Das Haar im Kaffee

Nach einer wahren Begebenheit.
Ähnlichkeiten zu real existierenden lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Oder auch nicht. Wer weiß das schon so genau?



Es war ein typischer Morgen auf der weit entfernten Insel Khorinis. Die Sonne tauchte die Straßen der Hafenstadt in ein helles Licht und die ortsansässigen Handwerker gähnten, während sie sich schläfrig und doch bei - zumindest für Khoriner Verhältnisse - bester Laune auf den Weg in ihre Werkstätten machten.
Es war auch ein typischer Morgen für Kara, der Tochter von Harad, dem Schmied. Ihr Vater war bereits an seinem Amboss zugegen, hämmerte unentwegt auf einen glühenden Rohling ein und erzeugte so ein Geräusch, das Kara auf unbarmherzige Weise aus dem Schlaf riss. Mit müdem Blick betrat die junge Frau ihre Küche, kochte ein wenig Wasser in einem schmalen Topf auf und gab anschließend ein dunkles Pulver hinzu.
Kaffee. Frisch gemahlen vor exakt drei Tagen und damit genau so, wie Kara ihn liebte.
Oder wurde er doch schon vor vier Tagen gemahlen?
Schlagartig wurde Kara wach. Sie griff nach dem Leinensack, in dem das Pulver aufbewahrt wurde und starrte auf das kleine Etikett, das mit einer Kordel am Saum des Sackes befestigt war.
»Kaffeepulver«, stand dort geschrieben. »Gemahlen am 13. Tag des 4. Monats im Jahre 837. Mit besten Grüßen von Constantino und Zuris.«
Panisch fasste sich Kara an die Brust. In Gedanken zählte sie die Zeit zurück, denn sollte der Kaffee tatsächlich schon vor vier Tagen und nicht erst vor drei gemahlen worden sein, so würde der daraus entstehende Trunk rund ein Vierzehntel seines Geschmackes verlieren, davon war Kara felsenfest überzeugt.
»Genau drei Tage!«, rief die Tochter des Schmieds freudig, als sie mit ihrer Kopfrechnung fertig war. »Nochmal Glück gehabt!«
Kaum einen Augenblick später war der Kaffee verzehrbereit. Kara goss ihn sorgfältig in einen Tonbecher, griff anschließend nach der letzten Flasche Schafsmilch in ihrem Küchenschrank und als sie die Flasche ansetzte, um einen Schuss Milch in ihren Kaffee zu gießen, bemerkte sie in der braunen Flüssigkeit einen feinen Strich.
Befand sich da etwa ein Haar in ihrem Kaffee?
Erneut stieg Panik in Kara auf. Was bei Innos sollte sie nun tun? Kara hatte noch nie ein Haar in ihrem Kaffee entdeckt und sie hasste derlei ungewohnte Situationen, insbesondere, wenn sie sich dieser so plötzlich und unvorbereitet ausgesetzt sah.
Ein paar Mal atmete die junge Frau durch, sog dabei auch den herrlichen Duft ihres Kaffees auf. Dann fasste sie einen Entschluss. Sie streckte den Zeigefinger ihrer linken Hand aus - mit der rechten hielt sie noch immer die Schafsmilch umklammert - und versuchte so, das Haar aus ihrem Kaffee zu entnehmen. Doch schon in jenem Moment, in dem ihre Fingerkuppe die heiße Oberfläche des Getränks durchbrach, zuckte Kara vor Schreck zusammen, so heftig, dass ihr sogar die Flasche Schafsmilch aus der Hand rutschte und auf dem Boden zerschellte.
Der Kaffee war verdammt heiß!
»Genau so, wie ich ihn am liebsten mag«, nuschelte Kara, während sie sich den schmerzenden Finger in den Mund schob.
Wie bei Innos sollte sie das Haar aus ihrem Kaffee herausbekommen? Sie musste sich schnell etwas einfallen lassen, denn das Getränk drohte in Windeseile herunterzukühlen und auch dann, so wusste Kara, würde der Kaffee einiges an Geschmack verlieren.
Plötzlich kam Kara eine Idee. Vielleicht besaß ja einer ihrer Nachbarn einen Gegenstand, der ihr behilflich sein würde.

»Guten Morgen Kara«, grüßte Thorben, der Tischler seine junge Nachbarin, als diese seine kleine Werkstatt betrat. »Falls du Gritta suchst, die ist heute Abend außer Haus.«
»Ich komme nicht wegen Gritta«, sagte Kara. »Vielmehr möchte ich dich fragen, ob du ein Tischbein besitzt, welches ich mir für einen kurzen Moment ausleihen könnte.«
»Natürlich.« Verwundert runzelte Thorben die Stirn. »Aber wozu brauchst du denn ein Tischbein?«
»Es geht um ein Haar, das sich ohne jegliches Recht in meinen Kaffee geschmuggelt hat. Ich fürchte, ohne Tischbein bekomme ich es nicht mehr heraus.«
»Verstehe«, sagte Thorben. »Aber dann nimm doch lieber einen meiner Löffel. Ich schenke ihn dir auch, schließlich habe ich genug andere davon im Haus.«
Kara war überrascht, wenn nicht sogar schockiert. Ein einfacher Tischler besaß tatsächlich einen Löffel? Nein, mehr noch, Thorben besaß sogar genügend Löffel, um seiner Nachbarin einen davon zu schenken? Einfach so?
Völlig absurd!
Noch ehe Kara etwas erwidern konnte, verschwand Thorben tiefer in seinem Haus. Wenige Augenblicke später kam er zurück - und tatsächlich. In seiner Hand glänzte ein silberner Löffel.
Als Kara diesen Löffel entgegennahm, spürte sie sofort, wie neue Zuversicht durch ihre Adern floss. Sie bedankte sich rasch beim Tischler und eilte aus dessen Werkstatt.

Nach einem schnellen Sprint erreichte Kara ihre Küche. Sie steuerte direkt auf den Tonbecher zu und als sie ihn berührte, stellte sie erleichtert fest, dass der Kaffee darin noch warm war. Nicht mehr so heiß, wie Kara ihn liebte, aber mit Sicherheit noch genießbar.
Mit zittriger Hand führte Kara den Löffel in die Brühe, stocherte ein wenig darin herum, so als versuchte sie, einen zappelnden Fisch aus dem Meer zu ziehen. Und dann, endlich, hatte sie es geschafft.
Sie hatte das Haar erfolgreich entfernt.
Ein siegestrunkenes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Kara stand nun kurz davor, ihren allmorgendlichen Kaffee doch noch genießen zu können. Alles, was jetzt noch fehlte, war ein Schuss Schafsmilch...