.“
    „Glauben Sie mir, ich halte meine Versprechen.“ Frank lud ein weiteres Magazin in seinen Revolver, sicherte ihn und steckte ihn in die Halterung an seinem Gürtel. „Kommen Sie mit.“

    Aus für Altenkamp? – Seit Bundeskanzler Merz einen für den Dienstagnachmittag geplanten gemeinsamen Wahlkampfauftritt abgesagt hat, gilt der Essener Oberbürgermeister als angezählt. Aus dem Kanzleramt heißt es zwar, dass die Absage allein auf Terminschwierigkeiten im angespannten Bundestagswahlkampf zurückzuführen sei, Beobachter nehmen darin jedoch eine eindeutige Distanzierung des Kanzlers von seinem in die Kritik geratenen Parteigenossen wahr. In der Partei gelte vielen ein Rücktritt nur noch als Formsache, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Altenkamp selbst will von solchen Gerüchten aber nichts wissen. Auf Anfrage teilte er mit, an seinem Amt mindestens solange festhalten zu wollen, bis die von ihm eingesetzte unabhängige Untersuchungskommission –
    „Da! Da war doch was!“
    David blickte von der Zeitung hoch und lauschte. „Ich hör nichts.“
    „Ich hab ganz sicher was gehört“, beharrte Nadine und drückte die schlafende Kleo auf ihrem Schoß noch ein bisschen enger an sich. „Da ist wieder einer von den Crawlern vor der Tür.“
    Tatsächlich hörten sie immer mal wieder das Getrappel der Insektenbeine, meist aber aus der Etage über ihnen, zu der offenbar die Leiter und die verschlossene Luke führten. Was auch immer sich da über ihren Köpfen befand, es war eindeutig Crawlerterritorium – aber das galt vermutlich längst für das gesamte künstliche Bergwerk. David hatte versucht, die unheimlichen Geräusche so gut es ging auszublenden, aber seine Versuche, sich mit den Nachrichten in der Tagesausgabe der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung abzulenken, waren von keinem großen Erfolg gekrönt gewesen.
    „Die kommen hier schon nicht rein“, versuchte David seine Freundin zu beruhigen. „Guck mal, wie dick die Tür ist.“
    „Tut sich denn immer noch nichts?“, erkundigte sich Nadine bei Specki, der am Schreibtisch vor den Monitoren saß und sich mit immer müderem Blick durch die Überwachungskameras klickte.
    „Sieht leider nicht so aus.“ Er wechselte wieder zum Eingangsbereich, wo die Polizisten sich noch immer hinter ihren Barrikaden verschanzt hatten. David fiel auf, dass es weniger geworden waren – es schien ganz so, als wäre ein Teil der Polizeibeamten wieder abgezogen. Er beschloss, seine Beobachtung lieber für sich zu behalten, auch wenn er das kaum als einziger bemerkt haben konnte. Die Stimmung war auch so schon mies genug.
    „Noch jemand einen Keks?“
    Specki hielt ihnen die halb leere Packung hin, aber David und Nadine schüttelten nur matt mit dem Kopf. Sie hatten beide keine große Lust auf übersüßte Kekse, wenn es nichts außer Cola zu trinken gab. Als sich Specki wieder zum Bildschirm umdrehte, merkte er plötzlich auf.
    „Hey, da scheint jetzt doch irgendwas zu passieren.“
    David legte die Zeitung auf den Tisch und stand vom Stuhl auf, um sich über Speckis Schulter zu beugen. Die Polizisten bewegten sich mit gezogenen Pistolen von der Barrikade weg, riefen sich gegenseitig etwas zu und wirkten dabei ziemlich aufgeregt. Auf einmal wurden Schüsse abgegeben, die Blicke der Polizeibeamten gerieten panisch – und ein riesiger haariger Körper sprang ins Bild. Mit ein paar erschreckend schnellen Prankenhieben schleuderte die Bestie zwei Polizisten an die Wand und biss dem dritten in den Arm, bevor es einen vierten mit dem großen, spitzen Horn aufspießte, das aus seiner Stirn wuchs. Sprachlos sahen David, Nadine und Specki mit an, wie das gewaltige Biest innerhalb weniger Sekunden die komplette Polizeitruppe dezimierte. Als es den Bildausschnitt wieder verließ, blieb nur ein Haufen uniformierter Leichen zurück.
    „Es sind nicht nur die Crawler“, durchbrach Nadine als erste die fassungslose Stille im Kontrollraum. „Das… das geht im ganzen Park so… oder?“
    „Deswegen kommt uns keiner zu Hilfe“, sprach Specki aus, was sie wohl alle drei dachten. „Die sind mit sich selbst beschäftigt.“
    In Davids Kopf begann sich alles zu drehen. Für ein paar dunkle Augenblicke schien jede Hoffnung auf Rettung verloren, aber er besann sich zur Ruhe.
    „Wahrscheinlich sind wir hier noch am besten dran. Hier sind wir wenigstens sicher. Und irgendwann werden sie schon mit schwereren Geschützen anrücken. Das sind nur Roboter… die werden hier ja wohl nicht tagelang Amok laufen. Irgendwann müssen denen die Batterien ausgehen. Und zur Not holen sie eben die Bundeswehr, irgendwer bringt uns hier schon raus. Selbst wenn es noch bis morgen dauert, solange halten wir ja wohl durch.“
    „Hoffentlich hast du recht“, seufzte Specki, als sie auf einmal von einem lauten Bollern aufgeschreckt wurden. Es war direkt von der Tür gekommen.
    „Ich hab doch gesagt, da sind wieder welche von denen im Tunnel“, stöhnte Nadine auf. Wieder donnerte es von außen lautstark gegen die Tür. Müde blinzelnd öffnete Kleo die Augen.
    „Sagt mal… ist das da eine Beule?“ Specki stand vom Stuhl auf und begutachtete besorgt die Tür.
    „Hör auf“, murmelte David. „Die kommen da nicht durch. Das ist massiver Stahl oder sowas.“
    Beim nächsten Donnern war es aber nicht mehr länger zu leugnen: Mit jedem Schlag bog sich die Tür ein Stückchen mehr in ihre Richtung.
    „Wir müssen hier weg“, sagte Specki und machte einen Schritt von der strapazierten Tür weg, die kurz darauf erneut in ihren eisernen Angeln erbebte.
    „Weg? Wohin denn weg?“
    Specki schnappte sich seine Baskenmütze und setzte sie sich geschwind auf den Kopf, während er schon auf dem Weg zur Leiter war.
    „W… was?“, stammelte David. „Warte mal, Specki! Du hast doch gesehen, was da draußen los ist – und da oben krabbeln ständig die Crawler rum!“
    „Das tun sie hier auch in ein paar Sekunden.“ Specki war schon nach oben geklettert und fummelte mit gefletschten Zähnen am Verschluss der Luke herum.
    „Mama, was ist los?“, fragte Kleo und rieb sich die Augen, als sich krachend ein baumstammdicker Crawlerarm durch die Tür bohrte und wild mit der Schere klackerte. David erkannte ihn sofort wieder: Es war der große Crawler mit den stacheligen Gliedmaßen, den er schon von der Lore aus am Boden der Achterbahnhöhle gesehen hatte, als er Kleos Plüschdino auseinander gerissen hatte. Offenbar hatte das seinen Jagdtrieb noch lange nicht gestillt.
    „Schnell, alle Mann hier hoch!“ Specki hatte die Luke geöffnet und hievte sich nach oben durch das runde Loch.
    „Schaffst du das, da hochzuklettern?“ Nadine stand auf und setzte ihre Tochter vor der Leiter ab. Seit sie mit drei Jahren mal von der Baumhausleiter im Garten eines befreundeten Pärchens gestürzt war, hasste Kleo alle Leitern wie die Pest und machte auf Spielplätzen immer einen großen Bogen um sie. David befürchtete deshalb schon, dass sie sich weigern würde, auch nur einen Fuß auf die unterste Sprosse zu setzen, aber zum Glück hatte Kleo den Ernst der Lage begriffen und kämpfte sich tapfer nach oben. Trotzdem dauerte es gefühlte Ewigkeiten, bis Specki endlich ihre Hand gepackt hatte und sie nach oben durch die Öffnung zog. Der Riesencrawler drückte jetzt immer wieder sein gesamtes Gewicht gegen die Tür, während er mit der Schere wütend um sich schlug. Nadine hatte sich gerade an den Aufstieg gemacht, da gab die Tür endgültig nach. Unter aggressivem Zischen stürmte der Minecrawler in den Raum und schleifte die verbogene Metalltür am Bein mit sich, die kreischend wie ein Stück Kreide über den Boden schleifte.
    „Beeil dich!“, brüllte David und erklomm hinter Nadine die Leiter. Panisch schob er seine Freundin von unten an, das Klicken der Crawlerzangen im Ohr. Endlich war Nadine durch das Loch geklettert und er konnte die letzten paar Sprossen nehmen. Mit einem großen Satz bewältigte er drei Sprossen auf einmal, bekam die Kante der Lukenöffnung zu packen und zog sich nach oben – als ihn ein bohrender Schmerz im Bein aufschreien ließ.
    Der Crawler hatte ihn mit der Schere gepackt und zerrte ihn mit aller Gewalt nach unten. Seine Stirn prallte schmerzhaft an die Leiterstange, dann landete er mit dem Hinterkopf auf dem Boden und verlor für den Bruchteil einer Sekunde das Bewusstsein. Sein Arm lag inmitten der Trümmer des Holztischs, auf dem Boden lagen zerfetzt die Zeitungsseiten verstreut. Ganz klein tauchte über ihm Nadines Gesicht jenseits der runden Lukenöffnung auf, bevor es vom riesigen bleichen Körper des Roboterinsekts verdeckt wurde. Schrill kreischend sperrte der Crawler die Kieferzangen auf und baute sich über ihm zu seiner vollen Größe auf. David starrte hilflos in den schmalen Rachen der Bestie, an dessen metallisch schimmernden Wänden blaue und braune Kabelstränge verliefen – dann zuckte der Kopf des Crawlers vor und ließ die Zangen zuschnappen.

    „Das ist also dieser Schutzraum, ja?“ Björn stopfte sich eine Hand voll Studentenfutter in den Mund und warf ihr über den Tisch hinweg einen grimmigen Blick zu.
    „Was denn? Wir sind hier sicherer als da draußen, oder etwa nicht?“
    Frank hatte sie in einem kleinen, fensterlosen Pausenraum untergebracht. Der Tisch war vollgestellt mit benutzten Tellern und halb gefüllten Tassen, und der Wasserkocher auf der Abstellplatte gab seit ein paar Minuten ein halbherziges Pfeifen von sich, um das sich niemand zu scheren schien. Als sie auf dem Weg hierhin kurz durch das von Panik erfasste Großraumbüro gekommen waren, da hatte Stina schon einen Eindruck davon bekommen, wieso an Pause gerade nicht zu denken war. Wenn dies das Rechenzentrum der World of Gothic war, dann mussten diese Leute wohl auch dafür verantwortlich sein, die marodierenden Roboter zu stoppen. Vielleicht suchten diese Menschen aber alle nach einem Softwarefehler, den es überhaupt nicht gab – sie hatten ja keine Ahnung von dem Auftrag, den Y’berion ihr gegeben hatte, von der Rolle, die sie bei ihrer aller Rettung zu spielen hatte. Niemand hier wusste, dass die einzige Person, die der Katastrophe ein Ende bereiten konnte, gerade im Pausenraum eingesperrt wurde und zu einer fatalen Untätigkeit verdammt war. Frank lehnte die ganze Zeit im Türrahmen, und obwohl er ab und zu auf sein Handy guckte, hatte er sie die meiste Zeit über genau im Blick.
    „Du hattest keine Ahnung, was das hier ist“, knurrte Björn. „Du hast uns in diese Scheißfalle reingeführt, und dass wir noch am Leben sind, haben wir ganz bestimmt nicht dir zu verdanken. Das war reines Glück!“
    „Jetzt lasse doch mal. Sie hat dir eben am Tempel das Leben gerettet.“ Mike drückte sich das große Pflaster, das er von Frank bekommen hatte, zum wahrscheinlich hundertsten Mal im Gesicht fest und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Er hatte sich eben eine Packung aus dem Vorrat des Pausenraums genommen und qualmte jetzt alles voll. Stina war davon nicht so begeistert, weil sie von Tabakrauch tränende Augen bekam, aber solche kleinen, unangepassten Eigenarten machten Mike im Grunde genommen natürlich nur noch liebenswerter – das hatte er mit dem namenlosen Helden gemeinsam.
    „Wenn wir einfach die Polizei gerufen hätten und uns nicht auf ihr Gesabbel eingelassen hätten, dann wär das gar nicht nötig gewesen“, murrte Björn. „Das ist doch der Punkt.“
    Stina hatte den Eindruck, dass es ihm überhaupt nicht in den Kram passte, ihr sein Leben zu verdanken – ein bisschen mehr Dankbarkeit hätte sie schon angebracht gefunden. Vielleicht lag seine schlechte Laune aber auch nur daran, dass er Jenny schon wieder nicht erreichen konnte, deshalb versuchte sie nachsichtig mit ihm zu sein. Viele Gedanken durfte sie an ihn jetzt sowieso nicht verschwenden: Irgendwo in diesem mehrstöckigen Gebäude musste sich der Stein des Wissens verbergen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie danach suchen sollte, aber fest stand, dass sie ihrem Ziel jetzt greifbar nah war – sie durfte auf keinen Fall aufgeben. Sie musste aus diesem blöden Raum rauskommen.
    „Ich muss mal zur Toilette.“
    Frank blickte von seinem Handy auf und warf ihr einen weniger genervten Blick zu, als sie erwartet hatte.
    „Kommen Sie mit.“
    Das ließ sich Stina nicht zweimal sagen. Sie stand auf und folgte ihm hinaus auf den Flur. Die Tür zum Großraumbüro befand sich schräg gegenüber auf der anderen Seite des Korridors und stand halb offen. Sie hörte eine Menge aufgeregter Stimmen.
    „Hier rein.“
    Sie hatte gehofft, dass er sie durch das Gebäude führen würde, damit sie sich dabei ein bisschen umschauen konnte, aber es stellte sich leider heraus, dass sich die Toiletten direkt nebenan befanden. Frank schaute sie auffordernd an, bis sie sich zu einem dankbaren Lächeln durchrang und die Klotür öffnete. Als sie die Tür wieder hinter sich schloss, lehnte er an der Wand gegenüber und dachte offensichtlich gar nicht daran, die Tür auch nur eine Sekunde aus dem Blick zu lassen. Er nahm seinen Job wirklich furchtbar ernst, dachte Stina. In einer anderen Situation hätte sie es vielleicht schön gefunden, dass da jemand so zuverlässig auf sie aufpasste, aber im Moment hätte sie alles dafür gegeben, den Sicherheitsmann irgendwie abzuschütteln.
    Der Toilettenraum war noch kleiner als sie erwartet hatte und genauso fensterlos. Sie öffnete die Tür zur einzigen Kabine, schloss hinter sich ab und zog das Handy aus der Tasche. Beim Angriff der Beißer hatte das Display einen Kratzer abbekommen, aber zum Glück startete das Smartphone noch zuverlässig. Stina wagte gar nicht darauf zu hoffen, als sie die World-of-Gothic-App öffnete, aber kaum hatte sie das Icon ausgewählt, erschien auch schon ihr glatzköpfiger Auftraggeber auf dem Bildschirm.
    „Y’berion!“, flüsterte sie aufgeregt und drehte den Ton etwas herunter, damit Frank draußen den Guru nicht hören konnte. „Ich bin in dem Gebäude, das du mir gezeigt hast!“
    „Gut gemacht, Stina“, lobte sie der weise Guru. „Du bist dem Stein des Wissens sehr nah. Nimm ihn in Besitz, und das Töten hat ein Ende.“
    „Das versuche ich ja“, versicherte ihm Stina hastig und fürchtete schon, dass er jeden Moment wieder verschwinden und sie genauso ratlos wie zuvor zurücklassen würde. „Aber das Gebäude hier ist ziemlich groß. Kannst du mir nicht genauer sagen, wo ich nachschauen muss?“
    „Im tiefsten Herzen wirst du finden, wonach du suchst“, sprach Y’berion und unterstrich seine Worte durch ein gewichtiges Nicken. „Du musst bis in das tiefste Gewölbe vordringen, in die Eingeweide dieses Ortes. Ich weiß, dass du dazu bereit bist.“
    „Tiefstes Gewölbe? Meinst du… den Keller oder was?“
    „Du weißt, was du zu tun hast“, behauptete Y’berion. „Ich vertraue auf dich.“
    „Warte! Nicht wieder abhauen, ich –“ Sie biss sich auf die Zunge, als sie begriff, dass ihre Stimme viel zu laut zu werden drohte. Es war ohnehin schon zu spät, der Anführer der Bruderschaft war wieder verschwunden. Der Bildschirm war schwarz geworden und sie glaubte schon, das Handy hätte sich abgeschaltet, als sie den kleinen weißen Text oben links in der Ecke bemerkte: T34.
    Stina stutzte. Wenn das ein Hinweis von Y’berion sein sollte, dann war er gleichzeitig ungewohnt konkret und völlig unbrauchbar. Diese Buchstaben-Zahlen-Kombination konnte ja alles Mögliche bedeuten. Ihr bester Anhaltspunkt war der Keller – sie wusste nicht, wie viele unterirdische Stockwerke das Gebäude hatte, aber wenn sie den Guru richtig verstanden hatte, dann würde sie im untersten wohl fündig werden. Sie erinnerte sich daran, bei ihrer Ankunft ein Treppenhaus am anderen Ende des Großraumbüros gesehen zu haben, aber ihr wollte keine Ausrede einfallen, mit der Frank sie dort nachschauen lassen würde. Es half alles nichts, sie würde ihn irgendwie loswerden müssen. Vielleicht würde es schon genügen, wenn sie einen kleinen Vorsprung bekam…
    Stina starrte noch einmal ausgiebig die Kombination T34 an, bis sie sicher war, sie sich für den Rest ihres Lebens eingeprägt zu haben, dann schloss sie die App und öffnete ihre Kontaktliste.
    Hoffentlich würde sie das Fragezeichen hinter Björn (neue Nummer) gleich streichen können – es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Sie verließ die Kabine, schlich sich vorsichtig zur Tür und wählte die Nummer. Ein paar Sekunden lang wagte sie es nicht einmal auszuatmen, bis auf einmal aus dem Nebenraum eine laute Melodie ertönte. Vorsichtig öffnete Stina die Tür einen Spalt weit und hätte fast gejubelt, als sie Frank zum Pausenraum gehen sah. In Gedanken bedankte sie sich bei Björn dafür, seinen Klingelton so absurd laut gestellt zu haben, dass Frank gar nicht anders konnte, als nach dem Rechten sehen zu müssen – jetzt hatte sie vielleicht ein paar Sekunden Zeit, und die würde sie nutzen. Kaum hatte sie aufgelegt, da huschte sie auch schon auf den Gang, schloss die Tür hinter sich und eilte so lautlos wie möglich zur angelehnten Tür zu den Büroräumlichkeiten. Sie war sich fast sicher, jeden Moment Franks festen Griff an der Schulter zu spüren, aber dann steckte sie auch schon mitten im lauten Chaos des Großraumbüros, ohne dass irgendetwas passiert war. Niemand nahm von ihr Notiz, als sie strammen Schrittes entlang der streng voneinander abgegrenzten Arbeitsplätze den Raum durchquerte. Die meisten Mitarbeiter starrten mit angsterfüllten Blicken auf ihre Monitore, hier und da hatten sich kleine Grüppchen gebildet, und mindestens die Hälfte der Leute hatte ein Handy am Ohr. Auf einige Bildschirmen waren Videoaufnahmen aus dem Park zu sehen, die meisten davon zeigten tote Menschen. Stina wurde ein bisschen nervös, als sie zwei Sicherheitsmänner an einem Fenster stehen sah, aber sie waren beide am telefonieren und schienen sie nicht zu bemerken. Bald war sie auf der anderen Seite des großen Raumes angekommen, öffnete die Tür und blickte dem ersehnten Treppenhaus entgegen.
    „Hey!“
    Stina fuhr zusammen. Sie hatte die Frau in der Security-Kluft überhaupt nicht bemerkt, die gleich links neben der Tür im Korridor stand.
    „Äh… ja…?“
    „Arbeitest du hier?“
    In Stinas Kopf ratterten die Gedanken. Der Blick dieser Frau war von so viel Misstrauen geprägt, dass sie sich längst durchschaut fühlte. Sollte sie vielleicht einfach direkt die Wahrheit sagen?
    „Ja klar“, sagte sie stattdessen.
    „Gibt’s hier irgendwo Kaffee?“ Die Sicherheitsbeauftragte zog schniefend die Nase hoch und wackelte mit einer angekokelten Zigarette zwischen zwei Fingern herum. „Bevor ich gleich von so ‘ner Blechbüchse erwischt werde, will ich wenigstens noch ‘ne Tasse Kaffee.“
    „Achso, klar.“ Stina war so erleichtert, dass sie beinahe einen hysterischen Lachanfall bekommen hätte, aber sie konnte sich zum Glück gerade noch so beherrschen. „Im Pausenraum gibt’s Kaffee. Einmal hier die Treppe hoch bis ganz nach oben, kannst du gar nicht verfehlen.“
    „Danke.“
    Zufrieden beobachtete sie, wie die Frau die Treppe nach oben bestieg, während sie selbst den Weg nach unten einschlug. Den echten Weg zum Pausenraum hatte sie ihr lieber nicht sagen wollen – am Ende unterhielt sie sich noch mit Frank und brachte ihn auf ihre Fährte. Sie hatte sowieso die Befürchtung, dass es nicht lange dauern würde, bis er herausbekam, dass sie längst nicht mehr auf der Toilette war.
    Schnell wurde Stina klar, dass es tatsächlich mehr als ein Untergeschoss gab: Immer tiefer führte die Treppe hinab, bis von dem Stimmengewirr aus dem Büro irgendwann nichts mehr zu hören war. Erst im vierten Kellergeschoss hörte die Treppe auf und mündete in einen langen Gang mit einer Vielzahl von Türen an beiden Seiten. Der Korridor war völlig menschenleer und die Stille machte Stina auf einmal wieder sehr nervös. Nur das Brummen der Klimaanlage war zu hören, als sie über den Korridor schlich – sie hatte jetzt eindeutig das Gefühl, sich in einem Bereich aufzuhalten, in dem sie absolut nichts verloren hatte. Eigentlich konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis man sie hier entdeckte. Angesichts der vielen Türen wollte sie schon wieder der Mut verlassen, da bemerkte sie die Buchstaben, die neben jeder Tür an der Wand angebracht waren. Es begann bei A und ging alphabetisch weiter, also musste es irgendwo… ja, Stina war sich plötzlich ganz sicher. Irgendwo musste es auch eine Tür mit einem T geben – der erste Teil der Kombination, die Y’berion ihr gegeben hatte!
    Sie legte einen Zahn zu und blickte immer wieder hektisch über die Schulter zurück – jedes Mal war sie sich fast sicher, dass irgendwo entlang des kerzengeraden Korridors jemand erschienen war, der sie bereits als Eindringling identifiziert hatte. Bisher hatte sie aber ganz den Eindruck, dass sie der einzige Mensch hier unten war, auch wenn es schwierig war einzuschätzen, was hinter den vielen Türen vor sich ging.
    Als sie endlich bei der Tür mit dem Buchstaben T angekommen war, wollte sie schon erwartungsvoll die Klinke herunterdrücken – und musste feststellen, dass es überhaupt keine gab. Die Türen hatten nicht einmal einen Knauf. Sie ließen sich von dieser Seite aus schlicht nicht öffnen. Vergeblich versuchte sie, ihre Finger irgendwie in den Türspalt zu bekommen, aber da war nichts zu machen. Zunehmend verzweifelt sah sie sich nach links und rechts um, aber da war nichts, das ihr helfen konnte – ein paar Buchstaben weiter endete der Gang in einer Sackgasse, und die anderen Türen schienen ebenso wenig aufzukriegen zu sein.
    „Y’berion!“, flüsterte Stina ihr Handy an, auf dem der Guru aber einfach nicht erscheinen wollte, auch nicht nachdem sie die App ein paar Mal geschlossen und wieder geöffnet hatte. „Ich bin hier, aber die Tür ist zu! Was soll ich jetzt machen? Y’berion!“
    Immer noch nichts. Kurz bildete sie sich ein, Schritte zu hören, aber dann war der Moment vorüber und es war wieder ruhig.
    „Du musst die Parole sagen“, plärrte es plötzlich aus ihrem Handylautsprecher. Erschrocken und erleichtert gleichzeitig drehte Stina die Lautstärke wieder herunter, die sich beim Schließen der App offenbar irgendwie zurückgesetzt hatte.
    „Da bist du ja endlich!“, wisperte sie und lächelte den Guru nervös an. „Ich dachte schon, du lässt mich hier im Stich!“
    „Meine Kraft schwindet, Stina“, eröffnete ihr Y’berion mit trauriger Miene. „Bald wird er vollkommen die Kontrolle über diese Welt übernommen haben. Du musst den Stein des Wissens finden, bevor es zu spät ist. Sag die Parole.“
    „Was für eine Parole? Kannst du mir nicht einfach sagen, was ich –“
    Aber der Guru hatte sie schon wieder verlassen. Fieberhaft versuchte Stina, seine letzten Worte zu deuten. Die Tür musste durch ein Passwort gesichert sein, aber wie sollte dieses Passwort lauten? Sie versuchte es mit der Kombination „T34“, und dann auch einmal nur mit der Zahl und mit beiden Ziffern einzeln, aber ihre geflüsterten Worte verhallten folgenlos im kahlen Korridor. Y’berion musste ein anderes Passwort gemeint haben, aber er konnte doch unmöglich von ihr erwarten, dass sie es einfach so erriet!
    Andererseits – der oberste Guru war davon überzeugt, dass sie diese Aufgabe bewältigen konnte, das hatte er immer wieder deutlich gemacht. Wenn er damit recht hatte – und sie wollte ihm ja vertrauen – dann musste das Passwort eines sein, das sie schon kannte. Als sie überlegte, womit sie sich auskannte, da fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen. Y’berion hatte nicht von einem Passwort gesprochen, sondern von einer Parole – und ihr fiel nur eine Parole ein, die in den Gothic-Spielen eine Rolle spielte.
    „Tetriandoch!“, wisperte Stina, und die Tür glitt lautlos zur Seite.
    Mit angehaltenem Atem betrat sie den Raum, in dem eine kaum zu überblickende Zahl von großen Computern in mehreren langen Reihen aufgestellt war. Sie konnte nirgendwo einen Bildschirm sehen und vermutete daher, dass es sich um einen Serverraum handelte. Das Geräusch von Ventilatoren erfüllte den Raum, und das Brummen, das sie schon draußen auf dem Gang gehört hatte, war jetzt allgegenwärtig.
    Stina merkte auf, als sie sah, dass die Computer allesamt durchnummeriert waren. Die erste Reihe war mit dem Schild 1-10 versehen, die zweite mit 11-20… Aufgeregt schritt sie die vierte Reihe ab und war ein paar Augenblicke später fündig geworden. An dem schwarzen, summenden Gehäuse klebte ein Aufkleber mit der Beschriftung T34 – das musste es sein. Hierhin hatte Y’berion sie führen wollen. Abgesehen von der Beschriftung sah der Computer aber aus wie jeder andere – und von einem Stein des Wissens fehlte sowieso jede Spur. Stina überlegte, ob der Stein vielleicht im Gehäuse des Rechners versteckt war, aber das schien fest zugeschraubt zu sein und ließ sich auch nicht so ohne Weiteres aus der Halterung lösen. Einmal mehr holte sie das Handy heraus, hoffte auf das Erscheinen des Gurus und starrte stattdessen entsetzt auf den Schriftzug, den sie am allerwenigsten hatte lesen wollen: Niedriger Ladestand. Bitte schließen Sie Ihr Gerät mit einem Ladekabel an das Stromnetz an.
    Stöhnend ließ Stina das Smartphone wieder in ihre Hosentasche sinken. Sie hatte den Akku über Nacht aufgeladen, aber die World-of-Gothic-App musste ganz schön Strom gefressen haben. Sie hatte den Tag über überhaupt nicht darauf geachtet, und jetzt hatte sie den Salat. Wenn Y’berion ihr noch einen letzten Tipp hatte geben wollen, dann hatte er jetzt keine Gelegenheit mehr dazu. Sie musste den Stein des Wissens alleine finden.
    Ratlos starrte sie den schwarzen Kasten an, der genauso aussah wie all die schwarzen Kästen links und rechts davon. Sie versuchte, den Rechner ein bisschen nach vorne zu ziehen, aber er bewegte sich kein Stück. Er hatte auch kein Bluray-Laufwerk, das sie hätte öffnen können, und als sie über die Rückseite tastete, die sie nicht einsehen konnte, da erfühlte sie außer ein paar Kabeln auch nur das blanke Metall des Gehäuses. Dann aber fiel ihr etwas an der Vorderseite ins Auge: eine kleine Einbuchtung an der rechten Seite. Sie steckte die Kuppe ihres Zeigefingers hinein, zog ein wenig daran – und öffnete damit zu ihrer eigenen Überraschung eine große Klappe am Vordergehäuse. Dahinter blinkten ein paar grüne Lämpchen und es war ein gutes Dutzend von Anschlüssen zu sehen, die aber allesamt nicht benutzt zu werden schienen. Stina wollte die Klappe schon enttäuscht wieder schließen, als ihr der USB-C-Anschluss ganz unten auffiel: Der USB-Stick, der darin steckte, war so klein, dass sie ihn zuerst glatt übersehen hatte. Er war schwarz und trug das kleine aufgedruckte Logo der Herstellerfirma DataRock. Ein regelmäßig aufleuchtendes Lämpchen am Stick zeigte an, dass wohl gerade Daten übertragen wurden.
    Unschlüssig starrte Stina das kleine Gerät an. Das war der Stein des Wissens? Sie ertappte sich bei dem absurden Gedanken, dass womöglich doch alles eine große Bespaßungsaktion für sie als Besucherin des Freizeitparks gewesen war, und dass sie auf dem USB-Stick zur Belohnung einen exklusiven Mini-DLC für das zweite Gothic-Remake bekommen würde, oder vielleicht ein paar interessante Konzeptzeichnungen aus der Entwicklungsgeschichte der Spiele. Aber dieses Rechenzentrum war keine Attraktion, und die vielen toten Menschen waren alle nicht zum Spaß gestorben. Wenn es tatsächlich dieses kleine blinkende Ding war, das die Roboter alle durchdrehen ließ, dann wusste Stina, was sie zu tun hatte.
    Sie streckte die Hand aus, packte den USB-Stick – und hörte das Klicken.
    „Loslassen.“ Frank stand am Eingang der Computerreihe und hielt den entsicherten Revolver auf sie gerichtet. „Auf der Stelle.“
    Stinas Finger verkrampften sich nur noch stärker um den Datenträger.
    „Hören Sie, ich weiß das klingt komisch“, versuchte sie dem Sicherheitsmann mit wild klopfendem Herzen zu erklären, „aber mit diesem USB-Stick stimmt etwas nicht. Ich glaube, er ist irgendwie dafür verantwortlich, dass die Roboter verrückt spielen.“
    „Unsinn“, zischte Frank und machte mit erhobener Waffe einen Schritt auf sie zu, ohne auch nur zu blinzeln. „Sie wissen genau, was dieser USB-Stick wirklich tut. Ihr Vater hat Sie auf uns angesetzt, nicht wahr?“
    „Bitte… was?“
    Frank verzog die Mundwinkel zu einem freudlosen Grinsen.
    „Die Tochter von Lars Wingefors persönlich…. Sie haben uns ganz schön verarscht. Aber damit ist jetzt Schluss. Ich gebe Ihnen drei Sekunden, um Ihre Hände da wegzunehmen, dann puste ich Ihnen den Schädel weg.“
    „Aber – ich dachte, es ist Ihre Aufgabe, meine Sicherheit –“
    „Ihre Sicherheit ist gewährleistet, wenn Sie einfach die Finger von diesem USB-Stick lassen!
    „D… das ist bestimmt ein Missverständnis!“
    „Drei… zwei…“
    „Okay, okay!“ Stina zog die Hand zurück und hielt sie beschwichtigend in die Höhe. „Reden wir erst mal in Ruhe drüber, ja?“
    Ein dumpfes Rumpeln brachte plötzlich den Boden zum Erbeben. Erst glaubte sie schon, dass es wieder vom Vulkan ausging – so weit entfernt waren sie ja noch nicht von dem qualmenden Ungetüm – aber als es immer stärker wurde, begriff sie, dass sich die Quelle des Bebens in ihrer unmittelbaren Nähe befand. Direkt unter ihren Füßen.
    Sie verlor das Gleichgewicht und prallte gegen Frank, als sich am Eingang des Raums ein gewaltiger Riss im Boden auftat. Eine riesige stachelige Scherenklaue bohrte sich einen Weg an die Oberfläche, gefolgt von einer weiteren. Computer stürzten um und Betonstücke flogen durch den Raum, als sich der riesige Tempelminecrawler nach oben grub und zornig mit den dicken Gliedmaßen um sich schlug. Frank hielt sich schwankend am Rechner neben ihm fest, versuchte seinen Schussarm zu stabilisieren und feuerte ein paar Patronen auf das monströse Roboterwesen ab, das für den niedrigen Raum viel zu riesig wirkte.
    Als sie sah, wie wirkungslos die Schüsse an der harten Chitinhaut des Crawlers abprallten, zögerte Stina keine Sekunde mehr. Mit Waffengewalt würde Frank keine Chance gegen das Ungetüm haben – ihre einzige Chance bestand darin, dass Y’berion die Wahrheit gesagt hatte, und dass sie seine Worte richtig interpretiert hatte. Erneut schlossen sich ihre Finger um den USB-Stick – und zogen ihn mit Gewalt aus dem Anschluss heraus.
    Gebannt blickte sie dem Tempelcrawler entgegen, der mit erhobenen Scheren inmitten der Trümmer seines Tunnelausgangs verharrte. Ganz ruhig erwiderte er ihren Blick.
    „Ich… ich glaube, es hat geklappt!“
    „Was hat geklappt?“ Frank wagte einen hastigen Blick in ihre Richtung. „Sie haben doch nicht etwa –“
    Mit einem kraftvollen Sprung landete der Crawler mitten in den Computern. Funken schlugen hoch, als der Kopf nach vorne schnellte und mit den Kieferzangen nach Frank schnappte, der sich gerade noch rechtzeitig zu Boden schmeißen konnte. Die Zangen bohrten sich stattdessen in einen der großen Rechner und zerquetschten ihn zu qualmendem Metallschrott.
    „Das kann nicht sein!“, entfuhr es Stina entsetzt, als sie hastig hinter dem zusammengekauerten Frank in Deckung ging. „Ich hab doch alles gemacht, was du gesagt hast, Y’berion!“
    Mit zittrigen Fingern drehte sie den unscheinbaren Stick in ihrer Hand. War er das etwa nicht, der Stein des Wissens? Genügte es nicht, ihn aus dem Anschluss zu ziehen? Musste sie noch irgendetwas damit anstellen? Aber was in Innos’ Namen sollte das sein?
    Über ihre Köpfe raste der Scherenarm des Crawlers hinweg und räumte dabei mehrere Rechnerreihen ab. Stina schrie auf, als einer der schweren Computer auf ihrem Fuß landete. Der Rechner, aus dem sie eben noch den USB-Stick gezogen hatte, war jetzt der Breite nach zerteilt und stieß dicke Schwaden schwarzen Qualms aus.
    „Y’berion!“, rief sie verzweifelt, obwohl sie genau wusste, dass er ihr nicht helfen konnte. „Was muss ich noch tun? Bitte hilf mir… was ich muss ich tun? Wie kann ich es aufhalten?“
    Immer wieder drehte sie den USB-Stick auf der hoffnungslosen Suche nach irgendeinem Hinweis zwischen ihren Fingern, als ihr ein paar kleine Pünktchen an der Unterseite auffielen. Es sah ein bisschen aus wie das eingebaute Mikrofon an ihrem Laptop zuhause, dachte Stina. Aber was hatte das zu bedeuten? Wurde eine Spracheingabe von ihr erwartet – war es wieder eine Parole?
    Sie brüllte den Namen „Tetriandoch!“ in den Raum, aber er ging nutzlos im Zischen des wütenden Riesencrawlers unter. Plötzlich musste sie an die beiden merkwürdigen Begegnungen denken, die sie im Laufe des Tages gehabt hatte. Waren der Suchende und der Mann mit der Gomezmaske womöglich auch im Auftrag von Y’berion unterwegs gewesen? Waren das die Parolen, auf die es jetzt ankam?
    Über ihrem Kopf bohrte sich die Crawlerklaue in die Decke, und Stina hielt die Hand schützend über ihren Kopf, als dutzende Betonbrocken zu Boden regneten. Schwer keuchend lud Frank seinen Revolver nach, als ihn ein großer Brocken am Kopf erwischte. Mit blutender Stirn ging er zu Boden und rührte sich nicht mehr. Stina fühlte sich plötzlich so schwindelig, dass ihr die Worte gar nicht mehr einfallen wollten – bevor sie im nächsten Moment auf einmal glasklar in ihrem Kopf waren.
    Es war ein verzweifelter Versuch, aber irgendeine Bedeutung musste das alles gehabt haben. Y’berion hatte ihr diese Informationen zu einem bestimmten Zweck gegeben – sie hatte keine andere Wahl, als fest daran zu glauben, dass er sie für diesen einen Moment vorbereitet hatte. Den Moment, in dem sie der Katastrophe ein Ende bereiten würde. In dem sie die Welt von Gothic retten würde.
    „Was geteilt, wird wieder vereint!“
    Stina spürte, wie sich ihr Bauch schmerzhaft zusammenzog, als sie die Worte aussprach, aber jetzt durfte sie nicht aufhören. Sie umklammerte den Stein des Wissens mit beiden Händen.
    „Kein Schild, den sie nicht brechen kann!“
    Geändert von Laidoridas (08.10.2023 um 17:19 Uhr)

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    Drei oder vier Millimeter. Viel mehr war es nicht, was ihn von den aufgesperrten Kieferzangen des Crawlers von seinem erstarrten Gesicht trennte. Regungslos verharrten sie in der Luft, während aus den Tiefen des Insektenschlundes harte, klickende Geräusche ertönten wie von zornig umgeschlagenen Schaltern. Dann zog der Crawler seine Zangen langsam wieder zurück und krabbelte auf seinen staksigen Beinen zurück zur Tür, wo er unruhig auf der Stelle trippelnd verharrte. David fühlte sich kein Stück erleichtert. Sein Blick wanderte zur Leiter hinüber, aber er war fest davon überzeugt, dass das Monster nur mit ihm spielte. Er hatte keine Chance, diese Leiter lebend zu erreichen.
    „David!“ Aus der kleinen Lukenöffnung an der Decke winkte ihm Nadine hastig zu. „Komm hoch, schnell!“
    Aber er wagte es nicht einmal, ihr zu antworten. Sekunden vergingen, vielleicht auch Minuten, bevor er sich dazu durchringen konnte, ein Stückchen in Richtung Leiter zu kriechen. Der Crawler reagierte nicht, aber verfolgte jeder seiner Bewegungen genau.
    „Beeil dich!“, forderte ihn Nadine im halblauten Flüsterton auf. „Irgendwas ist mit ihm passiert, aber wer weiß wie lange er so ruhig bleibt!“
    David warf dem riesenhaften Roboter einen ängstlichen Blick zu. Er wirkte noch immer aggressiv, aber es war eine ziellose Aggressivität, die nicht mehr gegen ihn selbst gerichtet zu sein schien. Waren die Roboter etwa irgendwie über Funk repariert worden? Er wollte es zu gerne glauben, doch dafür wirkte das Biest noch immer viel zu bedrohlich. Aber Nadine hatte recht – vielleicht war das seine einzige Chance, diesen Raum noch lebend zu verlassen. David kroch etwas schneller, und als das Maschinenwesen noch immer keine Reaktion zeigte, wagte er sich vorsichtig in die Höhe und arbeitete sich mit langsamen Schritten zur Leiter hoch. Kurz ließ ihn ein pfeifendes Geräusch aus dem Insektenbauch hinter seinem Rücken zusammenzucken, aber der Crawler machte nach wie vor keine Anstalten, ihn vom Erklimmen der Leiter abzuhalten. Mit zittrigen Händen nahm David die oberste Sprosse und ließ sich von Nadine nach oben ziehen. Während er seiner aufgelösten Familie in die Arme fiel, zögerte Specki keine Sekunde und ließ die Luke unter ihnen donnernd zufallen.
    „Hab ich schon gesagt, dass ihr drei ein ganz schönes Schweineglück habt?“ Specki schüttelte grinsend den Kopf und klopfte David auf die Schulter. „Und du ganz besonders. Wenn sich das Vieh ‘ne Viertelsekunde später beruhigt hätte, wär’s das gewesen.“
    „Vielleicht wollte er dir nur Angst machen, Papa“, sagte Kleo, die ganz rote Wangen hatte. „Du hast doch selber gesagt, die wollen uns nur erschrecken.“
    David dachte an die Leichen auf den Bildern der Überwachungskameras und kam zu einem anderen Ergebnis. Er glaubte kaum, dass der Riesencrawler ausgerechnet ihn bewusst verschont hatte. Er hatte ihn umbringen wollen, gar kein Zweifel – bis er es auf einmal nicht mehr gewollt hatte.
    „Meint ihr es ist vorbei?“, wagte es David seine große Hoffnung laut auszusprechen, auch wenn er die Befürchtung hatte, sie dadurch gleich wieder zunichte zu machen. „Haben sie die Roboter wieder hingekriegt?“
    „Wollen wir’s mal hoffen“, sagte Specki. „Wir sollten jedenfalls zusehen, dass wir uns vom Acker machen. Könnte natürlich ein bisschen knifflig werden, ihr habt die Barrikaden am Eingang ja selber gesehen. Aber vielleicht finden wir einen anderen Weg.“
    David war noch immer so voller Adrenalin, dass er erst beim Losgehen allmählich begriff, wo sie sich eigentlich befanden. Die Luke hatte sie in einen ebenso schmalen wie verwinkelten und hell beleuchteten Wartungskorridor geführt, der offenbar für die Mitarbeiter des Parks vorgesehen war, aber zum aktuellen Zeitpunkt völlig verlassen wirkte. Der Boden war mit geriffelten Metallplatten ausgelegt, die bei jedem Schritt klapperten, als würde jeden Moment eine von ihnen wegbrechen. Immer wieder kamen sie an Türen vorbei, die mutmaßlich zurück in die Höhlengänge der Achterbahnmine führten, aber alle von ihnen waren verschlossen. David war darum ganz froh, denn obwohl keine Geräusche von jenseits der Türen zu hören waren, konnten die Crawler ja kaum alle verschwunden sein – und er war längst noch nicht überzeugt davon, dass sie auf einmal alle handzahme Schoßtierchen geworden waren. Überhaupt war es bei ihrem Weg durch die Wartungsgänge gespenstisch still. Nur ihre Schritte klapperten laut auf dem Metall und mussten in Davids Vorstellung sämtliche Rieseninsekten des Bergwerks anlocken. Sie waren schon eine ganze Weile so gegangen, als es unvermittelt laut zu rumpeln begann. Nadine drückte Kleo an sich, während der Boden unter ihren Füßen erbebte – ein bisschen so wie sie es schon öfters an der Oberfläche im Minentalbereich erlebt hatten, aber ungleich stärker. David glaubte, es in den Wänden knirschen zu hören.
    „Ist das der Vulkan?“, äußerte Nadine eine Vermutung, die auch David direkt in den Kopf geschossen war. „Sind wir überhaupt noch in der Mine?“
    „Tja, gute Frage.“ Specki hielt seine wackelnde Baskenmütze fest, bis sich das Erdbeben nach ein paar Sekunden wieder gelegt hatte. „Ich weiß ja nicht, wie’s euch geht, aber ich habe keinen blassen Schimmer, wo wir hier überhaupt gerade lang laufen. Aber wenn wir beim Vulkan irgendwie nach draußen kommen, dann wär das ja keine schlechte Sache.“
    David fand die Vorstellung irgendwie merkwürdig, dass die Attraktionen durch unterirdische Gänge miteinander verbunden sein sollten. Vielleicht wollten sie vermeiden, dass zu viele Mitarbeiter an der Oberfläche herumliefen und die Besucher von dem ganzen Fantasy-Zeug ablenkten? Aber war das wirklich Grund genug, um den Park gleich derartig zu untertunneln? Es musste wohl irgendwelche technischen Beweggründe dafür geben, die David gerade aber nicht in den Sinn kommen wollten.
    „Oh Gott.“ Nadine nahm Kleo auf den Arm und drückte ihr Gesicht an ihre Brust, aber die Kleine hatte es bestimmt längst gesehen: Eine schwere Stahltür gleich hinter einer Ecke des Ganges stand sperrangelweit offen, und auf der Türschwelle lag die blutüberströmte Leiche eines Mannes in schmutzigen grauen Arbeiterklamotten. Auf dem Kopf trug er einen in der Mitte gespaltenen, gelben Helm mit zersplitterter Lampe. Es sah für David ganz danach aus, als habe er sich vor seinem Tod noch in den Wartungskorridor flüchten wollen.
    Specki machte vorsichtig einen Schritt über die Leiche und wagte einen Blick durch die geöffnete Tür. Dumpf dröhnender Maschinenlärm drang daraus hervor, und David hatte einen beißenden Gestank in der Nase, den er nicht richtig einordnen konnte. Als Specki nicht sofort etwas sagte, hielt sich David die Nase zu und folgte ihm durch die offene Tür. Verblüfft stellte er fest, dass sich dahinter eine gewaltige Höhle erstreckte, die allerdings vom Charme einer Freizeitparkattraktion nichts erkennen ließ: Die Luft war dick und von gelblichen Schwaden durchzogen, und David erkannte dutzende Metallgerüste und Plattformen, die sich entlang der Höhlenwände hinab in die Tiefe und hinauf bis zur kaum erahnbaren Decke zogen. Auf einigen der Plattformen standen übergroße Bohrer und andere Maschinen, und am Boden waren mehrere klotzige Container aufgestellt. Dazwischen hockten überall die Crawler, kauerten neben den leblosen Körpern von Leuten in Bergwerksklamotten, und rührten sich kaum, ganz so als ob sie auf ein unsichtbares Zeichen warteten.
    „Siehst du hier irgendwo einen Ausgang?“, wandte sich David an Specki, der genauso verblüfft wirkte wie er selbst. Von ihrer derzeitigen Position aus führten Metalltreppen sowohl nach oben als auch hinab in die Tiefe, aber es war unmöglich abzuschätzen, wohin sie von dort aus gelangen würden – und ob die Crawler dabei so friedlich bleiben würden, wie sie im Moment wirkten.
    „Vielleicht sollten wir lieber weitergehen, was meinst du? Specki?“
    Irritiert wollte er den schweigsamen Specki am Arm packen – und erstarrte in der Bewegung. Auf Speckis Stirn ruhte zitternd ein kleines rotes Lichtpünktchen.
    Eine Gruppe von sechs schwarz gekleideten Männern mit Militärhelmen war auf einer Plattform ein paar Meter über ihnen erschienen. Die Läufe mehrerer Maschinengewehre waren auf sie beide gerichtet.
    David legte die Hände hinter den Kopf und ging mit zittrigen Beinen in die Knie.

    Stina wusste, dass sie geträumt hatte.
    Sie hatte geträumt, für sehr lange Zeit, und jetzt hatte sie alles vergessen.
    Aber irgendwo in ihr drin riefen aus ihren Träumen noch Menschen nach ihr, und Traummonster streckten ihre langen Fühler nach ihr aus. Sie hatte das Gefühl, dass die Träume sie zurückholen wollten, dass sie – wenn sie es nur zuließ – gleich wieder in ihnen abtauchen würde und dann vielleicht für immer in ihnen verschollen wäre. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, dem Drängen nachzugeben. Das Bett, auf dem sie ruhte, war so wunderbar weich, dass die Versuchung groß war. Aber dann wurde ihr die klebrige Schwere auf ihrem Gesicht bewusst, die ihr ein plötzliches Gefühl von Gefangenschaft vermittelte, und sie war sie mit einem Mal hellwach.
    Als Stina die Augen öffnete, sah sie die Welt durch zwei kleine Löcher. Was sie dadurch sah, das war fast vollständig rosa: Rosa Kissen, ein rosa Bettbezug – und rosa Molerats. Sie lag inmitten eines großen Haufens voller Plüschmolerats.
    Verwirrt richtete sie sich im Bett auf, wobei ein paar der flauschigen Tierchen geräuschlos zu Boden purzelten. Der Raum sah aus wie eine sündhaft teure Luxussuite in einem Nobelhotel und war absurd groß. Sie hatte nie zuvor in einem so riesigen Schlafzimmer übernachtet. Zwischen dem pastellfarbenen Mobiliar standen sogar ein paar goldene Vasen herum, in deren glänzende Oberflächen die Runen von Zaubern des sechsten Kreises eingearbeitet waren. Stina fühlte, wie langsam, aber unausweichlich, eine lähmende Panik in ihr aufstieg, als sie begriff, dass sie überhaupt keine Ahnung hatte, wo sie sich befand. Sie war völlig orientierungslos, und da half es nicht, dass sie alles nur durch kleine runde Kreise sehen konnte.
    Stina griff sich ins Gesicht und stieß auf Pappe. Da war ein Ziepen an ihren Ohren, das sich mit einem Mal schmerzhaft in ihr Bewusstsein drängte. Sie tastete danach und erfühlte Gummibänder. Hastig zog sie sich die Pappe vom Kopf und starrte auf die Maske mit den labberig herabhängenden Gummis in ihren Händen. Die harten Gesichtszüge des obersten Erzbarons starrten ihr entgegen. Es war blutverschmiert, und das Blut war nicht aufgedruckt. Es fühlte sich warm an, es klebte an Stinas Fingern. Sie schmiss die Gomezmaske zu Boden, sprang vom Bett auf und zog die schweren Vorhänge vor dem Fenster zur Seite.
    Am blutroten Himmel zog ein Drache seine Kreise, umschwärmt von Harypien. Jacks Leuchtturm war eine schwarz verkohlte Ruine, der Turm des Dämonenbeschwörers lag in Trümmern. Eine Armee von Echsenmenschen marschierte auf den Straßen der World of Gothic, die gesäumt waren von Leichenbergen. Und über allem thronte eine gewaltige, monströse Kreatur, die unter sägendem Kreischen lodernde Flammenbälle aus Dämonenfeuer um sich schleuderte und sich dabei unaufhaltsam durch Achterbahnen und Gebäude fräste. Es war der Schläfer, und er war auf dem Weg zu ihr.
    Stina schloss die Vorhänge so abrupt, dass sich oben am Fenster irgendetwas aus der Verankerung löste. So schnell sie konnte rannte sie zur Tür, aber sie war so wackelig auf den Beinen, dass sie dabei das Gleichgewicht verlor und gegen die gesichtslose Statue eines Paladins knallte, die scheppernd in ihre Einzelteile zerfiel. Hastig torkelte Stina über die Rüstungsstücke hinweg zur Tür und riss sie auf. Sie fand sich in einem großen, menschenleeren Warteraum wieder, und plötzlich wusste sie, in welchem Gebäude sie erwacht war: In diesem Raum hatte sie der Assistent ihres Vaters geführt, hier hatte sie eine Weile gewartet, bevor sie die Geduld verloren und sich den Schlüsselbund von ihm beschafft hatte. Sie war im obersten Stockwerk des Hotels Zum schlafenden Geldsack.
    Stöhnend rieb sich Stina die Stirn. Wie um alles in der Welt war sie hierhin gekommen? Hatte ihr Vater sie hergebracht?
    Ihr Vater…
    Die große Tür zum Konferenzsaal war nur angelehnt. Vielleicht war ihr Vater dort, oder er war in seinem Büro, das gleich dahinter lag. Sie würde mit ihm sprechen, dann würde sich alles klären. Stina stieß die Tür auf. Eine leise, traurige Klaviermusik drang aus den unsichtbaren Lautsprechern.
    Sie glaubte zuerst, sich doch geirrt und den falschen Raum betreten zu haben, denn der Konferenzsaal hatte sich sehr verändert. Der schwere Holztisch war verschwunden, stattdessen standen sieben offene Särge im Raum, umgeben von einer Vielzahl aufeinander getürmter Blumenkränze. Als Stina näherkam, sah sie, dass an jedem Kranz ein farbiges Stofftuch befestigt war, auf dem mit goldenem Garn jedes Mal die gleiche Nachricht aufgestickt war: Werner wünscht eine geruhsame Beerdigung – mit Blumen aus Werner’s Blumen Pott. Stina überlegte, ob sie selbst diese Kränze hergerichtet hatte, aber das war unmöglich. Werner ließ sie nie etwas machen, wenn es um ernste Angelegenheiten ging. Und was war ernster als eine Beerdigung? Er hatte natürlich auch gute Gründe dafür. Sie hatte nicht die geringste Ahnung von Blumen, sie interessierte sich kein Stück für Blumen. Sie konnte nicht einmal sagen, aus welchen Blumen diese Kränze bestanden. Durch die großen Glasfenster tauchte der glühende Himmel den Raum in ein rötliches Licht und ließ jede Blüte gleichermaßen bedrohlich wirken. Sie sahen aus wie aus Beliars Garten gepflückt, und vielleicht wuchs in der Welt dort draußen auch nichts anderes mehr.
    Vorsichtig trat sie noch näher an die Särge heran. Je näher sie kam, desto größer wuchs das Unbehagen in ihr, aber sie wusste auch, dass sie den Raum unmöglich wieder verlassen konnte, bevor sie einen Blick in diese Särge geworfen hatte. Als sie den ersten erreicht hatte, nahm sie ihren Mut zusammen und senkte den Blick.
    Es war Kai. Er sah ganz friedlich aus. In seinen auf dem Bauch gefalteten Händen hielt er eine von ihm selbst unterschriebene CD, die in tausend Rottönen schillerte. Einem ersten Impuls folgend wollte Stina danach greifen, als sie das Grauen packte. Sie stolperte zum nächsten Sarg und blickte in das Gesicht von Jenny. Sie konnte nicht lange hinschauen und hechtete zum nächsten – Björn – und wieder zum nächsten -
    Verzweifelt klammerte sich Stina am Rand des mittleren Sarges fest. Die weit aufgerissenen, leblosen Augen, die ihr starr entgegenblickten, gehörten dem namenlosen Helden, und sie formulierten einen stummen Vorwurf an sie. Mit bebenden Händen betastete sie seine Arme, seine Brust, sein Gesicht – aber alles an ihm war so eisig kalt, dass sie glaubte, daran festfrieren zu müssen. Er war tot – sie waren alle tot – und sie hatte es nicht verhindern können.
    „Mike… es tut mir leid…“
    Ein plötzliches Geräusch ließ sie zusammenzucken. Aus dem sechsten Sarg war eine glatzköpfige Gestalt emporgeschossen.
    „Wieso hast du nicht getan, worum ich dich gebeten habe, Stina?“, klagte sie Y’berion mit rauer Totenstimme an. „Wieso hast du mir den Stein des Wissens nicht gebracht?“
    Stina wich erschrocken zurück und prallte dabei mit dem Hintern gegen Björns Sarg.
    „Es tut mir leid!“, jammerte sie. „Ich habe alles getan, was du wolltest, aber… es hat nicht funktioniert…“
    „Du hast versagt, Stina“, krächzte es durch die grauen Lippen im fahlen Gesicht des Gurus. „Der Schläfer hat diese Welt erreicht, und jetzt kann uns nicht einmal mehr Beliar eine Zuflucht bieten. Der Weg ins Totenreich ist versperrt, und er wird es für immer sein. Sieh, wozu du uns alle verurteilt hast.“
    Lautes Ächzen und Stöhnen regte sich in den Särgen. Von kaltem Schaudern gepackt musste Stina mit ansehen, wie sich alle nach und nach aus ihren Ruhestätten erhoben, mit toten Blicken und Gesichtern wie aus Asche: Jenny und Björn fassten sich aus ihren Särgen heraus an den Händen, und Kai ließ die CD aus kraftlosen Händen zu Boden fallen, wo sie klirrend zersprang. Mike rührte sich kaum, stand in gebückter Haltung im Sarg und ließ unter den dicken schwarzen Haarsträhnen in seinem Gesicht keine Regung erkennen.
    Und dann, als letzter, stemmte sich eine weitere Leiche in die Höhe. Der Untote schaffte es nicht auf Anhieb, sich aufzurichten, hievte seinen steifen Körper unter schwachem Röcheln über die Längsseite des Sarges und blieb in seinem feinen Anzug zuckend auf dem Boden liegen.
    Stina rannte zu ihm hin und rüttelte mit wässrigen Augen an seinen Schultern.
    „Papa? Papa, steh bitte auf!“
    „Das wird er nie wieder tun“, eröffnete ihr Y’berion. „Das wird keiner von uns je wieder tun.“
    Wie auf Kommando klappten sie alle wieder in sich zusammen und blieben reglos auf dem Boden liegen. Nur Mike rutschte dabei wieder in seinen Sarg hinein und lag genauso da wie zuvor.
    Außer dem Klavier war kein Laut mehr zu hören. Nicht einmal das Wüten des Schläfers drang von draußen herein.
    Sie waren alle tot, begriff Stina. Jetzt war sie wirklich völlig allein auf der Welt.
    Ihr Blick wanderte zum siebten Sarg. Sie war nicht überrascht, als sie sah, dass er völlig leer war, und sie wusste sofort, für wen er vorgesehen war.
    Stina durchquerte den Raum, vorbei an den Leichen ihrer Freunde, vorbei an ihrem toten Vater, bis sie den siebten Sarg erreicht hatte. Er hatte genau ihre Größe, und er war mit rotem Samt ausgepolstert. Er sah sehr, sehr bequem aus, fand Stina, und plötzlich wusste sie mit einer gewaltigen Gewissheit, dass dieser Sarg die einzige Zuflucht war, die sie in dieser Welt noch hatte. Sie zog ihre Schuhe aus, dann auch ihre Socken, und stieg hinein.
    Aber kaum war sie auf dem Samt zum Liegen gekommen, da fühlte er sich plötzlich rau und hart an, und es war ihr, als ob sich tausend kleine Widerhaken durch ihre Haut bohrten und unsichtbare Hände an ihren Haaren zerrten. Sie konnte keinen Arm und kein Bein mehr heben, als eine unsichtbare Hand den Deckel über ihr schloss. Das rote Licht verging, und die Dunkelheit kam.
    Die Dunkelheit war leer und kalt, aber sie blieb nur einen Moment lang.
    In der Finsternis wurde ein Streichholz entzündet, und im Schein des Lichts erschien das Gesicht ihrer Mutter.
    „Siehst du, Stina“, sagte sie leise. „Das passiert, wenn du deine Medikamente nicht nimmst.“

    Sie hatte bestimmt zehn Minuten in seinem Büro gesessen, bevor Herr Frederick endlich hereingekommen war. Zuerst war es noch interessant gewesen, sich die Sachen in seinem Büro ein bisschen anzugucken – auf dem Schreibtisch stand ein Foto, das Stina kurz zu sich umgedreht hatte, und es hatte Spaß gemacht, sich zu überlegen, wie die blonde Frau auf dem Foto wohl hieß und ob die beiden kleinen Jungen wirklich die Söhne von Herrn Frederick waren, denn sie sahen ihm überhaupt nicht ähnlich. Aber dann hatte sie sich sehr schnell gelangweilt, wie sie sich überhaupt oft gelangweilt hatte in den letzten Wochen. In ihrem Zimmer hatte sie wenigstens ihre Zeichensachen, aber die benutzte sie auch nur, wenn die anderen nicht da waren. Sie hasste es, wenn ihr jemand beim Zeichnen zuguckte, und sie wollte gar nicht wissen, was ihre Zimmergenossinnen von Gorns und Wolfs Abenteuern hielten. Die Comics waren nur für sie selbst vorgesehen, und natürlich für ihre Mutter. Wenn sie endlich wieder zuhause war, dann würde sie ihr alles zeigen. Sie würden sich zusammen aufs Sofa setzen und aneinander gekuschelt durch die Seiten blättern, wie sie es immer machten, wenn Stina eine neue Ausgabe fertig hatte. Ihre Mutter würde dann alle Sprechblasen vorlesen, die sich Stina ausgedacht hatte, und sich dabei alle Mühe geben, die Texte ohne große Grübelpausen zu entziffern. Und wenn sie fertig waren, dann würden sie sich gemeinsam an den Computer setzen und ein paar echte Gothic-Abenteuer erleben. Aber Stina wusste nicht, wann es soweit sein würde. Jetzt war nur Herr Frederick hier, und der hatte natürlich keine Ahnung von Gothic.
    „Hallo Stina“, begrüßte er sie freundlich und nahm ihr gegenüber an seinem Schreibtisch Platz.
    „Hallo", sagte sie und vermied es, ihn mit seinem Namen anzusprechen. Sie wusste nicht, ob Frederick sein Vor- oder sein Nachname war, und sie wusste auch nicht, ob sie ihn duzen durfte oder nicht. Irgendwie hatte sie bei der Vorstellung nicht richtig aufgepasst, und jetzt war es zu spät um nachzufragen.
    „Worüber möchtest du denn mit mir reden? Eigentlich ist unser nächstes Gespräch ja erst nächste Woche, aber wenn du was auf dem Herzen hast, dann nur raus damit.“
    „Ja, ich… “ Stina biss sich auf die Unterlippe. Plötzlich war es ihr irgendwie unangenehm, damit anzufangen, aber es war ja nun wirklich eine wichtige Sache. „Ich hab ja dieses Notfallset hier, für meine Wespenallergie.“
    Sie öffnete die kleine Gürteltasche, nahm die Kortisoncreme heraus und legte sie vor Herrn Frederick auf dem Schreibtisch ab.
    „Die Creme hier ist nur noch diesen Monat haltbar“, erklärte sie. „Kann ich dann eine neue haben?“
    Herr Frederick sah sich die Creme gar nicht richtig an und tippte stattdessen auf der Tastatur seines Computers herum. Stina konnte leider den Bildschirm nicht sehen und deshalb nur raten, was er da machte. Suchte er vielleicht nach einer Apotheke?
    „Sag mal, Stina, kannst du dich eigentlich noch daran erinnern, wie das damals war?“ Seine Augen wanderten über den Monitor, als ob sie nach etwas suchten. „Als die Wespenallergie bei dir festgestellt wurde, meine ich.“
    Stina schüttelte den Kopf. „Ich war da noch ganz klein. Ich konnte noch nicht mal laufen, hat meine Mutter gesagt. Die Wespe hat mich beim Krabbeln im Garten erwischt, und dann hab ich nicht mehr richtig Luft gekriegt.“
    „Und wie war das, als du das letzte Mal von einer Wespe gestochen wurdest?“
    Sie wusste nicht, was diese Fragerei sollte und kam sich plötzlich vor wie in dem Gespräch am Adanostempel von Khorinis, wenn Vatras überprüfte, ob man ihm auch die Wahrheit sagte. Herr Frederick glaubte aber doch wohl nicht, dass sie ihn anlog? So ein Notfallset schleppte man doch nicht einfach so zum Spaß mit sich rum.
    „Danach bin ich dann gar nicht mehr gestochen worden“, sagte Stina. Vatras hätte gewusst, dass sie die Wahrheit sagte, aber Herr Frederick war ja leider kein Wassermagier.
    „Hm“, machte er und scrollte ein bisschen mit dem Mausrad herum, bevor er endlich vom Monitor wegschaute und die Kortisoncreme in Augenschein nahm. „Gut, ich notiere mir kurz den Namen, ja? Dann bestellen wir dir eine neue.“
    „Danke“, sagte sie erleichtert und wartete ab, bis er den Namen des Medikaments eingetippt hatte.
    „So.“ Herr Frederick gab ihr die Tube zurück und lächelte sie freundlich an. „Und wie ist es dir sonst ergangen nach unserem letzten Gespräch? Hast du dich gut eingelebt?“
    Eingelebt, dieses Wort benutzte er sehr gerne, und Stina hasste es. Sie wollte sich hier überhaupt nicht einleben, sie wollte zurück nach Hause.
    „Schon, aber…“ Sie drückte nervös auf dem halben Schläferamulett herum, das wie immer um ihren Hals hing. „Kann ich nicht doch meine anderen Medikamente bekommen?“
    Herr Frederick seufzte schwer. „Stina, wir haben doch darüber gesprochen, dass du deine Medikamente für eine Weile nicht nehmen wirst.“
    „Aber… die Medikamente hat mir doch der Arzt verschrieben.“ Stina musste wieder daran denken, was ihre Mutter sagen würde, wenn sie erfuhr, dass sie die Tabletten jetzt schon seit Wochen nicht mehr genommen hatte. Sie würde wahnsinnig werden vor Sorge, und wahrscheinlich würde sie ihr auch schlimme Vorwürfe machen, auch wenn sie natürlich gar nichts dafür konnte.
    „Wir haben hier ja auch Ärzte, sehr gute Ärzte sogar. Die schauen sich deine Werte jeden Tag genau an“, versuchte sie Herr Frederick zu beruhigen. „Wie fühlst du dich denn?“
    „Naja, schon ganz okay, aber…“
    „Hast du noch Kopfschmerzen?“
    „Nein, das jetzt nicht.“ Eigentlich war Stina ganz froh, dass sie die Nebenwirkungen der Medikamente nicht mehr ertragen musste. Sie sah auch keine Doppelbilder mehr und fühlte sich überhaupt viel freier im Kopf als sonst, aber sie wusste auch, dass ihre Krankheit jederzeit wieder zurückkommen konnte. Und wenn sie weiterhin keine Medikamente nahm, dann wahrscheinlich viel schlimmer als jemals zuvor – davor hatte sie ihre Mutter immer gewarnt.
    „Deine Werte werden auch jeden Tag besser“, sagte Herr Frederick. „Und du hast richtig Farbe im Gesicht gekriegt. Du kommst auch erstmal ohne Medikamente zurecht, findest du nicht?“
    „Das sieht jetzt gerade vielleicht so aus, aber…“ Sie spürte, wie ihr Herz immer schneller schlug. „Kann ich nicht doch meine Mutter mal anrufen?“
    „Stina, wir haben doch darüber schon geredet. Es ist besser für euch beide, wenn ihr euch mal für eine Weile nicht sprecht.“
    „Aber das waren jetzt schon Wochen!“ Plötzlich brach es aus Stina heraus und sie musste mit sich kämpfen, um nicht in Tränen auszubrechen. „Wie lange soll ich denn noch hier bleiben? Wann komme ich endlich nach Hause?“
    „Hör mal, du musst mir glauben…“
    „Warum kann ich nicht mit meiner Mutter sprechen?“ Die Tränen hatten ihre schlimmste Befürchtung an die Oberfläche geschwemmt, die sie nie auszusprechen gewagt hatte. „Ist sie… ist sie irgendwie krank? Hab ich sie angesteckt? Ist sie etwa… hab ich sie…“
    „Nein – nein, nein, um Himmels Willen, beruhige dich bitte!“ Nervös fummelte Herr Frederick ein Taschentuch aus einem Päckchen auf seinem Schreibtisch heraus und drückte es ihr in die Hand. „Du hast überhaupt niemanden angesteckt. Du bist nicht krank, Stina.“
    Mit zittrigen Händen zerknüllte sie das Taschentuch in ihrer Hand. Wie konnte er so etwas sagen? Alles an diesem Satz war völlig falsch. Sie war krank gewesen, seit sie denken konnte, es gab sie überhaupt nicht anders als krank.
    „Deine Mutter ist diejenige, die krank ist“, sagte Herr Frederick.
    „Das ist doch Quatsch“, schniefte Stina. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Mutter irgendwann auch nur mal eine Erkältung gehabt hatte. In der Hinsicht war sie das genaue Gegenteil von ihr.
    „Nein, ist es nicht.“ Er holte tief Luft, während er offenbar nach Worten rang. „Ihre Krankheit ist, dass sie… dass sie dich krank macht, Stina. Und solange das so ist, könnt ihr beide nicht zusammen sein.“
    Stina wusste gar nicht, was sie darauf sagen sollte.
    „W… was soll das denn für eine Krankheit sein?“, fragte sie und zog geräuschvoll die Nase hoch.
    Herr Frederick fühlte sich sichtbar unbehaglich in seiner Haut, aber nach kurzem Zögern gab er ihr eine Antwort. „Eigentlich wollten wir dir mehr Zeit geben, Stina. Das ist alles bestimmt nicht einfach für dich, aber vielleicht ist es besser, wenn ich es dir einfach sage.“
    Erwartungsvoll starrte Stina ihn an, während sie sich mit dem zerknüllten Taschentuch ein bisschen Rotze von der Nase wischte.
    „Die Medikamente, die du genommen hast, haben dich krank gemacht, und sonst nichts“, sagte Herr Frederick. „Deine Mutter… sie hat dafür gesorgt, dass du diese ganzen Medikamente verschrieben bekommst, obwohl dir gar nichts fehlt. Deswegen ist sie mit dir zu all diesen Ärzten gegangen… so oft, bis dir was verschrieben wurde, und das immer und immer wieder. Deine Mutter hat es bestimmt nicht böse gemeint, Stina. Das ist ihre Krankheit, die dafür gesorgt hat, dass sie so etwas tut. Aber verstehst du jetzt, wieso wir euch beide trennen mussten? All deine Symptome sind verschwunden, seit du deine Medikamente nicht mehr einnimmst, und deine Blutwerte sind schon fast alle wieder im normalen Bereich. Wir wissen jetzt, dass deine Mutter die Kranke von euch beiden ist, und das heißt auch, dass wir ihr helfen können.“
    Stina hatte nach der Hälfte gar nicht mehr richtig zugehört. Es klang wie eine Erzählung über ganz andere Leute, die sie gar nicht betraf. Nur der letzte Satz hatte sie aufmerken lassen.
    „Dann kann ich bald wieder nach Hause? Und meine Mutter auch?“
    „Das… wird wahrscheinlich nicht so schnell möglich sein. Ich weiß, dass das alles schwer zu begreifen ist. Aber ich möchte, dass du eines verstehst, ja?“ Er hatte es bei den letzten Sätzen vermieden, ihr in die Augen zu schauen, aber jetzt sah er sie wieder direkt an. „Mit dir ist alles in Ordnung, Stina.“


    „Du bist krank, Stina. Begreifst du es jetzt?“
    Das Gesicht ihrer Mutter flackerte im rötlichen Licht des Streichholzes. Es war genauso wie sie es in Erinnerung hatte. Genauso wie es auf den alten Fotos aussah. Im Gegensatz zu Stina war ihre Mutter nicht gealtert, sie konnte jetzt kaum älter sein als Stina selbst.
    „Ein gesunder Mensch schließt sich nicht freiwillig in einem Sarg ein. Das wirst du doch einsehen?“
    Ihre Mutter löste sich von Stinas Körper und stieß den Deckel des Sarges auf. Stina kniff die Augen zu, als sie das glühend heiße Licht spürte.
    „Komm heraus.“ Ihre Mutter hatte den Sarg bereits verlassen und reichte ihr die Hand.
    Stina rührte sich nicht, und als sie die Augen einen Schlitz weit öffnete, da wollte sie sie am liebsten gleich wieder für immer schließen. Vor genau diesem ersehnten Anblick hatte sie immer Angst gehabt. Ihre Mutter, die ihr die Hand reichte. Sie hielt sich am Rand des Sarges fest und hievte sich eigenständig in die Höhe.
    „Ich möchte dir nur helfen“, sagte ihre Mutter. „Du musst doch selbst merken, in welchen Wahnsinn du dich verrannt hast. Das was da draußen geschieht, kann bald wieder verschwunden sein, wenn du nur deine Medikamente nimmst.“
    „Ich brauche keine Medikamente“, brachte Stina hervor. „Und ich bin auch nicht verrückt.“
    „Ach nein?“ Ihre Mutter lachte trocken auf und deutete auf eines der großen Glasfenster. Unter dem leuchtend roten Himmel tobte noch immer der Schläfer. Er war dem Hotel jetzt schon bedrohlich nahe gekommen und riss gerade die Esmeralda aus ihrer Verankerung, um sie durch die Luft zu schleudern. „Wonach sieht das aus, Stina? Glaubst du wirklich, das alles wäre geschehen, wenn du deine Medikamente genommen hättest?“
    Stina stieg aus dem Sarg und machte ein paar unsichere Schritte von ihrer Mutter weg, die ihr aber umgehend nachfolgte. Sie traute sich nicht, länger aus dem Fenster zu gucken, weil sie sich selbst keinen Reim darauf machen konnte.
    „Hör mir jetzt bitte genau zu“, verlangte ihre Mutter. „Du musst mir sagen, wie und wo all das begonnen hat, damit du zurück in die Realität finden kannst. Das ist der einzige Weg in dein Leben zurück, verstehst du? Was ist das Letzte, woran du dich erinnern kannst?“
    „Ich… weiß nicht so genau…“
    „Stina, das ist sehr wichtig. Wo bist du gewesen? Was hast du gesehen?“
    Zwei Hände packten sie an der Schulter, sie fühlten sich an wie Schraubzwingen.
    „Was hast du gesehen, Stina?“
    Das Gesicht ihrer Mutter war so nah, dass sie nur noch wegschauen konnte, wenn sie die Augen schloss. Aber auch das ging auf einmal nicht mehr – zwei dicke abgebrochene Streichhölzer klemmten zwischen ihren Augenlidern und hielten sie mit schmerzhafter Gewalt offen.
    „Antworte mir!“, fuhr ihre Mutter sie mit plötzlicher Schärfe an.
    „Ich habe nichts gesehen!“, jammerte Stina. „Ich habe überhaupt nichts gesehen!“
    „Lüg mich nicht an! Du steckst deine Nase ständig in Dinge, die dich nichts angehen, so bist du schon immer gewesen! Du hast etwas gesehen, und du wirst mir jetzt alles erzählen!“
    „Ich erzähle dir gar nichts – es gibt nichts zu erzählen!“ Vergeblich versuchte Stina, sich aus dem Griff ihrer Mutter zu lösen. Sie hatte sie längst mit ihren langen Armen eingewickelt wie eine Würgeschlange.
    „Wo bist du gewesen? Was hast du gesehen? Wo ist der Stein des Wissens?“
    „W… was…?“
    „Du hast mich schon gut verstanden, Stina. Der Stein des Wissens, wo ist er?“
    „Ich… ich weiß nicht was das sein soll! Ich weiß überhaupt nichts, bitte – bitte lass mich -“
    „Du weißt genau wovon ich spreche. Du hast den Stein des Wissens an dich genommen. Also, wo ist er jetzt? Wo ist er, Stina?
    Mit einer blitzartigen Bewegung packte ihre Mutter sie am Hals, riss sie in die Höhe und schleuderte sie von sich weg. Stina schrie auf, als sie mit dem Hinterkopf an die Glasscheibe des Fensters prallte und in einer roten Wolke kleiner Glassplitter zu Boden ging. Ihre Mutter war schon wieder auf dem Weg zu ihr, in der Hand eine Packung Tabletten.
    „Es hat sich überhaupt nichts verändert. Du bist immer noch zu nichts zu gebrauchen, wenn du deine Medikamente nicht nimmst.“
    Ihre Mutter öffnete die Schachtel, klipste ein paar Tabletten aus der Bläschenverpackung und stopfte sie ihr in den Mund. Stina wollte sie ausspucken, aber ihre Mutter presste die Hand auf ihre Lippen. Sie spürte, wie sich die Tabletten langsam wie von selbst über ihre Zunge nach hinten bewegten, unaufhaltsam auf ihren Rachen zu, bis sie eine nach der anderen in das Innerste ihres Körpers fielen.
    „Kannst du dich jetzt erinnern, Stina? Was hast du gesehen? Wo ist der Stein der Wissens?“
    „Ich weiß es nicht!“, wimmerte sie, als sich die Hand von ihrem Mund löste. „Ich… ich war in diesem Computerraum, aber ich habe doch keine Ahnung, was das alles war!“
    „Ein Computerraum, wie? Und da hast du nicht zufällig den Stein des Wissens in die Hände bekommen?“
    Stina fühlte eine warme Nässe am Hinterkopf. Der Aufprall musste sie ganz schön mitgenommen haben. Und da war noch etwas anderes, ein stechendes Gefühl in der Brust… Sie schaute an sich herab und sah eine splitterige Glasscheibe in ihrem Körper stecken, genau da wo sich ihr Herz befand. Sie sah ein bisschen aus wie das Glasstück, das sie Mike aus dem Gesicht gezogen hatte, aber ungleich größer, und sie förderte einen sprudelnden Blutfluss aus ihr zutage. Sie wunderte sich, dass es ihren Körper nicht glatt in der Mitte durchgeteilt hatte.
    „Stina! Ich habe dich etwas gefragt!“
    „Ich hab dir doch schon gesagt…“, murmelte sie. „Ich… weiß nicht…“
    Unvermittelt packte ihre Mutter sie am Hals und riss sie in die Höhe.
    „Lüg mich nicht an!“, fauchte sie, während Stina die Luft ausging. „Was hast du gesehen? Wo ist der Stein des Wissens?“
    Panisch versuchte sie irgendwie Luft zu bekommen, aber der Griff um ihren Hals wurde nur noch fester. Die Finger ihrer Mutter waren Kabelbinder, die sich immer enger zogen.
    Antworte mir!
    Röchelnd presste Stina ihre erstickten Wörter hervor.
    „Ich…weiß… es nicht…“
    Ihre Mutter schleuderte sie mit all ihrer Urgewalt von sich weg. Als ihr Körper ein weiteres Mal an das Fensterglas stieß, da hielt es nicht mehr stand und zerbrach in Myriaden kleiner Scherben. Sie hatte keinen Halt mehr und stürzte mit dem Rücken voran in die Tiefe, fiel vorbei an tausenden und abertausenden Stockwerken – und jedes Fenster war erleuchtet – aus jedem Fenster blickte ihr ihre Mutter entgegen – aber jetzt reichte sie ihr nicht mehr die Hand, jetzt sah sie ihr nur noch zu bei ihrem Sturz, solange bis Stina durch den Boden brach und das Kreischen des Schläfers ihren Kopf zum Platzen brachte.

    „Das reicht.“
    Lars beugte sich im triefend nassen Bürostuhl vor und rückte ein bisschen näher an die Webcam heran.
    „Sie weiß nichts, das ist offensichtlich. Lassen Sie sie gehen, meine Männer werden sie abholen.“
    In der Videoübertragung auf seinem Bildschirm warf Scheich Alshammari seiner an den Stuhl gefesselten Tochter einen prüfenden Blick zu, während einer der Techniker des Scheichs die Brille auf ihrem Gesicht neu justierte.
    „Unwahrscheinlich, dass sie nichts weiß“, antwortete ihm Alshammari, ohne sich zur Kamera umzudrehen. „Ihre Tochter wird kaum zufällig zum Zentralcomputer vorgedrungen sein. Sie ist dort gewesen, um etwas ganz Bestimmtes zu tun – den Computer zu manipulieren oder Informationen zu stehlen. Und niemand hätte sie aufgehalten, wenn meine Männer nicht gewesen wären. Meine Männer, Mister Wingefors, nicht Ihre. Vergessen Sie das nicht.“
    Lars fummelte am Knoten seiner tropfenden Krawatte herum, die als schweres Gewicht um seinen Hals hing. Die Hitze hatte zwar mit fortschreitender Stunde kaum nachgelassen, aber sie hatte bisher noch nicht ausgereicht, um das Sumpfwasser ganz aus seinem klatschnassen Anzug zu holen. Der Teppichboden seines Büros war übersät mit Wasserflecken, aber das beschäftigte ihn gerade am allerwenigsten. Auf seinem Monitor krümmte sich Stina in ihrem Stuhl zusammen und stieß ein paar Sekunden lang undeutliche Laute aus.
    „Hören Sie“, begann Lars und geriet direkt wieder ins Stocken. Ausgerechnet jetzt drohte ihm das arabische Vokabular abhanden zu kommen. „Meine Tochter, sie… sie lebt in ihrer eigenen Welt. Was auch immer sie ins Rechenzentrum getrieben hat, sie hat keine Ahnung, worum es sich wirklich handelt. Glauben Sie mir, ich habe wenige Stunden vorher noch mit ihr gesprochen. Sie weiß nichts.“
    Tatsächlich war das nicht die volle Wahrheit, denn er erinnerte sich noch gut an sein Erstaunen, als Stina ein ganz bestimmtes Wort in den Mund genommen hatte. Chromanin. Das war unerwartet gewesen, aber es musste natürlich nichts zu bedeuten haben. Es war ein Begriff aus den Gothic-Spielen, und Stina kommunizierte im Grunde fast ausschließlich in solchen Begriffen. Er dachte natürlich ohnehin nicht im Traum daran, diese kurze Irritation dem Scheich gegenüber zu erwähnen.
    „Vielleicht weiß sie wirklich nichts“, plärrte Alshammaris komprimierte Stimme aus dem Kopfhörer in seine Ohren. „Vielleicht ist das Verfahren auch nicht so wirkungsvoll wie Sie versprochen haben.“
    „Sämtliche Tests waren enorm vielversprechend“, erinnerte ihn Lars. „Das System funktioniert. Wenn sie etwas wüsste, dann hätte sie es längst gesagt. Sie ist nicht derart stark.“
    Sämtliche Tests, ja?“ Alshammari drehte sich zu ihm um und ging so nah an die Kamera heran, dass sein Gesicht fast die komplette Bildschirmfläche einnahm. „Haben Sie da nicht einen Test vergessen? Den entscheidenden Test, der am heutigen Tag in einem beispiellosen Fehlschlag geendet ist? Sehen Sie sich Ihren Park an, Mister Wingefors. Sieht das für Sie nach einem erfolgreichen Test aus?“
    „Es ist ein Rückschlag“, gestand Lars ein und wusste selbst, wie sehr er dabei untertrieb. In den letzten Stunden waren die Pläne von Jahren in sich zusammengefallen, und er hatte noch immer keinen Anhaltspunkt, wo genau der Fehler gelegen hatte. Irgendwo musste es den Moment gegeben haben, von dem an alles schiefgelaufen war, in dem sich das Sicherheitssystem gegen eben jene Menschen gerichtet hatte, auf deren Schutz es programmiert war. Lars glaubte nicht an einen einfachen Softwarefehler. Er hatte die besten Leute auf dem Gebiet angestellt – für sein Unternehmen arbeiteten zwei von vielleicht nur einem Dutzend Menschen auf der Welt, die neuronale Netze lesen konnten wie einen Waschzettel. Und nie hatte es während der bisherigen Tests auch nur einen winzigen Hinweis auf die Katastrophe gegeben, die sich in der World of Gothic an ihrem ersten und zweifellos auch letzten Tag ereignet hatte. Doch all das änderte nichts daran, dass er nach wie vor an die Technologie glaubte. Wenn es eine Chance gab, den Fehler zu finden und irgendwie weiterzumachen – vorsichtiger, weniger ambitioniert vielleicht zunächst, an einem anderen Ort – dann würde er sie nutzen.
    „Mein Sicherheitsdienst ist dabei, die Situation in den Griff zu bekommen“, fuhr er fort. „Der Zugang zu den Produktionsanlagen wird in diesen Minuten versiegelt, ganz wie im Notfallplan vorgesehen. Die Polizei wird eine Menge Fragen haben, und es wird Klagen geben, aber Sie brauchen keine Sorge zu haben, dass entscheidende Informationen nach außen gelangen werden. Ich bin auf alles vorbereitet.“
    Alshammari verzog das bärtige Gesicht zu einem spöttischen Grinsen.
    „Halten Sie mich tatsächlich für derart naiv, Mister Wingefors? Sie hatten Ihre Chance, und Sie haben versagt. Es ist an der Zeit, dass meine Männer übernehmen und Ihren Scherbenhaufen aufwischen, solange es noch eine Gelegenheit dazu gibt.“
    „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?“, zischte Lars ins Mikrofon seines Headsets. „Halten Sie sich da raus.“
    „Das ist leider keine Option mehr. Aber seien Sie unbesorgt, ich habe da jemanden, der sehr effektiv im Bereinigen von Spuren ist – und das ist nur eine seiner vielen nützlichen Fähigkeiten. Sie dürften mit seinem Werk vertraut sein, es war wochenlang in den Nachrichten. Die traurigen Vorfälle in Brühl und Soltau, Sie erinnern sich vielleicht?“
    Lars war niemand, dem es leicht die Sprache verschlug, aber er brauchte einen kleinen Moment länger als üblich, bevor er eine Antwort fand.
    „Wollen Sie damit sagen…?“
    „Sie haben doch nicht etwa an einen günstigen Zufall geglaubt? Monatelang bekommen Sie keine Genehmigung für Ihr Sicherheitssystem, und kaum finden in kurzem Abstand zwei Anschläge auf Freizeitparks statt, dauert es keine drei Wochen mehr bis der Weg frei ist. Sehr praktisch, nicht wahr?“
    „Das können Sie nicht ernst meinen – das haben Sie nicht wirklich getan. Was Sie da sagen, ist völliger Wahnsinn.“
    „Ich habe erwartet, dass Sie es so sehen würden“, entgegnete der Scheich mit desinteressierter Miene. „Aber Wahnsinn wäre es, Investitionen in Milliardenhöhe an der Engstirnigkeit einer Essener Behörde scheitern zu lassen. Vielleicht begreifen Sie jetzt, dass dieses Projekt ohne mein Zutun schon vor langer Zeit gescheitert wäre. Und wenn ich die Sache jetzt erneut Ihnen überlasse, dann wird es noch heute endgültig fehlschlagen. Es tut mir leid, Mister Wingefors, aber dazu bin ich nicht bereit.“
    „Sie werden gar nichts tun, Alshammari.“ Lars hielt es nicht mehr länger auf seinem Stuhl. „Sie haben Ihre Grenzen bereits mehr als einmal überschritten, und wenn Sie nicht auf der Stelle meine Tochter freigeben, dann werden Sie eine ganz andere Seite von mir kennenlernen.“
    „Ich bin gespannt.“ Der Scheich beugte sich über den Schreibtisch, auf dem seine Webcam stand, und griff nach der Tastatur. „Ich sage es Ihnen noch einmal im Guten, Mister Wingefors: Bleiben Sie in Ihrem Büro und lassen Sie uns unsere Arbeit machen. Und was Ihre Tochter betrifft… ich glaube, Sie wissen ebenso gut wie ich, dass ich sie nicht ohne Weiteres gehen lassen kann. Vielleicht werden wir auf konventionellere Methoden zurückgreifen müssen, um die Wahrheit aus ihr herauszubekommen.“
    „Alshammari, Sie -“
    Er suchte noch nach dem geeigneten arabischen Schimpfwort, als die Videoübertragung abbrach.
    „Jävla rövhål!“, fluchte er stattdessen und trat gegen das Schreibtischbein, wobei er beinahe auf dem glitschigen Teppichboden ausgerutscht wäre. Was bildete sich dieser verdammte Scheißkerl eigentlich ein?
    Der Moment dauert nur wenige Sekunden, dann hatte er sich wieder im Griff und sortierte seine Gedanken. Was ihn so in Rage gebracht hatte, das war in Wahrheit nicht Alshammari gewesen, erkannte er rasch, sondern seine eigene mangelnde Urteilskraft. Die Saudis waren stets als unkomplizierte Geldgeber aufgetreten, um deren Loyalität er sich wenige Gedanken gemacht hatte. Wie hatte er übersehen können, dass Alshammari ein derartig größenwahnsinniger Krimineller war, der nicht einmal vor Terrorismus zurückschreckte?
    „Herr Wingefors?“ Es klopfte an seiner Bürotür, und Lars wurde unangenehm bewusst, dass seine Sicherheitsleute draußen im Konferenzraum seinen kleinen lächerlichen Wutanfall mit angehört haben mussten. Er schnaufte noch einmal durch, wischte seine feuchten Haare halbwegs in Position und schloss die Tür auf.
    „Was ist?“
    Im Konferenzraum hatten die Leiter seiner Security-Teams eine provisorische Schaltzentrale aufgemacht. Der große Tisch war vollgestellt mit Laptops und Funkgeräten, und die meisten seiner Leute hatten ein Handy am Ohr. Wallner, sein Sicherheitschef, stand vor der Bürotür und hielt ihm ein Tablet entgegen.
    „Es geht um Ihre Anweisung von heute Nachmittag, die Bänder der Hotelaufnahmen zu prüfen. Sie hatten den Verdacht geäußert, dass eine kostümierte Person um die Mittagszeit hier im Hotel in ein Zimmer eingebrochen sein könnte. Sie erinnern sich?“
    „Was soll die Frage?“, knurrte Lars. „Ja, ja, ich erinnere mich. Wieso kommen Sie ausgerechnet jetzt damit an?“
    Tatsächlich hatte er das Ganze schon wieder völlig vergessen gehabt. Er hatte die Anfrage sowieso nur gestellt, um Stina zufriedenzustellen, und ganz sicher nicht erwartet, dass irgendetwas dabei herauskommen würde.
    „In der Technik hatten sie wohl den ganzen Nachmittag über Probleme, an die Aufnahmen heranzukommen. Scheint so, dass die Probleme im Rechenzentrum zu der Zeit schon losgingen. Aber gerade eben hatten sie endlich Erfolg.“
    Lars runzelte die Stirn. „Bedeutet das, dass es einen Durchbruch gab? Haben sie die Sache in den Griff bekommen?“
    „Schwer zu sagen“, entgegnete Wallner. „Tatsächlich habe ich Berichte davon, dass sich die Roboter passiver verhalten, aber bisher konnten wir sie nicht verifizieren. Ich halte Sie auf dem Laufenden.“
    „Gut.“ Das war ein kleiner Hoffnungsschimmer, aber für den Moment auch nicht mehr als das. „Noch etwas?“
    „Die Aufnahme“, sagte der Sicherheitschef und streckte ihm das Tablet entgegen. „Wollen Sie einen Blick darauf werfen?“
    Lars stutzte.
    „Das heißt… es gibt eine Aufnahme? Die Kameras haben so eine Person aufgezeichnet?“
    „Positiv, Sie hatten recht mit Ihrem Verdacht“, bestätigte Wallner und drückte den Play-Button. „Eine Person im Kostüm eines sogenannten Suchenden ist in das Zimmer der Eheleute Pankratz eingebrochen. Sie hat den Raum durchsucht und ist wenige Minuten später wieder gegangen.“
    Er spulte vor, bis die Aufnahme den Kuttenträger beim Verlassen des Hotelzimmers zeigte.
    „Einige meiner Leute waren zu der Zeit nur einen Gang weiter und haben nichts bemerkt. Ich werde die Sache zu gegebener Zeit mit ihnen besprechen, das hätte so natürlich nicht stattfinden dürfen.“
    Lars hätte sich nicht weniger dafür interessieren können, welche Disziplinarmaßnahmen Wallner für seine Untergebenen im Kopf hatte. Beim Anblick der Szene beschäftigte ihn eine ganz andere Frage.
    „Wieso hat das Sicherheitssystem das nicht gemeldet? Das hier ist ein eindeutiger Einbruch, und wir haben ihn auf Kamera. Das System hätte anschlagen müssen.“
    „Unklar. Werde das mit der Technik besprechen, aber das hat natürlich gerade keine Priorität.“
    „Wissen wir wenigstens, wohin dieser Suchende danach gegangen ist? Wir haben alles auf Kamera, wir müssen herausfinden können, wer in diesem Kostüm steckt.“
    „Ich habe bereits eine entsprechende Anfrage an die Technik gestellt, sie suchen automatisiert alle Bänder ab“, sagte Wallner und rief auf dem Tablet ein anderes Video auf. „Im Moment haben wir nur noch diese weitere Aufnahme hier. Sie wurde eine Minute später im gleichen Stockwerk aufgenommen.“
    Er startete das Video, das einen anderen Hotelkorridor zeigte. Nach ein paar Sekunden kam der Suchende ins Bild, öffnete eine unbeschriftete Tür und verschwand in dem Raum dahinter.
    „Personaltoiletten“, erklärte der Sicherheitschef. „Wie Sie wissen, sind die Toiletten die einzigen Räume ohne Videoüberwachung. Der Eindringling muss das gewusst haben, und er musste auch wissen, wo die Personaltoiletten zu finden sind. Ohne Ausschilderung ist das für einen Uneingeweihten nicht ohne Weiteres erkennbar.“
    „Aber dieser Suchende hockt nicht immer noch auf der Toilette, richtig? Er muss wieder herausgekommen sein.“
    „Er hat die Toilette etwa eine Dreiviertelstunde später wieder verlassen.“
    „So lange war er dort?“
    „Das glauben wir nicht. Kurz nachdem der Suchende hineingegangen ist, hat eine Person den Toilettenraum unkostümiert verlassen und vierzig Minuten später wieder betreten – mutmaßlich die Zielperson. Wir gehen davon aus, dass der Eindringling den Toilettenraum genutzt hat, um das Kostüm vorübergehend abzulegen und dort zu deponieren. Schauen Sie.“
    Wallner spulte vor, bis sich die Toilettentür öffnete und ein Mann mit gesenktem Kopf den Raum verließ.
    „Wie Sie sehen, ist es kein Unbekannter.“
    Lars drückte auf die Pausentaste und starrte die gebeugte Person auf dem schlecht ausgeleuchteten Überwachungskamerabild an. Er wusste sich überhaupt keinen Reim darauf zu machen, aber er hatte keinen Zweifel, wen er da sah.
    „Was -“
    Das Tablet piepste laut auf, als eine neue Nachricht einging. Wallner nahm ihm das Gerät wieder ab und öffnete sie mit konzentrierter Miene.
    „Das ist die Antwort aus der Technik. Es gibt mehrere Mitarbeiter, die ein Suchendenkostüm bei der Arbeit tragen, und die Kostüme sehen sich zu ähnlich, um eindeutig bestimmen zu können, welcher von ihnen derjenige im Hotel war. Aber wir haben jetzt eine Liste aller Orte, an denen ein Suchender vom System erfasst wurde.“
    Lars beugte sich neben Wallner über den Bildschirm, als ihm ein Ort sofort ins Auge sprang. An Wallners Miene konnte er ablesen, dass es ihm ähnlich erging.
    Um neun Uhr siebenundzwanzig war ein Suchender im Rechenzentrum gewesen.
    Stina hatte goldrichtig gelegen, begriff Lars. Sie hatte nicht herumgesponnen, sie hatte ihn früh genug gewarnt, um ihm die Chance zu geben, die Katastrophe vielleicht noch abzuwenden – wenn er sie denn ernst genug genommen hätte. Jetzt lag der Park in Trümmern, und er konnte nur noch versuchen, das Allerschlimmste zu verhindern.
    „Rufen Sie Ihre Leute zusammen“, befahl er Wallner. „Finden Sie ihn. Und da ist noch etwas…“
    „Was ist es?“
    Sein Blick blieb an einer Stelle des Konferenztisches hängen. Zwischen zwei Laptops und einer halb ausgetrunkenen Colaflasche lag immer noch Stinas Baseballkappe herum, die er ihr heute Mittag abgenommen hatte.
    „Meine Tochter wird von Alshammaris Leibwächtern im Gebäude des Rechenzentrums gefangen gehalten. Holen Sie sie da raus, egal wie. Und seien Sie diesmal schnell genug.“

    Fünftausend Euro.
    Das war mehr als er dafür bekommen hätte, sich den ganzen Sommer hindurch in der Hitze abzuquälen. Heute Morgen hatte er sich noch nicht träumen lassen, dass er noch am gleichen Abend einen Briefumschlag voller Geldscheine in der Hand halten würde – er wusste nicht, wie oft er die Scheine schon durchgeblättert hatte in den vergangenen Stunden. Er hatte ja auch nichts anderes zu tun, und genau das war das Problem an der Sache.
    Seufzend setzte sich Gerry einmal mehr auf den unbequemen Boden aus sandfarbenen Pflastersteinen und lehnte den Kopf an die harte Wand. Seine Stirn schmerzte noch immer höllisch, von den Kopfschmerzen ganz zu schweigen. Er wusste nicht ob sie vom Aufprall kamen oder von dem Betäubungsmittel, das ihm die Arschlöcher gespritzt hatten, aber er würde wohl noch eine ganze Weile was von diesen Kopfschmerzen haben. Trotzdem war er nach den ersten Schreckminuten noch guten Mutes gewesen, als er nur in Unterwäsche in dieser kleinen Kammer erwacht war – es musste jetzt mittlerweile schon sechs oder sieben Stunden her sein, aber ohne Uhr und Handy war das schwer zu sagen. Der enge Raum war völlig unmöbliert und auch sonst völlig leer – bis auf den Umschlag mit dem Geld, drei Flaschen Wasser, einer Packung Kekse und einer handschriftlichen Notiz: Das ist für die Unannehmlichkeiten. Heute Abend bist du wieder draußen.
    Einen Tag lang Langeweile in einem leeren Raum für fünftausend Euro, das war ein Angebot, das er jederzeit ohne mit der Wimper zu zucken angenommen hätte. Das war ein hervorragender Deal, das war vielleicht sogar ein echter Glücksfall, versuchte er sich einzureden. Aber inzwischen hatte er zweieinhalb Flaschen leergetrunken und die meisten Kekse vertilgt, und es gab noch immer keine Anzeichen dafür, dass ihn irgendwer freilassen würde. Die einzige Tür war felsenfest verschlossen, daran hatte er schon mehrmals vergeblich herumgerüttelt – mehr zum Zeitvertreib als aus einer echten Hoffnung heraus, sie irgendwie aufzukriegen. Ohnehin hielt er es eigentlich für das Beste, einfach ganz entspannt darauf zu warten, dass man ihn irgendwann wieder herauslassen würde. Aber was, wenn dieser Moment niemals kommen würde? Er traute sich schon gar nicht mehr, etwas zu trinken, obwohl ihm die Hitze trotz seiner spärlichen Bekleidung beständig zu schaffen machte.
    Vor allem aber beschäftigte ihn mehr und mehr die Frage, wieso ihn überhaupt jemand hatte gefangennehmen wollen. Der einzige Grund, der ihm einfiel, war sein Kostüm. Das hatten sie ihm abgenommen, aber hätte dazu nicht ein einfacher Diebstahl gereicht? Es waren mindestens zwei gewesen, und sie mussten das gut geplant haben – aber zu welchem Zweck, das war Gerry nach wie vor ein Rätsel. Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr Angst machte ihm das alles. Wer sagte ihm, dass er den Verfassern dieser Botschaft ein Wort glauben konnte? Woher wusste er überhaupt, dass das Geld echt war? Vielleicht war das bloß ein Trick, um dafür zu sorgen, dass er sich möglichst lange ruhig verhielt, dass er gar nicht erst versuchte, zu fliehen. Und wenn er dann irgendwann begreifen würde, dass niemand plante, ihn rauszuholen, dann würde er längst zu geschwächt sein, um sich einen Fluchtplan ausdenken zu können oder die Tür einzutreten oder was auch immer überhaupt in Frage kam. Vielleicht würde er diesen Raum niemals mehr verlassen, vielleicht -
    Gerrys Gedankenkreisel kam abrupt zum Stillstand, als er von draußen ein Geräusch hörte. Er hatte ab und zu dumpfe Geräusche vernommen und sich manchmal auch eingebildet, Stimmen wahrzunehmen, aber nie waren sie nah genug gewesen, um auch nur ein einziges klares Wort herauszuhören. Diesmal war es anders. Dieses Geräusch kam von direkt hinter der Tür.
    Alarmiert richtete sich Gerry auf. Was, wenn sie nicht kamen, um ihn zu retten, sondern um ihn endgültig aus dem Weg zu schaffen? Sein Blick suchte hektisch den Raum ab, aber das einzige, was als Waffe infrage kam, waren die Wasserflaschen – und die waren alle aus Plastik. Gerry bezweifelte, dass er jemanden damit K. O. schlagen konnte. Hilflos und ängstlich starrte er zur Tür, als er begriff, dass er tatsächlich das lang ersehnte Geräusch eines sich im Schloss drehenden Schlüssels hörte.
    Die Klinke bewegte sich nach unten, und die Tür wurde aufgestoßen.
    Eine groß gewachsene Gestalt stand auf der Türschwelle, eingehüllt in eine schwarz-rote Kultistenkutte. Unter der Kapuze blickte ihm eine bleiche Maske entgegen.

    Jetzt waren sie alle fort.
    Das Wüten des Schläfers war nicht mehr zu hören, und um sie herum herrschte nur noch Dunkelheit. Auch ihr eigener Körper hatte sie verlassen, sie war ein Geist in der Stille. Stina fühlte sich so schrecklich einsam, dass sie sich sogar ihre Mutter zurückwünschte.
    Es war eine Erleichterung, als das laute Heulen einsetzte, obwohl sie glaubte, dass es ihre Ohren zum Bersten bringen würde. Aber das bedeutete auch, dass sie ihre Ohren wieder spüren konnte, begriff sie, und gab sich dem Heulen hin.
    „Frau Arends, können Sie mich hören?“
    Mit einem Mal wurde ihr die Schwärze von den Augen gezogen. Weißes Licht blendete sie, und ein Mann mit raspelkurzen Haaren beugte sich über ihr Gesicht. In der Hand hielt er das brillenförmige Gerät, das er von ihrem Gesicht genommen hatte, und das durch drei dicke Kabelstränge mit einem großen Computer zu ihrer Rechten verbunden war.
    „Alles in Ordnung, Frau Arends?“
    Langsam fügten sich die verschwommenen Gesichtszüge des Mannes zu einem bekannten Bild zusammen.
    „F… Frank?“, nuschelte sie in das Heulen der Sirenen hinein.
    „Ich wusste gar nicht, dass wir uns duzen“, gab er mit der leisen Andeutung eines Schmunzelns zurück. „Aber mir ist es gleich. Ja, ich bin es.“
    „D… der… Sch… Schläfer…“
    „Wie bitte?“
    „Der… Sch…“
    „Hör zu, was immer du in diesem Apparat hier gesehen hast, es war nicht real.“ Frank legte die Brille auf einem Tisch ab und machte sich daran, ihre Armschlaufen zu lösen. Als seine Hand ihren Arm berührte, zuckte Stina zusammen. Auf einmal hatte sie das Bild der geladenen Waffe wieder vor Augen, die auf sie gerichtet gewesen war – und Franks zu allem entschlossenen Blick. Hektisch wollte sie mit der Hand nach einem Gegenstand zur Verteidigung suchen, aber ihre beiden Arme waren mit festen Schlaufen an die Lehnen des Stuhls gefesselt.
    „Hey, immer mit der Ruhe.“ Frank senkte seine Stimme so weit, dass ihn Stina angesichts der lauten Sirenen kaum verstehen konnte. „Das ist nicht ganz optimal gelaufen vorhin im Serverraum, aber ich kann dir alles erklären, okay? Wir haben nicht viel Zeit. Der falsche Alarm sollte Alshammaris Männer für ein paar Minuten ablenken, aber sie können jederzeit wiederkommen. Wir sollten zusehen, dass wir hier verschwinden. Kannst du laufen?“
    Frank hatte die Verschlüsse an den Armlehnen gelöst, und Stina stemmte sich mühsam in die Höhe.
    „Ich… glaube schon“, krächzte sie aus trockener Kehle. „Wo sind wir hier? Immer noch im Rechenzentrum?“
    Der Raum, in dem sie sich befanden, sah aus wie ein verlassenes Büro, das allerdings mit Unmengen an technischen Geräten und Computern vollgestopft war.
    „Ja“, bestätigte Frank ihre Vermutung und half ihr bei den ersten paar Schritten. „Oberster Stock. Alshammaris Leute haben hier in Quartier aufgeschlagen.“
    „Alshamma… shamm…?“ Ein plötzlicher Schwindelanfall drohte sie in die Knie zu zwingen, aber Frank stützte sie rechtzeitig ab.
    „Können wir später besprechen. Wir müssen hier raus.“
    Er öffnete die Tür und sie gingen hinaus auf den Flur, wo der Alarm sogar noch ein bisschen lauter heulte. So schnell es ging eilte Stina mit Franks Hilfe zur Treppe und stolperte hastig die Stufen hinunter. Immer wieder glaubte sie das Kreischen des Schläfers unter den Sirenen wahrzunehmen, und erst als sie im Erdgeschoss angekommen waren und Frank sie durch eine Tür ins Freie führte, drang in ihr die Erkenntnis durch, dass das zerstörerische Wüten des Erzdämons nur in ihrem Kopf stattgefunden hatte – oder auf dem Bildschirm dieser Brille, die sie eben noch getragen hatte. Die Bilder einer blutrot brennenden Sonne waren immer noch so lebhaft in ihrem Kopf, dass der schwarze Nachthimmel im ersten Moment fast unwirklich auf sie wirkte. Gleichzeitig aber wurde die Gewissheit immer stärker, dass sie wieder den Boden der Realität unter den Füßen hatte. Der Schläfer war nicht hier. Ihr Vater war nicht tot. Und ihre Mutter…
    Sie hatte keine Ahnung wo ihre Mutter war. Stina wusste weder, ob sie sich noch in psychiatrischer Behandlung befand, noch ob sie überhaupt noch in Deutschland lebte. Natürlich war es nicht ganz abwegig, dass sie zur Eröffnung eines Gothic-Freizeitparks kommen würde, zumindest nicht wenn sie noch immer genauso begeistert von den Spielen war wie damals. Stina hatte lange gezögert, bevor sie ihren Vater um die Eintrittskarten gebeten hatte, und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass es wegen ihrer Mutter gewesen war. Aber die Frau in ihrem Fiebertraum, das war nicht ihre Mutter gewesen. Vermutlich würde ihre echte Mutter sie nicht einmal wiedererkennen, erst recht nicht jetzt mit ihren gefärbten Haaren, und wahrscheinlich interessierte sie sich auch gar nicht für sie. Vielleicht war sie längst tot, dachte Stina plötzlich, und wusste nicht, ob ihr der Gedanke gefiel oder ihr Angst machte.
    „Stina.“ Frank war so plötzlich vor ihr stehen geblieben, dass sie fast in ihn hineingelaufen wäre. „Den USB-Stick, den du im Rechenzentrum an dich genommen hast… hast du ihn dabei? Oder haben sie ihn dir abgenommen?“
    „USB-Stick…?“
    „Stina, du musst dich nicht dumm stellen. Ich weiß, dass ich dich nicht mit der Waffe hätte bedrohen sollen, das war ein Fehler. Aber es ist sehr wichtig, dass du mir jetzt die Wahrheit sagst. Haben sie ihn dir abgenommen?“
    „Ich… ich weiß nicht…“ Sie hielt sich den schwindeligen Kopf und suchte Halt an Franks Schulter. „Dieser riesige Tempelcrawler ist durch den Boden gebrochen, und dann… ich habe keine Ahnung, was danach passiert ist.“
    Sie tastete in ihren Hosentaschen und fand darin das halbe Schläferamulett, ihr Portemonnaie und ihr Handy. Es steckte in der falschen Hosentasche, also mussten es ihre Entführer zwischenzeitlich in den Händen gehabt haben. Leider hatten sie ihr nicht den Gefallen getan, den Akku aufzuladen.
    „Sie haben meine Taschen durchwühlt“, murmelte sie. „Vielleicht… hatte ich ihn in der Hosentasche. Ich weiß es nicht mehr… ich… ich kann mich einfach nicht erinnern…“
    „Ist schon okay“, versuchte sie Frank zu beruhigen. „Wenn es dir einfallen sollte, dann sag mir bitte Bescheid.“
    „Was ist überhaupt so wichtig an diesem USB-Stick? Y’berion… und du… meine Mutter… wieso wollt ihr ihn alle haben?“
    „Y’berion? Deine Mutter?“ Trotz der Dunkelheit entging ihr Franks irritierter Gesichtsausdruck nicht. „Wir reden gleich in Ruhe darüber, ja? Wir müssen weiter, bevor sie uns finden.“
    Es war so dunkel, dass sie kaum erkennen konnte, wohin Frank sie führte. Als sie eine große Mauer erreichten, verhallte der Alarm aus dem Rechenzentrum hinter ihnen abrupt. Nur ein paar Polizeisirenen waren noch in der Ferne zu hören.
    „Wo gehen wir hin?“, fragte sie Frank, während sie ihm die Mauer entlang folgte.
    „Wir statten jemandem einen Besuch ab. Vielleicht können wir dann etwas Licht ins Dunkel bringen.“
    Plötzlich kamen ihr große Zweifel, ob es wirklich so eine gute Idee war, Frank hinterherzurennen – sie hatte keine Ahnung, wer er eigentlich war, ein ganz normaler Sicherheitsmann im Auftrag ihres Vaters allerdings wohl kaum. Stina wollte schon stehen bleiben, aber die Furcht vor den Männern, die sie gefangen genommen hatten, war größer. Allein wäre sie in ihrer verwirrten Verfassung ohnehin aufgeschmissen im nächtlichen Freizeitpark.
    „Komm, hier rein.“
    Frank hatte eine Tür in der Mauer aufgeschlossen und bedeutete ihr, einzutreten. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass die Mauer Teil des Schläfertempels war. Sie erinnerte sich noch, wie sie unbedingt hinein gewollt hatte, wie sie deswegen vergeblich versucht hatte, Nadine zu erreichen, aber das schien in einem völlig anderen Leben gewesen zu sein.
    Hinter der Tür lag ein steinerner Gang, an dessen Wänden brennende Fackeln hingen. Stina glaubte, Stimmen vom anderen Ende des Korridors zu hören. Nachdem Frank die Tür wieder hinter sich verschlossen hatte, folgte sie ihm durch den Gang, bis sie eine größere, hell erleuchtete Kammer erreichten. Wände und Boden des Raumes waren zwar im Stile des Schläfertempels gehalten, aber es schien sich offensichtlich nicht um einen Bereich zu handeln, der für Parkbesucher vorgesehen war. Auf mehreren Tischen waren Computerbildschirme aufgestellt, und an einer der Wände befand sich eine kleine Küchenzeile mit Kühlschrank und Spüle. Stina nahm das alles aber nur für den Bruchteil eine Sekunde wahr, bevor ihr Blick auf die beiden Personen im Raum fiel: An einem der Tische saß ein Mann im schon etwas fortgeschrittenen Alter und starrte auf einen von drei vor ihm aufgestellten Laptops, während die zweite Person offenbar gerade erst von der anderen Seite hereingekommen war. Sie war so hochgewachsen, dass sie mit dem Kopf beinahe an die niedrige Decke stieß, und sie war von Kopf bis Fuß in eine schwarz-rote Kapuzenrobe gehüllt. Stina blieb wie angefroren stehen, als sich die Maske des Suchenden in ihre Richtung drehte.
    „Scheiße!“ Der Mann am Laptop sprang mit weit aufgerissenen Augen auf, als er Stina und Frank bemerkte. Er wirkte irgendwie bekannt auf sie, aber Stina kam nicht darauf, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte.
    Frank hob beschwichtigend die Arme und machte ein paar langsame Schritte in den Raum hinein.
    „Was geteilt, wird wieder vereint.“
    „Wenn auch nur kurz massiv voneinander getrennt“, vollendete der Suchende den Satz.
    Dem Mann am Laptop war die Erleichterung deutlich anzusehen. „Das wird aber auch Zeit, dass ihr hier auftaucht. Wer von euch beiden ist Biff? Und wieso seid ihr plötzlich zu zweit? Das war so nicht abgesprochen.“
    „Überhaupt nichts ist so gelaufen wie abgesprochen." Der Suchende deutete mit dem behandschuhten Zeigefinger auf Stina. „Du hast uns kreuz und quer durch den Park geführt, nur nicht zu den Produktionsanlagen. Ich dachte schon, der Peilsender hätte mich zur falschen Person gebracht und du hättest überhaupt keine Ahnung, worum es eigentlich geht.“
    „Ich glaube, mit dieser Vermutung lagst du auch nicht ganz falsch.“ Frank nahm Stina beim Arm und ging mit ihr gemeinsam zum Tisch. Stina fühlte sich alles andere als wohl dabei – das Maskengesicht des Suchenden jagte ihr jedes Mal einen Schrecken ein, wenn sie einen Blick darauf riskierte – aber ihre Neugier war größer als die Angst. Sie wollte endlich wissen, was hier eigentlich gespielt wurde, also ging sie widerstandslos mit und setzte sich neben Frank auf einen der Stühle.
    „Stina, willst du uns vielleicht zeigen, was da um deinen Hals hängt?“ Frank schaute sie auffordernd an, und Stina fühlte sich plötzlich wie auf der Anklagebank. Das goldene Plastikamulett hing noch immer an dem gelben Stoffband um ihren Hals. Sie holte es unter ihrem T-Shirt hervor und hielt es Frank entgegen.
    „Das ist das Auge Innos’“, erklärte sie mit gerunzelter Stirn. „Das hab ich von einer Bude im Jharkendarbereich für ein paar Euro bekommen. Aber was soll das jetzt für eine Rolle spielen?“
    „Eine ganz entscheidende“, behauptete Frank. „Hast du es dir von Bennet zusammenbauen lassen, oder kann es sein, dass du es schon fertig vorgefunden hast? Dass du es gestohlen hast?“
    „Ich habe überhaupt nichts gestohlen, ich habe sieben Euro dafür bezahlt!“, verteidigte sich Stina. „Aber ja, dieser Bennet hat ewig gebraucht und ich wollte sowieso lieber eins mit violettem Edelstein haben, weil der Edelstein im Auge Innos’ ja nun mal einfach violett ist und nicht orange oder rot oder blau. Und da lag schon ein Fertiges rum in der richtigen Farbe, also habe ich mir eben das genommen. Na und?“
    Die Augen des Mannes am Laptop waren bei ihrer Erzählung größer geworden.
    „Ich wusste gleich, dass ich dich schon mal irgendwo gesehen hatte! Du hast dir das Auge einfach aus meiner Hütte genommen? Ohne überhaupt irgendeine Ahnung zu haben?“
    Jetzt wusste sie endlich, wo sie dem Mann zum ersten Mal begegnet war: Das war der Kerl gewesen, der so eine miserable Performance als Bennet-Darsteller hingelegt hatte.
    „Wovon habe ich keine Ahnung?“, gab Stina verständnislos zurück. „Ich wollte einfach nur ein richtiges Auge Innos’ haben, das ist alles! Könnt ihr mir vielleicht endlich mal erklären, was hier eigentlich los ist? Und kann der da vielleicht mal aufhören, mich die ganze Zeit durch diese gruselige Maske anzustarren!“
    Der Suchende, der die ganze Zeit wie versteinert vor dem Ausgang stehen geblieben war, fühlte sich zurecht angesprochen und schritt mit wallender Robe auf den Tisch zu.
    „Du hast recht“, sagte er in verbittertem Tonfall. „Wir sind längst über den Punkt hinaus, an dem diese Maskerade noch einen Zweck erfüllt. Ich schätze, wir haben keine andere Wahl, als offen miteinander zu sein und gemeinsam zu versuchen, eine Lösung zu finden.“
    Der Suchende setzt sich zwischen Stina und Frank auf einen freien Stuhl und fummelte an seiner Maske herum, bis er die Bänder gelöst hatte, mit denen sie an seinem Hinterkopf festgezurrt war. Als er die Kapuze zurückzog und die Maske mit einer achtlosen Handbewegung vor sich auf den Tisch schmiss, da fühlte Stina den Boden der Realität unter ihren Füßen wegbrechen. Sie rechnete damit, jederzeit auf ihrem Stuhl nach hinten zu kippen und erneut ins Bodenlose zu fallen. Einige Sekunden lang brachte sie kein Wort heraus.
    „Was ist?“, kommentierte er ihren Blick irritiert. „Kennen wir uns?“
    „Soll das ein Witz sein?“, stammelte Stina verdattert. „Ich hab dir heute den Arsch gerettet, Mike! Ich… ich meine, wir… du kannst mir doch nicht erzählen, dass du dich nicht an mich erinnerst!“
    Seufzend lehnte sich Mike auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hast also Mike getroffen, verstehe.“
    „Was soll das heißen, ich habe Mike getroffen? Ich habe dich getroffen! Ich hab dich aus dem Autowrack gerettet, wir sind zusammen vor den Beißern weggerannt! Da – die blutige Stelle im Gesicht, da hab ich dir eine Glasscherbe rausgezogen, weil du dich nicht getraut hast!“
    „Ja, das sieht ihm ähnlich“, sagte Mike. Stina fiel auf, dass er ganz anders sprach als vorher – er nuschelte die Wörter nicht mehr so liebenswert weg wie es eigentlich typisch für ihn war. Das Rotzige war ihm zwar nicht völlig abhanden gekommen, aber gleichzeitig klang er auch ein bisschen so, als wollte er einen Vortrag an einer Universität halten. Kein Wunder, dass sie die Stimme unter der Suchendenmaske nicht erkannt hatte: Dieser Mike wirkte von seiner ganzen Art her wie ausgewechselt.
    „Schau, Mike ist sicher ein guter Kerl, aber er ist nicht gerade der Entscheidungsfreudigste.“ Mike holte sein Handy aus der Hosentasche und hielt ihr den Bildschirm entgegen – es war ein schickes neues iPhone, und Stina war sich ziemlich sicher, dass Mike vorhin im Pausenraum des Rechenzentrums noch ein ganz anderes Modell in der Hand gehabt hatte. Auf dem Display waren lauter weiße und schwarze Kreise zu sehen, es musste irgendein Brettspiel sein. Offenbar war die weiße Seite gerade an der Reihe.
    „Ich warte schon den ganzen Tag darauf, dass er seinen nächsten Zug macht“, erläuterte Mike. „Dabei gibt es sowieso nur zwei echte Optionen für ihn. Angriff oder Verteidigung. Yin oder Yang. Das ist eine Sache, die man einmal kurz abwägt – und dann entscheidet man sich für das Eine oder eben das Andere. Und dann geht das Leben weiter, auf die eine oder die andere Weise, und man kommt damit klar. Aber nicht so Mike. Er braucht für jede noch so lächerliche Entscheidung Stunden, Tage, manchmal Wochen. Und für einige würde er ein ganzes Leben brauchen und nicht einmal das würde ihm reichen, wenn es mich nicht gäbe. Er braucht jemanden, der ab und zu für ihn einspringt und die harten Entscheidungen trifft. Und dieser Jemand bin eben ich.“
    Stina dröhnte schon wieder der Kopf, und sie wusste nicht ob das wirklich noch von ihrer Zeit unter der komischen VR-Brille herrührte.
    „Du… bist also…?“
    „Auch Mike, natürlich. Mike, wie er gerne wäre, wenn er ehrlich zu sich selbst ist. Ist er aber natürlich nicht, deswegen schiebt er mich immer weiter von sich weg und lässt mich kaum noch an seinem Leben teilhaben. Dabei wäre er ohne mich überhaupt nicht mehr lebensfähig. Er bekommt die Chance dazu, sein absolutes Traumprojekt zu verwirklichen, und was macht er? Er zögert. Es ist immer an mir, die Initiative zu ergreifen.“
    Er beugte sich auf dem Sitz nach vorne und drückte Stina den Zeigefinger auf die Brust.
    „Ich sage dir was: Ohne mich hätte es kein Gothic gegeben. Er hätte jahrelange Arbeit weggeworfen, nur um es sich weiter in seiner Passivität gemütlich machen zu können. Dieses T-Shirt, das du da trägst, das Amulett um deinen Hals… dieser ganze Park… das gibt es alles nur wegen mir. Auch wenn das leider nicht nur etwas Gutes ist.“
    Stina wusste gar nicht, wie sie auf diesen Redeschwall reagieren sollte. Sie war sich allerdings ziemlich sicher, dass ihr der echte Mike besser gefallen hatte.
    „Okay…“, begann sie langsam. „Aber warum diese Verkleidung? Ich habe immer noch keine Ahnung, was ihr hier eigentlich alle macht.“
    Bennet räusperte sich. „Vielleicht hast du schon einmal vom anonymen Journalistenkollektiv Anakalyptos gehört?“
    „Äh… kann sein?“ Stina überlegte. „Sind das nicht die, wegen denen der Altenkamp so in der Bredouille ist?“
    „Genau die“, bestätigte Bennet und schien tatsächlich ein bisschen zufrieden darüber zu sein, dass sie mit dem Namen etwas hatte anfangen können. „Ich bin Teil dieses Kollektivs, auch wenn es mit der Anonymität wohl gerade leider etwas hapert. Die Enthüllungen über Altenkamps korrupte Verbindungen nach Aserbaidschan und Saudi-Arabien sind das Ergebnis meiner Arbeit, aber sie waren nur der Anfang von etwas viel Größerem. Bei den Recherchen bin ich irgendwann auf einen weiteren Namen gestoßen. Wingefors.“
    „Was soll mein Vater damit zu tun haben?“ Irgendwie fühlte sich Stina schon von der bloßen Andeutung irgendwelcher unlauterer Aktivitäten angegriffen, obwohl sie mit den Geschäften ihres Vaters ja überhaupt nichts zu tun hatte.
    „Lars Wingefors ist ihr Vater?“, wandte sich Mike alarmiert an Frank. „Was hat das zu bedeuten, Biff? Wir sitzen hier und plaudern gemütlich alles an Wingefors’ Tochter aus?“
    „Keine Sorge, sie steckt da nicht mit drin“, beschwichtigte Frank. „Ich dachte auch zuerst, dass sie in seinem Auftrag arbeitet und uns ganz bewusst an der Nase herumgeführt hat, aber mittlerweile bin ich mir sicher, dass sie nichts weiß. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie von den Saudis gefoltert wurde.“
    Stina fühlte sich plötzlich sehr unwohl in ihrer Haut, als sie Mike und Bennet misstrauisch beäugten.
    „Guckt mich doch nicht so an, ich habe keine Ahnung was mein Vater da macht! Ich seh ihn höchstens jedes halbe Jahr mal, und es ist jetzt auch nicht so, dass er mir da besonders viel erzählt. Wenn ihr es genau wissen wollt, war ich nicht mal besonders scharf drauf, ihm heute zu begegnen. Alles was ich wollte, war einen ganz normalen Tag hier im Park zu haben und vielleicht noch ein paar Autogramme abzustauben!“
    Sie hatte das Gefühl, damit schon viel zu viele Details aus ihrem Privatleben preisgegeben zu haben, aber sie wollte unbedingt die ganze Geschichte hören, und das würde nur möglich sein, wenn sie niemand für einen Spitzel ihres Vaters hielt.
    „Ich habe das vorhin gecheckt, soweit es auf die Schnelle ging“, sagte Frank. „Sie macht eine Ausbildung zur Floristin hier in Essen und ist mit einer Arbeitskollegin und deren Familie in den Park gekommen. Nichts deutet auf eine enge Beziehung zu ihrem Vater hin. Und außerdem…“
    Er deutete auf die Aufschrift Security auf dem Oberteil seiner schwarzen Kleidung.
    „Außerdem ist das hier keine Verkleidung. Ich bin Teil von Wingefors’ Sicherheitsdienst, und bis heute wusste ich nicht einmal, dass er eine Tochter in Deutschland hat. Sie spielt für ihn keine Rolle.“
    „Sag ich doch“, fügte Stina hinzu, auch wenn sein letzter Satz ein bisschen weh getan hatte.
    „Wir hatten schon vermutet, dass du Teil des Sicherheitsapparats sein musst“, sagte Bennet an Frank gerichtet. „Deine Informationen waren zu präzise und weitreichend, um von einem ganz normalen Parkmitarbeiter zu stammen.“
    „Ich bezweifle, dass irgendein normaler Parkmitarbeiter weiß, was hier läuft“, bestätigte Frank. „Nicht einmal in unseren Security-Teams ist jeder eingeweiht. Ich selbst sollte eigentlich auch von den meisten Sachen nichts wissen.“
    „Wovon genau nichts wissen?“, ging Stina dazwischen, die ihre Neugier langsam nicht mehr im Zaum halten konnte. „Könntet ihr jetzt vielleicht endlich mal zum Punkt kommen?“
    Bennet beäugte sie ein weiteres Mal, wirkte dabei aber zum Glück nicht mehr ganz so argwöhnisch wie zuvor.
    „Also gut. Bei meinen Recherchen bin ich irgendwann auch auf die Kooperation zwischen Saudi-Arabien und der Embracer Group gestoßen – sie ist auch kein Geheimnis. Allerdings deutete einiges darauf hin, dass es bei der Zusammenarbeit mit Scheich Alshammari und seiner Organisation in erster Linie nie um Computerspiele ging, und auch nicht um einen Freizeitpark. Mein Gefühl war, dass die World of Gothic bloß eine Tarnung für ein ganz anderes Projekt war, aber es war zunächst nicht mehr als das – nur ein Gefühl. Bis ich schließlich den Kontakt zu einem Insider herstellen konnte, der Einblick in dieses Projekt hatte und meinen Verdacht mit seinen Informationen bestätigte. Es ist kein Zufall, dass dieser Park ausgerechnet in Essen erbaut wurde.“
    „Natürlich nicht“, wandte Stina ein. „Hier haben halt die Piranha Bytes ihr Büro, hier wurden die meisten Gothic-Spiele entwickelt. Wo soll so ein Park denn sonst stehen, wenn nicht in Essen?“
    Bennet nickte. „Du hast recht, es fühlt sich naheliegend an. Aber weißt du auch, was sich auf diesem Gelände früher einmal befand? Eine der größten Zechen des Ruhrgebiets.“
    „Und? Irgendwo muss so ein Park ja gebaut werden, oder?“
    „In diesem Fall wurde er nicht zufällig hier gebaut“, sagte Frank. „Wenige Wochen bevor das Bergwerk Ende des letzten Jahrtausends geschlossen wurde, meldeten die Bergarbeiter den Fund eines ungewöhnlichen Erzvorkommens. Kleine Mengen eines bislang unbekannten Materials wurden abgebaut und der Forschung zur Verfügung gestellt, aber das Ende der Zeche war zu diesem Zeitpunkt bereits besiegelt. Sie haben alles dicht gemacht, und die Sache verlief im Sande. Bis die Forschungsabteilung einer Tochterfirma der Embracer Group vor einigen Jahren eine Probe des Materials in die Finger bekommen hat. Die Tests haben gezeigt, dass es dem Element Silizium ähnelt und für die Produktion von Computerchips geeignet ist, aber darüber hinaus auch völlig andere Eigenschaften besitzt.“
    „Okay“, sagte Stina. „Und zwar?“
    „Am besten schaust du es dir einmal selber an.“ Bennet öffnete eine Videodatei auf seinem Laptop und drehte das Gerät zu ihr hin. „Das sind erste Entwürfe aus der PR-Abteilung von Embracer.“
    Das Video startete, und ein älterer Mann mit Brille und blauem Pullover, der den Eindruck eines eloquenten Informatikprofessors machte, schaute lächelnd in die Kamera.
    „Künstliche Intelligenz hat im letzten Jahrzehnt ganz erstaunliche Fortschritte gemacht“, begann er, während das Video auf Aufnahmen von Schaltkreisen, Robotern und blinkenden Gehirnen überblendete. „Wir stehen am Anfang eines Zeitalters, in denen uns Computer innerhalb weniger Sekunden alles geben können, was wir uns wünschen. Wir denken an ein Gemälde, ein Musikstück, einen Film oder ein Computerspiel, und im nächsten Moment sind wir bereits darin eingetaucht – ein Kunstwerk, geschaffen nur für uns, geformt aus unseren Träumen. Stehen wir vor einer schwierigen Entscheidung, dann wägt der Computer im Bruchteil einer Sekunde für uns ab und trifft eine Wahl für uns. Eine Wahl, die uns schlaflose Nächte bereitet hätte, wären wir auf uns allein gestellt gewesen. Doch je mehr wir unser Leben in die Hand von Maschinen legen, desto sicherer müssen wir uns auch sein, dass sie uns wohl gesonnen sind. Vielleicht denken auch Sie bei künstlicher Intelligenz nach wie vor zuallererst an solche Szenen?“
    Ein paar Ausschnitte aus Terminator und Matrix wurden eingeblendet, begleitet von finsteren Synthesizerklängen.
    „Und ganz unbegründet sind diese Bedenken nicht. Denn bei allen erstaunlichen Errungenschaften auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz fehlt uns nach wie vor ein ganz entscheidender Baustein: die Fähigkeit zum Mitgefühl. Keine Software kann dieses Mitgefühl berechnen, das in den allermeisten von uns Menschen von klein auf fest eingebaut ist. Das Gespür für die Gefühle und Bedürfnisse anderer, der Wunsch die Menschen um uns herum glücklich zu machen, die Fähigkeit zur Liebe – all das ist gewissermaßen Teil unserer Hardware. Es ist an der Zeit, dass wir dieses Mitgefühl auch zum Teil der Hardware unserer Computer machen.“
    Der vortragende Professor im Pullover wurde jetzt wieder gezeigt, und diesmal hielt er einen kleinen Klumpen eines silbrig glänzenden Erzes in die Kamera.
    „Dieses neu entdeckte Element macht es möglich. Ein Element, das noch keinen Namen trägt, aber das Wesen unserer Computer verändern wird – und damit unserer aller Leben. Computerchips, die nicht bloß rechnen, sondern auch fühlen können – in den Laboren des Embracer Research Department sind sie bereits Realität, und sehr bald werden sie es auch bei Ihnen zuhause sein. Künstliche Intelligenz und echte Empathie: die Kombination für eine bessere Welt. Damit uns Computer nicht erdrücken, sondern uns umarmen wie einen guten Freund.“
    Das Video ging wohl noch weiter, aber Bennet hatte auf den Stopp-Button gedrückt.
    „Das, was du gerade gesehen hast, ist nur die halbe Wahrheit. Ein Computer, der sich in einen Menschen einfühlen kann, wird auch dazu in der Lage sein, ihm das Leben so effektiv wie nur möglich zur Hölle zu machen.“
    „Die Saudis haben die Chips schon in VR-Brillen eingebaut und sie mit Geräten zur Messung und Auslesung von Hirnströmen kombiniert.“ Frank warf Stina einen Blick zu, in dem sie einen Hauch von Mitleid zu erkennen glaubte. „Das Ergebnis hast du vorhin schon am eigenen Leib erfahren. Ich nehme an, dass du mit einigen deiner größten Ängste konfrontiert wurdest? Dem Stoff, aus dem deine Albträume gemacht sind?“
    „Keine Ahnung, also… kann schon sein“, druckste Stina herum. Sie wollte lieber nicht erwähnen, dass es vor allem um ihre Mutter gegangen war, das ging nun wirklich zu weit. Sie kannte diese Leute ja alle erst seit heute – auch wenn sie zumindest Mike natürlich eine Menge anvertrauen würde. Dem echten Mike jedenfalls.
    „Sie haben das Verfahren sicher auch noch nicht optimiert“, vermutete Bennet. „Wir können aber davon ausgehen, dass dieses Chromanin nicht nur zum Wohle der Menschheit genutzt werden wird. Diese Technologie darf nicht in die falschen Hände fallen.“
    „Soweit ich Einblick habe, wurden bisher nur kleine Mengen der Chips produziert“, erläuterte Frank. „Aber das Projekt soll wohl im nächsten Jahr enthüllt werden und die Produktion in großem Stil anlaufen. Allerdings gibt es nur zwei bekannte Vorkommen dieses Materials: Ein kleineres befindet sich in Saudi-Arabien, das größere hingegen genau unter unseren Füßen. Wingefors und die Saudis wussten, dass sie mit den Vorkommen in der Wüste zwar ein großes Geschäft machen konnten, aber ganz sicher nicht den weltweiten Markt zufriedenstellen – schließlich würde so ein Chip bald in jeden Kühlschrank eingebaut werden, wenn sie in ausreichender Zahl zur Verfügung gestellt werden könnten. Dazu mussten sie aber an das Erz hier in Essen heran.“
    „Was natürlich nicht ohne Weiteres möglich war, immerhin werden keine Genehmigungen für neue Bergwerke mehr erteilt“, warf Bennet ein. „Altenkamp zu kaufen war kein großes Problem, aber der konnte ihnen auch nicht einfach erlauben, mitten in Essen eine neue Zeche aufzumachen. Ein Freizeitpark hingegen, noch dazu zum Thema Gothic als einem der wichtigsten lokalen Kulturgüter, das seit den Remakes auch weltweit in aller Munde ist, das war in der ehemaligen Kulturhauptstadt durchaus zu realisieren.“
    „Ihr wollt damit sagen… es wird hier ein Bergwerk betrieben? Mitten im Park?“, versuchte Stina zu begreifen. „Aber das würde doch auffallen, oder?“
    „Es fällt auch auf“, sagte Frank. „Aber das ist kein Problem, wenn es richtig verpackt wird. Du wirst den großen Vulkan kaum übersehen haben, oder? Die Maschinerie unter Tage wird nur alle paar Minuten angeschmissen, und es gibt jedes Mal ein kleines Erdbeben. Die Abgase, die dabei entstehen, werden alle durch den Vulkankrater abgeleitet. Wenn sich den Qualm mal ein Kontrolleur anschauen würde, der keinen dicken Scheck von Wingefors in der Tasche hat, dann würden da sicher ganz interessante Ergebnisse bei rauskommen – aber für die Besucher sieht alles nur nach einer tollen Show aus. Und abtransportiert wird das Erz dann nachts, wenn niemand mehr auf dem Gelände ist.“
    „Es kotzt mich an, wenn ich daran denke, dass wir diesen Arschlöchern mit dem Minental eine perfekte Tarnung für so eine Aktion auf dem Silbertablett serviert haben“, raunzte Mike und klang dabei plötzlich wieder ein bisschen mehr wie er selber. „Weißt du, wie sie das Zeug hier intern nennen? Chromanin. Als mir Bennet das alles erzählt hat und sich die Gelegenheit ergeben hat, mich bei Wingefors einzuschleichen, habe ich keine Sekunde gezögert – im Gegensatz zu Mike natürlich. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er die Mail überhaupt zu Ende gelesen hat. Alles was ihm zu anstrengend ist, schiebt er an mich weiter. Mir war jedenfalls gleich klar, dass ich nicht zulassen durfte, dass mein Gothic für so eine dubiose Aktion missbraucht wird. Dieser Zirkus hier hat sowieso nichts mit dem echten Gothic zu tun – da ist es nicht schade drum, wenn der ganze Laden hier dicht macht. Auch wenn ich es mir natürlich nicht auf diese Art und Weise vorgestellt hätte.“
    Stina konnte ihn irgendwie verstehen. Der Gedanke, dass all die Gothic-Figuren und Gothic-Monster nur deshalb in den liebevoll gestalteten Gothic-Kulissen herumgelaufen waren, um irgendwelche krummen Geschäfte ihres Vaters zu vertuschen, machte sie trauriger, je länger sie darüber nachdachte.
    „Okay, das klingt ja alles wirklich nicht so gut“, sagte sie. „Aber das erklärt immer noch nicht, was ihr hier eigentlich macht, und warum ihr mich in diesen gruseligen Verkleidungen im Park verfolgt habt.“
    „Dazu komme ich jetzt“, versprach Bennet. „Ich hatte genug Dokumente zugespielt bekommen, um mir meiner Sache sicher zu sein, aber was mir fehlte, das waren die handfesten Beweise. Ich hätte mit der Story an die Öffentlichkeit gehen können, aber die Gefahr wäre groß gewesen, dass Embracer alles abgestritten hätte. Vielleicht hätten sie die Produktion nur vorerst auf Eis gelegt, um sie zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu starten, wenn Gras über die Sache gewachsen wäre – und bevor es eine unabhängige Untersuchung gegeben hätte, wären vielleicht schon alle Spuren vertuscht worden, die darauf hingedeutet hätten, dass die alten Bergwerksanlagen je wieder in Betrieb genommen wurden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie für einen solchen Fall nicht vorgesorgt haben. Vor allem aber hatte ich das Gefühl, dass ich selbst noch nicht das ganze Bild kannte. Es gab Hinweise darauf, dass noch mehr an der Sache dran war als ich schon in Erfahrung gebracht hatte. Um die ganze Wahrheit zu ergründen, musste ich an die Daten aus dem Zentralcomputer der World of Gothic herankommen.“
    „Was keine so einfache Sache ist“, warf Frank ein. „Wingefors hat ein echtes Biest von einem Sicherheitssystem installiert.“
    „Zum Glück kenne ich mich mit solchen Systemen selbst ein bisschen aus“, sagte Bennet nicht ganz ohne Stolz. „Tatsächlich ist es mein Hintergrund als Experte für IT-Sicherheit, der mich überhaupt erst zu Anakalyptos gebracht hat.“
    „Du bist ein Hacker oder wie?“, versuchte sich Stina an einer Interpretation seiner Worte.
    „So würde ich das nicht formulieren. Aber ich bin ganz gut darin, Programme zu entwickeln, die das Hacken für mich übernehmen. Nachdem mich Biff in groben Zügen über das System informiert hatte, war ich davon überzeugt, dass ich den richtigen Virus auf Lager hatte, um es zu knacken. Allerdings würde ich ihn nicht über das Internet einspielen können. Ich musste persönlich vor Ort sein, um ihn an einem der Servergeräte unmittelbar in den Zentralcomputer zu übertragen.“
    „Der USB-Stick?“, begriff Stina plötzlich. „Du hast ihn da reingestöpselt?“
    „Das habe ich übernommen“, eröffnete ihr Mike.
    „Er hat mich freundlicherweise bei der Aktion unterstützt“, bestätigte Bennet. „Ganz so einfach wie es bei dir klingt, war die Sache aber nicht – wir konnten den USB-Stick mit dem Virus nicht einfach so reinstöpseln. Das Sicherheitssystem der World of Gothic überwacht nicht nur den Zentralcomputer, sondern den gesamten Park.“
    „Tausende Kameras sind im ganzen Gelände verteilt“, erklärte Frank. „Und jedes Bild wird umgehend von einer KI geprüft, die darauf trainiert ist, unerwünschtes Verhalten zu erkennen: Gewalt, Sabotage, Eindringen in nicht erlaubte Areale, all das wird vom System sofort gemeldet. Wir hätten noch so heimlich vorgehen können, gegen die KI hätten wir keine Chance gehabt. Wer auch immer sich von uns den zentralen Serverräumen auch nur genähert hätte, wäre sofort aufgeflogen.“
    Stina bekam ein mulmiges Gefühl, als sie das hörte. „Wir werden aber nicht auch jetzt gerade gefilmt, oder?“
    „Keine Sorge, Bennet hat alle Kameras und Mikrofone in diesem Raum deaktiviert“, beruhigte sie Mike. „Solange wir hier drin sind, bekommt keiner was mit.“
    „Das ist jedenfalls ein System wie aus einem Überwachungsstaat“, merkte Bennet an. „Sie hätten das nie so durchgekriegt, wenn es nicht die Anschläge in den beiden anderen Freizeitparks gegeben hätte. Es zielt natürlich in erster Linie auf Terroristen ab, aber in den Augen der KI wären wir das wohl gewesen.“
    „Zum Glück hat das System zwei entscheidende Schwachpunkte“, fuhr Frank fort. „Erstens ist es gesetzlich verboten, Kameras auch in den Toiletten- und Duschräumen zu installieren – diese Areale sind also blinde Punkte für das System. Zweitens, und das ist noch entscheidender, wurde es nicht in irgendeinem Park eingerichtet, sondern in einem Themenpark zu einem Computerspiel, in dem Grenzüberschreitungen wie Gewalt, Diebstahl und Beleidigungen an der Tagesordnung sind. Das System hätte also jedes Mal Alarm geschlagen, wenn zwei verkleidete Schauspieler mit Plastikäxten aufeinander losgegangen wären. Um das zu verhindern, haben sie einen Filter eingebaut, der genau solche Fälle ausschließen soll. Was zum zweiten, ungleich größeren blinden Fleck geführt hat: Gothic.“
    Frank nahm Mikes Suchendenmaske vom Tisch und hielt sie kurz in die Höhe.
    „Wer so ein Kostüm trägt, wird vom System als Teil der Gothic-Welt begriffen und kann im Prinzip tun und lassen, was er will. Genauso funktioniert es auch bei der Spracherkennung: Es wird zwar alles aufgezeichnet und analysiert, aber Gothic-Dialoge werden dabei umgehend herausgefiltert.“
    „Wir mussten also aussehen wie Gothic-Figuren und reden wie Gothic-Figuren“, sagte Bennet. „Ich habe mich sofort für einen Job hier im Park beworben und wurde glücklicherweise angenommen – damit hatte ich meine Rolle als Goldschmied Bennet. Bei Mike ging das auf diese Weise natürlich nicht, er war ja als Gothic-Entwickler bekannt und eine Bewerbung auf eine Stzelle hier hätte sofort für große Aufmerksamkeit gesorgt. Es war natürlich nicht schwer für ihn, an Eintrittskarten zu kommen, dafür hätte allein schon seine Beteiligung an der Eröffnungsfeier gereicht – dass Wingefors auch noch anderweitig an ihm interessiert war, kam uns aber auch sehr gelegen. Das alles machte ihn aber noch nicht zur Gothic-Figur. Dazu mussten wir ihm ein Kostüm beschaffen, und zwar am besten eines, in dem er zu den entscheidenden Zeitpunkten völlig anonym bleiben konnte und gar nicht erst von der Kamera identifiziert werden würde. Das Suchendenkostüm war für diesen Zweck ideal geeignet.“
    „Um an eins von denen ranzukommen, mussten wir leider erst einen von den armen Schweinen umhauen, die damit den ganzen Tag lang im Park herumlaufen sollten.“ Mike deutete mit dem Daumen über seine Schulter in die Richtung des Ausgangs, über den er den Raum vorhin in seinem Kostüm betreten hatte. „Wir haben ihn da hinten in einer der ungenutzten Rätselkammern eingesperrt, damit ich den Tag über ungestört seine Rolle einnehmen konnte. Dank der Parkpläne von Biff wussten wir, wo wir ihn unterbringen konnten, ohne dass irgendwer über ihn stolpern würde. Ich hab ihm gerade noch was zu trinken gebracht, dem geht’s gut.“
    „Wieso nennt ihr Frank eigentlich die ganze Zeit Biff?“, stellte Stina eine Frage, die ihr schon mehrmals auf der Zunge gelegen hatte. Trotz seines irgendwie gothicfigurenmäßigen Gesichts fand sie nicht, dass Frank besonders große Ähnlichkeit mit dem Drachenjäger aus dem Spiel hatte, aber sie wusste natürlich auch nicht, wie er in einer imposanten Rüstung aus Drachenschuppen auf sie gewirkt hätte.
    „Wie gesagt, bei Anakalyptos legen wir großen Wert auf Anonymität“, erläuterte Bennet. „Sowohl auf unsere eigene als auch auf die unserer Quellen. Wir haben von Anfang an unter der Verwendung von Codenamen kommuniziert, und nachdem wir unseren Plan für den Eröffnungstag gefasst hatten, wechselten wir zu neuen Codenamen aus den Gothic-Spielen. Die würden wir im Notfall auch hier im Park benutzen können, ohne das Sicherheitssystem misstrauisch zu machen. Ich hatte durch meinen Job im Park ja sowieso schon einen passenden Namen. Mike hat sich den Namen Adanos gegeben, und für unseren Insider haben wir den Codenamen Biff gewählt. Im Optimalfall hätten wir seinen echten Namen auch nie erfahren – wir haben die ganze Aktion so geplant, dass sie vollständig anonym abgelaufen wäre. Nachdem Mike und ich das Suchendenkostüm beschafft haben, ist Mike verkleidet in das Rechenzentrum eingedrungen, um den Virus in den Zentralcomputer einzuspeisen – Biff hat dafür gesorgt, dass der Weg frei war. Der Virus auf dem USB-Stick würde allerdings mehrere Stunden brauchen, um in das System einzudringen, die entscheidenden Datensätze zu identifizieren und auf den Datenspeicher im Stick zu übertragen. Wir mussten also darauf setzen, dass der kleine USB-Stick hinter der Frontblende niemandem auffallen würde und ihn Mike später am Tag unauffällig zurückholen konnte. In der Zwischenzeit würde er in die geheimen Chromanin-Produktionsanlagen eindringen und Beweisfotos anlegen. Die Kombination aus den Daten des Zentralcomputers und den Fotos sollte mehr als ausreichend sein, um Wingefors auffliegen zu lassen.“
    „Anders als beim Rechenzentrum konnte ich aber nicht so einfach einen sicheren Weg zu den Förderanlagen unter dem Vulkan freimachen“, berichtete Frank. „Die Zugänge sind streng gesichert, es gibt regelmäßige Patrouillen, und ich sollte davon ja eigentlich gar nichts wissen. Ich wollte versuchen, spontan einen vorübergehend freien Zugang zu finden, aber welcher das sein würde und zu welchem Zeitpunkt, das war im Vorhinein nicht abzusehen.“
    „Deswegen war der Plan, dass Biff einen Peilsender von mir bekommen würde“, sagte Bennet. „Auf Knopfdrück würde er ein Funksignal senden, mit dem ich ihn jederzeit würde orten können. Die Hoffnung war, dass mich Biff auf diese Weise zum geeigneten Zeitpunkt in die Produktionsanlagen würde lotsen können.“
    „Und dieser Peilsender…?“
    „…ist genau da drin versteckt.“ Er streckte den Zeigefinger aus und tippte auf den violetten Edelstein inmitten des goldenen Amuletts um ihren Hals. Stina bemerkte, dass fast zeitgleich eine Mitteilung auf seinem Laptop aufploppte.
    „Bei den Einarbeitungstagen für meinen Bennet-Job habe ich mir meinen Arbeitsplatz im Vorhinein schon mal ein bisschen genauer anschauen können. Das Auge Innos’ schien mir das perfekte Versteck zu sein. Ich habe ein Exemplar mit nach Hause genommen, den Edelstein an der Rückseite aufgebohrt und den Peilsender dort verborgen. Der Knopf ist so leichtgängig, dass schon ein leichter Druck auf die Vorderseite des Edelsteins genügt, um ihn auszulösen.“
    Stina nahm das Auge Innos’ in die Hand und guckte es fasziniert an. Wenn sie nervös gewesen war, hatte sie gerne mal an dem Amulett herumgefummelt – und das war heute natürlich ziemlich häufig vorgekommen. Bennet musste eine Menge Nachrichten bekommen haben.
    „Die Idee war, dass ich das Auge in einer schlecht einsehbaren Ecke des Tresens meiner Bude bereitlegen würde. Biff wusste natürlich Bescheid und würde es sich in einem unauffälligen Moment nehmen können – am besten so, dass nicht einmal ich etwas davon mitbekam. Dann würde seine Anonymität gewahrt bleiben. Nur im Falle einer Komplikation wollten wir uns von Angesicht zu Angesicht treffen, indem Biff am Zielpunkt des Signals auf Mike und mich warten würde.“
    „Dummerweise war Bennets Bude schon geschlossen, als ich da ankam.“ Frank warf Stina einen missbilligenden Blick zu, und sie fühlte sich direkt wieder wie eine Angeklagte, deren Höchststrafe längst beschlossene Sache war. „Ich konnte mir zwar Zugang verschaffen, aber vom Peilsender fehlte jede Spur.“
    „Zu dem Zeitpunkt war ich schon längst auf dem Weg zum ersten Signal, das der Peilsender mir geschickt hatte“, erklärte Bennet. „Das ist natürlich ganz schön schiefgegangen.“
    „Tut mir leid“, beteuerte Stina zerknirscht. „Ich hatte doch keine Ahnung, was ihr da geplant hattet. Ich wollte einfach nur ein Amulett mit violettem Edelstein haben!“
    Trotz der angespannten Lage konnte sich Bennet ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Tja, dann war es wohl keine meiner brillantesten Ideen, dass ich nur Edelsteine anderer Farben in die Wasserbecken gegeben habe. Ich wollte ganz sicher gehen, dass es keine Verwechslungen geben konnte, aber der Schuss ist wohl gehörig nach hinten losgegangen. Du kannst dir jedenfalls vorstellen, wie verwirrt ich war, als ständig neue Signale eingegangen sind. Ich habe Mike verständigt, und wir haben uns aufgeteilt, um möglichst vielen von ihnen nachzugehen. Ich habe die Positionen im Jharkendarbereich übernommen, und Mike hat sich die Hafenstadt vorgenommen.“
    „Du wirst dich erinnern.“ Mike verschränkte die Finger in seinen schwarzen Handschuhen ineinander. „Wir haben uns auf dem Klo getroffen.“
    „Das werde ich wahrscheinlich mein ganzes Leben nicht mehr vergessen, weißt du eigentlich wie ich mich erschreckt habe?“, beschwerte sich Stina. „Du hast ja auch gar nichts gesagt… nur diesen einen Satz aus dem Chromaninbuch.“
    „Ich dachte eigentlich, dass dein komisches Verhalten nur Tarnung wäre, aber es kam mir direkt merkwürdig vor“, sagte Mike. „Das Amulett, das du getragen hast, sah zwar so aus wie Bennet es mir geschildert hatte, aber darauf wollte ich mich nicht verlassen. Also habe ich den Satz gesagt, den wir zur Erkennung vereinbart hatten. Aber du hast ihn nicht vervollständigt, sondern bist einfach weggelaufen. Und ich hatte keine Zeit, um dich zu verfolgen, weil Mike einen Termin bei der Eröffnungsfeier hatte.“
    „Also war es wirklich ein Passwort“, konstatierte Stina, ein bisschen zufrieden darüber, wenigstens diesen Teil des Rätsels selbst gelöst zu haben. „Aber beim zweiten Mal im Minental habe ich es doch hinbekommen, oder? Das warst dann wahrscheinlich du mit dieser Gomezmaske?“
    „Ja“, bestätigte Bennet ihren Verdacht. Er kramte in einem Rucksack herum, der neben seinem Stuhl auf dem Boden lag, und holte ein paar Pappmasken mit unterschiedlichen Gothic-Gesichtern heraus, darunter auch die blutbesprenkelte Maske mit der bedrohlichen Visage des Erzbarons. „Ich war schon ganz erleichtert, dass die Kontaktaufnahme endlich funktioniert hat. Aber wir waren unter freiem Himmel, dutzende Kameras und Mikrofone waren auf uns gerichtet. Ich konnte nicht frei sprechen, also habe ich einen der vorbereiteten Codesätze gesagt, auf die ich mich mit Biff und Mike geeinigt hatte. Es mussten natürlich Sätze aus den Gothic-Spielen sein, damit das Sicherheitssystem unser Gespräch nicht aufnehmen würde.
    Kein Schild, den sie nicht brechen kann“, rezitierte Stina. „Das ist auch aus irgendeinem Gothic-Buch, oder?“
    „Ja, das ist aus dem Buch Das magische Erz“, räumte Bennet die Bretter vor Stinas Kopf zur Seite. „Aus dem ersten Gothic. Es war der vereinbarte Codesatz dafür, das Vorhaben nicht abzubrechen sondern wie geplant weiterzuführen. Dein merkwürdiges Verhalten hatte uns das Gefühl gegeben, dass du vielleicht Bedenken hattest, die Aktion durchzuziehen. Ich war für den Moment aber wieder überzeugt davon, dass du doch Biff warst und wollte dir die Sicherheit geben, dass von unserer Seite aus noch alles im grünen Bereich war – dass es noch nicht zu spät für einen Abstecher in das geheime Bergwerk war. Das hatte sich natürlich ein paar Sekunden später schon wieder erledigt, als plötzlich die Roboter durchgedreht sind.“
    „Aber warte mal“, sagte Stina zu Mike, als ihr plötzlich etwas eingefallen war. „Wenn ihr hinter meinem Vater her seid, wieso bist du dann im Suchendenkostüm in das Hotelzimmer der Pankratzens eingebrochen?“
    Die Überraschung in Mikes Gesichtszügen war nicht zu übersehen – offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass jemand etwas davon mitbekommen hatte.
    „Du bist in ein Hotelzimmer eingebrochen?“, wiederholte Bennet mit gerunzelter Stirn. „Das würde mich jetzt aber auch mal interessieren. Es gab nie ein Signal aus einem der Hotelzimmer.“
    „Das hatte überhaupt nichts mit der ganzen Aktion hier zu tun“, knurrte Mike mit abwehrend verschränkten Armen. „Ich habe halt schon kommen sehen, dass sich Björn bei der erstbesten Gelegenheit wieder an Mike ranschmeißen würde. Ich hatte gehofft, dass ich irgendwas bei ihm finde, womit ich Mike klarmachen könnte, dass dieser Idiot nicht sein Freund war, sondern genau wie damals wieder nur seine dusselige, bräsige Gutmütigkeit ausnutzen würde. Aber es wäre natürlich auch zu schön gewesen, wenn da ein offenes Tagebuch herumgelegen hätte, und ich hatte nicht genug Zeit, um seinen Laptop zu durchforsten.“
    Bennet schüttelte fassungslos den Kopf. „Für diesen Unsinn hast du unsere Aktion aufs Spiel gesetzt? Wenn sie dich dabei erwischt hätten, wäre es das gewesen.“
    „Haben sie aber nicht“, gab Mike schulterzuckend zurück. „Es war eine riskante Entscheidung ohne große Erfolgsaussichten, zugegeben. Aber wenn ich nicht einschreite, dann lässt sich Mike wieder von Björn einspannen und sitzt den Rest seines Lebens an irgendwelchen Elex-Sequels. So eine Gelegenheit konnte ich nicht einfach ungenutzt verstreichen lassen. Und es ist ja am Ende auch nichts passiert.“
    Stina konnte ihn ein bisschen verstehen, auch wenn er natürlich einen Schritt zu weit gegangen war. In den privaten Sachen anderer Leute herumwühlen, so etwas ging nur in Ausnahmefällen, wenn es wirklich richtig interessant war.
    „Ich fürchte, das stimmt so nicht ganz“, sagte Frank. Er zog ein großformatiges schwarzes Smartphone aus der Hosentasche und rief ein Foto auf, das er Mike zeigte. Stina konnte erkennen, dass es sich dabei um die Aufnahme einer Überwachungskamera handelte, die einen der Hotelflure zeigte.
    „Die Kameras haben dich gefilmt, als du zum Ausziehen des Kostüms die Personaltoiletten betreten hast. Meine Vorgesetzten haben natürlich schon eins und eins zusammengezählt.“
    „Willst du damit sagen…“ Mikes Blick blieb am Bildschirm des Smartphones hängen wie eine Motte an der Straßenlaterne. „Die wissen, dass ich im Rechenzentrum war?“
    „Leider ja. Für den Moment solltest du aber sicher sein. Ich habe die Kameraaufnahmen gelöscht, die euch beim Betreten des Schläfertempels zeigen, also dürften wir noch etwas Zeit haben, bis meine Kollegen dich ausfindig machen.“
    „Wir müssen hier raus“, stieß Mike hervor und griff nach seiner Schläfermaske. Als er vom Stuhl aufspringen wollte, hielt ihn Bennet zurück.
    „Wir können hier nicht weg, solange wir den USB-Stick nicht haben. Ohne die Daten aus dem Zentralcomputer haben wir nichts gegen Wingefors in der Hand.“
    „Ich weiß leider genauso wenig wie ihr, wo er sich befindet“, seufzte Frank. „Stina hat den USB-Stick im Serverraum an sich genommen, aber dann wurde sie von den Leibwächtern des Scheichs gefangen genommen. Sie kann sich an nichts erinnern, aber wir müssen davon ausgehen, dass Alshammari den USB-Stick hat.“
    Mike und Bennet sackten fast synchron in ihren Stühlen in sich zusammen.
    „Dann sind wir erledigt“, sagte Mike mit tonloser Stimme.
    Es versetzte Stina einen Stich ins Herz, als sie die völlige Resignation im liebgewonnenen Gesicht des namenlosen Helden wahrnahm. So hatte sie dieses Gesicht noch nie gesehen, und so wollte sie es auch nicht sehen. Sie durfte Mike nicht länger so leiden lassen, zumal sie inzwischen das Gefühl hatte, den drei Männern vertrauen zu können. Zwar hätte sie lieber vorher Y’berion gefragt, aber ihr Handyakku war nach wie vor ungeladen. Sie musste alles auf eine Karte setzen und darauf hoffen, dass ihr Vertrauen gerechtfertigt war.
    „Vielleicht… hat dieser Alshammari den USB-Stick nicht.“
    Auf einen Schlag waren alle Blicke auf sie gerichtet.
    „Als ich in diesem Computerraum war und der Tempelcrawler Frank ausgeknockt hat, da habe ich plötzlich gehört, dass Leute die Treppe runterkommen. Ich hatte gleich kein gutes Gefühl dabei und habe schnell ein Versteck für den Stick gesucht. Und wenn wir Glück haben…“
    Stina nahm das Auge Innos’ in die Hand und wackelte am violetten Edelstein herum, bis er sich aus der Fassung löste. In der Einbuchtung darunter lag ein kleines schwarzes Objekt verborgen.
    „…dann haben sie ihn nicht entdeckt. Na also.“
    Sie nahm den USB-Stick heraus und drückte ihn dem überraschten Bennet in die Hand.
    „Tut mir leid, dass ich es dir nicht sofort gesagt habe“, entschuldigte sie sich bei Frank, während sie den Plastik-Edelstein wieder in die Fassung drückte. „Aber – ich meine, du hast mich mit deiner Knarre bedroht! Ich hatte einfach keine Ahnung ob ich dir vertrauen kann!“
    „Das kann ich dir auch kaum übelnehmen“, gestand Frank ein. „Ich habe im Serverraum wirklich überreagiert. Ich hatte Angst, dass der Virus seine Arbeit noch nicht getan hat und die Daten auf dem USB-Stick noch nicht vollständig sind.“
    „Es wäre in der Tat ungünstig, wenn der USB-Stick herausgezogen worden wäre, bevor sämtliche Daten auf den Speicher kopiert wurden.“ Bennet drehte das kleine Gerät ein paar Mal erwartungsvoll in der Hand und steckte ihn in einen Anschluss seines Laptops. „Aber schauen wir mal, was wir da haben.“
    „Musst du nicht erst das Passwort einsprechen?“, erkundigte sich Stina. „Ich meine, dieses Mikrofon da… das ist doch nicht normal für einen USB-Stick?“
    „In der Tat ist das kein herkömmliches Speichermedium“, sagte Bennet. „Damit der Virus seine Arbeit tun kann, ist eine hochleistungsfähige Mini-CPU integriert, und die braucht ihren eigenen Lüfter. Durch diese Löcher hier kann die heiße Luft entweichen, das ist also kein Mikrofon.“
    „Achso.“ Stina musste fast lachen bei dem Gedanken, dass sie die Gothic-Parolen der drei Spione durch den Raum gebrüllt und geglaubt hatte, damit irgendetwas zu bewirken.
    „Das sieht gut aus“, teilte ihnen Bennet mit, während er auf der Tastatur seines Laptops herumtippte. „Die Daten scheinen vollständig zu sein. Aber lasst mich kurz alles überprüfen, damit wir uns sicher sein können. Ich lasse ein paar automatische Checks drüberlaufen.“
    „Wenn du damit fertig bist, dann verschwinden wir von hier.“ Mikes Miene hatte sich jetzt wieder deutlich aufgehellt. „Kann es gar nicht erwarten, aus diesem Drecksloch rauszukommen.“
    „Was ist mit den Robotern?“, erinnerte sie Stina. „Wie sollen wir es an denen vorbei aus dem Park schaffen?“
    „Die Situation scheint sich in den letzten Stunden wieder etwas beruhigt zu haben“, sagte Frank. „Wir bekommen nur noch vereinzelt Meldungen von Angriffen – natürlich sind aber auch nicht mehr viele Menschen am Leben, die überhaupt noch angegriffen werden könnten. Wingefors tut alles, um die Polizei davon abzuhalten, das Gelände zu stürmen, deswegen sind die Roboter hier noch überall. Aber es sieht so aus, als ob sie allmählich in ihr normales Verhalten zurückkehren.“
    „Das ist ja merkwürdig“, erwiderte Stina, auch wenn das natürlich ausgesprochen gute Nachrichten waren. „Kann es sein, dass vielleicht doch…?“
    „Ich glaube, ich habe gerade eine Erklärung dafür gefunden“, meldete sich Bennet mit belegter Stimme zu Wort. „Das… das ist überhaupt nicht gut…“
    Mike und Frank standen auf, um sich hinter Bennet über den Laptopbildschirm zu beugen. Stina gesellte sich zu ihnen.
    „Wenn ich diese Berichte richtig deute, dann ist die World of Gothic nicht nur eine Produkionsstätte für Chromanin… sondern auch eine einzige große Testanlage. Offenbar werden zwei verschiedene neuronale Netzwerke eingesetzt, die auf der Basis von Chromanin-Chips betrieben werden: Eines für den Betrieb der Parkanlagen – die Achterbahnen, die ganzen Attraktionen, die App und im Normalfall auch die Roboter… das wird alles von dieser KI gesteuert. Ich nehme an, dass sie darauf programmiert ist, sich ganz auf die Bedürfnisse der Besucher auszurichten, um ihnen ein möglichst schönes Erlebnis im Park zu bescheren.“
    „Und die zweite KI?“, fragte Mike.
    „Dabei handelt es sich um das Sicherheitssystem des Parks. Und das ist nicht alles… im Fall eines terroristischen Angriffs übernimmt diese KI die Kontrolle über die Roboter, damit sie die Angreifer unschädlich machen können. Die Roboter sind nicht nur eine Attraktion, sie sind auch die Waffen des Sicherheitssystems.“
    „Das heißt, das System ist vorhin angesprungen, um einen Terroranschlag zu verhindern? Aber die Roboter haben doch jeden angegriffen.“
    „Der Virus!“, begriff Stina. „Es hat in eurem Virus einen Angriff erkannt, kann das sein?“
    „Ich fürchte, du hast recht.“ Bennet war sichtlich erblasst. „Wir haben das ausgelöst. Das System muss einen Angriff erkannt haben, dessen Verursacher es nicht eindeutig zuordnen konnte – weil diese Attacke nicht von einem Menschen aus Fleisch und Blut ausging, sondern von Programmcode, der direkt aus dem Herzen des Zentralcomputers heraus ausgeführt wurde. Um den Angriff zu stoppen, hat es sich wohl gegen alles und jeden gewendet, in der Hoffnung, dass auch der Angreifer darunter ist.“
    „Ich – ich glaube, diese andere KI hat mit mir gesprochen!“, verstand Stina plötzlich, als ihr Y’berion wieder einfiel. „Du hast doch gesagt, dass sie auch für die App zuständig ist? Sie hat mir die ganze Zeit auf meinem Handy Anweisungen gegeben und mich dazu aufgefordert, den USB-Stick zu finden! Sie muss versucht haben, das Sicherheitssystem zu stoppen!“
    „Das also hat dich in den Serverraum geführt?“, entgegnete Frank verblüfft. „Wenn das stimmt, dann würde das jedenfalls erklären, warum die Roboter sich beruhigt haben, nachdem du den USB-Stick entfernt hast. Vielleicht hat die normale Park-KI jetzt allmählich wieder das Ruder übernommen, nachdem du den Virus aus dem System entfernt hast.“
    „Das ist alles unsere Schuld“, stammelte Bennet fassungslos. „Die ganzen Toten… das waren wir.“
    „Schwachsinn“, ging Mike dazwischen. „Wingefors und Alshammari sind diejenigen, die diese Technologie auf die Leute losgelassen haben, ohne dass sie richtig wussten, was sie da tun. Wir müssen diese Daten an die Öffentlichkeit bringen, jetzt erst recht.“
    „Ja… ja, du hast recht.“ Bennet nickte beklommen. „Sehen wir zu, dass wir hier rauskommen. Wenn die automatischen Checks abgeschlossen sind, packe ich alles ein. Holt ihr in der Zeit den Schauspieler raus. Wir können ihn nicht einfach eingesperrt hier im Tempel zurücklassen.“
    Er setzte sich die blutbesprenkelte Gomezmaske auf und reichte Stina und Frank jeweils eine andere Pappmaske, während sich Mike wieder die Kapuze über den Kopf zog.
    „Setzt die auf, damit er uns nicht erkennt.“
    Stina hatte das Gesicht von Bloodwyn abbekommen – das war nicht wirklich nach ihrem Geschmack, aber sie konnte jetzt nicht wählerisch sein. Sie schnallte sich die Gummibänder um die Ohren und rückte die Pappe vor ihrem Gesicht zurecht, sodass sie durch die zwei kleinen Gucklöcher schauen konnte.
    „Ich benachrichtige mein Team, vielleicht kann ich sie auf eine falsche Fährte locken.“ Frank hatte wieder sein Smartphone in der Hand. „Das sollte euch einen kleinen Vorteil bei der Flucht verschaffen.“
    „Danke“, sagte Mike und band die Maske hinter seinem Kopf fest. „Komm mit, keine Zeit mehr verlieren.“
    Stina ließ sich das nicht zweimal sagen und rannte gemeinsam mit dem vermummten Mike in Richtung Ausgang, während Bennet sich daran machte, seine Laptops zusammenzuklappen. Hinter der Tür lag ein verwinkelter Gang, der Stina wie ein kleines Labyrinth vorkam und an den Wänden mit lauter Schaltern und Hebeln gespickt war – das fehlte gerade noch, dass sie sich jetzt auch noch mit den vertrackten Rätseln eines Escape-Rooms herumschlagen mussten. Zum Glück schienen alle Türen geöffnet zu sein, und Mike kannte sich offensichtlich aus.
    Sie waren gerade um ein paar Ecken gelaufen, als Stina ein Gedanke kam.
    „Mein Handy!“ Sie packte Mike am Kultistenärmel und brachte ihn abrupt zum Stehen. „Kann ich das hier irgendwo aufladen?“
    „Was?“, kam es dumpf hinter der bleichen Maske hervor. „Ist das jetzt wirklich so wichtig?“
    „Wenn mein Handy wieder funktioniert, dann können wir vielleicht mit Y’berion reden – mit der Park-KI! Vielleicht hilft sie uns bei der Flucht aus dem Park.“
    „Bist du sicher, dass das so eine gute Idee ist? Immerhin haben wir den Virus in das System gebracht.“
    Ihr, nicht ich“, stellte Stina klar. „Und ich glaube nicht, dass Y’berion nachtragend ist. Er will ja nur, dass es allen hier gut geht, oder? Und mich hat er immer tatkräftig unterstützt.“
    „Er wollte ja auch was von dir. Aber gut, wenn du meinst… Bennet hat ein paar Ladegeräte dabei. Wenn du dich beeilst, kannst du es vielleicht noch ein paar Prozent aufladen, bevor er fertig ist. Du weißt noch, wo es lang geht?“
    „Klar“, sagte Stina in einem Anflug von Optimismus. „Bis gleich!“
    Hastig machte sie kehrt und rannte den Gang zurück, aus dem sie gekommen waren. Tatsächlich war ihre Zuversicht, sich alles eingeprägt zu haben, schon bei der ersten der vielen Türen dahin, mit denen der Korridor gespickt war. Nach ein paar Abzweigungen kam ihr der Weg schon viel länger vor als auf dem Hinweg – und waren sie vorhin wirklich an diesen großen Steinsockeln mit den Ausbuchtungen in der Mitte vorbeigekommen, die aussahen als wären sie Teil irgendeines Kugelrätsels? Stina war sich fast sicher, sich hoffnungslos verlaufen zu haben, als sie ganz unvermittelt wieder den großen Raum mit den Computern vor sich hatte. Sie wollte schon erleichtert ausatmen, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig davon abhalten – schon beim ersten Blick in den Raum hatte sie begriffen, dass etwas nicht stimmte.
    Bennet hing zusammengesackt auf seinem Stuhl, der Kopf ruhte zwischen den Laptops auf der Tischplatte. Ein blutiges Rinnsal tröpfelte von seiner Stirn über den Rand des Tisches zu Boden. Stina presste sich hastig an die Wand, als sie den Revolver in Franks rechter Hand sah. Er war gerade dabei einen Schalldämpfer wieder abzuschrauben, verstaute ihn in einer Tasche an seinem schwarzen Oberteil und holte sein Smartphone hervor, um eine Nummer zu wählen.
    „Ich habe die Daten“, sagte er auf Englisch, zog den USB-Stick aus dem Laptop neben Bennets Kopf und steckte ihn ein. „Es war wie ich vermutet hatte. Die Brille funktioniert noch nicht wie erwartet, Wingefors’ Tochter hatte den USB-Stick bei sich.“
    „Sind die Daten vollständig?“, kam die Antwort aus dem Handylautsprecher zurück.
    „Ja, ich habe mich davon überzeugt. Der Hacker ist tot.“
    „Gute Arbeit. Wenn wir die Daten haben – und zwar nur für diesen Fall – erteile ich die Erlaubnis wie vereinbart fortzufahren. Der Zentralcomputer muss zerstört werden. Und denk daran, dass Wingefors ein Backup in seinem Büro hat. Ihn selbst solltest du auch dort antreffen. Bevor du ihn erledigst, sieh zu, dass du herausfindest, ob er noch weitere Backups angelegt hat. Wir müssen sichergehen, dass wir die einzigen mit diesen Daten sind.“
    „Verstanden“, gab Frank knapp zurück. „Was ist mit Hoge und Wingefors’ Tochter?“
    „Erledige sie wenn du die Gelegenheit hast, aber verschwende keine Zeit. Die Daten haben höchste Priorität.“
    „Da ist noch etwas. Meine Männer haben vorhin gemeldet, dass sie vier Eindringlinge im Produktionsbereich festgenommen haben, drei Erwachsene und ein Kind. Drei von ihnen sind auf persönliche Einladung von Wingefors hier. Sollen wir sie zur Befragung mitnehmen?“
    „Das sollte nicht nötig sein. Befragt sie an Ort und Stelle, aber macht es kurz und effektiv. Und sieh zu, dass ihre Leichen von den Explosionen erfasst werden, wenn ihr die Anlagen zerstört. Je weniger Spuren wir hinterlassen, desto besser.“
    „Ich kümmere mich darum. Sie selbst sind in Sicherheit, Alshammari?“
    „Ich habe den Park vor wenigen Minuten verlassen. Du kannst deine Arbeit beginnen.“
    „Verstanden.“
    Erstarrt vor Angst beobachtete Stina, wie Frank das Smartphone wieder einsteckte. Drei Leute, die auf persönliche Einladung ihres Vaters hier waren, darunter ein Kind… das konnte doch kein Zufall sein. Welches Kind würde ihr Vater sonst noch einladen wollen? Das mussten Nadine, David und Kleo sein, und sie steckten offenbar in enormer Lebensgefahr – genau wie ihr Vater, auf den es Frank wohl als nächstes abgesehen hatte. Sie konnte es nicht fassen, dass sie ein zweites Mal auf ihn hereingefallen war – sie hätte ihm niemals vertrauen dürfen, sie hätte den USB-Stick unter keinen Umständen herausrücken dürfen. Dann wäre Bennet – oder wie immer er auch wirklich geheißen hatte – jetzt vielleicht noch am Leben.
    Frank hatte ein kleines Stoffsäckchen hervorgeholt und kippte den Inhalt auf dem Tisch aus. Eine große Menge winziger schwarzer Kügelchen ergoss sich kullernd über den Tisch, wie winzige Murmeln rollten sie in alle Richtungen und fielen teils zu Boden, während andere am Kopf des Toten zum Stillstand kamen. Frank schien sich daran nicht zu stören. Er zog eine schmale Schatulle aus der Hosentasche, klappte sie einhändig auf und nahm eine kleine Sprühflasche sowie ein flaches, gebogenes Stück Metall heraus, an dem eine Art Nadel befestigt war. Irritiert verfolgte Stina, wie sich Frank mit dem Inhalt des Fläschchens den Nacken einsprühte. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, sich an ihn anzuschleichen und die günstige Gelegenheit für einen Überraschungsangriff zu nutzen, besann sich aber schnell eines Besseren: Sie hatte es ganz offensichtlich mit einem professionellen Killer zu tun. Er war niemand, der sich von einer schwächlichen Amateurin wie ihr überrumpeln ließ.
    Nachdem er das Fläschchen wieder weggesteckt hatte, nahm Frank erneut das Metallstück zur Hand, legte es sich an den feuchten Nacken und rammte sich die Nadel mit einer abrupten Handbewegung durch die Haut. Das Metallstück blieb an seinem Nacken haften, und Stina glaubte kleine Lämpchen daran aufleuchten zu sehen. Obwohl die Prozedur ziemlich schmerzhaft ausgesehen hatte, verzog Frank keine Miene, packte alles wieder ein und wandte sich dem Ausgang zu.
    Stina konnte gerade noch um die Ecke huschen, um seinem Blick zu entgehen. Hastig flüchtete sie den Gang entlang und hoffte, dass sie dabei keine allzu lauten Schritte machte. Sie musste unbedingt Mike warnen – aber es dauerte nicht lange, bis sie sich im Tempellabyrinth hoffnungslos verirrt hatte. Am liebsten hätte sie laut seinen Namen gerufen, aber sie war nicht so dumm, Frank dermaßen mutwillig auf ihre Fährte zu bringen. Verzweifelt rannte sie stur geradeaus, nahm jedes Mal die erstbeste Abzweigung, weil sie wusste, dass sie auf keinen Fall stehenbleiben durfte. Als sie zwischen ein paar großen Schläferstatuen hindurch einen größeren Rätselraum durchquerte, hörte sie auf einmal hinter sich ein zunächst leises, dann immer lauter werdendes Sirren. Ein paar Sekunden später zischten kleine fliegende Objekte durch den Raum, rasten teils durch offene Durchgänge weiter in andere Räume und blieben teils knapp unter der Decke schweben, wo sie bald eine Art Raster bildeten. Erst beim zweiten Hinschauen begriff Stina, dass es sich um die schwarzen Kügelchen handelte, die Frank aus dem Säckchen geholt hatte – er musste sie irgendwie aktiviert haben. Was immer das für technische Wunderwerke waren, ihr Anblick behagte ihr überhaupt nicht: Die unter der Decke schwebenden Exemplare gaben im Abstand weniger Sekunden einen leisen Piepton von sich, während zeitgleich ein rotes Lämpchen an jeder Kugel aufflackerte.
    Stina rannte weiter, und auch im angrenzen Tempelgang schwebten die beunruhigend aufpiependen Kugeln unter der Decke – wahrscheinlich waren die Dinger gerade dabei, sich im ganzen Gebäude auszubreiten. Sie musste hier raus, begriff Stina von Angst gepackt, und zwar so schnell wie möglich. Keuchend hastete sie in den nächsten Raum und schnappte nach Luft, als sie fast gegen den riesigen Körper eines Tempelcrawlers geprallt wäre, der es sich neben einem steinernen Podest gemütlich gemacht hatte. Instinktiv wollte sie die Flucht zurück antreten, aber der Crawler schien ihr gar keine Beachtung zu schenken und klackerte nur hin und wieder ein bisschen mit den Zangen. Vorsichtig wagte sie sich näher und schlich sich mit angehaltenem Atem an dem riesigen Roboter vorbei. Sie wollte es schon riskieren, einen Zahn zuzulegen – auch in dieser Halle war alles voller piepsender Schwebekugeln – als sie begriff, dass der große Raum überhaupt keinen Ausgang hatte. Panisch ließ sie den Blick nach allen Seiten schweifen, aber wenn es hier Türen gab, dann waren sie gut versteckt und konnten wohl nur durch irgendein Rätsel geöffnet werden – und dafür hatte sie nun wirklich keine Zeit, zumal es für sie den Eindruck machte, dass die Rätselmechanismen gerade sowieso deaktiviert waren. Es half alles nichts, sie würde den Rückweg in die gleiche Richtung einschlagen müssen, aus der sie gekommen war – auch wenn das bedeutete, dass sie vielleicht wieder zurück ins Innere des Tempels laufen würde, wenn sie eine falsche Abzweigung nahm. Aber wer sagte ihr, dass sie nicht ohnehin schon ständig in die falsche Richtung gelaufen war?
    Ein plötzlicher Anfall völliger Hoffnungslosigkeit übermannte sie. Sie würde niemals den Ausgang finden, geschweige denn Mike. Hilflos torkelte Stina zurück in den Gang, als es hinter ihr in der Halle laut zu zischen begann. Sie bekam einen Schrecken, als sie sah, dass sich der Tempelcrawler in Bewegung gesetzt hatte – aber er war nicht etwa hinter ihr her, sondern krabbelte geschwind auf eine der Wände zu. Seine riesigen Scheren donnerten gegen die Wand und lösten einen Stein nach dem anderen heraus, bis sich allmählich ein kleines Loch bildete.
    Verblüfft eilte Stina zu der immer größer werdenden Lücke im Mauerwerk. Es war offensichtlich, dass ihr dieser Crawler nichts antun wollte – ganz im Gegenteil, er wollte ihr helfen! Als sie durch das Loch den schwarzen Nachthimmel sehen konnte, schlug ihr Herz schneller, aber diesmal vor Freude und Erleichterung.
    „Danke, lieber Tempelminecrawler!“
    Liebevoll strich Stina über ein Bein des großen Roboters und machte sich daran, über die Trümmer durch das Loch zu klettern. Das Piepsen an der Hallendecke wurde mit einem Mal zu einem langen, durchgehenden Ton. Stina erklomm hastig die Mauerreste, sprang ins Freie – und hinter ihr brach die Hölle los. Sie spürte die Hitze von tausend Feuerdrachen und ihre Trommelfelle erbebten, als sie von einer gewaltigen Druckwelle fortgeschleudert wurde.

    Als Stina die Augen öffnete, blickten ihr riesige schlitzförmige Pupillen entgegen, zwei schmale Inseln in einem stechend gelben Augenmeer. Der Gestank von Motoröl und verbranntem Gras stieg ihr in die Nase, und unter das hohe Pfeifen in ihren Ohren mischte sich ein tiefes, bedrohliches Knurren. Vor ihrer Nase lag das abgerissene gelbe Stoffband, vom Auge Innos’ fehlte jede Spur.
    Mit dröhnendem Kopf krabbelte sie rückwärts, bis sie an ein Stück Mauer stieß. Sie war umgeben von den verkohlten Trümmern des explodierten Schläfertempels, und vor ihr hatte sich der gewaltige, schuppige Körper eines Drachensnappers aufgebaut. Er öffnete sein Maul und offenbarte zwei Reihen messerscharfer stählerner Zähne. Wieder stieg ihr ein Schwall heißen Dampfes entgegen, wieder war ihre Nase erfüllt von dem Motorölgestank, der sie zum Würgen brachte. Der Drachensnapper trat näher an sie heran und senkte den Kopf, fast so als wollte er sie beschnuppern.
    „Y’berion“, brachte Stina hervor. „Das bist du da drin, oder?“
    Das riesige Reptil rührte sich nicht und schnaubte nur leise auf. Stina war sich sicher, dass hier nicht mehr das zerstörerische Sicherheitssystem am Hebel war – andernfalls wäre sie in der Anwesenheit dieser Killermaschine vermutlich gar nicht mehr aufgewacht.
    „Es tut mir leid, ich hab den USB-Stick nicht mehr…“ Ächzend kämpfte sie sich in die Höhe und stützte sich an einem Bein des Drachensnappers auf, was dieser widerstandslos über sich ergehen ließ. „Den Stein des Wissens, meine ich… er wurde mir weggenommen.“
    Wenn diese Information in Y’berion irgendetwas auslöste, dann ließ sich der Körper des Drachensnappers das jedenfalls nicht anmerken. Wahrscheinlich interessierte er sich auch gar nicht für den Inhalt des USB-Sticks, spekulierte Stina – ihm war es wohl nur darum gegangen, dass sie den Virus aus dem System entfernte, damit das Wüten seines weniger diplomatischen KI-Bruders ein Ende fand.
    „Hör zu, Y’berion… ich muss… ich muss verhindern…“
    Ihr schwirrte noch immer der Kopf, und es war schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Mike war der einzige Gedanke, der irgendwann hängen blieb. Schwankend irrte Stina durch das qualmende Trümmerfeld, während ihr der Drachensnapper geduldig folgte. Aber vor ihren verschwommenen Augen konnte sie zwischen den Überresten von Wänden, Statuen und zu Klumpen verschmolzenen Computern keinen anderen Menschen ausmachen – nicht einmal Bennets Leiche war zu sehen. Ob Mike und dieser Schauspieler, den er hatte befreien wollen, noch rechtzeitig entkommen waren? Oder war die Hitze so stark gewesen, dass jedes Lebewesen in der Explosion umgehend zu Asche zerfallen war? Der Gedanke versetzte ihr einen Stich, aber sie zwang sich, jetzt keine Energie darauf zu verschwenden. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos gewesen war, aber vielleicht hatte Frank sein Werk noch nicht vollendet. Aus dem nahen Rechenzentrum, dessen Vorderwand bereits durch die Explosion des Schläfertempels halb eingestürzt war, hörte sie ein deutlich wahrnehmbares regelmäßiges Piepsen. Vieles sprach dafür, dass Frank dort gerade noch mit seinen unheimlichen schwebenden Explosionskugeln zugange war. Vielleicht hatte sie noch die Chance, ihren Vater zu retten – oder Nadine und ihre kleine Familie.
    Stina rieb sich die schmerzende Stirn und versuchte, einen klaren Plan zu fassen. Sie hatte Nadine, David und Kleo hierher in den Park gebracht, und sie fühlte eine Verpflichtung dazu, sie auch wieder heil herauszubringen. Aber wie um alles in der Welt sollte sie auf eigene Faust in die versteckten Produktionsanlagen vordringen, wo die drei offenbar gefangen gehalten wurden? Sie wusste nur, dass sich das geheime Bergwerk unter dem Vulkan befand, aber ihr fehlte jeder Anhaltspunkt, auf welchem Weg sie dort hinein gelangen könnte. Außerdem wimmelte es dort sicher vor den Leibwächtern dieses Scheichs. Nein, die einzige Chance, sie zu retten, bestand darin, dass sie zuerst ihren Vater rettete. Wenn sie ihn rechtzeitig vor Frank warnte und ihm von Alshammaris Plänen erzählte, dann würde sein Sicherheitsdienst vielleicht noch rechtzeitig eingreifen und die Produktionsanlagen stürmen können – außer sie waren alle so korrupt wie Frank, aber über diese Möglichkeit wollte sie lieber gar nicht erst nachdenken. Ihr Plan stand fest: Sie musste zum Büro ihres Vaters gelangen und darauf setzen, dass sie ihn dort auffinden würde, so wie es Alshammari im Gespräch mit Frank angedeutet hatte. Sie musste zum Hotel, und zwar so schnell es nur irgendwie ging.
    „Y’berion?“ Sie drehte sich zum Drachensnapper um, der als Antwort leise knurrte. „Das Hotel Zum Schlafenden Geldsack, weißt du wo das ist? Meinst du, du… könntest mich hinbringen?“
    Schnaufend ging das Ungetüm mit seinen baumstammdicken Beinen in die Hocke. Stina zögerte nur einen Moment, bevor sie alle Bedenken beiseite wischte und auf den rauen, schuppigen Rücken des Roboters stieg. Sie hatte noch nie auf irgendeinem Tier geritten, geschweige denn auf so einem – und der Drachensnapper gab ihr auch keine Gelegenheit, sich lange einzugewöhnen. Während sie noch versuchte, mit den Händen zwischen all den Schuppen einen sicheren Halt zu finden, stürmte er auch schon los und hüpfte behände zwischen den Trümmern hindurch. Japsend umschlang Stina den Körper des Snappers kurzerhand mit beiden Armen und klammerte sich so fest es ging an ihn, während er im flotten Snappergalopp den steilen Hang in die dunkle Schlucht hinunterjagte. Ein kleines Rudel Beißer schaute ihnen friedlich hinterher, und ein paar Sekunden später war Stina auf dem Rücken ihres Reittiers auch schon auf der anderen Seite der Schlucht am entgegengesetzten Hang angekommen. Der Weg hinauf war etwas mühseliger für den Drachensnapper, aber es dauerte nicht lange, da war er oben angekommen und jagte mit der schlotternden Stina auf dem Rücken durch den nächtlichen Freizeitpark.
    Nachdem sie in den ersten Momenten noch geglaubt hatte, jeden Moment abzurutschen und bei voller Geschwindigkeit zu Boden zu stürzen, fühlte sie sich allmählich etwas sicherer. Im Dunkeln war es schwer zu erkennen, wohin sie eigentlich unterwegs waren, und Stina blieb nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass Y’berion sie sicher an ihr Ziel bringen würde. Immer wieder kamen sie an hell erleuchteten Attraktionen und Buden vorbei, deren Aura aus weißem Licht die Leichen von Parkbesuchern, kostümierten Mitarbeitern und Polizisten offenbarte.
    Polizeisirenen heulten in der Ferne auf, als der Drachensnapper auf den Platz mit dem großen Lurkerspringbrunnen einbog, wo zwischen umgeworfenen Bänken ein zerstörter Scavengerroboter Funken schlug. Ein kleines Grüppchen schwer bewaffneter vermummter Männer rannte über den Platz und begann mit ihren Maschinengewehren auf sie zu schießen, kaum dass die Männer auf sie aufmerksam wurden. Stina presste sich noch enger an den Rücken des Roboters und versuchte sich so klein wie möglich zu machen, während ihr die peitschenden Schüsse um die Ohren flogen. Dicht vor ihren Händen schlug ein halbes Dutzend Kugeln im Körper des Roboters ein und blieb in der blechernen Schuppenhaut stecken. Der Drachensnapper versuchte gar nicht erst, den Angreifern auszuweichen. Er galoppierte genau auf sie zu und sprang vom Boden ab. Nur mit viel Mühe konnte sich Stina in den Schuppen festkrallen, und ein schmerzhaftes Zucken fuhr durch ihren Körper, als das monströse Reptil mitten in der Gruppe der Schützen landete. Er packte einen der Männer mit dem Maul am Hals und schleuderte ihn in den Brunnen, während er mit dem stachelgespickten Schwanz gleichzeitig zwei andere von den Füßen riss. Bevor Stina ganz begriffen hatte, was geschehen war, hatte sich das Wasser im Springbrunnen rot gefärbt und ihr Reittier preschte schon wieder durch das Gebüsch in Richtung Hafenstadt los.
    Das rotierende Blaulicht zweier verwaister Polizeiautos beschien lautlos die Stadtmauer. Stina konnte das große Hotelgebäude schon dahinter erkennen, als sie von Weitem den donnernden Knall einer Explosion hörte. Im gleichen Moment ging ein Ruck durch den Drachensnapper, der plötzlich noch einmal an Geschwindigkeit zulegte und in einem so irrsinnigen Tempo auf die Stadtmauer zuraste, dass Stina mit der linken Hand den Halt verlor und sich nur noch mit Mühe auf dem Rücken festhalten konnte.
    „Y’berion, was soll das?“, brüllte sie. „Ich falle runter! Langsamer! Du musst -“
    Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Frank hatte das Rechenzentrum in die Luft gejagt, es gab keinen Y’berion mehr. Der Drachensnapper war zu einer leeren Metallhülle geworden, die stumpf auf Vollgas geschaltet hatte. Er steuerte genau auf einen der Stadttürme an der Mauer zu und schien mit jeder Sekunde schneller und schneller zu werden. Als sie die Turmmauern unaufhaltsam näher rasen sah, fasste Stina eine verzweifelte Entscheidung und ließ los. Sie schlug auf dem Grasboden einer Grünfläche auf und wurde zur Seite geschleudert, während der Roboter krachend den Turm durchschlug.
    Ächzend richtete sich Stina auf und stolperte zum großen Loch, das der Drachensnapper in der Wand hinterlassen hatte. Dass es sich nicht um echten Backstein handelte, das hatte sie schon erwartet, aber dieses Baumaterial war nicht viel stabiler als Pappe gewesen. Der Roboter war auch durch die gegenüberliegende Turmwand gebrochen und rannte weiter stur geradeaus, genau auf das Hotel zu. Glas splitterte, als er durch die ohne schon schwer beschädigte Fensterfront krachte.
    „F… Frau Arends?“
    Irritiert blickte Stina zum Boden des Turms, wo ein verstört wirkender junger Mann im zerfetzten türkisen Sakko kauerte und offenbar gerade den Schock seines Lebens erlitten hatte. Sie brauchte einen kleinen Moment, um sich daran zu erinnern, woher sie diesen Kerl kannte.
    „Was machen Sie denn hier? Sollten Sie nicht oben im Hotel sein und aufpassen, dass keiner in den Konferenzsaal kommt?“
    „Das… das spielt doch jetzt überhaupt keine Rolle mehr!“, schrie er fast hysterisch. „Wingefors hat mich sowieso schon gefeuert, wieso sollte ich für den noch in diesem verdammten Höllenloch festhängen?“
    Stina schaute sich mit schummrigem Kopf im ramponierten Inneren des Stadtturms um. Es gab also doch einen Weg ins Innere dieser Türme. Irgendwo musste es also auch Türen geben, die nicht bloß aufgemalt waren.
    „Das sieht für mich aber schon so aus, als würden Sie hier festhängen“, sagte sie und lehnte sich hechelnd an ein heiles Stück Turmwand, um ein bisschen zu Atem zu kommen. „Der Parkausgang ist doch ganz in der Nähe, wieso sind Sie nicht abgehauen?“
    „Das wollte ich ja!“, beteuerte er mit sich überschlagender Stimme. „Aber diese Maschinen waren plötzlich überall! Ich konnte mich in diesen Turm hier retten, aber dann -“
    „Dann hat ihn von außen jemand abgeschlossen?“, fiel ihm Stina ins Wort. „Und Sie sind nicht mehr rausgekommen?“
    „Was? Nein, ich hab mich einfach nicht mehr getraut! Ständig brüllt oder schießt hier irgendwas rum, ich wäre doch schön blöd gewesen, den Turm wieder zu verlassen! Aber jetzt… jetzt haben Sie…“
    „Jetzt hab ich Sie befreit“, sagte Stina und versuchte dabei ein bisschen aufmunternd zu klingen. „Keine Sorge, die Roboter haben sich wieder beruhigt. Also, zumindest hatten sie das bis gerade eben noch. Ich habe keine Ahnung wie die jetzt alle drauf sind, nachdem eben das Rechenzentrum in die Luft geflogen ist. Und es laufen natürlich noch diese ganzen Söldner mit den Maschinengewehren durch die Gegend und schießen auf alles was sich bewegt. Ich wäre also vielleicht vorsichtig an Ihrer Stelle.“
    „Danke für den Tipp“, stöhnte der junge Mann.
    „Tut mir leid“, versuchte sie es noch einmal mit einer ehrlichen Entschuldigung, auch wenn sie für das Verhalten des führungslosen Drachensnappers ja gar nichts konnte. Sie war schon durch das gegenüberliegende Mauerloch in Richtung Hotel geeilt, als ihr noch etwas einfiel. „Wie heißen Sie eigentlich?“
    „Was? Jochen Reuter, wieso?“
    „Achso. Viel Glück, ich hoffe Sie schaffen es heil nach draußen!“
    Stina fühlte die Strapazen der vergangenen Stunden in jedem Knochen, aber sie spürte auch, wie ihr die Begegnung im Turm neuen Mut gegeben hatte. Sie war auf einem Drachensnapper geritten und sie hatte jemanden aus einem Stadtturm gerettet – wenn auch vielleicht ein bisschen gegen dessen Willen. Vielleicht lag es daran, dass sie in ihrem schwindeligen Kopf die Gedanken nicht mehr richtig sortieren konnte, aber plötzlich fühlte sie sich wieder wie einem Gothic-Spiel. Auf einmal hatte sie das euphorisierende Gefühl, alles schaffen zu können – ihren Vater retten, Nadine, David und Kleo befreien, und auch Y’berion würde sich doch sicher aus dem Backup im Büro ihres Vaters wieder einspielen lassen. Kai, Mattes und die Pankratzens waren bestimmt sowieso längst in Sicherheit. Sie musste nur noch Mike finden, dann würde sie alles doch noch irgendwie wieder gerade gebogen haben. Fast federleicht fühlten sich ihre Schritte an, als sie die letzten Meter zum Schlafenden Geldsack zurücklegte.
    Die Glasfassade des Eingangsbereichs lag in Trümmern – und das war offensichtlich nicht allein die Schuld des Drachensnappers, der wild zuckend in der Rezeption steckengeblieben war und zuvor eine Spur der Verwüstung im Wachsfigurenkabinett hinterlassen hatte. Zwischen den umgefallenen und halb zermatschten Abbildern von Diego, Xardas und Saturas lagen die von hunderten Kugeln zerschossenen Metallwracks von Waranen, Snappern und anderen Robotern, bei denen Stina in vielen Fällen nicht einmal mehr ausmachen konnte, um welche Kreaturen es sich bei ihnen einmal gehandelt hatte.
    Inmitten des Chaos hielten eine Frau und ein Mann vom Sicherheitsdienst Wache, deren zerkratzte Gesichter und ebenso blutverschmierte wie zerschlissenen Klamotten von aufreibenden Schlachten zeugten.
    „Stopp!“ Die Frau hob ihre Pistole und hielt sie auf ihren Kopf gerichtet. „Keinen Schritt weiter!“
    Vorsichtig hob Stina beide Hände.
    „Ich bin Stina Arends, die Tochter von Lars Wingefors“, stellte sie sich vor. „Bitte lassen Sie mich hinein, ich muss meinen Vater warnen. Sie sind alle in großer Gefahr!“
    Die beiden Sicherheitsleute wechselten einen schwer zu deutenden Blick. Dann griff der Mann nach seinem Handy.
    „Warten Sie bitte, ich werde Herrn Wingefors benachrichtigen.“
    Stina durchfuhr ein plötzlicher Schauer, als sie den Mann quälend langsam einen Kontakt auswählen sah. Wer sagte ihr, dass die beiden nicht genauso mit dem Scheich unter einer Decke steckten wie Frank? Riefen Sie wirklich ihren Vater an oder…
    Mit quietschenden Reifen fuhr draußen vor den zerborstenen Fenstern ein schwarzes Auto vor. Es war noch nicht ganz zum Stehen gekommen, als die Fahrertür aufgestoßen wurde und Frank mit gezogener Waffe heraussprang. Ein dumpfer Schuss aus dem schallgedämpften Lauf des Revolvers erklang, dann sackte der Sicherheitsmann mit einer Schusswunde auf der Stirn in sich zusammen. Seine Kollegin feuerte ohrenbetäubend knallende Schüsse aus ihrer Pistole ab, und Stina flüchtete sich hastig hinter Ur-Shak, die einzige Wachsfigur, die noch aufrecht stand.
    Ein lautes Sirren erfüllte die Luft. Stina riskierte einen Blick zum Eingang und sah, dass sich um Frank ein Schwarm der kleinen schwarzen Kügelchen gebildet hatte. In raschen Schwebebewegungen bildeten die Kugeln einen vibrierenden Schutzschild um ihn, an dem die Schüsse der Personenschützerin wirkungslos abprallten. Stina überlegte nicht mehr lange – sie musste hier weg, solange Frank noch mit der armen Frau beschäftigt war, die wohl kaum noch länger als ein paar Sekunden durchhalten würde. Sie nahm all ihren Mut zusammen, löste sich von der Ur-Shak-Figur und rannte über die zersplitterten Reste wertvoller Goldmaster-CDs in Richtung Aufzug. Erst jetzt sah sie, dass der riesige, qualmende Metallkörper eines durchlöcherten Schattenläufers den Zugang zum Treppenhaus versperrte. Der intensive Gestank nach verschmorten Drähten und Motoröl raubte ihr beinahe die Sinne, als sie mit Gewalt auf den Aufzugknopf einhämmerte.
    Vier, fünf endlose Sekunden vergingen, dann öffnete sich die Tür des Aufzugs und sie stürmte in die leere Kabine.
    Eine Patrone schlug hinter ihr in der Metallwand der Kabine ein, dicht gefolgt von zwei weiteren. Frank war auf dem Weg zu ihr, und dutzende auf sie zu fliegende Kugeln eilten ihm voraus. Stina presste sich an die Wand und drückte blind den Knopf für das oberste Stockwerk. Ein schmerzhaftes Stechen zuckte durch ihren Finger – und ein schrill quietschendes Geräusch erklang, als die vorderste der fliegenden schwarzen Kugeln den Aufzug erreichte und von der sich schließenden Tür zerquetscht wurde.
    Sanft setzte sich der Aufzug in Bewegung. Stina wollte für den Moment ausatmen, aber der Schmerz in ihrem Finger wollte einfach nicht nachlassen. Sie richtete den Blick darauf und erstarrte. In der Fingerkuppe steckte ein kleines, wild zappelndes Insekt.
    Die Wespe musste auf dem Knopf gesessen haben, als Stina ihn gedrückt hatte. Jetzt steckte ihr Stachel in ihrer Haut und pumpte sein Gift in ihren Körper. Und ihr zerstörtes Notfallset lag weit entfernt irgendwo vor den Trümmern des Schläfertempels.
    Stina schüttelte die Wespe vom Finger und sah zu, wie sie zu Boden fiel und dort orientierungslos herumkrabbelte. Ihr Herzschlag raste schon jetzt, und ihr Schwindelgefühl hatte noch zugenommen, aber das musste nichts zu bedeuten haben. Ihre Mutter hatte sich jede einzelne Krankheit ausgedacht, an der sie jemals geglaubt hatte zu leiden. Nichts deutete darauf hin, dass es bei der Wespenallergie anders gewesen war. Dass sie seit dreißig Jahren mit diesem Notfallset durch die Gegend lief, war allein ihrer lächerlichen Angst davor geschuldet, sich mit einem Allergietest Gewissheit zu verschaffen. Die Vorstellung, dabei einen anaphylaktischen Schock zu erleiden, war ihr immer schlimmer vorgekommen als die Aussicht darauf, den Rest ihres Lebens mit einer kleinen Sammlung eigentlich unnötiger Medikamente herumzulaufen. Ab morgen würde sie sich nie wieder welche in der Apotheke besorgen müssen, begriff sie. Dann hatte sie endlich Gewissheit. Alles was sie jetzt tun musste, war die Ruhe zu bewahren – zumindest so sehr, wie ihr das angesichts der Umstände überhaupt möglich war.
    Der Aufzug hatte den obersten Stock erreicht, und Stina stürmte durch die sich öffnende Tür. Der Wartebereich war verlassen, und die Tür zum Konferenzraum stand offen.
    „Papa?“, rief sie, während sie hinein rannte. „Papa, bist du hier?“
    Der Konferenztisch war vollgestellt mit Laptops, krümeligen Tellern und leeren Flaschen, und an den Wänden lehnten Rücksäcke und Jacken. Von Menschen aber fehlte jede Spur – bis sich die Tür zum Büro öffnete.
    „Stina?“
    Sie hatte nicht geglaubt, dass sie an diesem Tag noch irgendetwas überraschen konnte, aber als ihr Vater ihr entgegen eilte und sie fest in die Arme schloss, war sie für einen kurzen Moment sprachlos.
    „Wie bist du hierher gekommen, Stina? Wieso hat mich niemand darüber informiert, dass du befreit wurdest? Ich habe ein Team losgeschickt, aber vor einer Stunde ist jeglicher Kontakt abgebrochen. Ich dachte schon…“
    Er musste auch ganz schön was mitgemacht haben, dachte Stina. Seine Haare hingen ihm in dicken, klatschigen Strähnen ins Gesicht, und sein Anzug sah merkwürdig fleckig und zerknubbelt aus. Er trug nicht einmal eine Krawatte.
    „Von deinem Team habe ich nichts mitbekommen“, berichtete sie gehetzt. „Aber das spielt jetzt auch keine Rolle, wir müssen hier weg! Ein Mann aus deinem Sicherheitsdienst – Frank Dolger – er arbeitet für diesen Scheich, und er ist dabei, mit diesen komischen fliegenden Kugeln den ganzen Park in die Luft zu sprengen! Er ist hier im Hotel und auf dem Weg zu dir, wir müssen sofort hier raus!“
    „Fliegende Kugeln? Du meinst nicht etwa…?“
    Stina konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor Furcht im Gesicht ihres Vaters gesehen zu haben, aber jetzt wusste sie, wie es aussah. Bei dem Anblick fühlte sie selbst eine grenzenlose Panik in sich aufsteigen, und ihre Beine wurden so schwach und zittrig, dass sie sich an einer Stuhllehne festhalten musste.
    „Es sind winzige schwarze Dinger, und ich glaube, er kann sie irgendwie mit einem Gerät an seinem Nacken kontrollieren – er hat schon den Schläfertempel und das Rechenzentrum gesprengt, und das Hotel ist als nächstes dran!“ Stina blieb beim Sprechen fast der Atem weg, so schnell wollte sie alles herausbringen, und sie musste bei den letzten Wörtern nach Luft japsen. Frank würde jeden Moment hier oben sein, und dann war alles zu spät.
    „Nano-Drohnen, gesteuert durch Gehirnströme“, sagte ihr Vater beklommen. „Das ist eine der fortschrittlichsten Waffentechnologien der Welt. Ich hatte keine Ahnung davon, dass die Saudis schon einsatzfähige Exemplare besitzen.“
    „Du hattest anscheinend von so einigen Sachen keine Ahnung!“, entfuhr es Stina. „Zum Beispiel, dass es keine gute Idee ist, Geschäfte mit kaltblütigen Superschurken zu machen und brandgefährliche Sicherheitssysteme in einem Freizeitpark voll mit Leuten zu testen!“
    „Ich glaube nicht, dass du die Zusammenhänge gut genug kennst, um dir ein Urteil zu bilden. Aber ich hätte dir heute Mittag besser zuhören sollen, als du mir von dem maskierten Mann berichtet hast. Vielleicht hätte ich die Katastrophe noch verhindern können – ich hatte Hoge hier im Konferenzsaal sitzen, und ich habe ihn einfach gehen lassen. Jetzt ist es zu spät.“
    „Was soll das heißen, es ist zu spät?“, entgegnete sie verständnislos. „Wir verschwinden durchs Treppenhaus – wenn Frank den Aufzug nimmt, dann haben wir so vielleicht einen Vorsprung!“
    „Nein“, sagte ihr Vater knapp. „Das haben wir nicht.“
    Ein dumpfes Schussgeräusch erklang. Ihr Vater ging stöhnend vor dem großen Holztisch zu Boden und hielt sich das blutende Knie. Als sich Stina mit schwindeligem Kopf umdrehte, verließ Frank gerade den Aufzug, in der Hand seinen gezückten Revolver.
    „Die Backups des Zentralcomputers, wo sind sie?“ Er betrat den Konferenzraum und richtete die Waffe im Gehen auf das unversehrte Knie ihres Vaters.
    „Sie wissen genau wo die Backups sind“, presste ihr Vater zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ein weiterer gedämpfter Schuss ertönte, und diesmal schrie er laut auf.
    „In meinem Büro, verdammt!“, keuchte er. „Das sind die einzigen Backups!“
    Draußen vor den Fenstern blinkte ein Gitternetz aus kleinen roten Lichtern auf. Die Nano-Drohnen mussten das gesamte Hotel umschlossen haben wie eine Hülle, begriff Stina. Frank musste nur den Befehl geben, und alles hier würde in Flammen aufgehen.
    „Wir haben da ein Problem, fürchte ich“, sagte er. „Ich glaube Ihnen nämlich nicht. Vielleicht möchten Sie noch einmal nachdenken?“
    Auf einmal war er direkt neben ihr und hielt ihr seine Waffe an die Schläfe.
    „Ihre Tochter würde es Ihnen sicher danken.“
    Stinas donnernder Herzschlag vibrierte in ihrem ganzen Körper. Jeder Atemzug war ein Kampf gegen das Ersticken.
    „Wagen Sie es nicht, Dolger.“ Ihr am Boden kauernder Vater verdoppelte sich vor Stinas Augen, als ihre Sinne zu versagen begannen. „Es gibt keine anderen Backups. Das Sicherheitssystem lässt keine Übertragungen an Server außerhalb dieses Parks zu. Ich kann Ihnen nichts offenbaren, was nicht existiert!“
    Rasselnd schnappte Stina nach Luft. Sie starrte auf ihre Hände, die sich um die Stuhllehne verkrampft hatten, und sah, dass sie von einem roten Ausschlag befallen waren.
    Nimm deine Medikamente, Stina.
    „Falsche Antwort“, sagte Frank und drückte den Schalldämpfer am Lauf der Waffe noch fester an ihren Schädel. „Letzte Chance.“
    Kalter Schweiß rann ihre Stirn hinab. Alles in ihr krampfte sich zusammen, als sich die Doppelgänger ihres Vaters in eine verschwommene, breiige Masse auflösten.
    Das kommt davon, wenn du deine Medikamente nicht nimmst.
    „Drei… zwei…“
    Stinas Kehle war wie zubetoniert. Kein Atemzug war mehr möglich, alle Kraft verließ ihren Körper. Ihre Hände rutschten von der Stuhllehne ab, ihre Beine versagten ihr den Dienst. Röchelnd brach sie auf dem Boden zusammen.
    „Was soll das werden?“
    Aus dem Nebelschleier vor ihren Augen schälte sich Franks Gesicht heraus.
    „Soll das ein Trick sein?“
    Eine Hand packte sie brutal am Arm und riss sie wieder in die Höhe. Stinas schlaffer Körper schlug gegen Franks, kraftlos schlang sie ihre Arme um seine Schultern. Er stieß sie von sich und drückte sie auf einen der Stühle, wo sie zusammengesackt hängen blieb, zu schwach um auch nur zu blinzeln. Ihre Lungen brannten höllisch, jede entzündete Faser in ihr wollte Atemluft. Alles um sie herum brach weg, Franks Worte wurden zu einem Hintergrundgeräusch, zu einer bedeutungslosen Untermalung des Presslufthammerdröhnens ihres marodierenden Herzschlags.
    „Auf so etwas falle ich nicht rein.“
    Stinas glühende Finger umschmeichelten das kleine, kühle Ding in ihrer Hand. Sie erinnerte sich noch genau an den Wortlaut des Telefongesprächs, das sie im Schläfertempel belauscht hatte. Franks Auftrag bestand darin, alles zu zerstören, wenn er eine Kopie der Daten gesichert hatte – und zwar nur dann.
    „Ich… glaube ja… schon.“
    Mit letzter Kraft hob sie die Hand zum Mund, steckte sich den USB-Stick zwischen die Zähne und biss zu.
    Plastik brach, Metall knirschte. Wenn es noch eine Sache gab, die sie in diesem Leben tun musste, dann war das, den Stein des Wissens zu vernichten. Er durfte nicht existieren, er hatte nie existieren dürfen. Das Bild einer leergegessenen Tupperdose mit Apfelstücken erschien vor ihrem inneren Auge, und sie malmte, wie sie noch nie gemalmt hatte. Zahnschmelz splitterte, ihr Speichel mischte sich mit Blut, Plastik und Silizium. Sie hörte nicht auf, bis sich Franks Finger zwischen ihre Kiefer pressten, bis ihr Herzschlag explodierte und ihre Lungenflügel verdampften.

    „Stirb, Morra!“
    Ein hünenhafter Ork-Krieger stürmte mit gezogenem Krush Agash auf ihn zu, flankiert von zwei geifernden Wargen. Gekonnt parierte er den ersten Schlag mit seinem Ordensschwert und wich dem Biss des ersten Wargs aus, bevor er dem zweiten ein paar rasche Hiebe mit dem gesegneten Zweihänder verpasste. Winselnd zog sich das Biest zurück, doch ihm blieb keine Zeit zum Verschnaufen. Der Ork setzte bereits zu einem Wirbelangriff an, den er nicht rechtzeitig parieren konnte. Getroffen stöhnte er auf und büßte ein Drittel seiner Lebensenergie ein, aber der Gegenangriff kam sofort. Zwei, drei gut getimte Links-Rechts-Kombinationen später lag der Ork geschlagen im Staub, und die beiden verstörten Warge traten die Flucht an. Der namenlose Held wechselte zum Bogen und schoss die Tiere nacheinander ab, bevor sie außer Reichweite geraten konnten.
    „Das ist noch zu einfach“, sagte Stina und öffnete das Inventar, um einen Heiltrank zu sich zu nehmen. „Ich bin erst Level zwölf, da sollte ich noch nicht so einfach zwei Warge und einen Ork-Krieger auf einmal erledigen können.“
    „Vielleicht bist du einfach nur ziemlich gut“, schmunzelte Mattes, der neben ihr vor dem Computer saß. „Ich glaube nicht, dass das außer dir schon jemand von uns hinbekommen hat.“
    „Naja, kann schon sein“, sagte Stina geschmeichelt. „Aber ein bisschen schwieriger könnte es trotzdem sein. Und die Warge sollten nicht hundertfünfzig Erfahrungspunkte bringen, wenn der Ork-Krieger auch nur hundertachtzig bringt. Die Warge sind viel einfacher, die sollten höchstens halb so viel wert sein.“
    „Hm, da könntest du recht haben.“ Mattes rollte auf dem Bürostuhl zu seinem eigenen Rechner hinüber und machte sich ein paar Notizen in einem Textdokument. „Wir werden das in der nächsten Beta anpassen, bespreche ich nachher mit Björn.“
    „Sind da dann auch schon die geänderten Preise für Wacholder und Goblinbeeren mit drin?“
    „Klar. Dein Tipp war echt Gold wert, das Warensystem funktioniert so viel besser.“
    „Hab ich’s mir doch gedacht“, freute sich Stina. „Eigentlich sind das ja aber alles nur Details. Wir könnten das Spiel sofort rausbringen und es wäre auf den Schlag doppelt so gut wie das originale Gothic drei.“
    „Tja, zu viele Köche verderben eben doch nicht immer den Brei.“ Kai war hereingekommen und balancierte einen Stapel dampfender Pizzakartons. „Wer hat die Pizza Funghi bestellt?“
    „Das war ich“, sagte Stina und nahm ihren Karton von Kai entgegen. „Mit ’ner Extraladung Buddlerfleisch?“
    „Alles wie bestellt!“, versicherte Kai und zwinkerte ihr zu. „Nächste Woche in Barcelona
    gibt’s aber mal was anderes als immer nur Pizza und Eintopf, okay?“
    Stina nahm sich eine Ecke und biss genüsslich hinein.
    „Na klar, wir müssen ja auch ein bisschen die landestypische Küche testen, wenn wir schon mal da sind.“
    Sie freute sich schon ganz gewaltig auf das große Quartalsmeeting in den Büros von Alkimia Interactive, wo sie ihre jüngsten Milestones den Producern von THQ Nordic vorstellen und den PR-Fahrplan für die anstehende Releasephase zementieren würden. Die meisten spanischen Mitarbeiter hatte sie bislang nur per Videoschalte kennengelernt, und sie konnte es kaum abwarten, sie alle mal persönlich zu treffen. Mit den Piranhas dagegen hatte sie ja jeden Tag zu tun, seitdem sie vor einem guten Jahr hier in ihrem Essener Hauptquartier als QA-Engineer und Junior-Game-Designerin angefangen hatte. Auch wenn der Release natürlich erst noch anstand, hatte sich die Entscheidung, das Gothic-drei-Remake noch einmal um ein gutes Stück zu verschieben und die Entwicklerteams von Alkimia und Piranha Bytes dafür zusammenzulegen, bereits jetzt als goldrichtig herausgestellt. Und auch wenn sie es natürlich nicht an die große Glocke hing, dachte Stina nicht ohne Stolz daran, dass sie nicht ganz unschuldig an dieser Entscheidung gewesen war. Es war auch das Mindeste gewesen, was ihr Vater für sie hatte tun können, nachdem sie ihn damals durch ihre Verzweiflungstat vor dem Mordanschlag des Scheichs gerettet hatte. Auch wenn er wohl nie die Gelegenheit gehabt hätte, sich zu revanchieren, hätte sie nicht selbst ihren ganz eigenen Retter gehabt.
    Nebenan wurde die Spülung betätigt. Ein paar Sekunden später ging die Klotür auf und Mike schlurfte heraus. Sie würde ihm wohl nie beibringen können, sich nach dem Pinkeln die Hände zu waschen, aber diese liebenswert-schnodderige Art machte ihn natürlich auch gerade aus. Und wie konnte sie ihm noch für irgendetwas böse sein, nachdem er ihr damals das Leben gerettet hatte? Er sah nicht nur aus wie ein Held, er war auch einer. Mike hatte sie und ihren verletzten Vater im Hotel gefunden und sich kurzerhand eines der herrenlosen Polizeiautos geborgt, um sie beide ins nächste Krankenhaus zu bringen. Zwar hatte sich dort herausgestellt, dass Stina tatsächlich gar nicht allergisch gegen Wespen war, sondern angesichts der extremen Strapazen bloß eine gravierende Kombination aus einer Panikattacke und einem Schwächeanfall erlitten hatte, aber auch diese Situation hätte leicht tödlich für sie enden können. Die Ärzte hatten ihr mitgeteilt, dass sie einem Herzinfarkt sehr nahe gewesen war, aber dank Mikes rechtzeitigem Eingreifen war sie zum Glück noch einmal ohne bleibende Schäden davongekommen. Und Medikamente würde sie jetzt auch nie wieder mit sich herumschleppen müssen. Es hatte gedauert, bis sie sich daran gewöhnt hatte, aber inzwischen fühlte es sich fast normal an, ohne Gürteltasche herumzulaufen, auch wenn sie Wespen gegenüber immer noch mehr als argwöhnisch war.
    „Wie isses?“, nuschelte Mike, pflanzte sich neben Stina auf seinen abgeranzten Bürostuhl und nahm einen Schluck aus der angefangenen Bierflasche. „Noch irgendwelche Probleme?“
    Er griff sich einen der Pizzakartons vom einsturzgefährdeten Stapel, den Kai auf dem großen Krempeltisch in der Mitte des Büroraums platziert hatte, und stopfte sich ein halbes Stück Pizza auf einmal in den Mund.
    „Nur ein paar Kleinigkeiten“, berichtete Stina, die selbst gerade an ihrem zweiten Stück mümmelte. „So langsam gehen uns echt die Probleme aus!“
    „Jo“, sagte Mike. „Auch mal ganz geil zur Abwechslung, ’n paar Wochen zu früh fertig zu sein.“
    „Da soll noch einer sagen, du hättest aus dem ersten Versuch nichts gelernt“, warf Mattes ein. „Kai und ich wussten ja gleich, wieso wir dich unbedingt dabei haben wollten.“
    „Ja, jetzt konntest du endlich mal deine Vision des Spiels umsetzen, wie du sie von Anfang an geplant hattest“, stimmte ihm Kai zu, der es sich mit einem Kopfhörer auf den Ohren und einem Keyboard auf dem Schoß auf der Piranha-Couch gemütlich gemacht hatte, um ein paar neue Soundtrack-Ideen auszuprobieren. Zwar hatte er die Musik für ihr neues Spiel schon vor ein paar Monaten mit dem Royal Philharmonic Orchestra in London aufgenommen, aber das hielt ihn natürlich nicht davon ab, schon an frischen Tracks für ihre kommenden Projekte zu arbeiten.
    „Oh, ich glaub, da kommt ein Skype-Anruf für mich rein.“
    Das Fenster mit der aktuellen Entwicklungsversion des Spiels hatte sich minimiert, und das Skype-Fenster war in den Fokus geraten. Stina nahm den Anruf an, und auf dem Bildschirm startete die Videoübertragung.
    „Hallo Stina!“
    Werner, Nadine und ihre Kollegin Annette saßen zwischen einer unübersichtlichen Menge von Kübeln, Töpfen und Säcken mit Blumenerde herum und winkten freundlich in die Kamera.
    „Ich hoffe, wir stören dich nicht bei der Arbeit“, sagte Nadine. „Wir haben gerade für heute geschlossen und fangen gleich an, alles für unseren großen Auftritt auf der Landesgartenschau vorzubereiten. Aber vorher wollten wir noch ein kleines Päuschen einlegen, und da dachten wir, wir melden uns einfach mal bei dir und hören wie es so läuft!“
    „Das ist aber lieb“, freute sich Stina und winkte in die Webcam. „Bei uns läuft es super. Oder, Leute?“
    Mike, Kai und Mattes hoben die Daumen und nuschelten etwas Zustimmendes.
    „Ach Mensch“, seufzte Werner. „Und ich hatte mir schon Hoffnungen gemacht, dass du nach ein paar Monaten die Schnauze voll von diesen Spielchen hast und zu uns zurück kommst. Wir könnten dich echt gut gebrauchen auf der Landesgartenschau!“
    „Und nicht nur da“, setzte Annette hinzu. „Jetzt fällt uns erst mal so richtig auf, was du uns immer alles abgenommen hast. Also, wenn du mal irgendwann Sehnsucht nach uns hast…“
    „Das ist echt nett von euch.“ Stina fühlte, wie sie ganz rot im Gesicht wurde. „Aber ich glaub, da solltet ihr euch lieber keine großen Hoffnungen machen. Ich komm euch aber bestimmt bald mal wieder im Laden besuchen!“
    „Das wär super“, sagte Nadine, als im Hintergrund Stimmen zu hören waren. Ein paar Momente später rannte Kleo ins Bild und wedelte mit einem Plüschsnapper herum, während ihr Vater Nadine zur Begrüßung umarmte.
    „David bringt uns gerade ein bisschen Verpflegung vorbei“, erklärte Nadine, und ihr Freund winkte Stina kurz zu. „Guck mal, Kleo, da ist Stina auf dem Video. Willst du nicht mal Danke sagen für den tollen Dino?“
    Kleo guckte kurz in die Kamera und rannte dann weg, um den Snapper in einen der Blumentöpfe zu quetschen.
    „Na, Hauptsache sie hat noch Spaß dran“, schmunzelte Stina.
    „Das ist ihr absoluter Lieblingsplüschi. Ich hoffe bloß, sie will nicht nochmal in den Park, wenn der demächst wieder aufmacht.“
    „Auf gar keinen Fall setzen wir da in diesem Leben nochmal einen Fuß rein“, stellte David klar. „Die Kleine hat das vielleicht alles schon wieder vergessen, aber ich ganz bestimmt nicht!“
    „Wir haben ja am Eröffnungstag eh keine Zeit“, sagte Nadine und stellte hastig eine überwucherte Blumenvase zur Seite, bevor Kleo ihren Snapper hineintreten konnte. „David und ich hatten letztens unser dreizehnjähriges Jubiläum, und er hat mir Karten für Max Giesinger geschenkt. Voll romantisch, oder? Kleo, was machst du denn da? Kleo, weg da, nicht die Blumenerde… uff, ich muss hier mal kurz aufräumen. Wir sprechen uns, Stina!“
    „Bis bald, Stina!“, riefen Werner und Annette, und Stina winkte fröhlich zurück, bevor sie die Übertragung beendete. Im Büro war derweil ein bisschen Unruhe ausgebrochen, weil Björn, Jenny, Amadeus und Michael aus dem Konferenzraum zurückgekommen waren. Stina nahm sich das letzte Pizzastück und ging kauend zu den anderen hinüber.
    „Und, gibt’s was Neues?“
    „Da kannste aber einen drauf lassen!“ Björn hatte sich mit einer Bierflasche in der Hand auf einen Tisch gesetzt und grinste über beide Ohren. „Universal hat uns gerade das OK gegeben für den In-Extremo-Gig!“
    „Echt?“, staunte Stina. „Für alle Songs?“
    „Ja, wir können sie zwei Stunden am Stück spielen lassen in Vengard, das wird ein richtiges Konzert“, berichtete Jenny euphorisch. „Wird natürlich ein bisschen knapp mit den Motion-Capturing-Aufnahmen, aber das kriegen wir schon noch hin.“
    „Das ist den Stress auf jeden Fall wert“, fand Kai. „Einfach super, die Jungs wieder mit dabei zu haben.“
    „Leute, wisst ihr was?“, sagte Michael und klatschte in die Hände. „Wir machen heute mal ein paar Stunden früher Schluss und gönnen uns zur Feier des Tages einen schönen langen Feierabend.“
    Damit waren alle mehr als einverstanden. Björn und Mike stießen mit ihren Bierflaschen an, während sich Mattes und Amadeus freundschaftlich auf den Rücken klopften.
    „Gehen wir dann nachher noch ’ne Runde in die Kneipe?“, schlug Amadeus vor und erntete zustimmendes Gemurmel.
    „Was meinste?“ Mike reichte Stina die Bierflasche, und sie nahm einen Schluck. „Sollen wir auch gleich mit?“
    „Können wir machen“, sagte sie. „Aber lass uns vorher noch kurz nach oben gehen, okay? Ich will noch eben was mit dir besprechen.“
    „Jo.“ Er stellte die Flasche auf einem Computer ab und nickte den anderen zum Abschied zu. „Bis nachher, Jungs.“
    Ihre Wohnung lag im obersten Stock des Bürogebäudes. Vor vielen Jahren, in der legendären Anfangszeit der Piranhas, hatte Kai hier einmal gelebt, und zwischenzeitlich hatten die Räumlichkeiten auch als Büros gedient. Vor ein paar Monaten hatten Stina und Mike alles renoviert und waren schließlich endlich in ihre erste gemeinsame Wohnung eingezogen. Natürlich verbrachten sie die meiste Zeit bei den anderen Piranhas – es war schwer, der Versuchung zu widerstehen, zu jeder Tages- und Nachtzeit ins Büro zu gehen und an ihrem neuen Gothic-Spiel herumzutüfteln – aber das änderte nichts daran, dass sie die Zweisamkeit in ihrem gemeinsamen Rückzugsort sehr genossen.
    Nachdem sie die Treppe nach oben gelaufen waren, schloss Stina die Tür auf und wurde sofort von überschwänglichem Gegrunze begrüßt. Mümmel und Mauli, ihre beiden zahmen Nacktmulle, die sie aus dem Essener Zoo vor der Notschlachtung aufgrund von Personalmangel gerettet hatten, rannten ihnen entgegen und wollten ausgiebig gestreichelt werden. Erst nachdem sie sich für ein paar Minuten zusammen mit ihnen aufs Sofa gekuschelt hatten, ließen sie sich von Mike durch einen großen Fressnapf auf andere Gedanken bringen.
    „Hast du nicht gesagt, dass du was besprechen wolltest?“, erinnerte sie Mike. „Was isses denn?“
    Stina holte tief Luft. Sie war schon den ganzen Arbeitstag lang deswegen nervös gewesen, und jetzt war der große Moment endlich gekommen.
    „Ich hab mich ja die ganze Woche schon irgendwie komisch gefühlt, und… naja, da hatte ich irgendwie so einen Verdacht“, erzählte sie. „Und heute Morgen hab ich gemerkt… dass ich damit auf der richtigen Fährte war.“
    „Hä?“, machte Mike. „Jetzt rück schon raus mit der Sprache. Was is los?“
    Stina öffnete die oberste Schublade der Sofakommode und holte das kleine weiße Plastikteil mit dem Display heraus.
    „Weißt du, was das heißt?“
    „Heißt das… boah, echt?“
    „Ja, echt. Wir kriegen ein Kind, Mike!“
    Mike starrte sie ein paar Sekunden lang völlig fassungslos an, dann packte er sie an den Schultern und kam aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus.
    „Woah, das ist… schon nicht ganz scheiße, oder?“
    „Das würd ich auch mal sagen!“, giggelte Stina. „Meinst du, wir kriegen das Standesamt dazu überredet, dass wir ihm keinen Namen geben müssen?“
    „’N Versuch isses wert.“ Mike legte beide Arme um ihren Hals. „Weißt du, vor’n paar Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, nochmal Kinder zu kriegen. Aber mit dir ist alles anders. Alles was vorher war, zählt nicht mehr, weißte was ich meine? Jetzt gibt’s nur noch uns beide. Und bald noch unseren kleinen Helden.“
    „Ja“, hauchte Stina. „Ich weiß genau, was du meinst.“
    Ihre Lippen verschmolzen zu einem innigen Kuss, als sie gemeinsam in das weiche Polster des Sofas sanken.
    „Ich liebe dich, Stina.“
    „Ich liebe dich, Mike.“

    „Einen Tag nach der schockierenden Katastrophe im neueröffneten Essener Vergnügungspark World of Gothic bleibt die Nachrichtenlage unübersichtlich, und die genaue Anzahl der Opfer ist nach wie vor nicht abzuschätzen. Nach Polizeiangaben wird mit einer dreistelligen Zahl an Todesopfern gerechnet, darunter auch der Essener Oberbürgermeister Hans-Josef Altenkamp sowie bekannte Namen aus der Gaming- und Influencerszene. Dazu kommen hunderte Schwerverletzte, die aufgrund von Kliniküberlastungen teils mit Helikoptern aus dem Ruhrgebiet in andere Städte Nordrhein-Westfalens ausgeflogen werden mussten. Zahlreiche Spitzenpolitiker haben bereits ihr Beileid bekundet. Bundespräsident Kubicki sagte eine geplante Rede bei einer Casinoeröffnung in Kiel ab, um sich am Nachmittag selbst ein Bild von der Lage vor Ort zu machen und den Angehörigen der zahlreichen Opfer Trost zu spenden. Noch immer ist völlig rätselhaft, wie es zu dem unerklärlichen Vorfall kommen konnte, bei dem computergesteuerte Roboter Menschen angegriffen haben sollen und mehrere Schusswechsel sowie Explosionen gemeldet wurden. Wir halten Sie den ganzen Tag über auf dem Laufenden und informieren Sie über die neuesten Entwicklungen. Der Bares-für-Rares-Marathon entfällt.“
    Der Fernseher im Wartezimmer war viel zu laut eingestellt, aber das war Lars ganz recht. Der Raum war nicht besonders voll, aber er hasste es grundsätzlich, beim Telefonieren belauscht zu werden. Er kämpfte sich humpelnd zu einem der freien Stühle, lehnte seine beiden Krücken an die Wand und zog sein Smartphone aus der Tasche, um den Anruf anzunehmen.
    „Wingefors“, meldete er sich mit gedämpfter Stimme.
    „Schmidt hier, es geht um den Alkimia-Deal“, drang es aus dem Lautsprecher. „Aktuelles Höchstgebot sind zehn Millionen, inklusive aller Markenrechte an den Gothic-Spielen. Ich gehe davon aus, dass wir ablehnen?“
    Zehn Millionen waren ein Witz. Aber die Marke war verbrannt, im wahrsten Sinne des Wortes.
    „Bereiten Sie den Verkauf vor und schicken Sie mir die Unterlagen zu. Ich melde mich heute Abend.“
    „Verstanden.“
    Lars legte auf und steckte das Smartphone weg. Seine Knie schmerzten höllisch, egal ob im Sitzen, Stehen oder Liegen, und die Schmerzmittel, die man ihm verschrieben hatte, würde er ganz sicher nicht einnehmen. Er konnte sich keinen vernebelten Kopf leisten, nicht solange er die Situation mit den Saudis nicht gelöst hatte. Es fiel ihm immer noch schwer zu begreifen, wie er Alshammaris Größenwahn so dramatisch hatte unterschätzen können. Der Scheich hatte nie geplant, mit ihm zu kooperieren, und wahrscheinlich war er nicht einmal an den Chromanin-Vorkommen hier in Essen interessiert. Auf was er es wirklich abgesehen hatte, das waren die beiden fortschrittlichen Testmodelle, die das Embracer-Research-Department in der World of Gothic implementiert hatte, und die damit verbundenen Datensätze. Die Saudis würden in ihrem eigenen Land zwar nicht genug Chromanin fördern können, um den Weltmarkt zu bedienen – aber es war mehr als genug, um spezialisierte Systeme an interessierte Organisationen auf der ganzen Welt zu verkaufen. Jeder Mitbewerber konnte dabei nur ein Störfaktor sein – und den hatten sie auf möglichst effektive Art ausschalten wollen. Lars hatte noch nicht das ganze Bild vor Augen, aber offenbar hatte sich Alshammari einer Hackergruppe bedient, um die streng geschützten Daten des Zentralcomputers zu stehlen, und um ein Haar Erfolg mit seinem Plan gehabt. Er wusste nur zu gut, dass er nur noch am Leben war, weil Stina im letzten Moment den alles entscheidenden USB-Speicher zerstört und ihm damit etwas Zeit verschafft hatte. Natürlich würde es nicht lange dauern, bis der Scheich den nächsten Versuch unternehmen würde, die Daten zu stehlen, und Lars machte sich für diesen Fall keinerlei Illusionen über seine weitere Lebenserwartung. Aber die Sache hatte auch etwas Gutes: Jetzt waren die Fronten geklärt, jetzt kannte er seinen Feind. Er würde die geeigneten Maßnahmen treffen und im richtigen Moment zum Gegenschlag ausholen.
    „Herr Wingefors?“
    Lars richtete sich ächzend wieder auf und verließ auf seinen Krücken den Warteraum. Die Arzthelferin drückte ihm ein Bündel Papiere in die Hand.
    „Das müssten Sie bitte noch ausfüllen vor der Untersuchung. Sie können aber schon einmal nach oben gehen, die Radiologie ist im dritten Stock.“
    Lars brauchte geschlagene fünf Minuten, bis er sich in quälend langsamer Geschwindigkeit durch überfüllte, lärmende Korridore zum Aufzug gearbeitet hatte. Unter anderen Umständen hätte er nicht im Traum daran gedacht, die Röntgenuntersuchung irgendwo anders als in einer der besten Privatkliniken Europas durchzuführen, aber er wollte hier nicht weg. Nicht, solange seine Tochter hier war.
    Auf dem Weg zur Radiologie kam er an Stinas Zimmer vorbei. Er stieß die angelehnte Tür mit der rechten Krücke auf und humpelte hinein. Neben ihrem Bett standen ein Krankenpfleger und drei seiner eigenen Techniker und prüften die Maschinen. Sie nickten ihm wortlos zu, als er auf dem Rand des Bettes Platz nahm und die Hand seiner Tochter nahm. Aus Armen, Brust und Bauch ragten dicke Schläuche heraus, die mit den brummenden Geräten um sie herum verbunden waren, und in ihrem Mund steckte die unförmige Zuleitung zur Beatmungsmaschine, die in regelmäßigen Abständen schmerzhaft kräftige Pumpgeräusche machte. Am lautesten aber dröhnte der große Computer, den seine eigenen Leute neben dem Bett aufgebaut hatten. Von dort aus führten Kabel bis zu der VR-Brille auf dem Gesicht seiner Tochter. Ihre Miene war völlig starr, ihre feuchten Mundwinkel hingen schlaff herunter.
    „Sie bekommt nichts davon mit, oder?“, durchbrach er die Stille.
    Der Pfleger wandte sich zu ihm um, zögerte einen Moment und schüttelte dann sachte den Kopf.
    „Wir haben Ihnen bereits gesagt, dass es zwecklos ist. Ihr Gehirn war über eine Viertelstunde ohne Sauerstoff infolge des anaphylaktischen Schocks, es wurde noch vor Ort der Hirntod festgestellt. Aus unserer medizinischen Sicht ist es ausgeschlossen, dass sie Signale Ihres Geräts verarbeiten kann. Ich verstehe, dass es nicht leicht ist, aber die klare Empfehlung unserer Ärzte besteht darin, alle Maschinen auszuschalten. Ihre und unsere.“
    Lars nickte.
    „Danke für Ihren Ratschlag. Lassen Sie sie vorerst eingeschaltet, ich komme für alle Kosten auf.“
    Er ließ Stinas Hand los, griff nach seinen Krücken und richtete sich wieder auf. Er wollte sich schon umdrehen und den Raum verlassen, als ihm etwas auffiel.
    „Sagen Sie… hatte sie einen Besucher? War jemand bei ihr?“
    Der Krankenpfleger überlegte einen Moment. „Ich glaube nicht. Meine Schicht hat allerdings erst vor anderthalb Stunden begonnen, also sollten Sie sich vielleicht noch einmal bei den Kollegen am Empfang erkundigen. Wie kommen Sie denn darauf?“
    „Es ist wahrscheinlich nichts. Aber… dieser Anhänger hier. Den habe ich seit Jahrzehnten nicht an ihr gesehen.“
    Lars klemmte eine der Krücken zwischen seinen Beinen ein und beugte sich über Stinas Körper. Das silbrige Amulett war an einem schwarzen Band bestigt und ruhte auf ihrer Brust, die in regelmäßigen Abständen geräuschvoll von der Beatmungsmaschine aufgepumpt wurde. Vorsichtig strich er mit dem Finger über die Stelle, an der die beiden Hälften der Schläfermaske aneinandergefügt waren. Der Kleber war noch frisch.

    Was geteilt, ist wieder vereint.
    Geändert von Laidoridas (08.10.2023 um 17:20 Uhr)

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    Nachwort

    In dieser Geschichte kommen die Namen jeder Menge echter Menschen vor, und das hat sich beim Schreiben manchmal ziemlich komisch angefühlt. Deswegen möchte ich, nur für den Fall, dass einer von euch diese Geschichte hier beim Googlen des eigenen Namens oder täglichen Schmökerns im Story-Forum zufällig entdecken sollte, sicherheitshalber an dieser Stelle erwähnt haben: Alle Personen, deren Namen in dieser Geschichte vorkommen, sind in echt bestimmt total anders (außer sie wollen lieber so sein wie in der Geschichte, dann ist das natürlich auch okay!), haben keine der vielen Macken und erleiden hoffentlich auch keines der schlimmen Schicksale, die ich mir aus erzählerischen oder wettbewerbsvorgabenmäßigen Gründen in einigen Fällen leider für sie ausdenken musste. Ich liebe sämtliche ehemaligen oder aktuellen Gothic-Entwickler, Mittelalter-Rocker, Spielejournalisten und einflussreichen CEOs da draußen und wünsche euch allen von Herzen nur das Beste!
    Geändert von Laidoridas (08.10.2023 um 17:20 Uhr)

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