Der Kopf des LOKI explodierte. Noch während der Visor seines mechanischen Partners auf Rot und damit auf „Angriff“ schaltete, nahm Narissa ihn ins Visier und drückte ab.
„
Zwei Mechs zerstört“, kam es über Funk.
„
Verstanden“, gab Seeva zurück und setzte ein „Weiter“ an die Gruppe in ihrem Rücken hinzu. Der Nachtzyklus Bekensteins, zumindest dieses Teils, würde noch ein paar Stunden anhalten. Seeva und ihr Team hatten sich im Schutz der Dunkelheit und ohne übertriebene Hast über die Strecke zum Fuß der Felsformation vorgetastet. Die Spectre erwartete Landminen, Stolperdraht, Warnsysteme, Kameras. Sie trafen auf nichts davon, die Erwartungshaltung war rein prophylaktischer Natur.
Der Eingang zum Tunnel war ein rechteckiges Maul aus goldenem Licht. Seeva zählte vier Mechs, jeweils zwei, die den Eingang flankierten und mindestens einen Wachmann. Das Tor, breit genug, um zwei Lkw nebeneinander passieren zu lassen, stand offen. Zweifellos zog Sinclaire bei all ihrer Vorsicht einen Überfall zu Fuß nicht in Betracht. Beim Annähern entdeckte Seeva einen zweiten Wachmann, der an einer Konsole sitzend arbeitete. Ein Scan Qatars zeigte zwei Kameras, die auf den Eingang gerichtet waren.
Das Losungswort hatte nur drei Buchstaben: EMP. Der Impuls setzte die Kameras und die Mechs lahm, ohne dass die Wachen etwas mitbekamen. Sie bemerkten den Angriff erst, als es zu spät war. Der Wachmann an der Patrouille wurde Opfer von Odessas Schießkünsten, der andere versuchte noch zum Alarm zu sprinten und fand sich auf Seeva zu schwebend wieder. Da der Kerl ein Salarianer war, hatten sie Testsubjekt Nummer eins gefunden. Er würde gefesselt und betäubt in einer Nische auf ihre Rückkehr warten müssen, um sich einem grausameren Schicksal als dem Tod durch Feuerwaffen stellen zu müssen. Der Kerl wäre nicht zu bedauern.
Van Zan zog die Leiche von der Konsole. Holos bespritzten nicht mit Blut, was das Arbeiten an dem Gerät erträglicher machte. Der Mann in Schwarz speiste den Hack des Priesters ins Sicherheitssystem der Villa, dann nickte er zum Zeichen des Erfolges.
Der erste Schritt war geglückt.
Das Angriffsteam, mit Ausnahme Odessas, versammelte sich zu einer sehr kurzen Lagebesprechung vor dem Lift. Zwei behelmte Suns, einer von ihnen mit der mächtigen Revenant auf dem Arm, wurden als Rückendeckung zurückgelassen. Der Rest stieg in den quadratischen Lift. Der Weg nach oben war ein endlos anmutendes schwarzes Loch, unterbrochen nur von gelbgoldenen Lichtstreifen alle zwanzig Meter.
„
Das war der leichte Teil“, sagte Seeva. Die Aussage stimmte nur bedingt und jeder wusste es. Die Tatsache, dass sie keinen Alarm ausgelöst und das System gehackt hatten, war ein immenser Vorteil.
„
Sie bleiben in unserer Nähe“, wandte sich die Spectre an
den Mann der STG, ein Salarianer mit feuerroter Haut. Er war nur leicht bewaffnet, trug Tornister,
SMG und eine Visorbrille die einen endlosen Strom an Daten vor seinen Augen abspielte. Bisher hatte er nicht viel gesagt, außer sich dem Team mit dem Namen „Dek“ vorzustellen. Jetzt nickte er und hob seine Maschinenpistole.
Eine gefüllte Unendlichkeit ging es nur aufwärts. Schließlich erreichte der Lift sein Ziel. Der Lagerraum war leer, abgesehen von einem einzelnen Mech, der die Waffe nicht einmal gezogen hatte, als ihn Qatar mit einem leisen Kampfschrei auf den Lippen überwältigte und den Visorschädel abriss. Die Halle hinter sich lassend, sammelte sich das Team an der Tür. Seeva sah sich um. Coltrane, eine alte, aber gut in Schuss gehaltene Vindicator mit dem unverkennbar blauen Leuchten der Disruptor-Munition an der Seite, in den Händen wiegend, Angel und die anderen Suns trugen Helme. Auch Qatar trug einen Helm. Seeva und van Zan zogen wie vereinbart Kampf-Visor auf, dann betätigte der Mensch zwei Schalter und die ganze Villa lag mit einem Schlag in Finsternis.
Seeva spürte die Furcht der Wachen. Ein plötzlicher Stromausfall war auf dem Luxusplaneten Bekenstein sehr unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Die Wachen wären in erhöhter Alarmbereitschaft, das wusste sie. Auf die eigenen Geräusche achtend rückte das Team vor. Auf dem Flug nach Bekenstein hatte jeder die Grundrisse der Villa studiert und sich möglichst genau eingeprägt. Seeva hatte im Vorfeld einen Nav-Punkt gesetzt, sodass das digitale HUD des Angriffsteams eine ungefähre Richtung vorgab.
In Seevas Brust schlugen zwei Herzen. Das eine liebte die Aufregung, wie immer, wenn ein Kampf bevorstand. Das andere mahnte zur Vorsicht – und zur Scheu. Trotz all ihrer Bemühungen konnte sie das Anliegen des Doktors nicht aus ihren Gedanken verdrängen. Es erschien ihr falsch. Sie hatte in ihrem Leben viele falsche oder zumindest fragwürdige Entscheidungen getroffen, aber noch nie Individuen einer Qual ausgesetzt, einem experimentellen Gift. Der Doktor hätte ein sadistisches Vergnügen dabei, das wusste sie. In einer ideal geordneten Galaxie wäre der Arzt längst an einer akuten Blutarmut durch Schrotflinte verendet. Aber Vhan spielte mit allem, was er auf der Hand hatte und Seeva wusste, dass verzweifelte Zeiten verzweifelte Maßnahmen billigten. Sie war ein Spectre. Und Spectre versagten nicht oder starben bei dem Versuch.
Es war fast schon zu leicht. Sinclaire war beim Stromausfall aus ihrem vierstündigen Schlaf geweckt worden, den sie sich zweimal am Tag gönnte. Die mit Taschenlampen bewährten Wachen hatten ihr davon berichtet und Sicherheitsmaßnahme vorgeschlagen, Sinclaire hatte nur müde und missgelaunt abgewinkt und auf ihren kroganischen Leibwächter verwiesen. Das Team umging zwei Mechs und drei Wachen, dann war es schon in dem Flur, an dessen Ende die Millionenerbin schlief.
„
Position halten“, befahl Seeva. „
Meldung machen, wenn Sie jemanden sehen. Mister van Zan, haben Sie das Mittel des Docs noch? Gut. Folgen Sie mir.“
Im Schlafzimmer war kein Kroganer. Sinclaire schlief. Seevas Visor ermittelte, dass die Frau in Anbetracht ihrer Atmung und des Herzschlags gerade auf eine REM-Phase zudämmerte. Die Asari legte leise ihre Schrotflinte ab und zog die Phalanx-Pistole. Sie ließ sich auf das Bett nieder, rückte zu der schlafenden Frau und drückte ihr den Lauf der Waffe gegen das Kinn. Im Licht ihres Visors sah sie eine blaue Iris aufflackern und eine sich vor Schreck rasch weitende schwarze Pupille.
„
Sshht“, bildeten Seevas Lippen. „
Nicht schreien. Keine hektischen Bewegungen. Nicken Sie, wenn Sie verstanden haben.“ Sie spürte einen Widerstand, der gegen den kalten Lauf der Phalanx drückte. Das genügte. „
Was…“
„
Sht!“, zischte die Spectre. Sie wandte sich um. Die Tür zum Flur war geschlossen, van Zan fingerte an der Injektion. Sinclaire sah – oder erahnte – die Nadel und begann unwillkürlich zu zittern. Ein Schwall allzu menschlichen Mitleids erfasste Seeva angesichts der Furcht in ihrem Gesicht.
„Was wollen Sie? Geld? Egal, wie viel man Ihnen zahlt, ich biete mehr“, flüsterte Sinclaire mit bebender Stimme. Seevas Herz erkaltete. Sie war das, was sie war: eine reiche Frau, die meinte mit Geld die Regeln der Galaxie umgestalten zu können. Ein williger Verbündeter des Terroristen Decius Vhan.
„
Wenn ich Geld wollte, würde ich eine Volus-Bank ausrauben“, sagte die Asari. Ihr Kopf und der Lauf der Waffe, schüttelten verneinend. „
Ich will Sie, Miss Sinclaire. Sie und Ihren Bündnispartner.“
„
Was? Ich verstehe nicht…“ Die Frau setzte sich im Bett auf. Es war weich, die Decke wie ein warmes Meer aus dunklem Stoff. Seevas Waffe drückte, zwang sie in die hohen Kissen in ihrem Rücken.
„
Vhan. Decius Vhan.“
„
Der Turianer?“
„
Genau der.“
„
Was ist mit…? Ich verstehe nicht, was soll ich mit Vhan zu tun haben?“
„
Verkaufen Sie mich nicht für dumm, Miss Sinclaire. Die STG hat Sie und Vhan in Verbindung gebracht.“
„Die Special Task Group der Salarianer? Aber… Miss… Sie müssen sich irren.” Ihr Blick fiel an der Asari vorbei, worauf sie den Kopf schüttelte. Das lange Haar strich über Seevas Handschuh und die Waffe. Als die Spectre sich umsah, erblickte sie neben van Zan den Salarianer.
„
Was soll das?“, fauchte sie. Sein Kopf leuchtete, viel eher sein Visor.
„
Ich gehe sicher, dass der Auftrag korrekt ausgeführt wird“, meldete der Agent.
„
Nein“, sagte Sinclaire.
„
Was?“, sagte Seeva.
„
Töten Sie sie nicht, Commander?“, fragte der Salarianer.
„
Wir brauchen Sie lebendig. Van Zan…“
Seeva hielt Sinclaire in einem Griff aus Stahl, während der Mensch ihr die Nadel in den Unterarm stieß und das Serum injizierte. Sinclaires Widerstand erlahmte, dann war er gebrochen. Die Menschenfrau, in kaum mehr als einem Nachthemd bekleidet, hinter sich öffnete Seeva die Tür.
„Abzug“ – bedeutete das Zeichen, dass sie gab. Sinclaire wurde in eine Decke gewickelt. „Tot nützt sie uns nichts“, sagte Seeva im Hinblick auf die nächtliche Kälte. Charis Vale bekam den Befehl, ihr Schiff auf eine baldige Abreise vorzubereiten. Die Operation lief wie gut.
Zu gut.
Der Kroganer tauchte kurz nach den ersten Salven auf. Irgendjemand feuerte, jemand schoss zurück.
„
Was zum…“, sagte Seeva. Sie schaute sich um. „
Wer schießt da?“ Die Antwort kam in Form eines Kroganers mit Schrotflinte, der den Eingang dichtmachte.
„Lassen Sie die Frau gehen!“, brüllte er und jagte eine Salve dreieckiger Geschosse in den Gang.
„
Dafür haben wir keine Zeit“, entschied Seeva. „
Qatar, machen Sie ihn platt!“
„Zu Befehl“, knurrte der Turianer. Er schien froh zu sein, etwas anderes als seine Gedanken zu bekämpfen. Seeva entschied nach dieser Mission ein Wort mit ihm sprechen zu müssen. Der Turianer rannte voran, bedeckte den Kroganer mit dem Feuer seiner Phaeston. „Freies Feuer“, gab Seeva ans Team durch. Sie selbst hielt sich zurück. Erst in dem Moment, in dem die Schilde des Kroganers mit einem gläsernen Knirschen brachen, sammelte Seeva das Maximum ihrer Biotik in ihrer Faust, erfasste den Kroganer wie den Salarianer zuvor und schleuderte ihn im nächsten Moment mit der Kraft einer Ramme fort, fort gegen eine Scheibe, die brach und über den Rand des Felsens. Der Kroganer würde eine halbe Minute fallen, ehe er knochenbrechend sterben würde.
Magazine wurden klackernd ausgetauscht, der Status der Schilde geprüft.
„
Wer hat den Kampf eröffnet?“, bellte Seeva. Keiner meldete sich. Wütend schüttelte sie den Kopf. „
Coltrane, schnappen Sie sich Sinclaire.“ Der Mann gehorchte und warf die willenlose Frau wie einen Sack über die Schultern.
„
Van Zan, sichern Sie den Zugang zum Aufzug. Angel, den Flur absichern. Ladungen platzieren. Qatar und der Rest: zu mir.“ Jetzt galt es, hier heil rauszukommen. „
Wo ist der verfluchte Salarianer?“