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    Post [Story]Fersengold

    Moin,

    Mir steht mal wieder der Sinn nach einer rauen Geschichte in der Barriere, angefixt durch zahlreiche tolle Videos mit dem TTS-Tool und natürlich den Teasern zum G1-Remake. Der SnB-Wettbewerb 2022 könnte dafür genau die richtige Plattform sein.

    Und hier kommen meine gewählten Vorgaben:

    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)

    Person A wird in einem unerwarteten Moment vom Maskierten A angesprochen, dessen wahre Identität nicht bekannt ist. Der (oder die) Maskierte A verrät der Person A den rätselhaften Spruch A.

    Person A sucht Person B an Ort A auf und erwischt Person B bei einem sehr privaten Treffen mit Person C. Person A verlässt Ort A daraufhin wieder und lässt mindestens eines ihrer Kleidungsstücke dort zurück.

    Person A will an Ort B den mysteriösen Gegenstand A in Besitz nehmen. Auf dem Weg zu Ort B begegnet Person A dem Maskierten B, dessen Identität nicht bekannt ist. Der (oder die) Maskierte B verrät Person A den rätselhaften Spruch B.

    Person A lernt Person D kennen, die sehr an Gegenstand A interessiert ist. Mit Gegenstand A in der Hand sagt Person A dann entweder Spruch A oder Spruch B oder beide Sprüche direkt hintereinander auf.

    Person A hat (nur) Spruch A aufgesagt: Der Maskierte A tritt auf den Plan und stellt die Situation völlig auf den Kopf. Der Maskierte A demaskiert sich und enthüllt seine wahre Identität als eine der Personen A bis D (Person B). Person A und Person C leben fortan ein Leben in Gemeinschaft.

    Person A: Fletcher
    Person B: "Unglücksritter" Ormond
    Person C: Dexter
    Person D: Damarok

    Maskierter A: Der Versengte
    Maskierter B: Der Mantelträger mit der Holzmaske

    Spruch A: „Die Zauberformel für Ruhm und Reichtum lautet Tetriandoch“
    Spruch B: „Marionetten lassen sich leicht in Gehenkte verwandeln. Die Stricke sind schon da.“

    Ort A: Nebelturm
    Ort B: Das Schiffswrack am Strand

    Gegenstand A: Chromanin Band 5

    (zurückgelassenes Kleidungsstück: Fletchers Stiefel)
    Geändert von Ronsen (31.10.2022 um 16:33 Uhr)

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    Kampf des Abends
    Söldner Kharim gegen den Versengten
    Wettquote: 1:10

    Mit großem Interesse beobachteten zwei Dutzend Buddler, Schatten und Gäste des Alten Lagers, wie Arenameister Scatty die Schiefertafel mit der Ankündigung des nächsten Kampfes neben seiner Hütte aufstellte. Die wenigsten von ihnen konnten lesen, doch zumindest ein Name war allen geläufig, die regelmäßig im Arenaviertel vorbeikamen. Das große K war über die Grenzen des Alten Lagers hin bekannt, denn zu vieler Leute Leidwesen war der Söldner Kharim schon seit mehreren Monden ungeschlagener Champion der Arena. Bereits seit drei Wochen hatten keine nennenswerten Kämpfe mehr stattgefunden, denn niemand wagte es, den „besten Kämpfer, den dieses dreckige Lager je gesehen hat“ herauszufordern. Die Wetteinnahmen gingen den Bach runter und das schadete nicht nur der Arena, sondern auch dem Ruf des Alten Lagers.

    Fletcher war der einzige Gardist, der sich die Ehre gab, bei der Ankündigung des nächsten Kampfes anwesend zu sein. Das gehörte zu seinem Job, immerhin führte er die Aufsicht über das Arenaviertel und war für das Eintreiben des Schutzgeldes verantwortlich. Eine hundsmiserable Aufgabe, die er liebend gern an einen der jüngeren, motivierten Gardisten abtreten würde. Mit der Zeit hatte er sich damit abgefunden und die meisten Buddler spurten bei ihm, weil er ihnen weniger abnahm als die Jungs aus den anderen Vierteln. Dabei wollte er vor allem seine Ruhe haben und Stress zwischen den Buddlern vermeiden. Doch das kam natürlich zu einem Preis, denn die Erzbarone schauten sehr genau hin, dass auch jeder der drei Bosse in den Außenvierteln genügend Schutzgeld eintrieb. Hier kam ihm die Arena zugute, zumindest war das lange der Fall gewesen.

    „Der Versengte? Quote 1:10? Soll das ein schlechter Scherz sein?“
    Er fletschte die Zähne. Eine schlechte Angewohnheit seinerseits, denn Frust konnte er nur schwer herunterschlucken. Die um ihn herumstehenden Buddler nahmen respektvollen Abstand und alsbald zerstreute sich der Pulk. Keiner wollte bei so einer Quote wetten, bei der der Sieger ohnehin schon feststand. Und auch Fletcher wartete eine ganze Weile, bevor er an Scatty herantrat, der eine ähnlich miese Laune hatte.
    „Du hast also tatsächlich einen Irren gefunden, der Kharim zum Tanz bittet.“
    „Hey, verschone mich mit deinem säuerlichen Blick“, raunzte Scatty zurück, „Ich weiß genau, was du denkst. Aber du solltest lieber froh sein, dass sich überhaupt jemand gemeldet hat. Ihr Gardisten fresst euch ja lieber in der Burg fett, als dass ihr mal selbst in der Arena aufschlagt.“
    Jeder andere Schatten oder Buddler hätte sich für so einen Spruch eine Neuausrichtung seines Riechkolbens verdient. Scatty hingegen verdiente Fletchers Respekt, immerhin war er nicht nur ein exzellenter Schwertkämpfer, sondern auch ein verlässlicher Geschäftspartner.
    „Das würden sie ja gern“, sagte Fletcher kühl, „doch die Regeln besagen nun mal: Keine Toten in der Arena. Bei dieser Hackfresse aus dem Neuen Lager könnten sich meine Kumpels unmöglich zurückhalten. Die sind wie Bluthunde.“
    Fletcher betrat ungefragt Scattys Haus und bediente sich an dessen Bierfass. Er war aber kein egoistisches Arschloch und schenkte seinem Gastgeber auch einen Krug ein.
    „Und was ist das für ein Kerl? Der Versengte? Soll das ein Name sein oder hat Bullit ihn so getauft?“
    „Ich hab‘ den Kerl heute auch zum ersten Mal gesehen, kommt vielleicht aus einem der anderen Lager. Er ist am ganzen Körper bandagiert. Hat angeblich schwere Verbrennungen erlitten.“
    „Bist du sicher? Vielleicht ist das nur Maskerade.“
    Scatty zuckte mit den Schultern. „Ich habe seine Hände gesehen. Die sahen aus, als hätte Stone sie mit einem Stück Rohstahl verwechselt.“
    Fletcher verdrehte die Augen. „Dann sind 1 zu 10 vermutlich eine sehr großzügige Quote. Machen wir es wie immer?“
    „Wie viel hast du denn?“
    „Fünfhundert Erz“, erwiderte Fletcher und trank den ganzen Krug aus. „Auf den verfluchten Söldner.“
    Dann würde er zumindest 50 Erz gutmachen. Ein lausiges Geschäft, aber immer noch besser, als ernsthaft zu arbeiten. Irgendwann würden wieder bessere Tage kommen.

    ***

    Der Abend kam und im Arenaviertel herrschte gute Stimmung, trotz der lausigen Wettquote. Die Leute wollten unterhalten werden und wenn sie sich schon nicht gegenseitig an die Gurgel gingen, dann war das doch immerhin ein sehenswerter Zeitvertreib zum tristen Alltag im Lager oder der Mine. Und einige Glücksritter hatten doch tatsächlich auf den Versengten gesetzt, manche mit lächerlichen fünf Erzbrocken.
    Fletcher hatte vor seinem Job im Arenaviertel lange Zeit an der Austauschstelle gearbeitet und sich dabei viel mit den Neuen unterhalten. Die wenigsten von ihnen waren wirklich Verbrecher, die meisten von ihnen konnten einfach nicht mit ihrem Geld haushalten. Und so gab es auch diesmal einige Wahnsinnige, die auf den Außenseiter setzten. Fletcher sollte es recht sein. Er gönnte Scatty die Mehreinnahmen.

    Unter dem letzten Konvoi war ein Musiker zu ihnen in die Kolonie gestoßen, ein Trommler namens Flail. Er untermalte den Einzug der beiden Kämpfer mit seinem rhythmischen Trommelspiel.
    Der Champion betrat als erster die Arena und wurde von einem Hagelsturm aus Buhrufen empfangen. Aber Kharim war ein Kerl, der sich vom Hass anderer erst so richtig bekräftigt fühlte.
    „Für das Neue Lager! Für Lee! Für die Freiheit!“, skandierte er und breitete provokativ die Arme aus, als könne er es allein mit dem ganzen Alten Lager aufnehmen. Fletchers Hand wanderte unwillkürlich zu seinem Schwertknauf und er schnalzte die Zähne. Ein bisschen Säbelrasseln war normal, aber wenn sich jemand von der Tribüne doch dazu entschloss, es eigenhändig mit Kharim aufzunehmen, musste Fletcher einschreiten. Er konnte diese Wette auf keinen Fall riskieren. Zum Glück blieb es bei Pfiffen und Beleidigungen unterhalb der Gürtellinie. Das sollte jeder innerhalb der Barriere abkönnen, sonst überlebte man hier nicht lange.
    Erst als die Aufregung ein wenig nachließ, setzte Flail zum nächsten Trommelwirbel an, mit welchem der Herausforderer die Arena betrat. Die Publikumsreaktion war sehr verhalten und viele Zuschauer waren sich offensichtlich nicht einmal sicher, ob es sich bei der Gestalt tatsächlich um einen Kämpfer hielt oder nicht doch um einen Geisteskranken, der vor seinem Arzt davonrannte. Der Versengte glich optisch einer Mumie und bewegte sich mit der Grazie eines Zombies. Sein ganzer Körper war bandagiert und an den wenigen durchscheinenden Stellen waren dunkelrote Pusteln zu erkennen. Als Waffe hatte er nicht mehr als den Stab mitgebracht, wobei sich Fletcher nicht sicher war, ob er ihn nicht womöglich als Gehhilfe brauchte.

    „Ist diese abgebrochene Gestalt alles, was das Alte Lager auffahren kann?“, grunzte Kharim und lachte sich beim Anblick seines Gegenübers halb tot. Fletcher musste sich beschämt eingestehen, dass er damit nicht mal ganz unrecht hatte. Doch dann tat Kharim etwas, zu dem nur ein größenwahnsinniger Vollidiot wie er in der Lage war. Er warf seinen eigenen Streitkolben in den Staub und winkte den Versengten zu sich heran.
    „Ich tu dir einen Gefallen. Ich nehme es ohne Waffen mit dir auf. Ich will dich ja nicht versehentlich umbringen.“
    Der Versengte erwiderte kein Wort, nahm mit seinem Stab jedoch eine geübte Kampfhaltung ein.
    Nun warteten sämtliche Zuschauer nur noch auf den Ringrichter Scatty, der mit einer kleinen Glocke neben Fletcher trat und den Kampf mit einem Gong eröffnete.

    Die beiden Kontrahenten umkreisten sich ein wenig und musterten einander. Kharims Bewegungen waren dabei wesentlich lockerer und ein breites Grinsen zog sich von einem Ohr bis zum anderen. Er schien eine richtige Vorfreude darauf zu haben, endlich mal wieder eine Tracht Prügel zu verabreichen. Er schnappte mehrmals mit der Hand voraus, um den Stab des Versengten in die Hände zu bekommen, doch der wich den Annäherungsversuchen des Söldners ohne Probleme aus.
    „Wenn du immer nur zurückweichst, wirst du irgendwann über deine eigenen Strippen stolpern“, spottete Kharim und wagte ein beherztes Manöver nach vorn. Er bereute die Bewegung sofort, als ihm der Stab zuerst am Kinn und anschließend auf dem Fuß erwischte. Die Masse auf der Tribüne johlte.

    „Ist der Kerl vielleicht ein Novize?“, fragte Fletcher an Scatty gewandt. „Oder sogar ein Magier?“
    Er hatte davon gehört, dass man die Diener in den Innosklöstern den Kampf am Stock beibringt. Aber Fletcher hatte noch nie jemanden gesehen, der wirklich damit umgehen konnte. Scatty blieb ihm eine Antwort schuldig.

    In der Zwischenzeit hatte Kharim noch einen weiteren Schlag mit dem Stock abbekommen, diesmal in der Magengegend. Diesen schien er jedoch billigend in Kauf zu nehmen, denn dadurch gelang es ihm endlich, den Kampfstab des Versengten zu greifen und ihn mit seiner schieren Kraft zu entreißen.
    „Du kämpfst mit einem Besenstiel“, grölte der Söldner und streckte die Waffe des Versengten mit beiden Händen in die Höhe, als handele es sich dabei um die Siegertrophäe. Im nächsten Augenblick jedoch hob er sein Knie und zerbrach den Stiel mit einer beeindruckenden Demonstration von Stärke über seinem Oberschenkel.

    Fletcher grinste. Der Kampf war entschieden. Diese ausgemergelte Gestalt hatte nicht den Hauch einer Chance, wenn er es im Nahkampf mit Kharim aufnehmen wollte. Er ging sogar schon auf die Knie und rieb mit der Hand über den staubigen Arenaboden.
    „Ich habe übrigens noch etwas über unseren mysteriösen Herausforderer in Erfahrung bringen können“, murmelte Scatty ihm beiläufig zu, ohne dabei seinen Blick vom Geschehen zu lenken.
    „Und das wäre?“, fragte Fletcher.
    „Aber reg dich nicht auf, es ist bloß ein Gerücht.“
    „Scheiße Scatty. Raus mit der Sprache!“ Er sollte ihn ja nicht auf die Folter spannen. Fletcher hasste Überraschungen.
    „Angeblich hat er diese Verbrennungen im Kampf mit einem Feuerwaran davongetragen.“
    „Was?!“

    In der Arena spielte sich indes eine kuriose Szene ab. Kharim interpretierte den Kniefall seines Kontrahenten anscheinend als ein Eingeständnis der Niederlage und trat auf ihn zu, um ihm die Hand zu reichen. Der Versengte jedoch dachte gar nicht daran, aufzugeben und schüttete dem Champion stattdessen eine Hand voll Sand ins Gesicht. Von dieser Aktion geblendet, taumelte Kharim schimpfend einige Schritte zurück, doch auch das schien der Versengte geahnt zu haben. Er hatte nämlich zusätzlich ein Stückchen vom Verband an seinem Bein gelöst und zog es nun wie ein Stolperseil hoch. Kharim landete krachend auf dem Rücken. Mühsam rappelte er sich wieder auf, doch so wie er stand und den Sand aus seinen Augen gerieben hatte, spürte er plötzlich die spitzen Späne des abgebrochenen Kampfstabs an seiner Kehle.
    Der Kampf war entschieden.

    ***

    Spät in der Nacht saß Fletcher immer noch wach vor seiner Hütte, kippte sich mit Schnaps voll und starrte zum Firmament empor. Die Sterne wirkten zum Greifen nah, doch als er die Hand nach ihnen ausstreckte, erkannte er die schlierenartigen Blitze der Barriere, die ihn in diesem Drecksloch gefangen hielt. Sie wirkten verschwommen wie die Haut einer Seifenblase. Konnte er sie nicht einfach mit einem schnellen Stich zum Platzen bringen?

    „Du bist ja immer noch wach.“
    Scatty torkelte durch die dunklen Gassen des Außenrings zu ihm herüber. Er war ähnlich betrunken wie sein Kumpel Fletcher.
    „Sei froh, dass ich einen sitzen habe, sonst würde ich dich an Ort und Stelle ausweiden.“ Er fletschte mit den Zähnen und nahm noch einen Schluck. „Ein Typ, der es mit Feuerwaranen aufnehmen kann … wie kann man da mit so einer beschissenen Quote kommen?“
    „Ich wusste es nicht, okay? Das gehört nun mal zum Spiel dazu. Man kann nicht immer gewinnen.“
    „Erspar mir dein Gefasel. Ich weiß, warum du hier bist.“
    Fletcher erhob sich mühsam. Er hatte auf einer Truhe gesessen. Auf einer Truhe voller Erz.
    „Meine Schulden. Die willst du doch eintreiben oder?“
    Man konnte ihm ja viel nachsagen, aber seine Spielschulden beglich Fletcher immer. Darüber war ihm auch Scatty dankbar.
    „Ich bin extra jetzt gekommen, damit es sonst keiner sehen muss …“
    „Sehr aufmerksam von dir.“
    Fletcher schob ihm die Kiste hin und legte sogar noch was obendrauf. Einen gusseisernen Schlüssel.
    „Ist der für die Kiste?“, fragte Scatty.
    „Ne. Scheiße Mann … der ist für die Hütte. Ich mach mich auf den Weg. Morgen früh bin ich hier weg.“
    „W-wovon redest du denn?“, brachte der Arenameister mit einem Hicksen hervor.
    „Ich kann mich hier nicht mehr blicken lassen. Hab’s verzockt. Hab alles verzockt. Wenn Gomez das rauskriegt, macht der mich einen Kopf kürzer.“
    „Soll das heißen, das ganze Erz … ?“
    „… war das eingetriebene Schutzgeld. Genau.“

    Scatty grölte ihm noch irgendwas nach, aber das blendete Fletcher völlig aus. Wie sich herausstellte, war der Arenameister doch ein ganzes Stück betrunkener als er, denn er stolperte beim Versuch, Fletcher aufzuhalten, über seine eigenen Füße. Der Gardist dagegen hielt sich standhaft, wenigstens diese Nacht noch. Mit der aufgehenden Sonne würde er sich irgendwo draußen ein Plätzchen suchen und seine weiteren Schritte planen. Er war kein Typ, der einfach so aufgab, dafür hatte er schon zu viel Scheiße miterlebt. Aber er würde auch nicht zu Gomez gehen und vor ihm kriechen wie ein räudiger Köter. Im mildesten Fall würden die Erzbarone ihn zum Buddler degradieren. Dann würde er doch lieber versuchen, die verdammte Barriere mit seiner Klinge zu zerfetzen.

    In der Nähe des umgestürzten Turms wurde er plötzlich an der Schulter gepackt. Beim Versuch nach seiner Waffe zu greifen, stürzte Fletcher beinah selbst in den Dreck. Es war stockfinster, nur ein leichter Fackelschein erhellte das vermummte Gesicht des Mannes, der ihm auflauerte. Fletcher packte die Hand des anderen und riss sie von sich weg. Ein kalter Schauer fuhr ihm über den Rücken, als er die Brandpusteln an dessen Handrücken ertastete.
    „Was willst du denn von mir, du wandelnde Eiterbeule?!“
    „Ich habe gehört, dass du Geldsorgen hast. Ich kann dir vielleicht helfen.“
    Wie war das möglich? Hatte der Kerl ihn und Scatty belauscht? War das alles womöglich ein mieses Komplott gegen ihn?
    „Und wie?“, knurrte der Gardist dem Versengten entgegen und fletschte abermals die Zähne.

    „Die Zauberformel für Ruhm und Reichtum lautet Tetriandoch.“

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    Der Versengte war so schnell wieder in den Schatten verschwunden, wie er aus ihnen gekrochen kam. Fletcher rief ihm noch nach, was dieses rätselhafte Wort denn bedeuten solle, doch mehr als ein dumpfes Echo hallte nicht zu ihm zurück. Wenn er den Kerl noch einmal in die Finger bekäme - nüchtern, wohlgemerkt - dann würde er sein blaues Wunder erleben.
    „Tetriandoch“, murmelte Fletcher immer wieder, um sich die Zauberformel einzuprägen. Er erwischte sich sogar dabei, wie er die Hand ausstreckte und das Zauberwort sprach, als wäre er einer dieser eingebildeten Robenträger. Doch nichts geschah. Kein Ruhm, kein Reichtum. Nur ein Gardist, der sich zum Vollidioten machte. Das spiegelte seine gegenwärtige Situation eigentlich ziemlich gut wider. Zum Glück war um diese frühe Stunde fast niemand im Außenring wach, der ihn beobachtete. Fast niemand.

    „Fletcher, bist du das? Wo willst du denn so früh am Morgen hin?“
    In ihm zog sich alles zusammen, als er die Stimme von Jackal vernahm, der sich ausgerechnet zwischen ihm und dem Südtor des Lagers, dem Tor in die Freiheit, positioniert hatte. Der kräftige Südländer war sein Kollege und hatte die Aufsicht über das Marktviertel. Allerdings stand er schon länger im Dienst als Fletcher und sprach stellvertretend für alle Eintreiber mit den Erzbaronen. Im Gegensatz zu Fletcher nahm Jackal seine Pflichten ziemlich ernst.
    „Wenn du’s genau wissen willst …“, gab Fletcher etwas genervt von sich. „Ich will an den Fluss. Von diesem Brackwasser im Lager bekomme ich einen juckenden Ausschlag.“
    „Soll ich einen meiner Jungs entbehren, damit er dir den Rücken freihält? Da sind ziemlich viele Blutfliegen am Fluss.“
    „Seh ich etwa so aus, als bräuchte ich Hilfe bei ein paar Blutfliegen?!“
    Jackal kniff die Augen zusammen.
    „Hast du getrunken?“
    Der Kerl war gut. Fletcher atmete tief durch und spazierte verkrampft gerade an dem hohen Gardisten vorbei durch das Außentor.
    „Bleib nicht zu lange weg“, rief Jackal ihm noch hinterher, „Nach dem Frühstück steht ein Rapport bei Raven an, vergiss das nicht.“
    „Ja, Mutti.“
    Der Kerl könnte Fletcher noch zum Problem werden mit seiner verdammten Gewissenhaftigkeit. Er musste schleunigst weg von hier, irgendwohin, wo die Gardisten nicht mit ihm rechnen würden. Und er hatte auch schon eine Idee, wohin.

    Sein Weg führte ihn tatsächlich am Fluss entlang und von dort aus immer nach Norden. In ausreichendem Abstand vom Lager ließ er sich am Ufer nieder und trank sich satt. Und obwohl er sich mehrere Hände voll Wasser ins Gesicht klatschte, nagte die Müdigkeit ununterbrochen an ihm. Es war schon ziemlich lange her, seit er mal eine ganze Nacht durchgemacht hatte. Aber hier konnte er nicht bleiben, hier war er den Gefahren der Kolonie ausgeliefert. Er brauchte einen Rückzugsort.
    Sein lautes Magenknurren mahnte Fletcher, dass er sich auch etwas zu Essen suchen musste. Bei seinem plötzlichen Aufbruch aus dem Lager hatte er nicht daran gedacht, einen Jagdbogen, geschweige denn einen Sack mit Proviant mitzunehmen. Er trug lediglich die Klamotten an seinem Leib, die Gardistenrüstung und sein Richtschwert. Die alte Klinge hatte schon lange kein Blut mehr gesehen.
    Ein lautes Glucksen weckte seine Aufmerksamkeit. Aus dem Schilfgras am Flussufer schälte sich einer dieser widerlichen Lurker. Fletchers Herz begann, schneller zu schlagen, doch auf seinen Lippen zeichnete sich ein Grinsen ab. Sein ureigener Jagdtrieb schien gerade zu erwachen. Er leckte sich über die Zähne und näherte sich dem großgeratenen Molch.

    „Hey Mistviech!“ Er nahm die Finger seiner linken Hand in den Mund und stieß ein lautes Pfeifen aus. Das hatte er auch immer gemacht, wenn er die Aufmerksamkeit der Buddler gewinnen wollte. Der Lurker zollte ihm dafür jedoch keinen Respekt, sondern gluckste nur noch lauter und riss die Vorderbeine empor. Das verdammte Viech war fast so groß wie er selbst und mit messerscharfen Klauen und Zähnen bewaffnet. Doch Fletcher sah in diesem Moment nur das vermummte Arschloch vor sich, dem er diesen ganzen Schlamassel zu verdanken hatte.
    Obwohl er sich selbst als etwas eingerostet einschätzte, war Fletcher nach drei geschickten Schwerthieben schon wieder voll in seinem Element. Zielsicher trennte seine Klinge zuerst die Klaue des Lurkers vom Körper, bevor er ihm mit einem gezielten Stoß durch den fetten Hals zu Beliar schickte. Er drückte seinen schweren Stiefel auf die erlegte Bestie und zog sein Schwert heraus. Er musste eine Schlagader erwischt haben, denn das Viech blutete ihm die Klamotten voll.
    „So eine Sauerei“, lachte Fletcher und beugte sich hinab. Der Lurker stank wirklich penetrant und Fletcher hatte keine Ahnung, welchen Teil davon er essen konnte. Er müsste sich zunächst ein Feuer machen, denn roh war das Fleisch sicher ungenießbar. In Gedanken sehnte er sich nach dem guten Brot, Käse und Schinken, die jeden Monat aus der Außenwelt geliefert wurden. Er schüttelte den Gedanken schnell wieder ab. Sein Ehrgeiz war geweckt und er würde sich ganz gewiss nicht von diesen neuen Lebensumständen entmutigen lassen!

    Er suchte sich ein trockenes Plätzchen einige Schritte entfernt vom Ufer. Dort suchte er sich einige trockene Zweige und schichtete sie wie einen Kegel auf. Ein paar Steine legte er ringsherum. Dann jedoch wurde seine Geduld wieder auf eine harte Probe gestellt, denn das Feuer entzündete sich nicht von selbst. Er hatte die Buddler im Lager unzählige Male dabei beobachtet, wie sie Feuer machten. Es konnte also nicht so schwierig sein.
    Zunächst versuchte er es durch schnelles Aneinanderreiben zweier Stöcke. Unglücklicherweise waren die einzigen Feuerspuren, die er dabei erzeugte, die Brandblasen, die sich nach einer Weile an seinen Fingern bildeten. Auch der Versuch, zwei Steine aneinanderzuschlagen und dadurch Funken zu erzeugen, blieb erfolglos.
    „Verfluchter Scheißdreck“, zischte Fletcher und funkelte seine kümmerliche Feuerstelle finster an. Eine Idee hatte er noch, allerdings war sie sehr verzweifelt.
    „Tetriandoch!“
    Nichts geschah.
    Frustriert versetzte er dem Holzstapel einen saftigen Tritt. Wer brauchte schon ein Feuer? Er hatte doch einen starken Magen, immerhin stand er an der Spitze der Nahrungskette. Er würde schon einen Teil am Wanst dieses Mistvieches finden, der genießbar war.

    Doch als er zum Ufer zurückkehrte, musste Fletcher mit Schrecken feststellen, dass sich unlängst ein halbes Dutzend Blutfliegen über den Kadaver des Lurkers hermachte. Ohne nachzudenken zückte er sein Schwert und drosch auf die Schmarotzer ein. Den Preis dafür zahlte er auf dem Fuße, denn mit einer derartigen Menge dieser fliegenden Dämonen konnte er es nicht aufnehmen. Nach dem ersten Stich, der ihn am Unterschenkel erwischte, wurde er sich seines riesigen Fehlers bewusst und setzte zur Flucht an. Zwei weitere Stiche an den Armen fing er sich noch ein, ehe auch die letzte Blutfliege das Interesse an ihm verlor und sich lieber wieder über den Lurker hermachte. Glücklicherweise verhinderte seine Rüstung Schlimmeres, denn ein solcher Stich in den Hals oder nahe dem Herzen hatte schon so manchen unglücklichen Jäger das Leben gekostet.
    Also setzte Fletcher seinen Weg hungrig fort. Die paar Pilze und Beeren, die er am Wegesrand fand, waren alles andere als sättigend. Inzwischen musste es Mittag sein, auch wenn die dichte Wolkendecke am Himmel eine genaue Bestimmung der Tageszeit erschwerte. Doch zumindest war er sich sicher, dass seine Abwesenheit im Alten Lager allmählich die Runde machte. Und Jackal, der ihn als letztes gesehen hatte, würde seine Suchtruppe direkt an den Fluss schicken. In Gedanken wünschte er sich, dass seine Häscher allesamt von Blutfliegen zerstochen wurden. Seine eigenen Verletzungen begannen bereits, zu haselnussgroßen Pusteln anzuschwellen. Zum Glück war Fletcher seinem Ziel nicht mehr fern, sonst würde er sicher mit Gedanken spielen, die Strafe der Erzbarone über sich ergehen zu lassen. Die letzten Stunden hatten ihm gnadenlos klargemacht, dass er auf sich allein gestellt kein langes Leben in der Barriere hatte.

    ***

    Der Nebelturm galt in der gesamten Kolonie als Ort des Mystischen und Übernatürlichen. An den Lagerfeuern wurden Geschichten über das steinerne Bauwerk erzählt, das angeblich älter als jedes andere Gebäude innerhalb der Barriere war. Es wurde gemunkelt, das tief in der Erde unterhalb des Turms ein geheimer Schatz vergraben lag, der einst einem Piraten gehörte, der an der felsigen Küste Schiffbruch erlitten hatte. Dieser Schatz war den Legenden zufolge von Beliar selbst verflucht und die wiedererweckten Knochen des inzwischen toten Kapitäns und seiner Crew hüteten ihn vor jedem Abenteurer, der einen Fuß in den alten Turm setzte.
    Fletcher wusste es besser.
    Er kannte den Mann, der sich in dieser Ruine niedergelassen hatte. Als er noch an der Austauschstelle gearbeitet hatte, war der Kerl der Erste, der vor Fletchers Augen von Bullit getauft wurde. Fletcher erfuhr, dass dieser Fremde aus seinem Heimatdorf Ardea stammte. Das weckte eine gewisse Sentimentalität in ihm, weswegen Fletcher ihm die ersten Tage im Alten Lager etwas unter die Arme griff. Sie kamen ins Gespräch, tranken gelegentlich miteinander und tauschten Geschichten aus der Heimat aus. Der Fremde stellte sich als Unglücksritter Ormond vor, der seinen Lebensunterhalt mit dem Erkunden alter Ruinen und Ausheben vergrabener Schätze verdiente. Während seiner Expeditionen war er nie allein unterwegs; er bezahlte stets einen oder zwei Söldner, die ihn unterstützen sollten. Allerdings häuften sich die Todesfälle in seiner Nähe und immer war er es, der nach einer Expedition allein mit einem Schatz zurückkehrte. Diese seltsamen Vorkommnisse brachten ihm den Titel „Unglücksritter“ ein und waren Grund genug, ihn in die Barriere werfen zu lassen. Nach seiner ersten Schicht in der Alten Mine hatte Ormond genug vom Dasein als Buddler und verabschiedete sich bei Fletcher. Er hatte von den mysteriösen Orten innerhalb der Barriere gehört und wollte sein weiteres Leben dem Entschlüsseln der Geheimnisse des Minentals widmen. Wenn jemand etwas über Tetriandoch wusste, dann er.

    Dass Ormond im Nebelturm hauste, war Fletcher bekannt, denn der Unglücksritter hatte ihn bereits mehrfach über einen Briefboten kontaktiert und zu einem Jagdausflug eingeladen. Fletcher hatte diese Briefe zwar aufgehoben, das Angebot aber nie ernsthaft in Betracht gezogen. Er konnte nur hoffen, dass es noch stand und Ormond ihm in seiner derzeitigen Lage Asyl anbot.
    Vor dem Turm brannte ein kleines Lagerfeuer und die Tür stand halb offen. Fletcher blickte missmutig in die Flammen, die er selbst nicht hatte entfachen können. Er schüttelte die negativen Gedanken ab und zwang sich zu einem Lächeln. Ormond würde ihm helfen können, davon war er überzeugt.
    Am Eingang stand ein Paar Stiefel und als Fletcher die Tür leicht öffnete, erkannte er, dass im Inneren eine Menge Felle ausgelegt lagen. Ormond hatte es sich anscheinend schon ziemlich heimelig gemacht. Fletcher blickte auf seine von Lurkerblut und Schlamm verkrusteten Stiefel und entschied, diese ebenfalls vor der Tür abzustellen. Dann betrat er den Nebelturm.

    Im Inneren war es finster, lediglich ein winziges Loch in der Wand erhellte den kreisrunden Raum. Eine Treppe führte nach oben, eine Falltür hinab unter die Erde. Fletcher entschied sich, oben nach Ormond zu sehen. Wenn der Kerl nicht da war, hatte er immerhin eine gute Aussicht über die Gegend und war gewarnt vor etwaigen Suchtrupps, die ihn verfolgten.
    Auf der Spitze des Turms konnte Fletcher seinen Bekannten nicht finden. Er entdeckte lediglich eine alte Kiste, die ihn neugierig machte. Darin befanden sich ein Seil, Zähne und Krallen von Wildtieren, einige Stängel Sumpfkraut und ein staubiges Buch.
    „Chromanin“, las Fletcher und musste grinsen. Das Wort klang mindestens so fremd wie Tetriandoch; hier war er definitiv an der richtigen Adresse.

    Bevor er jedoch schmökern konnte, hörte er ein lautes Knarzen und ein Scheppern von unten. Das musste von der Falltür gekommen sein. Vorfreudig wollte er nach Ormond rufen, doch die Stimmen zweier Männer ließen ihn innehalten. Der Unglücksritter war nicht allein.
    Fletcher spähte vom Turm hinab und erkannte, wie die beiden Gestalten nach draußen gingen. Ormond war einer von ihnen, sein Dialekt war Fletcher nur allzu bekannt. Der andere lief in einer Schattenkluft herum. Auch das noch. Hatte man ihn etwa bereits aufgespürt?
    „Ich erwarte einhundert Stängel nächste Woche. Und noch mal dreißig extra für den fehlenden Teil von dieser Woche. Sonst lass ich den Deal platzen, hast du das kapiert?“
    „Schon gut Mann, hab’s verstanden.“
    Das war Ormonds Stimme. Aber wer war der andere?
    „Das will ich hoffen. Bis dahin.“
    ‚Ja, verpiss dich‘, dachte Fletcher, doch das Glück war ihm heute einfach nicht hold.
    „Warte Dexter“, rief Ormond, „Ich habe oben noch ein paar Stängel mit einer neuen Mischung gelagert. Die wollte ich dir noch zeigen.“
    „Also hast du ja doch noch mehr gebunkert.“
    „Wie gesagt, das ist eine spezielle Mischung und …“
    „Was stehen wir dann hier noch herum? Los, hinauf mit dir!“
    ‚Das darf doch nicht wahr sein‘, ätzte Fletcher in Gedanken und griff eilig in die Truhe. Das Seil war schnell am Mauerwerk befestigt, daran ließ er sich an der Außenwand des Turms herab. Als er auf dem nassen Grasboden landete, staunte Fletcher über sich selbst. Eine derartige Gewandtheit hatte er sich nicht zugetraut, aber vielleicht wuchs er einfach an seinen Herausforderungen. Dexter durfte auf keinen Fall bemerken, dass Fletcher hier war. Dieser schmierige Hehler würde ihn auf direktem Weg bei den Erzbaronen verpfeifen. Fletcher würde sich verstecken, bis der Mistkerl verschwunden war. Er konnte nur hoffen, dass ihn seine zurückgelassenen Stiefel nicht verrieten.
    Geändert von Ronsen (11.09.2022 um 21:53 Uhr)

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    Es dauerte nicht lange bis Fletcher fröstelte. Er saß auf einem kalten Felsvorsprung und rieb sich die nackten Füße. Tief unter sich konnte er hören, wie die tosenden Wellen gegen die Klippe peitschen. Die frische Seeluft machte ihn hungrig, aber schlimmer noch: sie weckte seinen tiefen Wunsch nach Freiheit. Diese Küste war nicht wie die in seiner Heimat Ardea. Sie war rauer, lebensfeindlicher. Hierhin verirrten sich nicht einmal Möwen. Die Vögel waren clever, sie mieden die Magie der Barriere. Und die meisten von ihnen, die wie Fletcher hier eingesperrt waren, waren bereits tot. Von den größeren Bestien, Scavengern, vielleicht sogar Waranen gefressen. Innerhalb der Barriere konnte man nur überleben, wenn man zu den Stärksten gehörte oder in einem Rudel. Jetzt, wo Fletcher nicht mehr zum Rudel gehörte, musste er stark werden. Oder er würde untergehen.
    „Wie lange wollen die sich denn noch zudröhnen?“
    Er lugte vorsichtig hinter einem großen Felsen hervor, der ihm als Versteck diente. Ormond und Dexter standen dort oben wie Harpyien, die ihren Horst bewachten. Und sich dabei einen Stängel Sumpfkraut nach dem anderen anzündeten. Fletcher konnte unmöglich ohne seine Stiefel weiterziehen. Dann würde er krank werden und einen qualvollen, langsamen und ehrlosen Tod sterben.
    Die Kälte war ihm auch schon in die Fingerspitzen gekrochen, denn er spürte, dass er sein Richtschwert nicht mehr fest im Griff hatte. Nichtsdestotrotz entschied er, dass es an der Zeit war, sich seine Schuhe zurückzuholen. Wenn Dexter ihn dabei ertappte, würde er eben dafür sorgen, dass er nichts mehr ausplaudern konnte. Der Kerl war schließlich nur ein kleiner Hehler, kein Gardist.
    Doch kaum hatte Fletcher den Entschluss getroffen, sein Versteck aufzugeben, konnte er wahrnehmen, wie sich an der Spitze des Turms etwas tat. Die beiden Geschäftspartner hatten endlich aufgeraucht und machten sich auf den Weg nach unten. Dexter verabschiedete sich und stiefelte leichtfüßig davon in Richtung des Alten Lagers. Er wirkte völlig gelassen; nicht so, als verfüge er über brisante Informationen, doch das konnte täuschen, immerhin stand er unter dem Einfluss des Krauts. Fletcher wartete noch einen Moment, bis der Kerl sicher außer Reichweite war und kehrte mit gezogenem Schwert zum Eingang des Nebelturms zurück. Erschrocken stellte er fest, dass keine Schuhe mehr vor der Tür standen. Im schlimmsten Fall hatte Dexter sie mitgenommen. Doch bevor er das Risiko einer barfüßigen Verfolgung aufnahm, öffnete er die Tür, um nachzusehen, ob Ormond sie mit nach drinnen genommen hatte. Und kaum hatte er die Tür geöffnet, da blickte er bereits auf einen gespannten Bogen, dessen Pfeilspitze direkt auf sein Herz gerichtet war.
    „Die Waffe sofort fallen lassen!“, knurrte Ormond ihm entgegen. „Hab ich’s doch gewusst, dass ich mir dich nicht eingebildet habe. Was hast du hier zu suchen, hm?!“
    Fletcher biss die Zähne zusammen, ließ das Schwert fallen und hob abwehrend die Hände nach oben.
    „Ich komme in friedlicher Absicht. Erkennst du mich nicht?“
    Der Einsiedler kniff die Augen zusammen und musterte ihn finster. Wenige Herzschläge später senkte er den Bogen. Die düsterte Mimik wandelte sich in freudige Überraschung.
    „Fletcher? Bist du das etwa, der mir blutige Schuhe vor die Tür stellt?“ Ormond schüttelte sich, als müsse er seine Gedanken neu sortieren.
    „Ist ‘ne etwas längere Geschichte. Ich bin deiner Einladung gefolgt, erinnerst du dich?“
    „Unser letzter Briefkontakt muss zwei Jahre her sein“, meinte Ormond. „Ich habe schon befürchtet, du wärst den Banditen zum Opfer gefallen.“
    „Dann unterschätzt du mich“, gab Fletcher brummend zurück. „Aber ich bin auch nicht nur aus reiner Nächstenliebe hier.“
    „Wie wäre es, wenn du mir das draußen am Feuer bei einem guten Schluck Schnaps erzählst? Wir müssen uns so viel zu berichten haben! Ach so, deine Schuhe stehen übrigens dort auf der Treppe.“

    Fletcher fiel ein Stein vom Herzen, als ihm klarwurde, dass Ormond es allen Anschein nach wirklich gut mit ihm meinte. Sein Treffen mit Dexter muss rein geschäftlicher Natur verlaufen sein. Der Schatten hatte keine Ahnung, dass man nach Fletcher suchte. Vielleicht war das ja ein gutes Zeichen.
    Ormond richtete den Lagerplatz gemütlich her. Er warf noch trockenes Holz ins Feuer und legte einige Felle zum Sitzen aus. Fletcher machte es sich sichtlich bequem und streckte seine blanken Füße in Richtung des Feuers, um sich etwas aufzuwärmen. Nur den angebotenen Schnaps lehnte er dankend ab. Sein lautes Magenknurren machte klar, dass er sich nicht auf nüchternen Magen besaufen wollte.
    „Kann ich dir vielleicht etwas zu essen anbieten?“, fragte Ormond.
    „War wohl nicht zu überhören, was?“
    „Ich will ja nicht, dass du schlafende Schattenläufer weckst.“
    Fletcher grinste. Er konnte es kaum glauben, dass die Gestalt vor ihm wirklich der berüchtigte Unglücksritter Ormond aus Ardea war, den er einst am Austauschplatz kennengelernt hatte. Er trug eine lange, grüne Kutte mit Kapuze, aber Fletcher konnte erkennen, dass er sich die Haare abgeschnitten hatte. Sein Gesicht sah müde aus, er musste um die zehn Kilo abgenommen haben. Das Leben in der Kolonie zehrte an ihm, doch er widersetzte sich dem Tod nach Kräften und völlig auf sich allein gestellt. Das imponierte Fletcher.

    Ormond verschwand noch einmal im Turm und allem Anschein nach in den Keller, denn der Knall seiner Falltür verriet ihn. Wenige Augenblicke später kehrte er mit einem rasselnden Topf und einem eisernen Dreibein zurück. Das Gestell baute er über dem Feuer auf. Aus einem Fass, das hinter dem Turm stand, schöpfte er Wasser in seinen Topf und hängte ihn über die Flammen.
    „Du wirst dich noch eine Weile gedulden müssen, bis das Wasser kocht und der Reis durch ist.“
    „Scheiße, du bist doch nicht etwa unter die Reisfresser des Neuen Lagers gegangen oder?“ Fletcher lachte kurz auf, doch sein Gegenüber verzog keine Miene.
    „Ich bin keinem Lager zugehörig, pflege aber recht gute Kontakte in alle Richtungen. Und der Reis aus dem Neuen Lager macht satt und ist billig.“
    „Gibt es wenigstens noch etwas Fleisch dazu? In deinem Turm riecht es so, als hättest du Fleisch geräuchert.“
    „Das ist richtig. Aber das Fleisch ist nicht für uns bestimmt.“
    Ormond öffnete seine Schnapsflasche und nahm einen tiefen Schluck. Er reichte sie an Fletcher weiter und ließ dabei keine Widerrede zu.
    „Na komm schon. Das macht warm und lockert die Zunge.“
    „Was soll das werden, ein Verhör?“
    Der Einsiedler lachte. „Ich bin nur neugierig und Wissen ist schließlich ein begehrtes Handelsgut.“
    Fletcher ließ sich zu einem Schluck hinreißen und bereute es sofort. Reisschnaps! Ein äußerst scharfes Gebräu noch dazu. Doch Ormond nickte zufrieden.
    „Dann lass mal hören. Was gibt es Neues im Lager und was führt dich zu mir?“
    Fletcher schnaubte kurz und schwieg einen Moment. Er wollte nicht zu viel preisgeben. So sehr er Ormond vertraute, so sehr war er auch darüber besorgt, dass der spitzzüngige Dexter etwas davon mitbekommen und an die Erzbarone verraten würde.
    „Über den Lageralltag wird dir dein Kumpel Dexter sicher schon genug erzählt haben. Damit will ich dich nicht langweilen.“ Fletcher wickelte seine nassen Socken um einen Stock und hängte sie in die Nähe des Feuers. „Um ehrlich zu sein, bin ich hier, weil ich auf ein Rätsel gestoßen bin. Und ich erinnere mich, dass du ein Freund von Rätseln bist.“
    Ormonds Augen strahlten sofort eine jugendliche Neugier aus.
    „Sag bloß, du bist auch auf den Spuren von Chromanin?“
    „Was?“
    „Das hätte ich mir ja gleich denken können. Deswegen bist du oben auf dem Turm gewesen und hast nach dem Buch gesucht.“
    Fletcher schüttelte den Kopf. „Ich habe keinen Schimmer, was du da faselst. Mein Rätsel lautet ganz anders.“
    Ormond blinzelte ihn ungläubig an, während er im inzwischen kochenden Wasser rührte. „Tatsächlich?“
    „Hast du schon einmal etwas von Tetriandoch gehört?“
    Der Einsiedler wandte seinen Blick wieder ab, griff nach der Schnapsflasche und nahm noch einen tiefen Schluck. Dann kam er wieder auf das Thema zurück.
    „Nun, dieses Wort ist mir durchaus geläufig. Das habe ich während meiner Reisen durch die Kolonie bereits aufgeschnappt. Ich kann dir bei deinem Rätsel sicherlich behilflich sein.“
    Der Gardist fletschte die Zähne. Dieses Herumdrucksen konnte nur eins bedeuten.
    „Spuck’s aus. Du willst doch eine Gegenleistung.“
    „Vor allem will ich erst einmal was Essen. Du etwa nicht?“

    Sie schlugen sich die Mägen voll. Ormond hatte seinen Reis sogar mit scharfen Kräutern aus dem Wald verfeinert. Fletcher war lange nicht mehr so glücklich über eine solch schlichte Speise wie diese gewesen. Er hatte das Gefühl, dass er auf der richtigen Spur war. Mit Ormonds Hilfe würde er das Rätsel des Bandagierten lösen und zu Reichtum gelangen. Und wenn nicht, würde er den Mistkerl dafür zur Rechenschaft ziehen.

    „Wenn du gewillt bist, mir bei der Suche nach Chromanin zu helfen, werde ich dich bei der Lösung deines Tetriandoch-Rätsels unterstützen“, erklärte ihm Ormond, während sie die Pelze wieder in den Turm schleppten, weil es zu regnen begonnen hatte. „Auch, wenn ich nicht glaube, dass das noch nötig ist, wenn wir erst einmal Chromanin gefunden haben.“
    „Was soll Chromanin denn sein?“
    Der Einsiedler breitete geradezu feierlich die Arme aus.
    „Es ist der Quell der Macht, der die Ketten dieser Welt zu sprengen vermag. Es ist die völlige Vollendung, das Ende der Verschwendung, das Ende des Klagens.“
    „Scheiße, mein Kopf dröhnt, wenn du selbst so in Rätseln sprichst“, gab Fletcher knurrend zum Besten. „Kannst du mal Klartext reden?“
    Ormond schmunzelte.
    „Ich gehe davon aus, dass es der Schlüssel für die Freiheit ist. Ein Weg raus aus der Barriere.“
    Fletcher warf seine Pelze in die Ecke des Turmes und machte es sich wieder bequem. Draußen prasselte der Regen gegen die Tür. Er war froh, inzwischen wieder trockene Socken und Schuhe zu haben.
    „Klingt nach dem Kauderwelsch, den die Sektenspinner ständig von sich geben.“
    „Kann sein. Aber zumindest bin ich der Lösung des Chromanin-Rätsels schon dicht auf der Spur.“
    „Und was macht dich da so sicher?“
    Ormond hob kurz den Finger und deutete dann auf einen Stapel Bücher, die in der Nähe der Falltür lagen.
    „Das sind drei meiner vier Chromanin-Bücher. Das vierte hast du ja schon gesehen, das war in der Kiste oben. Ich habe sie im Laufe des letzten Jahres an verschiedenen Orten innerhalb der Kolonie gefunden. Du musst wissen, dass derjenige, der sie hinterlegt hat, immer einen Hinweis auf den Aufenthaltsort des nächsten Buches angefügt hat.“
    „Soll heißen, du lässt dich von jemandem an der Nase herumführen?“
    „Das haben Rätsel so an sich. Oder ist es in deinem Fall anders?“
    „Punkt für dich.“
    Fletcher wusste schon, warum ihm der Kerl bereits damals so sympathisch war. Ormond sah sein Leben als ein großes Spiel, das es zu gewinnen galt. Er hatte nie darüber gejammert, in der Barriere gelandet zu sein. Vielmehr sah er es als seine Aufgabe, diesem Gefängnis zu entkommen. Wie ein Entfesselungskünstler.
    „Okay gut“, knickte Fletcher ein. „Spielen wir dein Spiel. Du bist also auf der Suche nach dem nächsten Buch.“
    „Ganz genau. Der Hinweis, der im vierten Band verborgen war, lautet: Vergessen sind die Taten jener, die sich einst an Bord befanden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich dabei um das Schiffswrack unten am Strand handelt. Irgendwo dort muss der nächste Band versteckt sein.“
    „Das wird wohl kaum ein Strandspaziergang bei Sonnenuntergang werden, was?“
    „Leider nein. Denn rund um das Wrack wimmelt es nur so von Feuerwaranen. Äußerst tödliche Bestien. Es ist mir bislang nicht gelungen, sie von dort wegzulocken.“
    Fletcher musste an den Versengten denken. Der Kerl hatte sich seine Verletzungen angeblich bei einem Kampf mit Feuerwaranen zugezogen. Und er war ebenfalls ein Rätselfreund. Konnte das alles nur ein dummer Zufall sein?
    „Sag mal, gibt es denn noch andere … sagen wir … Mitspieler bei deiner Chromanin-Suche? Was ist mit Dexter?“
    Ormond runzelte die Stirn. „Nicht, dass ich wüsste, nein. Und Dexter ist ein Geschäftspartner, nichts weiter.“
    „Was für ein Geschäft soll das sein?“, wollte Fletcher wissen.
    „Ich glaube nicht, dass das in seinem Interesse wäre, wenn ich mit einem Gardisten darüber spreche.“
    „Du kannst es mir ruhig verraten. Ich schleppe ja selbst ein Geheimnis mit mir herum.“
    „So? Wenn das so ist … wie ich vorhin schon sagte, halte ich Wissen für ein wertvolles Handelsgut.“
    Fletcher entschied sich dazu, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Das müsste er früher oder später sowieso, wenn er sich bei Ormond einquartieren wollte. Wenn er daran noch etwas gewann, umso besser.
    „Ich bin gegenwärtig vogelfrei“, sagte er und schilderte in Kurzform seine Begegnung mit dem Versengten, die verlorene Wette und seine Flucht aus dem Lager. „Daher wäre dir dankbar, wenn du das für dich behalten würdest und niemandem steckst, dass ich hier bei dir war. Vor allem niemandem aus dem Alten Lager.“
    „Da bringst du mich ja in Beliars Küche“, gab Ormond mit einem leichten Seufzen zurück. „In Ordnung. Ich werde nichts verraten. Aber wir sollten einen sicheren Unterschlupf für dich finden.“
    „Ich hatte gehofft, ich könnte vorerst bei dir untertauchen. Du hast doch sogar einen Keller.“
    Ormond rückte ein Stück näher zur Falltür, als wolle er sie mit seinem Körper verstecken. Fletcher dämmerte, dass der Unglücksritter ihn dort nicht reinlassen wollte.
    „Wir finden schon eine Lösung für dich und dein Rätsel. Aber nun lass uns zunächst überlegen, wie wir das Chromanin-Problem lösen können. Vielleicht erledigt sich der Rest von selbst.“

    ***

    Als es bereits dämmerte und der Regen nachgelassen hatte, marschierten Fletcher und Ormond mit einem großen Lederbeutel im Schlepptau an den Strand hinab. Der flüchtige Gardist hatte dabei ein flaues Gefühl in der Magengegend, der Einsiedler hingegen konnte sein Lächeln kaum unter seiner Kapuze verbergen.
    „Das ist wie in alten Tagen“, erinnerte er sich laut.
    Fletcher gefiel der Vergleich nicht. Er dachte an die Geschichten, die man sich über den Unglücksritter erzählte. Dass er auf Schatzsuche immer mit einem Partner losmarschierte, jedoch allein zurückkehrte. Aber Fletcher hatte vorgesorgt und sich bei der Verteilung der Aufgaben durchgesetzt. Einer von ihnen musste Fleischstücke auslegen und die Feuerwarane weglocken, der andere ging in der Zwischenzeit zu dem Schiffswrack und suchte nach dem Buch. Trotz heftigem Protest stimmte Ormond letztlich zu, dass Fletcher nach dem Buch suchen könne. Schließlich hatte Ormond bereits mehr Erfahrungen im Umgang mit Feuerwaranen gesammelt. Wenn es Fletcher gelang, das Buch zu finden, war er in einer äußerst komfortablen Situation und könnte seinen Partner erpressen, sollte er irgendein krummes Ding durchziehen wollen.

    Alle paar Schritte ließ Ormond ein Stückchen vom geräucherten Fleisch im nassen Sand liegen. Die Spur führte ganz an der westlichen Seite des Ufers entlang, damit Fletcher östlich an der Klippe unterhalb des Nebelturms ein Fluchtweg blieb.
    „Der nasse Sand macht uns flexibler, wenn wir wegrennen müssen“, erklärte Ormond. „Kannst du eigentlich schwimmen?“
    „Ja. Warum fragst du?“
    „Im Notfall kannst du dich auch ins Wasser flüchten. Die Feuerwarane meiden die Nässe.“
    Fletcher bleckte die Zähne. Er war nicht gerade scharf darauf, bei dieser Jahreszeit ein kaltes Bad zu nehmen.
    „Sorgen wir einfach dafür, dass ich das nicht muss.“
    „Dann viel Erfolg, Partner.“
    Ormond reichte ihm die Hand. An dieser Stelle trennten sich die Wege der beiden, denn Fletcher sollte sich vorerst am Osttufer verstecken und warten, bis er ein Flackern sah. Ein klares Zeichen, dass sich die Warane fortbewegten.

    Doch am Ufer herrschte dichter Nebel. Fletcher konnte kaum zehn Schritt weit sehen. Alles, was er vernahm, war das Rauschen des Meeres, nicht weit von sich. Eine kalte Anspannung machte sich in seinem Körper breit. Er hielt die Waffe griffbereit, doch seine Finger begannen wieder zu zittern. Worauf hatte er sich hier nur eingelassen? Vielleicht sollte er einfach zum Turm zurückkehren und ihn besetzen. Im Ernstfall konnte er den dünnen Ormond sicherlich überwältigen. Er wollte jedenfalls nicht so enden, wie der Versengte. Er war kein Mann für riskante Manöver. Das war er nie gewesen. Und doch hatte sein Verhalten ihn hierhergeführt.
    „Tetriandoch“, flüsterte Fletcher und einen Herzschlag später konnte er eine helle Flamme sehen, die den Nebel verdampfte. War er das gewesen? War das der Zauber?
    „Tetriandoch!“, wiederholte Fletcher und bewegte sich langsam vorwärts. Er konnte das rasselnde Atmen der Feuerwarane vernehmen. Ihr Flammenatem flackerte durch die Nebelwand. Sie setzten sich in Bewegung. Jetzt war Vorsicht geboten. Er konnte nur darauf hoffen, dass sein Partner wirklich alle Bestien von hier fortlocken konnte.
    Allmählich schälten sich die Überreste des Schiffswracks durch den Nebelschleier. Sie muteten wie das Skelett eines gefallenen Drachen an. Fletcher stockte der Atem.

    „Marionette!“, vernahm er plötzlich eine tiefe Stimme. Fletcher wirbelte herum, der Griff um sein Schwert wurde fester.
    „Wer ist da? Was soll der Dreck?!“
    „Gib Acht.“ Aus dem Nebel schälte sich eine Gestalt, die in einen langen Mantel gehüllt war und deren Gesicht von einer hölzernen Maske verdeckt wurde.
    „Marionetten lassen sich leicht in Gehenkte verwandeln. Die Stricke sind schon da.“

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    *12 Stunden zuvor*

    Mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen drehte Bloodwyn den Grillspieß am großen Lagerfeuer im Inneren der Burg. Ein fettes Molerat brutzelte schon seit Mitternacht darüber. Die Biester schmeckten am besten, wenn sie sechs bis acht Stunden über dem Feuer hingen. Der Gardist stand freilich nicht selbst die volle Zeit am Grill, schließlich war er einer der drei Aufseher im Außenring und damit ein vielbeschäftigter Mann. Er hatte ein paar Schergen, die sich um solche Belanglosigkeiten kümmerten, weil sie ihm in den Arsch kriechen wollten. Jetzt jedoch, da das Fleisch durch war, gab sich Bloodwyn selbst die Ehre und schnitt sich eine große Keule davon ab.
    „Es geht doch nichts über ein reichhaltiges Frühstück“, sagte er mit einem Grinsen. Der Hilfskoch stimmte ihm eilig zu. Auch ihm lief bereits das Wasser im Mund zusammen. Doch wenn der Wicht hoffte, er würde etwas abbekommen, dann war er schief gewickelt. Bloodwyn winkte sich noch einen zweiten Schergen heran und orderte die beiden an, den großen Spieß in Richtung des Zwingers hinter dem Turm der Magier zu tragen. Bloodwyn selbst hatte vor einem Jahr dafür gesorgt, dass auf der dortigen Fläche ein riesiger, metallischer Käfig Platz fand, in dem sein neues Püppchen wohnte. Bei diesem Püppchen handelte es sich um eine inzwischen ausgewachsene Bluthündin, die sein Ein und Alles war. Vor allem aber war sie unersättlich.
    Dass er den Zwinger ausgerechnet neben dem Turm der Magier aufstellen ließ, hatte persönliche Gründe. Die Kuttenträger verhielten sich in den letzten Monaten immer dreister gegenüber den Erzbaronen und Gardisten. Sie kommunizierten mit den Verrätern aus dem Neuen Lager und wurden immer wieder bei zwielichtigen Praktiken erwischt. Bloodwyn selbst hatte auch schon einen Narren an einem der Magier gefressen, sein Name war Damarok. Er hatte Bloodwyn übers Ohr gehauen, aber das war eine andere Geschichte. Zufälligerweise wagte sich ausgerechnet besagter Feuermagier ebenfalls an diesem nebelverhangenen Morgen aus seinem Turm, womöglich ebenfalls vom Geruch des köstlichen Moleratbratens angelockt.
    „Guten Morgen mein Sonnenschein“, rief Bloodwyn mit einem honigsüßen Tonfall. „Frühstück ist fertig!“
    „Für Innos, Gardist. Auf ein Wort!“
    „Du bist nicht mein Sonnenschein. Du gehst mir nur da vorbei, wo die Sonne nicht scheint.“
    Bloodwyn ließ den Magier stehen und begann mit seinem Schlüssel am Schloss des Zwingers zu klappern. Das Ungeheuer darin erwachte. Sein Püppchen hatte sich in seinem ersten Lebensjahr ganz prächtig entwickelt. Er schätzte es auf stolze dreihundert Pfund, die Schultern reichten ihm bis zur Brust.
    „Wir müssen dringend um die Unterbringung dieser Ausgeburt Beliars sprechen“, beharrte Damarok. „Ihre schiere Gegenwart schwärzt das Licht unseres heiligen Tempels. Und sie ist inzwischen zu einer Gefahr herangewachsen, die du nicht kontrollieren kannst!“
    Der Kuttenträger hatte nicht ganz unrecht. Es fiel Bloodwyn nicht leicht, die Energie seines Bluthundes im Zaum zu halten, doch dafür hatte er sich extra eine Peitsche zugelegt. Mit besagter Peitsche schlug er nun einmal schnell auf den Boden. Sein Püppchen verstand den Befehl und machte brav Sitz.
    „Seht gut hin“, rief er seinen Helfern zu. „Wer so spurt, der bekommt auch was zum Frühstück. Und jetzt werft das Molerat rein.“
    Er öffnete die Tür des Zwingers und lud seine beiden Schergen ein, sich zu beeilen. Nicht, dass sein Püppchen am Ende doch seine Geduld verlor und stattdessen auf lebendes Futter losging.
    Eher missmutig kamen die beiden dem Wunsch ihres Chefs nach und warfen dem Bluthund das köstliche gebratene Molerat in den Käfig. Der Hunger von Bloodwyns Püppchen war unermesslich; mit Hilfe des massiven Kiefers biss es mühelos durch Sehnen, Fleisch und Knochen und hatte den ganzen Braten, der locker für die halbe Mannschaft innerhalb der Burg reichte, binnen weniger Augenblicke verschlungen.
    Der Magier beobachtete die Fütterung mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck und ausreichend Sicherheitsabstand. Er traute sich wohl nicht, noch etwas zu sagen, solange Bloodwyn das Biest mit einem Kommando auf ihn hetzen konnte.
    Zufrieden hockte sich der Gardist vor den Zwinger seines Püppchens und reichte ihm zum Abschluss seines Frühstücks auch noch den Knochen hin, der bei ihm selbst übriggeblieben war. Dieser harmonische Moment zwischen Hund und Herrchen wurde leider jäh unterbrochen, als es eine weitere Person wagte, ihn von hinten anzuquatschen.

    „Hey Bloodwyn, wir haben ein Problem!“
    „Du hast gleich ein Problem, wenn du mich während meiner goldenen Stunde unterbrichst.“ Er drehte sich um und zuckte kurz zusammen, als er erkannte, dass es Jackal war, der zu ihm sprach. Der hohe Gardist stand in der Rangfolge eine Ebene über ihm, darum sollte Bloodwyn ihm eigentlich Respekt zollen. Das fiel ihm aber gar nicht so leicht, denn Jackal benahm sich immer so überkorrekt, dass es ihm am Arsch juckte.
    Bloodwyn räusperte sich. „Was ist denn los?“
    Jackal kam direkt zum Punkt. „Wir müssen den heutigen Rapport an die Erzbarone vertagen. Fletcher ist verschwunden.“
    „Ist er mit dem Schutzgeld verschwunden?“, fragte Bloodwyn kühl.
    „Nein. Der Arenameister Scatty hat einen Großteil des Erzes bei mir abgegeben. Fletcher hat wohl mit dem Schutzgeld in der Arena gewettet. Gestern fand ein Kampf zwischen Kharim und dem Versengten statt. Scheint so, als hätte Fletcher auf den Falschen gesetzt.“
    „Der Versengte?“, mischte sich Damarok ein. „Habe ich das gerade richtig verstanden?“
    Jackal nickte. „So lautete jedenfalls sein Kampfname. Scatty sagt, er habe wie eine Mumie ausgesehen. Am ganzen Körper bandagiert. Angeblich Brandwunden.“
    „Ist dieser Kerl immer noch in der Arena?“, fragte der Feuermagier jetzt, wobei sich seine Stimme beinahe überschlug. „Ich muss ihn unbedingt sehen!“
    „Bedaure. Von dem fehlt jede Spur. Für mich ist es im Moment wichtiger, Fletcher zu finden. Er kann nicht einfach das Schutzgeld verwetten. Die Erzbarone müssen ihn zur Rechenschaft ziehen.“
    Bloodwyn schmunzelte leicht. „Hab schon verstanden. Ich mache mich direkt auf den Weg. Hast du eine Ahnung, wohin er gegangen sein könnte?“
    „Er wollte an den Fluss beim Südtor“, sagte Jackal und klopfte seinem Kollegen auf die Schulter. „Danke, dass du die Sache in die Hand nimmst. Sag Bescheid, wenn du noch ein paar Männer zur Unterstützung brauchst.“
    „Ich bin nicht allein. Mein Püppchen braucht ohnehin mal wieder ein bisschen Auslauf.“
    „Ich werde auch mitkommen“, sagte Damarok, „Vielleicht finden wir auf dem Weg auch den Verbrannten. Zum Wohl des Alten Lagers müssen wir ihn in die Finger kriegen.“
    „Großartig!“, freute sich Jackal. „Es ist erfrischend zu sehen, dass die Gilden der Magier und Gardisten kooperieren. Viel Erfolg euch beiden.“
    Bloodwyn schluckte einen widerlichen Kloß herunter. Er hatte schon lange auf eine Gelegenheit gehofft, mit diesem Magier einmal allein unterwegs zu sein. Sein Püppchen und er hatten schließlich noch eine Rechnung mit Damarok offen.

    *Gegenwart*


    Fletcher kaute sich nervös auf der Unterlippe herum. Die Schwertspitze richtete er in den dichten Nebel, konnte aber die Gestalt, die nach ihm gerufen hatte weder sehen noch hören. Lediglich das unverkennbare Knurren eines Feuerwarans war zu vernehmen, der sich anscheinend ganz in der Nähe des Schiffswracks aufhielt. Fletcher wollte lieber keinen Ton von sich geben, denn auf einen Tanz mit diesem Feuerteufel konnte er beim besten Willen verzichten.
    ‚Marionetten lassen sich leicht in Gehenkte verwandeln‘, wiederholte er den mysteriösen Spruch in Gedanken. ‚Die Stricke sind schon da.‘
    Was hatte das nur alles zu bedeuten? Fletcher war immer ein rationaler Mensch gewesen, für seinen Geschmack waren das zu viele mysteriöse Gestalten und Sprüche an einem Tag. Hatte er sich den Typen womöglich nur eingebildet? Er war immerhin schon zwei ganze Tage am Stück wach. Nicht unmöglich, dass ihm seine Sinne einen Streich spielten. Er durfte sich von so etwas nicht beirren lassen. Er hatte einen Auftrag zu erfüllen, er musste dieses bescheuerte Buch finden.
    ‚Bin ich die Marionette?‘ Diesen Gedanken konnte er einfach nicht abschütteln. Nutzte Ormond ihn einfach nur aus, um an das zu kommen, was ihm wichtig war? War das vielleicht alles nur ein abgekartetes Spiel, damit er dieses Buch in die Finger bekam? War dessen Inhalt womöglich so brisant, dass er ihn aus dem Weg räumen würde, sobald er es in den Händen hielt? Fletcher musste das Chromanin-Buch unbedingt selbst als Druckmittel verwenden. Vielleicht sollte er es verbrennen, wenn er es gelesen hatte. Dann wäre er selbst für den Unglücksritter unverzichtbar.
    Doch dafür musste er es erst einmal finden.
    Er hatte inzwischen das Schiffswrack erreicht, eine kleine Kogge, die anscheinend an einem felsigen Riff in zwei Teile zerfetzt worden war. Das Heck befand sich hier am Strand, der Bug noch ein Stück weiter draußen im Meer, wenn er die dunklen Schemen durch den Nebel hindurch richtig deutete. Mühsam kletterte er auf den morschen Rest von Schiff und hoffte dabei inständig, dass die Planken nicht unter seinen Füßen nachgaben. Er mühte sich zu einer großen Kabine vor, deren Tür aus den Angeln gerissen worden war. Kein gutes Zeichen, denn ganz offensichtlich war schon jemand vor ihm hier gewesen, um die Schätze des Kahns zu bergen. Aber vielleicht hatte es sein Vorgänger nicht auf das Chromanin-Buch abgesehen.
    ‚Wahrscheinlich wurde das Buch erst nach Schiffbruch hier versteckt‘, ging es ihm durch den Kopf. Dann waren die Chancen doch gar nicht so schlecht, etwas zu finden. Vorausgesetzt, dieser seltsame Typ mit der Holzmaske war ihm nicht zuvorgekommen.
    Fletcher betrat die Kapitänskajüte und musste sich direkt den Mund zuhalten. Eine halb verweste Leiche lag vor dem großen Schreibtisch des Kapitäns. Es war unmöglich auszumachen, was denjenigen hingerafft hatte, dafür war der Verwesungsprozess schon viel zu weit fortgeschritten. Fletcher machte einen Bogen um den Leichnam und durchwühlte sowohl den Schreibtisch, als auch ein kleines Bücherregal, wurde jedoch nicht fündig. Dann wanderte sein Blick wieder auf den Toten. Die Arme umklammerten einen dunklen, eckigen Gegenstand - ein Buch.
    „Hätte ich mir ja denken können“, sagte er mit einem Seufzen und zückte sein Schwert. Er stocherte etwas an der Leiche herum, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich tot war. An Orten wie diesen war Beliars Magie präsent, so viel hatte er in seiner Zeit in der Barriere bereits gelernt. Er wollte nicht kurz vor seinem Ziel von einem Zombie gebissen werden. Doch dieser Leichnam schien sich nicht mehr zu regen. Fletcher nahm ihm das Buch ab und warf einen flüchtigen Blick darauf. „Chromanin“ stand auf dem Einband. Das war ja fast schon zu einfach. Schnell überflog er die einzige beschriebene Seite des Buches und versuchte sich, die wichtigsten Informationen zu merken. Dann klemmte er sich das Buch unter den Arm und verließ eilig das Wrack.

    Doch noch war er nicht in Sicherheit.
    Vor seinen Augen flammte plötzlich eine Feuersäule auf, die ihm beinahe die Sicht nahm. Er zuckte zurück und blickte mitten in die tiefschwarzen Augen eines ausgewachsenen Feuerwarans. Anscheinend hatte Ormond diesen nicht mit seinem Sack voll geräuchertem Fleisch weglocken können. Diesem Exemplar stand wohl mehr der Sinn nach Frischfleisch.
    „Verdammte Scheiße“, knurrte Fletcher und leckte sich über die Zähne. Das war’s dann wohl für ihn. Er richtete seine Klinge gegen das Ungetüm, war sich jedoch sicher, dass diese feuerspeiende Ausgeburt Beliars ihn bei lebendigem Leibe verbrannt hatte, noch ehe die Spitze seiner Klinge ihn auch nur streifte.
    Als er bereits mit seinem Leben abgerechnet hatte und zum Angriff ausholen wollte, wurde er vom plötzlichen Zischen des Warans überrascht. Das Ungetüm wurde von irgendeiner Naturgewalt gepackt und durch den Nebel weggezerrt. Fletcher konnte sein Glück kaum fassen, wollte es aber auch nicht weiter auf die Probe stellen und nahm die Beine in die Hand. Weit kam er jedoch nicht, denn anscheinend versammelte sich gerade die halbe Kolonie hier am Strand.

    „Haben wir dich endlich gefunden, mein Freund. Mein Püppchen und ich sind dir schon den halben Tag auf der Spur. Hast dich mächtig angestrengt, dich zu verstecken. So hätte ich dich gar nicht eingeschätzt …“
    Diese schmierige Stimme erkannte er unter Tausenden. Das war Bloodwyn. Gomez hätte keinen schlimmeren Häscher auf ihn loslassen können. Und zu allem Überfluss war nicht allein. Neben ihm stand eine überaus seltene Erscheinung, einer der Feuermagier des Alten Lagers.
    „Was verschafft mir die Ehre?“, fragte Fletcher und blickte ein wenig weiter in die Richtung, aus der er den Feuerwaran vermutete. Das Ungeheuer war in den Zweikampf mit Bloodwyns Bluthund verwickelt worden und hatte ganz offensichtlich den Kürzeren gezogen. Das „Püppchen“ fraß sich bereits am Leib des Warans satt.
    „Oh, ihr beiden kennt euch noch nicht, richtig? Wie unhöflich von mir. Fletcher, das ist der ehrenwerte Meister Damarok, Feuermagier vor dem Herrn und Experte für Arti… Artu…“
    „Artefakte“, half Damarok aus.
    „Was auch immer. Und das hier ist Fletcher, eine arme Wurst, die sich auf Kosten der Erzbarone ein schönes Leben machen wollte. Zu schade für ihn, dass er dabei aufgeflogen ist.“
    „Ich verstehe, dass du deine Gründe hast, nach mir zu suchen“, gab Fletcher zu. „Aber was will er hier?“
    „Och, das wird er dir schon selber sagen müssen“, meinte Bloodwyn und widmete sich wieder seinem Püppchen. Damarok kam an Fletcher herangetreten. Der mittelalte Mann wirkte abgehetzt, seine Augen waren von tiefen Augenringen umrahmt.
    „Hör mir gut zu. Du hast mit einem Menschen zu tun gehabt, der die gesamte Struktur der Kolonie über den Haufen werfen will. Er hat sich als der Versengte vorgestellt. Es ist mein Auftrag, seinem Treiben ein Ende zu bereiten. Wenn du etwas von ihm weißt, musst du es mir unbedingt sagen!“
    „Verdammt, was willst du denn von dem?“, fragte Fletcher verwirrt. „Er hat mir lediglich einen kryptischen Satz genannt.“
    „Sag ihn mir geschwind! Jeder Hinweis zu ihm könnte uns helfen!“
    Fletcher biss sich auf die Zunge und überlegte. Bloodwyn hatte ihn an den Eiern; wenn er seine Karten jetzt nicht gut spielte, würde der Mistkerl ihn an Gomez ausliefern. Im Duell könnte er dem Kerl vielleicht das Wasser reichen, doch mit diesem Bluthund an seiner Seite hatte Fletcher keine Chance. Auch eine Flucht war dadurch unmöglich.
    „Na schön, ich sag euch, was ich weiß. Aber im Gegenzug erwarte ich, dass ihr mich nicht zurück ins Alte Lager bringt.“
    „Ausgeschlossen!“, grätschte Bloodwyn giftig dazwischen.
    „Ich möchte hier draußen meinen Frieden finden. Vergesst einfach, dass ihr mich hier gefunden habt und ich verrate euch alles, was ich über den Versengten weiß.“
    „Dieses Buch in seinen Händen!“, rief Damarok plötzlich. „Es könnte sich dabei um eines der sagenumwobenen Chromanin-Bücher handeln. Ich muss es unbedingt in den Besitz der Kirche bringen.“
    Damarok nahm Bloodwyn beiseite und die beiden diskutierten eine Weile. Fletcher hoffte irgendwie insgeheim, dass Ormond, die Feuerwarane, ja vielleicht sogar die seltsame Gestalt mit der Holzmaske auftauchte und ihm aus der Patsche half, doch nichts dergleichen geschah. Er war auf sich allein gestellt.
    „Na schön, hast gewonnen“, knickte Bloodwyn ein. „Der Preis für deine Freiheit sind deine Informationen zu dem Versengten und das Buch in deinen Händen. Deine Informationen sollten aber wirklich der Knaller sein, sonst kann ich nicht garantieren, dass sich mein Püppchen zurückhalten kann.“
    Mehr war wohl wirklich nicht rauszuholen.
    „Die Zauberformel für Ruhm und Reichtum lautet Tetriandoch“, zitierte Fletcher die Worte, die ihm schon den ganzen Tag auf der Zunge brannten. Aber ob sich Damarok damit wirklich zufriedengab?

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    „Tritt den Jan doch?“ Bloodwyn runzelte die Stirn. „Ist das ein Taufspruch, den ich noch nicht kenne?“
    „Tetriandoch!“, korrigierte ihn Damarok jedoch in einer Lautstärke, die selbst das Püppchen aufhorchen ließ. Der Bluthund stapfte zu seinem Herrchen und gab ein Knurren in Richtung des Magiers ab.
    „Schhht“, beruhigte Bloodwyn das überdimensionale Hündchen. „Onkel Damarok wollte dich nicht erschrecken, denn Onkel Damarok weiß, dass du ihn mit einem Haps einen Kopf kürzer machst, wenn er hier grundlos herumplärrt.“
    „Du verstehst das nicht“, zischte der Magier jetzt leiser, aber nicht minder verbissen. „Er weiß von Tetriandoch und er hat eines der Chromanin-Bücher bei sich. Wir müssen ihn augenblicklich außer Gefecht setzen, zu unser aller Schutz!“
    Er begann, in der tiefen Tasche seiner Robe herumzufummeln. Bloodwyns Püppchen beobachtete ihn neugierig, sicher in der Hoffnung, noch einen Nachtisch abzubekommen. Doch was Damarok hervorzauberte, war nicht gerade bekömmlich. Es handelte sich um die magische Rune des Feuerballs.
    „Hey Mann! Das war aber nicht der Deal“, protestierte Fletcher. „Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt, also lass mich gefälligst in Frieden.“
    Bloodwyn grinste kalt. „Auch, wenn ich winselnde Verräter nicht ausstehen kann, gebe ich ihm Recht. Ein Deal ist ein Deal. Wie wäre es, wenn du uns erst einmal verrätst, was hier vor sich geht, bevor wir mit dem Grillfest beginnen?“
    „Ich kann dir alles erzählen, wenn Innos‘ göttlicher Zorn über ihn gerichtet hat. Hier ist Eile geboten, also tritt zurück.“
    Die magische Rune in Damaroks Fingern begann zu leuchten. Einen Herzschlag später umhüllte eine Kugel aus heißglühendem Feuer die Hand des Magiers.
    Fletcher nahm die Beine in die Hand und auch Bloodwyn hatte genug gesehen. Doch der reagierte auf seine eigene, abgeklärte Weise. Gerade als Damarok seinen Zauber abfeuern wollte, rammte Bloodwyn ihn mit der Schulter. Der erschrockene Magier stolperte und landete der Länge nach im Sand.
    „So eine Scheiße wirst du nicht abziehen! Fletcher mag vielleicht ein Feigling sein, aber er ist immer noch einer von meinen Jungs, also lass deine kleine Funzel stecken.“
    Damarok rieb sich den Schmutz aus den Augen und spuckte Sand aus, ehe er sein Wort erneut an Bloodwyn richtete.
    „Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen?! Ist dir klar, dass der Kerl mit diesem Buch alle Strukturen innerhalb der Barriere erschüttern kann?“
    Bloodwyn beugte sich langsam zu dem verstörten Magier herab und schenkte ihm ein herzloses Lächeln.
    „Mach dich doch erstmal sauber. Und dann unterhalten wir beide uns ganz in Ruhe, hm? Keine Sorge wegen Fletcher. Er ist in Richtung Wasser gelaufen, der kommt nicht weit. Ich muss nur einmal pfeifen und mein Püppchen kümmert sich um ihn. So wie es sich um jede andere Nervensäge kümmert, die mir in die Quere kommt.“

    ***

    Fletcher konnte nicht sagen, was genau gerade passiert war. Er hatte sich schon selbst lichterloh in Flammen aufgehen sehen, deswegen war er instinktiv in Richtung Wasser gerannt. Doch aus irgendeinem Grund hatte dieser verrückte Magier seinen Angriff abgebrochen und Fletcher gab sich damit zufrieden. Er blickte nicht zurück, das würde er nie wieder tun. Wenn er aus dieser verrückten Situation lebend herauskommen sollte, würde er das Wetten und die Sauferei aufgeben, so viel stand fest.
    Der Nebel am Meer war so dick, dass er ihn mit seinem Schwert schneiden konnte. Fletcher hatte keine Ahnung, wo er sich verstecken sollte, der verdammte Köter würde ihn ja doch finden. Er überlegte kurz, ob er ein Stückchen schwimmen sollte, verwarf den Gedanken jedoch schnell. Bei der Kälte, die hier herrschte, würde er sich nur den Tod holen. Tod durch Verbrennen oder Erfrieren, beides erschien ihm wenig ehrenhaft. Sollte er sich einfach stellen und versuchen, im Zweikampf gegen Bloodwyn oder seine Bestie zu sterben? Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, dafür war er schon viel zu übermüdet.

    Dass Ormond plötzlich auftauchte und ihn fortbrachte, nahm er nur noch verschwommen wahr. Sein Freund schien aber glücklich zu sein. Das konnte er auch, immerhin hatte Fletcher seinen Arsch riskiert und ihm das verdammte Buch organisiert.
    Der Unglücksritter brachte ihn zur Steilklippe, in der sich eine seltsame Tür befand. Sie stapften durch die Finsternis, durch Kälte und Nässe und einen schmalen Stieg empor. Fletcher erkannte das Flackern einer Fackel und roch den süßlich-herben Duft von Sumpfkraut. Irgendwann ließ Ormond ihn los, er sank auf einen Berg von Fellen. An diesem seltsamen Ort schlief Fletcher fast augenblicklich ein.

    Er konnte nicht sagen, ob er nur wenige Augenblicke oder mehrere Stunden ruhte, doch irgendwann wurde er von einem Flüstern geweckt. Im nächsten Moment nahm er wahr, dass seine Hände und Füße in straffen Fesseln lagen. Augenblicklich pumpte Adrenalin durch seinen Körper und er riss die Augen auf.
    „Endlich bist du wach“, sprach eine ihm entfernt bekannte Stimme zu. „Ich dachte schon, du willst das große Spektakel verschlafen.“
    Fletcher blickte sich hektisch um, suchte nach seinem Gesprächspartner. Der Raum, in dem er sich befand, war kalt und finster. Nur ein leichter Fackelschein war in der Distanz zu erkennen. Er war in einer Höhle. Jetzt erinnerte er sich wieder. Sein Freund Ormond hatte ihn hierhergebracht. Weg von Bloodwyn, seinem tollwütigen Monster und dem wahnsinnigen Feuermagier.
    „Ormond, bist du das?“, fragte Fletcher in die Finsternis und erkannte endlich einen Schatten, der ihm gegenübersaß und den Kopf schüttelte.
    „Ormond ist in dem Gang nebenan und bereitet alles für unseren Untergang vor. Du bist ihm in die Falle gegangen, genau wie ich. Wie eine Marionette. Dabei dachte ich, meine Warnung wäre eindeutig gewesen…“
    Fletcher kniff die Augen zusammen und sortierte seine Gedanken.
    „Bist du dieser Bekloppte mit der Holzmaske, der am Schiffswrack herumgesprungen ist?“
    „Du kannst mich Dexter nennen, ist kürzer.“
    „Dexter?!“
    Jetzt verstand Fletcher gar nichts mehr. Dexter war doch Ormonds Geschäftspartner. Wieso war er jetzt ebenfalls hier in seiner Gefangenschaft. Und was hatte der verdammte Unglücksritter mit ihnen vor?
    „Was sollte der Schwachsinn mit der Maske?“
    Dexter brachte ein müdes Lachen hervor. „Ich wollte mich vorhin nicht zu erkennen geben. Ist nicht so gut fürs Geschäft, musst du wissen. Hat mir aber letztlich nicht geholfen. Am Ende hat der Penner mich doch überwältigt.“
    „Ich verstehe das immer noch nicht. Ich dachte, ihr wart Geschäftspartner. Ihr habt doch mit Sumpfkraut gehandelt!“
    Dexter schnaubte hörbar aus. „Das war nur ein Nebenverdienst, um über die Runden zu kommen. Er hat mir günstiges Kraut von den Sektenspinnern beschafft und ich habe es im Alten Lager verkauft. Im Gegenzug habe ich ihn immer auf den neusten Stand gebracht, was so im Alten Lager abgeht. Der Kerl hat seine Kontakte überall und scheint die Kolonie wie seine Westentasche zu kennen. Aber ganz besonders hat er es auf die Magier abgesehen. Ich Idiot habe ihm sogar eins dieser Bücher besorgt.“
    „Du meinst so ein Chromanin-Buch?“
    „Genau.“ Dexter seufzte. „Dieser Damarok hatte es in seiner Sammlung. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich auf mich genommen habe, um es ihm zu entwenden.“
    „Das erklärt immer noch nicht, warum du mich vor ihm gewarnt hast.“
    „Dazu komme ich doch gleich, meine Fresse. Ich habe wenig später über drei Ecken erfahren, dass der Magier fuchsteufelswild über den Diebstahl war und dem Dieb die Todesstrafe auferlegte. Mir wurde die Angelegenheit zu heiß. Ich wollte nichts mehr mit der Sache zu tun haben und sagte Ormond, dass ich kein weiteres Buch mehr für ihn holen werde. Dass ich nur noch wegen des Krauts bei ihm bin und ihn fortan mit Erz entlohnen werde. Aber er wollte lieber einen neuen Lakaien, der für ihn die Drecksarbeit erledigt.“
    „Mich“, brachte Fletcher hervor.
    „Du hast es erfasst. Und wie es das Schicksal so wollte, habe ich von deiner Ankunft am Turm Wind bekommen und euch beide beobachtet. Immerhin fürchtete ich, dass du so dumm sein könntest, auf seinen Deal einzugehen.“
    In Fletchers Schädel dröhnte es, als ob sich das Zahnrad eines Erzstampfers verklemmt hätte.
    „Aber woher wusste er, dass ich kommen würde?“
    „Das ist doch nun wirklich nicht so schwer oder mein Freund?“
    Plötzlich waren Schritte zu vernehmen und eine Fackel erhellte den Raum der Gefangenen. Ormond musste sie die ganze Zeit über belauscht haben. Nun stand er vor ihnen, in seinen langen Mantel gehüllt, dessen er sich ganz gemütlich entledigte. Darunter kam sein hagerer Körper zum Vorschein, der zur Gänze in Bandagen gehüllt war.
    „Du bist der Versengte?!“, stellte Fletcher mit Staunen fest. „Aber … dein Gesicht. Es ist unverletzt.“
    „Ich wollte ja auch nicht erkannt werden“, erwiderte Ormond mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen. Fletcher leckte sich über die Zähne. Der Typ hatte ihn nach Strich und Faden verarscht. Er wusste ganz genau, dass Fletcher nach der verlorenen Wette zu ihm kommen würde, wenn er ihn nur an seine Rätselleidenschaft erinnerte.
    „Und was habe ich dir getan, dass du mich hier gefangen hältst?“, blaffte Fletcher ihn an. „Ich habe dir doch dein verdammtes Buch besorgt. Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt, also halte dich gefälligst auch an deinen!“
    „Du meinst Tetriandoch, nicht wahr? Das Wort ist nichts Besonderes. Ich glaube, es gibt ein Kartenspiel, das so heißt und bei den Magiern sehr beliebt ist. Allerdings schreiben sie es auch auf persönliche Dokumente, wie zum Beispiel versiegelte Briefe, die uns die Magier aus der Außenwelt mitgeben.“
    „Was?“
    Ormond seufzte. „Diese ganzen Erklärungen langweilen mich. Als nächstes wollt ihr noch wissen, warum ich euch hier gefangen halte. Dabei wäre es am einfachsten, wenn ich es euch zeige. Ihr könnt doch beide lesen oder?“

    ***

    „Ruhig mein Großer, ganz ruhig!“
    Bloodwyn hatte sein Püppchen an die Leine genommen, das passte dem Bluthund überhaupt nicht. Er war eine wilde Bestie, ein zügelloses Monster, das Bloodwyn nur durch regelmäßige Fleischrationen ruhigstellen konnte. Doch sein Hunger war unersättlich und wann immer der Geruch von gebratenem Fleisch in der Luft lag, wurde er wild und randalierte, bis er etwas zwischen den Zähnen hatte.
    „Welcher Arsch hat hier überall Fleischklumpen verteilt?!“
    Bloodwyn und Damarok waren wie aus dem Nichts von Waranen und Feuerwaranen eingekesselt worden. Dabei war der Gardist nur seinem Püppchen gefolgt, das eine Spur von geräuchertem Fleisch verfolgte. Damarok war ebenfalls an ihrer Seite geblieben, unschlüssig darüber, ob er Fletcher allein verfolgen sollte. Es wäre wohl die richtige Entscheidung gewesen.
    „Hast du vielleicht noch etwas Hokuspokus auf Lager, mit dem du uns aus der Patsche helfen kannst?“, fragte Bloodwyn, während er sein Schwert zückte. Drei Warane und vier Feuerwarane. Er wollte sein Püppchen nicht von der Leine lassen. Die Bestien würden es bis auf die Knochen verbrennen. Nur über seine Leiche.
    „Es ist wirklich eine Schande, dass ich überhaupt zu diesen Mitteln greifen muss“, gab Damarok giftig zurück und ließ eine weitere magische Rune aus der weiten Tasche seiner Robe erscheinen. „Bleibt dicht bei mir. Diesen Zauber beherrsche ich noch nicht lange. Es handelt sich um eine der mächtigsten Waffen unseres Herren Innos‘. Nur die größten Magier der Geschichte haben ihn je gewirkt und ich werde bald zu ihnen gehören.“
    „Schwatz nicht! Der Atem dieser Mistviecher versengt mir schon die Augenbrauen!“
    „Hiermit bekämpfe ich Feuer mit Feuer!“, rief Damarok und breitete theatralisch die Arme aus. Zunächst schien gar nichts zu passieren und Bloodwyn wollte den Kerl schon am Schlafittchen packen. Doch war plötzlich ein Zischen im nassen Sand neben ihm zu vernehmen. Etwas schlug vom Himmel ein. Ein heißer Regen. Ein Feuerregen.
    Bloodwyns Püppchen bekam etwas von dem Zauber ab und riss sich von ihm los. Er konnte sie nicht mehr zurückhalten, als die Feuertropfen sich allmählich zu einem Sturzbach verwandelten. Das aggressive Zischen der Warane verebbte binnen von Sekunden. Als das Spektakel vorüber war, hatten die meisten Tiere das Weite gesucht. Einige lagen auch als verkohlte Reste vor ihnen. Bloodwyn hätte nie gedacht, dass die Magier derart mächtige Tricks auf Lager hatten. Doch darüber konnte er sich später noch Gedanken machen. Jetzt bereitete ihm eine ganz andere Sache Sorgen.
    „Püppchen!“, rief er, denn er konnte den Bluthund nirgends mehr erblicken. der Nebel hatte zwar etwas nachgelassen, trotzdem reichte sein Blickfeld nicht viel weiter als bis zum Waldrand und zum Nebelturm.
    „Ich schwöre dir bei Innos‘ Allerwertesten!“, knurrte Bloodwyn. „Wenn du meinem Liebling auch nur ein Haar gekrümmt hast, leg‘ ich dich um!“
    „Wie wäre es mal mit einem Dankeschön?“, erwiderte Damarok pampig. „Ich habe uns gerade das Leben gerettet. Deinem Hund geht es gut. Ich glaube, ich habe ihn dorthin rennen sehen.“
    Er zeigte in Richtung des Nebelturms. Bloodwyn machte sich sofort auf den Weg, der Magier folgte ihm hastig.
    „Wie kannst du vor diesem Versengten nur solche Angst haben?“, fragte der Gardist kopfschüttelnd. „Was sollte er dieser Magie entgegenzusetzen haben?“
    „Er hat sie schon einmal überlebt“, erklärte Damarok trocken, „wenn auch knapp. Ich habe ihn Innos‘ Feuer spüren lassen, doch er hat die Strafe überlebt.“
    „Also hast du ihn versengt?“, Bloodwyn musste fast schon grinsen. So gnadenlos hätte er die Magier gar nicht eingeschätzt. Aber die Barriere formte die Menschen in ihr, dem konnten sich auch die Heiligen nicht entziehen.
    „Was hat er dir denn angetan, um so eine Strafe zu erfahren?“
    Damarok winkte ab. „Er war einer der Boten aus der Außenwelt und trug eine wichtige Nachricht an mich heran. Doch er war so dreist gewesen, das Siegel zu brechen. Er hat die Nachricht selbst gelesen.“
    „War das denn so eine heiße Botschaft?“
    „Ja!“, rief Damarok innbrünstig. „Einer unserer Brüder aus der Außenwelt hat uns darin vor Chromanin gewarnt. Er hat sie als Ende der Magie bezeichnet. Uralte Schriften, die vor Generationen von einem Hexenjäger hier im Minental hinterlassen wurden.“
    „Ach daher weht der Wind“, leuchtete es Bloodwyn ein. „Du hast Angst, dass dieser Kerl euch Magier entmachtet.“
    „Nicht nur uns Magier! Sogar die magische Barriere könnte verschwinden, wenn er die Macht von Chromanin freisetzt.“
    Bloodwyn blieb stehen. Die Info musste er erst einmal sacken lassen, denn das erschien ihm einfach surreal.
    „Und das willst du verhindern?“, brachte er schließlich hervor.
    „Das wollen wir verhindern!“, sagte Damarok scharf. „Du hast ein genauso großes Interesse daran, die Machtgefüge dieses Mikrokosmos nicht zu gefährden. Denk mal darüber nach! Lebst du nicht wie die Made im Speck? Da draußen bist du nichts weiter als ein Bandit, der absolute Abschaum der Gesellschaft. Aber hier drin geht es dir fast schon königlich gut.“
    Bloodwyn schwieg. An den Worten des Magiers war schon etwas dran, auch wenn er ihm das nie unter die Nase reiben würde. Er musste darüber nachdenken. Und er musste sein Püppchen finden, das hatte für ihn im Moment die höchste Priorität. Doch Damarok hielt plötzlich inne.
    „Was ist los? Kannst du nicht mehr?“
    „Ich würde mir gern diesen Turm etwas genauer ansehen“, erwiderte der Magier nachdenklich. „Von ihm geht eine seltsame Aura aus.“
    „Mach, was du willst“, sagte Bloodwyn schulterzuckend und stapfte in Richtung des Waldrandes davon.

    ***

    Im Keller des Nebelturms hatte Ormond die letzten Vorbereitungen für das Chromanin-Ritual abgeschlossen. Endlich waren alle Bücher in seinem Besitz und er der Lösung des größten Rätsels seines Lebens zum Greifen nah. Der Eintrag des letzten Buches hatte ihn ausgerechnet hierher zurückgeführt, an den Nebelturm. Dorthin, wo seine Suche vor zwei Jahren ihren Anfang genommen hatte. Dies war der Ort, an dem er den geheimen Inhalt der Chromanin-Bücher aussprechen musste. Eine Botschaft, die in den kurzen Inhalten der Bücher chiffriert war. Nur er war in der Lage, diesen geheimen Spruch zu entschlüsseln. Er war in einer uralten Sprache geschrieben, die er vor seiner Zeit in der Barriere jahrelang studiert hatte. Wenn sein Leben irgendeinen Sinn haben sollte, dann würde er sich hier und heute erfüllen, wenn er das Rätsel des Chromanin endlich löste.

    „Aber warum bei Beliar brauchst du uns in deinem Ritual?“, rief Fletcher verärgert, während er von Ormond in den anderen Raum gebracht wurde. Es handelte sich um einen größeren Keller mit gemauerten Wänden, anders als der kavernenartige Bereich zuvor. Fünf Fackeln waren näherungsweise kreisförmig angeordnet und auf einem Tisch in der Mitte des Raumes lagen die fünf Chromanin-Bücher und einzelne Pergamentrollen.
    „Ich überlasse nichts dem Zufall. Ihr beiden werdet die Formel zuerst sprechen.“
    „Und wenn nicht?“
    Ormond verdrehte die Augen. „Was glaubst du?“
    Fletcher seufzte. „Ein schöner Freund bist du.“
    „Du wirst mir noch dankbar sein“, sagte Ormond mit einem stolzen Lächeln auf den Lippen. Dann drückte er Fletcher und Dexter jeweils eines der Pergamente in die Hand. Gardist und Schatten wechselten flüchtige Blicke, dann war schnell klar, dass Fletcher die Worte zuerst sprach. Er blickte über die Zeilen und kniff die Augen ungläubig zusammen.
    „Was soll das denn für ein Kauderwelsch sein? Rasea Ruhza Kharamod?“
    „Lies es einfach laut und langsam vor“, sagte Ormond ruhig und griff nach Fletchers Schwert. Wenn irgendetwas schiefging, musste er schnell eingreifen. Der Gardist schüttelte sich und las dann ab:

    „Rasea Ruhza Kharamod
    Haminte Tabin Zöme
    Khadimon Adanos
    Fivadriton Fatenkrehne
    Feremagia Misgarot
    Shatni Rhatatum Föhne“*

    Das Ritual war enttäuschend. Es tat sich überhaupt nichts.
    „Und?“, hakte Ormond nach. „Spürst du irgendwas?“
    Fletcher antwortete mit einem leichten Stöhnen: „Mein Kopf dröhnt. Ich weiß nicht …“
    Er ließ sich auf den Boden fallen und hielt sich die Schläfen.
    ‚Es klang auch nicht ganz richtig‘, dachte sich Ormond und winkte Dexter mit seinem Schwert heran. „Jetzt du, na los!“
    Der Schatten fügte sich ebenfalls seinem Schicksal, wenngleich sein Blick beständig an Fletcher klebte, der inzwischen ruhig in der Ecke des Raumes saß und nichts mehr von sich gab. Aber er atmete. Wie schlimm konnte es also sein?
    Dexter wiederholte die Worte und zuckte bei der letzten Silbe kurz zusammen.
    „Was war das?!“, wollte Ormond aufgeregt wissen. „Hast du einen Zauber auf dich gewirkt? Fühlst du dich mächtiger? Schlauer?“
    Dexter blickte ihm tief in die Augen. Seine Pupillen waren geweitet, er war etwas blass um die Nase, aber sonst sah er ganz normal aus.
    „Kennst du das, wenn man über einen Teppich läuft und dann jemand anderen berührt. Dieses leichte Knistern?“
    Das war doch lächerlich. Die beiden waren nicht bei der Sache. Ormond musste die Worte selbst aussprechen. Er war immerhin der Einzige, der die alte Sprache auch fehlerfrei aufsagen konnte. Da weder Fletcher, noch Dexter etwas geschehen war, würden ihn im schlimmsten Fall ebenfalls ein paar Kopfschmerzen erwarten. Und im besten Fall die Lösung dieses unerklärlichen Rätsels.
    Doch auch nachdem er die Worte gesprochen hatte, spürte er keinen merklichen Unterschied. Was hatte er nur falsch gemacht? Hatte er irgendeinen Teil aus den Büchern falsch übersetzt?

    Ein überraschter Schrei ließ ihn aufschrecken. Fletcher warf ihm sein Pergament zu, es hatte Feuer gefangen.
    „Bist du wahnsinnig geworden? Du kannst doch nicht einfach diese heiligen Worte verbrennen!“
    „Hab ich nicht, Mann. Das Pergament hat von selbst angefangen zu brennen. Das schwöre ich dir!“
    „M-meins auch“, meinte Dexter.
    Ormond blickte auf das Pergamentstück in seinen eigenen Händen und stellte mit Schrecken fest, dass es sich ebenfalls bereits in Staub verwandelt hatte. Wieso hatte er das nicht bemerkt? Als er dann ein Leuchten auf dem Tisch in der Mitte des Raumes wahrnahm, wollte er seinen Augen kaum trauen. Alle fünf Bücher von Chromanin brannten auf einmal lichterloh.
    ‚Wasser‘, schoss es Ormond instinktiv durch den Kopf. Er ließ alles stehen und liegen und schnappte sich das brennende Buch Nummer Fünf. Die Flammen waren kalt, sie sprangen nicht auf ihn über, er spürte sie nicht einmal. So etwas hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht erlebt. Instinktiv stürmte er mit dem Buch zur Falltür. Er musste an seine Regentonne gelangen. Ein nasses Buch war manchmal noch zu retten, ein Häufchen Asche nützte niemanden mehr.
    Als er den Nebelturm verließ, rannte er geradewegs dem Feuermagier Damarok in die Arme.

    ***

    „Ormond.“ Damarok taxierte den Mann, der aus dem Turm gehetzt kam, mit seinen Blicken und einem Donnern in der Stimme, das den Zorn der Götter zu transportieren schien. Der Angesprochene blieb wie angewurzelt stehen. Er hielt etwas in seinen Händen, das wie ein verbranntes Buch aussah. Mit dem nächsten Windhauch zerbröselte es in seinen Fingern.
    „Ist es das, was ich denke? Hast du tatsächlich Chromanin vollführt?!“
    Der Angesprochene schwieg, starrte auf seine leeren Finger hinab.
    „Ich … weiß es nicht.“
    Sein Blick wanderte gen Himmel. Das Schimmern der Barriere war so stark wie eh und je. Was auch immer geschehen war, das Gefüge der Macht schien nicht aus den Fugen geraten zu sein.
    Damarok aktivierte seine magische Rune des Feuerballs.
    „Das musst du nicht tun“, rief Ormond und riss abwehrend die Hände vor sich.
    „Es ist unabdinglich“, sagte der Magier mit einem leichten Lächeln der Genugtuung auf den Lippen. „Du hast nicht nur die Kirche Innos‘ bestohlen, sondern durch dein Handeln aktiv bestrebt, das Machtgefüge innerhalb der Kolonie zu stürzen. Es muss unserem heiligen Gott Innos zu verdanken sein, dass dein finsteres Treiben nicht von Erfolg gekrönt war. Sind alle Bücher von Chromanin verbrannt?“
    „Ja“, erwiderte er knapp.
    „Dann gibt es nur noch eins zu tun. Möge Innos‘ selbst deiner Seele gnädiger sein, als ich es bin, der in seinem Namen handelt und richtet.“
    „Bitte nicht!“
    Doch Damarok wirkte seinen Zauber und hüllte den Unglücksritter in eine tödliche Feuersäule. Ormond schrie panisch auf, seine Klamotten hatten Feuer gefangen. Sie lösten sich auf, erst die Kutte, dann die Verbände. Bald waren die grässlichen Brandwunden sichtbar, die Damarok ihm dereinst zugefügt hatte. Doch zu seinem großen Entsetzen ging der Kerl nicht zu Boden. Die Flammen schienen seinem Körper nicht zu schaden.
    „Wie kann das sein?!“, knurrte Damarok und suchte in seiner Tasche nach einer weiteren magischen Rune. Er entschied sich für einen Blitzzauber.
    „Das wird nicht funktionieren“, sagte Ormond, dem allmählich auch dämmerte, was Chromanin bewirkt hatte. Damarok ließ sich von seinem Geschwätz nicht verunsichern und beschwor mit den letzten Reserven magischer Energie in seinem Körper einen Blitz, der mit einem ohrenbetäubenden Knall in den Unglücksritter einschlug. Ormond wurde zu Boden geworfen, aber er rappelte sich binnen weniger Herzschläge wieder auf - unverwundbar.
    „Ich habe die ultimative Macht der Unsterblichkeit erlangt!“, brüllte Ormond triumphierend und lief nun ganz entspannt in den Turm zurück, um seinen Bogen zu nehmen. Damarok überkam eine Welle der Angst. Hatte er seine Macht verloren? Oder war Ormond tatsächlich mit Unsterblichkeit gesegnet? Und welche Folgen würde das für das Leben innerhalb der Kolonie haben? Der Magier verwarf diese Gedanken schnell, denn im Augenblick musste er sich eher über die Folgen für sein eigenes Leben Gedanken machen. Ormond hielt seinen Bogen gespannt und auf ihn gerichtet.
    „Ich habe das größte Rätsel der Welt gelöst“, sagte Ormond voller Stolz. „Jetzt kann ich meine neue Macht dazu benutzen, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen. Einem Ort, an dem die Götter und ihre Lakaien keine Macht mehr über den Menschen haben. Dafür muss ich mich als allererstes um euch widerliche Feuermagier kümmern. Jetzt sprich du dein letztes Gebet, Magier!“
    Damarok ging auf die Knie, schloss die Augen und führte die Hände zum Gebet. Sein Herr Innos war bei ihm. Er würde ihn nicht verlassen. Wenn seine Zeit gekommen war, würde er ihn an seinem heiligen Feuer aufnehmen.
    Er erwartete, wie ein Pfeil ihm durch die Brust gejagt wurde, doch stattdessen vernahm er nur ein schneidendes Geräusch, einen kurzen Aufschrei und schließlich einen dumpfen Aufschlag. Als er die Augen wieder öffnete, lag Ormond vor ihm, mit einem Schwert im Rücken. Über ihn beugte sich der gesuchte Verräter Fletcher.

    „Ist… ist er?“, stammelte Damarok.
    „Tot? Davon gehe ich aus“, Fletcher blickte auf seine blutige Klinge. „Es geht doch nichts über ein ordentliches Stück Stahl, um das Leben eines Verrückten zu beenden, nicht wahr?“
    Er blickte Damarok tief in die Augen.
    „Kann ich mich darauf verlassen, dass du nicht versuchst, mich zu verkokeln?“
    Der Magier nickte schwach.
    „Gut“, erwiderte Fletcher grinsend und wandte sich zum Turm um. „Du kannst rauskommen. Der Spuk ist vorbei.“
    Aus dem alten Gemäuer trat der Schatten Dexter.
    „Der junge Mann hier wird auch nicht angefasst, klar?“, orderte Fletcher an. „Wir waren beides Gefangene von Ormond. Dexter hat mir im letzten Moment die Fesseln abgenommen. Ohne seine geschickten Finger wärst du jetzt an seiner Stelle.“
    Er deutete auf den gefallenen Unglücksritter.

    Auch Bloodwyn und sein Püppchen trafen am Turm ein, angelockt von dem Blitzschlag und dem ganzen Geschrei. Bloodwyn war ziemlich enttäuscht darüber, dass er den aufregenden Teil mal wieder verpasst hatte, seine Laune blieb aber gut, denn er hatte seinen Bluthund wohlbehalten wiedergefunden.
    „Und wie verbleiben wir nun?“, wollte er von Damarok wissen, nachdem er über die Ereignisse der letzten Stunde in Kenntnis gesetzt worden war. „Kommen die beiden zurück ins Alte Lager?“
    Damarok nickte. „Sie haben dem Lager einen großen Dienst erwiesen, daher setze ich mich gern dafür ein, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen.“
    Nach diesen Worten kehrten die vier Männer und ihr Hund ins Alte Lager und in ihr altes Leben zurück.

    *Zwei Wochen später*

    Fletcher und Dexter hatten sich seit den verhängnisvollen Ereignissen am Nebelturm nun öfter getroffen, um über das Erlebte zu sprechen. Dabei berichteten sie einander von seltsamen Vorkommnissen oder gesundheitlichen Problemen, die sie seit dem eigenartigen Chromanin-Rituals beobachtet hatten. So war Dexters Handel mit Sumpfkraut zum Beispiel zum Erliegen gekommen, denn ihm fehlte einerseits ein Hehler, andererseits gelang es ihm auf Beliar komm raus nicht mehr, high zu werden, egal wieviel er rauchte. Ähnlich erging es Fletcher mit dem Alkohol. Zwar hatte er dem Saufen längst abgeschworen, doch er konnte ja schlecht einfach ein geschenktes Bier von Scatty ablehnen, ohne verdächtig zu wirken. Doch der Alkohol machte ihn seit diesem Tage einfach nicht mehr betrunken, was ihm stark missfiel.
    Irgendwann kam Fletcher auf eine verrückte Idee, einen Selbsttest sozusagen, den er aber nicht allein durchführen wollte. Daher ließ er seine Kontakte spielen und orderte an, dass Dexter und er bei der nächsten Karawane in die Alte Mine dabei waren. Als sie jedoch dort ankamen, packte sich Fletcher seinen neuen Kumpel und führte ihn mit sanfter Gewalt in Richtung des alten Passes nordwestlich der Mine. Und in jenem Moment, da sie aus der Sichtweite der anderen Gefangenen waren, nahm Fletcher sein Richtschwert zu Hilfe.

    „Würdest du mir bitte mal verraten, was der ganze Aufriss soll?“, schimpfte Dexter, während Fletcher ihn vor sich her scheuchte.
    „Ein kleines magisches Experiment, nichts weiter“, säuselte der Gardist. „Los, lauf! Oder ich mache dir Beine!“
    „Bist du jetzt völlig übergeschnappt? So wie Ormond?“
    Dexter blickte beunruhigt vor sich. Der Weg, den sie gingen, war von Knochen gepflastert. Sie hatten den Rand der Kolonie erreicht. Hier verendeten diejenigen, die sich dazu entschieden, ihrem Leben ein Ende machen zu wollen. Oder die Wahnsinnigen, die dachten, die Barriere könne sie nicht aufhalten.
    Dexter blieb stehen und schüttelte den Kopf. „Ich werde nicht weitergehen. Wenn du mich töten willst und noch einen Funken Ehre im Leib hast, dann lass es uns gefälligst als ein faires Duell austragen.
    „Ich will dich nicht töten“, sagte Fletcher und seufzte. „Ich will etwas testen. Ich will die Freiheit fühlen, nach der ich mich schon so lange sehne.“
    „Du willst dein Leben beenden und in die Barriere rennen?“, fragte Dexter entsetzt. „Von mir aus. Nur zu, aber lass mich da raus.“
    „In Ordnung. Aber wärst du wenigstens so freundlich, Scatty, Bloodwyn und den anderen von meinem Ableben zu berichten, wenn du wieder ins Lager gehst?“
    „Wenn’s sein muss.“
    Dexter wandte sich zum Gehen, doch Fletcher bat ihn noch diesen einen Augenblick zu bleiben. Dann fletschte er die Zähne und spazierte geradewegs auf den Rand der Barriere zu.

    Die Blitze trafen ihn nicht. Die Passage fühlte sich an, als würde er durch einen Wasserfall laufen. Er war immun. Magie und Sinnesflüche hatten keine Wirkung mehr auf ihn. Er war wie Ormond, er trug die Macht von Chromanin in sich. Und nach einem kurzen Augenblick des Zögerns folgte Dexter ihm. Ihren Weg in die Freiheit, in ein neues Leben außerhalb der Barriere würden die beiden Männer gemeinsam bestreiten.

    Ende


    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    * Danke an @KhorinisPictures, dessen Liedtext der Sprache der Erbauer ich für den Chromanin-Text verwenden durfte

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