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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Post [Story]Peripetie

    Xardas saß in seinem fliederfarbenen Sessel am Kamin und starrte gedankenverloren in die prasselnden Flammen. Hinter ihm glänzte das Pentagramm vor frischem Blut. Seit Jahrzehnten hatte niemand in diesem seiner Türme gewohnt. Der große Stern auf dem Boden war kaum noch zu erkennen, doch auf den Spitzen seiner Zacken waren nun sogar wieder Kerzen aufgestellt, die in dem nur durch das Kaminfeuer beschienen Turmzimmer lange Schatten warfen.
    Er hatte eher mit dem Mann gerechnet, doch er war keineswegs überrascht, als die in einen Reiseumhang gehüllte Gestalt die Wendeltreppe hinaufkam und in einigen Schritten Abstand zu seinem Sessel stehenblieb. Xardas war neugierig auf das so bekannte Gesicht, nach so langer Zeit. Doch er ließ seine trüben Augen weiter auf dem Kamin ruhen.
    Der Mann warf seine Kapuze zurück. Seine Haare waren ergraut, doch immer noch dicht und im Nacken zu einem Zopf gebunden. Die Mundwinkel zeichneten sich schärfer ab und sein Hals war hagerer geworden, doch die Augen strahlten immer noch dieselbe unbändige Entschlossenheit aus wie eh und je, obwohl eines von ihnen gänzlich schwarz geworden war und von einer furchterregenden Tätowierung eingerahmt wurde.
    „Nach so langer Zeit sehen wir uns also endlich wieder“, sagte Xardas. „Die Jahre sind nicht spurlos an dir vorübergegangen.“
    „An dir auch nicht“, entgegnete der beinahe Fremde. „Ich hatte nicht erwartet, dass auch du dich so verändert haben würdest, Xardas. Schließlich warst du schon bei unserer ersten Begegnung alt.“
    Xardas schmunzelte, widersprach aber nicht. Der Neuankömmling ließ seinen Reiseumhang achtlos zu Boden gleiten und sich selbst in den noch freien der beiden Sessel am Feuer sinken. „Du weißt also, wer ich bin? Ich war mir nicht sicher, ob du mich noch erkennen würdest. Seither ist viel passiert.“
    „Ich könnte wie schon damals antworten: Mich interessiert nicht, wer du bist. Doch das wäre dann wohl gelogen“, sagte Xardas ruhig und schmunzelte wieder. „Nachdem du den Thron nur wenige Monate nach deiner Krönung geräumt hast, wurde es still um dich. Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest. Manche haben behauptet, dass der Entscheider tot ist.“
    „Dasselbe sagt man über dich. Sogar um einiges vehementer als über mich, möchte ich meinen“, entgegnete er mit einer Spur Gelassenheit, doch dann wurde er plötzlich ernst. „Ich habe die letzten Jahre auf dem Östlichen Archipel verbracht. Dort gab es fast noch heftigere Probleme als damals auf dem Kontinent. Der Orden von Schahu, die Artefakte von Andrum. Der Bürgerkrieg in Var Tramp, die Paradoxie auf Ululi. Ich hatte keine ruhige Minute.“
    „Und doch hast du die Zeit gefunden, auf das gute, alte Khorinis zurückzukehren.“
    „Nachdem ich die Bewohner von Ululi gerettet hatte, gewährten mir die Seher von Skallgjard eine Prophezeiung.“
    „Und sie offenbarte dir, was auch mich hierher zurückbrachte? Dann muss ich meine Meinung über die Seher des Östlichen Archipels wohl revidieren. Ich hielt sie für ausgemachte Scharlatane.“
    „Das heißt, es ist wahr? Der Schläfer kehrt zurück?“ Ein Scheit im Feuer knackte leise, doch in der Stille klang es geradezu laut.
    Xardas legte den Kopf leicht schief. Die aufzüngelnden Flammen spiegelten sich in seinen Augen. „Ja. Und nein.“
    „Was soll das heißen?“, hakte der Entscheider barsch nach. „Ich bin nicht hier, um Spielchen zu spielen, Xardas. Wenn der Schläfer zurückzukehren droht, muss ich mich sofort auf den Weg machen!“
    Xardas sprach langsam, als würde er über die Bedeutung jedes einzelnen Wortes nachdenken. „Du magst es immer noch als deine Bestimmung ansehen, die Welt zu retten, egal wie oft sie sich auch an den Rande der Zerstörung begibt. Doch vielleicht ist es für dich an der Zeit, der jüngeren Generation Platz zu machen. So wie auch für mich.“
    Der Verbanner des Schläfers schwieg. Er war ungeduldig, schien jedoch zu wissen, dass er die Antworten auf seine Fragen nicht schneller erhalten würde, wenn er Xardas noch einmal anfuhr.
    „Es stimmt, der Schläfer hat neue Anhänger auf dem Morgrad gefunden und die machten sich sogleich daran, ihm ein neues Portal zu öffnen. Wir sollten ihn vielleicht nicht einmal mehr Schläfer nennen, denn seit dem Tag, an dem du ihm gegenüber standest, ist er hellwach und von loderndem Zorn erfüllt. Seit jenem Tag hockt er in seiner Dimension und lauert auf eine Gelegenheit zur Vergeltung. Diese Gelegenheit schien sich ihm nun endlich zu bieten, doch er wurde aufgehalten und das Portal zerstört. Ohne mein Zutun. Und ohne deines. Auf Khorinis sind Menschen herangewachsen, die weitaus jünger sind als wir, und doch in der Lage sind, unsere Last zu schultern. Sie leben in einer gänzlich anderen Welt und doch hatten sie dem Schläfer etwas entgegenzusetzen.“
    Der Entscheider verspannte sich kurz in seinem Sessel. Xardas meinte zu wissen, was in ihm vorging. „Was weißt du noch darüber? Wie wurde er aufgehalten?“
    „Ich kann dir die ganze Geschichte erzählen, wenn du möchtest. Es könnte allerdings ein Weilchen dauern.“
    „Ich habe Zeit. Das Östliche Archipel kommt eine Weile ohne mich aus und die Nacht ist noch jung.“
    „Nun denn. Dann spitze deine Ohren und höre die Geschichte von Frerk, dem Sohn eines alten Bekannten von dir.“

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    „Mama, das kann ich auch selbst“, murrte Frerk und versuchte seine Mutter mit sanfter Gewalt von sich wegzuschieben.
    „Das weiß ich doch, mein Großer“, trällerte sie und fuhr fort, an seiner Fliege herumzuzupfen. Paradoxerweise fühlte er sich immer wie ein kleiner Junge, wenn sie ihn Großer nannte. „Sie ist immer noch nicht richtig gerade, aber das haben wir gleich. Du musst ja auch schick aussehen heute Abend!“ Frerk gab seine ohnehin fruchtlosen Versuche auf, sie sich vom Hals zu halten, und hielt still, damit es schnell vorüber war. Er versuchte nicht in den hohen Spiegel oder auf seine Mutter zu sehen, und so fiel sein Blick aus dem Fenster, wo sich rote Wolkenschlieren über den Himmel zogen. Seine Laune besserte sich, als er daran dachte, wohin er gleich aufbrechen würde.
    „Na, du siehst ja aus wie ein richtiger Gentleman!“, dröhnte sein Vater, als er auch noch ins elterliche Schlafzimmer kam, in dem Frerk sich wegen des großen Spiegels angekleidet hatte.
    „Ein Gentleman würde wohl kaum mit schiefer Fliege herumlaufen“, fuhr seine Mutter ihm über den Mund.
    „Ach, Sia, hab dich doch nicht so“, tat Ruga mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Als ich in seinem Alter war, hatte ich nichts anderes als mein Kettenhemd und den Milizenrock.“
    „Was wohl auch der Grund dafür ist, dass du in seinem Alter keine Frau ins Ritz ausgeführt hast“, konterte Sia und warf ihrem Mann ein verschmitztes Lächeln zu.
    „Ne, das lag eher daran, dass es damals noch gar kein Ritz gab, wie du jawohl sehr genau weißt.“ Ruga vergrub seine Hände in den Taschen und reckte sich ein wenig, so wie immer, wenn er von seiner Frau aufgezogen wurde.
    Sia warf ihm einen glühenden Blick zu. Gerade als Frerk glaubte, die Pheromone riechen zu können, ließ seine Mutter endlich von ihm ab. „So, jetzt ist sie schön gerade.“
    Frerk warf einen betont beiläufigen Blick in den Spiegel. Für sein Dafürhalten saß die Fliege genau wie zuvor, doch von dem Gesamtbild war er gelinde beeindruckt. Er hatte nicht daran geglaubt, doch er kam sich tatsächlich etwas stattlicher vor. Seine Schultern wirkten nicht mehr ganz so schmal, seine Statur insgesamt nicht mehr so schlaksig. Als ihm bewusst wurde, dass seine Finger an den Fransen in seiner Stirn herumzupften, ließ er es sofort wieder bleiben.
    „Laura wird begeistert sein“, flötete seine Mutter und kicherte ungewohnt mädchenhaft.
    Sein Vater drosch ihm auf den Rücken, dass er fast mit dem Gesicht gegen den Spiegel gestolpert wäre. „Das ist mein Junge! Sechzehn und schon so ein drahtiger Kerl!“
    „Ruga!“, peitschte Sias Stimme durch den Raum. „Frerk ist siebzehn!“
    „Was? Schon?“
    Frerk nutzte den Moment, in dem seine Mutter ganz von seinem verdutzt blinzelnden Vater eingenommen wurde, um dem elterlichen Schlafzimmer zu entkommen und die Treppe in den Wohnraum hinab zu poltern.
    „Sehr galant, wie du so über die Dielen trampelst.“ Seine Schwester hing kopfüber im Sessel und beäugte ihn grinsend. Ihr Hemd war ihr bis über den Bauchnabel hinabgerutscht.
    „Vielen Dank, Edna. Ich werd mich bemühen, auf den Stufen vor dem Restaurant besonders laut zu stampfen“, gab Frerk zurück und bewarf sie mit einem Ersatzknopf, den er gerade in seiner Jackettasche gefunden hatte. „Außerdem glaube ich nicht, dass es sich für eine Dame gehört, so abzuhängen.“
    „So ist es aber nunmal bequemer. Wenn Damen unbequem sitzen müssen, will ich keine sein.“ Edna klaubte den Knopf von ihren Brüsten und warf ihn zurück, traf aber nicht.
    Frerk schüttelte amüsiert den Kopf. „Kaum zu glauben, dass du älter bist als ich. Als jüngere Schwester würdest du dich deutlich besser machen.“
    „Willst du mich babysitten oder was? Ich glaube ja, dass ich dir als ältere Schwester viel nützlicher bin.“
    „Wozu soll ich denn deine Hilfe brauchen? Ich hab doch meine Lehre bei Bosper, ich steh auf eigenen Beinen.“
    „Hm“, machte Edna und lächelte verschlagen. „Nach eurem kleinen Dinner wirst du dir noch wünschen, du hättest die Gelegenheit genutzt.“
    Frerk konnte sich plötzlich nicht mehr auf die Schnürsenkel seiner neuen Stiefel konzentrieren. „Wie meinst du denn das?“
    Ednas Grinsen wurde breiter, sodass er seine Nachfrage sofort bereute. „Frauen haben Geheimnisse von denen du nicht die geringste Ahnung hast, Brüderchen.“
    „Das hast du mir schon vor Jahren erzählt, wolltest aber eigentlich nur, dass ich dir mein ganzes Taschengeld gebe, damit du es mir verrätst“, entgegnete Frerk und widmete sich wieder seinen Schnürbändern.
    „Dass du immer noch so im Sessel hängst, Liebes.“ Sia kam die Treppe herunter und Frerk fiel unangenehm auf, wie viel leiser ihre Schritte auf dem knarzenden Holz waren. „Ich hätte gedacht, dass würde sich erledigen, sobald dir deine Brüste ins Gesicht hängen.“
    „So groß sind sie ja leider nicht geworden“, schmollte Edna und schwang sich in eine aufrechte Position.
    „Ich geh dann jetzt“, sagte Frerk und öffnete die Haustür.
    „Ich wünsch dir ganz viel Spaß, mein Schatz!“, rief Sia und winkte ihm vom Sofa her zu.
    „Zeig ihr nicht, dass du isst wie ein Lurker mit halbseitiger Gesichtslähmung!“, riet Edna ihm und streckte ihre Zunge heraus. Hätte er noch einen Ersatzknopf gehabt, er hätte ihn in ihrem Rachen versenkt.
    Doch da es nun wirklich Zeit wurde, ließ er sich zu keinem weiteren Kommentar herab, trat auf die Straße und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
    Während er die schmale Gasse entlang schlenderte, in der seine Eltern ihr Haus gebaut hatten, wusste er nicht wohin mit seinen Händen. Für gewöhnlich steckte er sie einfach in die Taschen seiner Hose, doch um an die Taschen seiner Hose heranzukommen, hätte er das Jacket raffen müssen, was einerseits furchtbar ausgesehen und andererseits Falten auf dem jungfräulichen Stoff hinterlassen hätte.
    Er war seinen Eltern sehr dankbar, dass sie ihm zu seinem letzten Geburtstag diesen Anzug geschenkt hatten. Mit Wohlwollen beobachteten sie, wie er und Laura sich in den letzten Monaten immer näher gekommen waren, seitdem sie einmal bei Bosper gewesen war, um über den Preis für den neuen Tresen zu verhandeln. Der Alte war zwar schon lange morsch gewesen, doch Bosper hatte stets beteuert, dass die Einrichtung seiner Bognerei noch aus altem Holz geschnitzt sei und selbst seine Enkel überdauern würde. Mit ersterem hatte er recht behalten, letzteres hatte sich eines Morgens als Unwahrheit entpuppt, als er fünf erstklassige Schattenläuferfelle vor dem interessierten Regis auf den Tresen hievte und dieser einfach unter dem Gewicht zusammenbrach. Thorben und Bosper waren schon so lange Nachbarn in der Handwerkergasse, dass sie wie Brüder füreinander waren, doch als er Frerk rüberschickte, um einen neuen Tresen zu bestellen, hatte nicht Thorben sondern seine Tochter sie tags darauf aufgesucht. Damals hatte Frerk gedacht, dass Thorben sich vor den Verhandlungen drückte, weil er fürchtete, seinem alten Kumpel gegenüber zu Nachsicht zu neigen, und er Bosper bei einer jungen Dame spendabler einschätzte als bei einem alten Freund. Doch heute wusste Frerk es besser. Thorben war ein Mann, der mit seiner Schreinerei sehr wohlhabend hätte werden können. Doch gottesfürchtig wie er war und dem Gedanken der Nächstenliebe verpflichtet, hatte er seine Preise stets so niedrig wie möglich gehalten, und wahrscheinlich raubte es ihm nachts den Schlaf, wie viel Gold Laura seinem Freund abgeschwatzt hatte. In Wahrheit, da war er sich heute sicher, hatte Laura selbst entschieden, diesen Auftrag zu übernehmen. Weil sie genau wusste, dass ihr Vater den Tresen für einen Apfel und Ei, oder sogar umsonst versprochen hätte. Sie schätzte die Götter nicht weniger als ihr Vater, doch sie hatte gelernt, Gottesfürchtigkeit von blindem Gehorsam, Nächstenliebe von Altruismus zu unterscheiden. Und vielleicht, so hoffte er manchmal, hatte sie auch wegen ihm die Gelegenheit nutzen wollen, den sonst von Frauen so gering frequentierten Jagdgewerbeladen zu betreten. Er hatte ihr dann ja auch tatsächlich beim Vermessen geholfen und ihr süßes Parfüm noch Tage später in seiner Kleidung gerochen.
    Die Gasse mündete nahe der alten Stadtmauer in die Hauptstraße. Frerk überquerte die Zugbrücke, die seit er denken konnte immer heruntergelassen war. Das schwere Holz musste noch älter sein als Bospers einstiger Tresen, dachte er nicht zum ersten Mal beklommen.
    Dahinter begann der Marktplatz und die Häuser wurden älter, aber nicht heruntergekommener. Innerhalb der alten Stadtmauern wohnte nur, wer schon vor dem Krieg auf Khorinis gelebt hatte. Und die Geschäfte, die selbst den kargen Zeiten des Krieges getrotzt hatten, waren nach seinem Ende erst richtig aufgeblüht. Genau wie Khorinis selbst. Schnell war in der Stadt nicht mehr genug Platz für all die Menschen, die hier ihr Glück versuchen wollten. Und da in Zeiten des Friedens niemand den Schutz einer Mauer brauchte und die Orks dieses Mal vernichtend geschlagen schienen, dauerte es nicht lange, bis sich vor den Stadtmauern neue Viertel bildeten. Auch sein Vater hatte diese Gelegenheit genutzt, seine kleine Dachgeschosswohnung gegen ein passables Eigenheim einzutauschen.
    Laura jedoch lebte unverheiratet wie sie war, noch bei ihrem Vater am Eingang der Handwerkergasse, wo Frerk nun voll Vorfreude an die Tür klopfte. Es dauerte nur wenige Augenblicke, da wurde die Tür auch schon aufgerissen.
    „Ach, Ihr seid es, Frerk!“, jauchzte die füllige Merle und schüttelte seine Hand, oder vielmehr seinen ganzen Arm. „Nur herein, nur herein! Laura ist gewiss jeden Moment fertig! Ihre Haare sind heute mal wieder... Na, Ihr wisst ja.“ Sie lachte glockenhell, während sie für Frerk einen Stuhl zurückzog, auf den er sich dankend setzte, und ihm eine Tasse stark dampfenden Tee eingoss.
    „Ich war ja ganz von den Socken, als Laura mir von Ihrer Aufwartung berichtet hat! Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass unsere Laura mal in solch ein nobles Etablissement ausgeführt wird. Ich lieg meinem Mann schon seit Jahren in den Ohren, dass ich auch mal ins Ritz möchte, aber wisst Ihr, was er mir immer antwortet? Dass wir es uns nicht leisten können.“
    „Nun ja, Meister Thorben ist für seine günstige und trotzdem gute Arbeit bekannt. In dieser Stadt wird niemand etwas anderes behaupten, als dass er seinen Kunden nur das nötigste abverlangt“, bemühte sich Frerk den Schreinermeister in Schutz zu nehmen. Nicht im Traum wäre er, der Lehrling, auf die Idee gekommen, ihn, den Handwerksmeister, mit der Einladung seiner Tochter in solch eine Verlegenheit zu bringen.
    „Und dafür liebe ich ihn!“, erwiderte Merle und legte beide Hände an ihre rosigen Wangen, um ein weiteres Mal zu lachen.
    Frerk hatte gerade entschieden, dass er nun einen Schluck von dem immer noch recht heißen Tee riskieren konnte, als er Schritte auf der Treppe hörte, die in diesem Haushalt natürlich nicht das geringste Knarzen von sich gab.
    Hastig stellte er die kostbare Porzellantasse wieder auf ihren Untersetzer, erhob sich, stieß gegen den Tisch, hätte den Stuhl fast umgestoßen, und manövrierte sich letztendlich doch noch rechtzeitig aus seiner eingeengten Lage, um Laura die letzten Stufen der Treppe herunterkommen zu sehen.
    Frerk hoffte, dass er nicht allzu blöde grinste, als er spürte, wie sich seine Mundwinkel hoben, doch er konnte einfach nicht anders. Ihr kirschholzfarbenes Haar hatte sie zu einem eleganten Knoten aufgesteckt, aus dem einzelne Strähnen in Ringeln bis auf die Schultern ihres Kleids aus smaragdfarbenem Samt fielen. Über der Taille war der Stoff eher schlicht gehalten, doch in etwa auf Hüfthöhe waren gewagte Falten eingenäht, die um die Beine für einen aufsehenerregenden Schwung sorgten. Der Saum endete eine Hand breit über dem Boden und verbarg die farblich zum Kleid passenden Schuhe, auf die er nur auf der Treppe einen kurzen Blick hatte erhaschen können. Und als sie nun direkt vor ihm stand und ihre dunklen Augen hob, sah er in ihnen ein wenig von der Nervosität, die er selbst so stark verspürte. Sein Magen schlingerte, als auch ihre Lippen sich zu einem strahlenden Lächeln formten.
    „Entschuldige die Verspätung. Ich wollte dich nicht warten lassen.“
    „Ach, kein Ding“, antwortete Frerk buttrig, für einen Moment zu betört, um sich an seine gute Stube zu erinnern.
    „Wir müssen los, oder?“, fragte sie nach Sekunden, in denen sie sich gegenseitig so unauffällig wie möglich gemustert hatten. „Ich habe gehört, dass sie die Reservierungen sofort aufheben, wenn man nicht pünktlich ist.“
    „Das sollten wir nicht riskieren“, stimmte er ihr zu und konnte immer noch nicht die Augen von ihr lassen. Er trat etwas ungelenk zur Seite und bot ihr den Vortritt an.
    Doch ihre Mutter versperrte ihr noch den Weg. „Ich freu mich ja so für dich! Du musst mir nachher unbedingt erzählen, wie alles war. Ich wär ja so gern an deiner Stelle.“ Sie seufzte markerweichend.
    Frerk wurde etwas unbehaglich, da er sich nicht sicher war, ob sie von dem Essen oder ihm sprach. Doch dann standen sie auch schon auf der Straße. Er bot Laura seinen Arm an und sie hakte sich vorsichtig ein. Die Luft schien Frerk viel wärmer als noch zuvor und plötzlich hatte er das Gefühl von allen angestarrt zu werden. Dass Laura sich so herausputzen würde, hatte er gar nicht erwartet, schließlich war sie sonst eher praktisch veranlagt. Das brachte es wohl mit sich, eine der ersten Handwerkerinnen auf einer Insel zu sein, die erst seit wenigen Jahren überhaupt gestattete, dass Frauen einem Handwerk nachgingen, und in der die Veteranen immer noch über jedes Weib tuschelten, dass es wagte, Hand an Hammer oder Bogen zu legen.
    „Glaubst du, man wird uns ansehen, dass wir nicht aus dem Oberen Viertel kommen?“, fragte Laura ihn mit leiser Sorge in der Stimme.
    „Ich weiß es nicht“, gab er offen zu. „Ich bin nur selten im Oberen Viertel, aber selbst wenn es alle sofort sehen, schäme ich mich nicht dafür. Dein Vater und mein Lehrmeister sind angesehene Leute und die wenigsten Bewohner des Oberen Viertels wissen ihre Arbeit nicht zu schätzen. Und außerdem siehst du in deinem Kleid so hinreißend aus, dass ich dich auch am Königshof herumführen würde.“ Ihm wurde sehr heiß, hatte er ihr doch nur ein dezentes Kompliment machen wollen.
    Es war bestimmt viel zu schmalzig herübergekommen, doch ehe er es irgendwie relativieren konnte, sagte Laura: „Das ist nett, dass du das sagst.“ Und wandte den Kopf ab. Wollte sie etwa Röte vor ihm verbergen?
    Als sie die Stufen zum Oberen Viertel erreichten, verlangsamte Frerk seinen Schritt aus Rücksicht auf Lauras Absätze, doch schon im nächsten Moment war sie ihm eine Nasenlänge voraus. Sie schien keine von den Frauen zu sein, die sich mehr Absatz zutrauten als sie sollten. Die beiden Wachmänner, die an einem kleinen Tisch im Schatten des Torbogens der inneren Stadtmauer Karten spielten, sahen nur kurz auf, als sie die letzte Stufe erklommen hatten.
    Nun lag das Obere Viertel in all seiner Pracht vor ihnen. Die hohen Fachwerkhäuser wirkten hier viel kleiner als sie es in den dicht gedrängten Straßen der Unterstadt getan hätten, denn zwischen ihnen gab es einen großen freien Platz, der nur von einem Springbrunnen und einem altehrwürdigen Kriegerdenkmal geziert wurde. Im Hintergrund konnte man das stattliche Rathaus mit seinem schmiedeeisernen Zaun und üppigen Gärten erkennen, doch Frerk besann sich rechtzeitig, dass er Laura in eine Straße zu ihrer Linken führen musste.
    Ihm wurde unangenehm bewusst, dass sie nun schon seit einer ganzen Weile kein Wort mehr gewechselt hatten und überlegte angestrengt, was er sagen konnte, um das Schweigen zu brechen.
    „Der Himmel ist heute Abend wunderschön, nicht wahr?“, fragte Laura mit einem Mal.
    „Du hast recht, so rot war er schon lange nicht mehr.“
    Sie erreichten das Ritz. Es befand sich in einem hohen, schicken Gebäude, an dem Efeu emporrankte. Vor dem Restaurant hatte sich schon eine kleine Schlange gebildet, denn ein kleiner Mann mit Monokel kontrollierte auf einer Pergamentrolle die Reservierungen. „Valentino und Marrylin… Ah ja, da hab ich Euch“, sagte er gerade, als Frerk und Laura sich einreihten.
    Frerk entging nicht, dass die Männer vor ihnen ausnahmslos einen Zylinder trugen, und die Frauen breitkrempige Hüte in gewagten Farben. Mit einem Seitenblick ertappte er Laura dabei, wie sie sich über ihr Haar strich.
    „Mach dir keine Sorgen. Du brauchst keinen Hut“, flüsterte er ihr aufmunternd zu.
    Für einen kurzen Augenblick wirkte sie aus irgendeinem Grund empört. Dann musste sie lächeln und sie sahen sich direkt in die Augen.
    „Was soll denn das heißen, ohne Reservierung kein Einlass?“, fuhr der Gast vor ihnen urplötzlich aus der Haut. „Sind wir hier beim verschissenen König oder was? Ich hab mir das Gold redlich verdient!“
    Frerk brauchte einen Moment, bis er ihn als Herby erkannte. Ohne seine sonst so zerzauste Mähne war es schwer, ihn zuzuordnen. Soweit Frerk wusste schlug er sich die Nächte als Buchmacher bei den Straßenkämpfen in den dunkleren Gassen des Hafenviertels um die Ohren.
    Der kleine Mann mit dem Monokel erwiderte nichts. Er klatschte bloß zweimal in die Hände. Ein breitschultriger Mann tauchte hinter einem Vorhang aus Efeu auf. Seine tiefliegenden Augen fanden Herby und verengten sich. Herbys Begleitung entglitt die Handtasche.
    Herby war selbst kein begnadeter Faustkämpfer. Er war lediglich gut darin, einzuschätzen, wer einen Zweikampf für sich entschied. Und so zog er mit in den Taschen versenkten Fäusten von dannen, seine Begleitung achtlos zurücklassend.
    „Entschuldigt die Unannehmlichkeiten“, sagte der kleine Mann freundlich und rückte sein Monokel zurecht. „Mit wem habe ich die Ehre?“
    „Frerk Bolz, zwei Personen“, sagte er etwas nervös, obwohl der Hüne sich wieder hinter dem Efeu verbarg.
    Der Mann fuhr mit einem Finger die Schriftrolle entlang. Dann schnippte er und sagte: „Sehr wohl, Herr Bolz. Nur herein mit Ihnen und der Ihren.“
    Er deutete eine Verbeugung an und Frerk führte Laura ins Innere. Der Raum wirkte noch größer als dem trutzigen Bau von außen zuzumuten gewesen war. Dutzende Tische waren mit strahlend weißen Tischdecken ausstaffiert. Die Kronleuchter unter der Decke und die Kerzen auf den Tischen spendeten gemütliches Licht.
    Von einem Kellner wurden sie zu ihren Plätzen geführt. Schwungvoll reichte der Mann ihnen auch die Speisekarte.
    „Sieh nur, Frerk, sie haben hier sogar Feuerläuferfilet! Die Herstellung soll sagenhaft kompliziert sein“, staunte Laura.
    „Oha, das nenn ich mal exquisit!“, antwortete Frerk, der noch nie etwas von Feuerläufern gehört hatte. Er konnte sich nicht recht auf die Speisen konzentrieren. Laura strahlte bis über beide Ohren und es fiel ihm schwer, die Augen von ihr abzuwenden.
    Schließlich bestellten sie Snappergeschnetzeltes Treliser Art auf Archipelreis und eine Keule des Graslandscavengers mit Rüben aus regionalem Anbau.
    „Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten?“, erkundigte sich der Kellner, nachdem er ihre Bestellung aufgenommen hatte.
    Frerk nickte Laura ermutigend zu. Sie sollte sich an diesem besonderen Abend nicht zurückhalten. Schließlich beorderte sie mit glühenden Wangen eine Flasche Wein eines gepriesenen Jahrgangs.
    „Was für Leute hier sind“, wunderte Frerk sich, nachdem der Kellner wieder gegangen war. „Es ist brechend voll und trotzdem kenne ich fast niemanden.“
    „Aus der Unterstadt kommen wohl nicht viele hierher“, sagte Laura und ließ ebenfalls den Blick schweifen. „Elvrich meinte, der Laden ist was für Emporkömmlinge und Aufreißer.“
    „So hat er das wirklich gesagt?“ Frerk wurde mit einem Mal sehr heiß.
    „Ja, aber der ist im Moment eh ein wenig miesepetrig. Vater hat sich immer noch nicht entschieden, ob er seine Tischlerei an ihn oder Oliver vermachen soll. Dabei klagt er immer häufiger über Rückenschmerzen, obwohl er schon einmal die Woche zu Vatras geht.“
    „Und wie geht Oliver mit der Sache um?“, fragte Frerk neugierig. Es gab einiges Gerede über die Frage, ob der Meister den Betrieb seiner langjährigen rechten Hand oder seinem Erstgeborenen vermachen würde.
    „Olli ist so wie er immer ist. Mit Enthusiasmus bei der Handwerksarbeit, aber um alles andere schert er sich nicht. Wenn ich mir vorstelle, dass er eines Tages die Bücher führt, seh ich schwarz für unseren Familienbetrieb.“
    „Aber er hat ja eine Schwester, die das für ihn übernehmen kann“, entgegnete Frerk augenzwinkernd.
    Laura wirkte ziemlich geschmeichelt. Nicht viele Männer trauten Frauen Mathematik zu. „Naja, helfen könnte ich ihm bestimmt ein bisschen“, wiegelte sie ab.
    Bis das Essen kam, unterhielten sie sich noch über den Beschluss des Bürgermeisters, das Tragen von Schwertern innerhalb der Stadtmauern zu verbieten, die Handelsgaleere von den südlichen Inseln, die demnächst einlaufen sollte, und die spontane Vermählung des Stadtschmieds Brian mit der viel jüngeren Tochter des Hafenschmieds Carl.
    Sie probierten von dem Wein und ahmten ein paar der Besucher aus dem Oberen Viertel nach, wie sie ihre Kelche schwenkten und geräuschvoll den Geruch des edlen Tropfens einsogen, bevor sie daran nippten. Obwohl sie sich das Lachen dabei kaum verkneifen konnten, mussten sie zugeben, dass der Wein tatsächlich unfassbar gut schmeckte. Das vollmundige Aroma erfüllte Frerks Mund so stark, dass er für einen Moment genießend die Augen schloss und alles um sich herum vergaß, nur um von der überraschend anderen Geschmacksnote im Abgang wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt zu werden. Verstohlen sahen sie sich über ihre Kelche hinweg an und stießen auch vor ihrem zweiten Schluck noch einmal klirrend an.
    Als schließlich die Hauptspeisen gereicht wurden, wurde es still an ihrem Tisch. Doch anders als auf dem Weg zum Ritz war es kein unangenehmes Schweigen, sondern eines, das von Genuss erfüllt war. Frerk wurde klar, wie still es in dem Restaurant tatsächlich war. Zum ersten Mal bemerkte er auch die leise Zupfmusik, die von einer varantinischen Schönheit auf einem diskreten Hocker in einer hinteren Ecke kam. Laura schien ihn gar nicht weiter zu beachten, doch er war froh, sie so glücklich zu sehen.
    Nun bemerkte sie seinen Blick doch noch und der verzückte Ausdruck in ihrem Gesicht wurde zu einem ihrer strahlenden Lächeln. „Es stimmt, was alle sagen: Grasland-Scavenger schmeckt so viel besser als gewöhnlicher Scavenger.“ Frerk sagte nichts, erwiderte einfach nur das Lächeln.
    Eigentlich hatte er ihr auch noch ein Dessert ausgeben wollen, doch Laura versicherte ihm mehr als glaubhaft, dass sie bei nur einem einzigen weiteren Bissen platzen würde, und so saßen sie einfach noch ein wenig da, tranken ihren Wein, und unterhielten sich zum ersten Mal nicht über die Arbeit oder die aktuellen Themen des Stadtgesprächs. Er erfuhr, dass Laura eine Cousine namens Gritta hatte, die eine ganze Weile bei ihnen gewohnt hatte, bis Oliver geboren wurde und ihr sein Geschrei auf die Nerven ging. „Seither haben wir kaum noch etwas von ihr gehört, obwohl Vater sie sechs Jahre lang bei sich aufgenommen hat“, schloss Laura und blickte verträumt ins Leere.
    Frerk hatte das Gefühl, dass sie in betrübliche Fahrwasser abdrifteten, also erzählte er ihr davon, dass sein Vater gar nicht begeistert gewesen war, dass er nicht der Miliz beitreten wollte.
    „Er meinte wirklich, dass das das Richtige für mich wäre“, lachte er und auch Laura musste schmunzeln. „Als hätte die Miliz heute noch eine ernst zunehmende Aufgabe. Es gibt keine Orks mehr auf der Insel und innerhalb der Stadt dürfen keine Waffen mehr getragen werden. Alles womit die Miliz sich noch befassen muss, sind irgendwelche Schlägereien zwischen Betrunkenen.“
    „Aber Frerk, verstehst du es denn nicht?“, sagte Laura und sah ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Mitleid an.
    „Nein, was denn?“ Frerk hatte nicht mit dieser Reaktion gerechnet und fürchtete schon, etwas Falsches gesagt zu haben.
    „Dein Vater wollte, dass du sein Werk fortführst“, eröffnete Laura ihm, als wäre es das Offensichtlichste auf der Welt. „Als nicht nur Oliver sondern auch ich in den Familienbetrieb einsteigen wollten, war unser Vater überglücklich. Nicht eine Sekunde hat er darüber nachgedacht, wie es denn aussehen würde, wenn er eine Frau beschäftigt. Für Eltern gibt es nichts Schöneres als wenn ihre Kinder in ihre Fußstapfen treten und ihr Werk fortsetzen. Ich glaube, sie haben dann das Gefühl, ein Vorbild für ihre Kinder zu sein und sie mit Stolz zu erfüllen.“
    „Aber ich bin doch stolz auf meinen Vater“, entgegnete Frerk, dem langsam dämmerte, dass hinter den vielen Ausflügen in die Kaserne, auf die sein Vater ihn früher mitgenommen hatte, mehr gesteckt hatte als nur Zeitvertreib. „Er war im großen Orkkrieg der Befehlsführer über die Distanzwaffenkampfeinheit, inklusive der Kanonen. Na gut, sie wurden nie richtig gebraucht, weil die Orks die Stadt nie erreicht haben, aber er hatte eine Menge Verantwortung. Und zu seiner Zeit hätte er selbst einen ausgewachsenen Schattenläufer mitten im Sprung mit nur einem Bolzen getötet.“
    Laura lächelte wieder, doch dieses Mal belächelte sie ihn eindeutig. „Das weiß ich, Frerk. Und dein Vater weiß das auch. Trotzdem hätte es ihn stolz gemacht, wenn du wie er in die Miliz eingetreten wärst.“
    „Du denkst also, ich hätte zur Stadtwache gehen sollen?“ Frerk wäre empört gewesen, wenn er dieses Gespräch mit jemand anderem geführt hätte, doch Laura hatte so eine Art, dass er ihr gar nichts Übel nehmen konnte. Er spürte einfach, dass sie ihn gar nicht verletzen oder verbiegen wollte. Sie war einfach bloß ehrlich zu ihm.
    „Das habe ich nicht gesagt“, antwortete sie zwinkernd. „Und du wirst es mich auch nicht sagen hören. Ich meine nur, dass es mir nicht schwerfällt, Verständnis für deinen Vater zu haben. Es wäre Blödsinn gewesen, heute noch der Miliz beizutreten, das stimmt. Aber gerade das muss es für deinen Vater so schwer machen. Die Miliz, der er sein halbes Leben lang treu gedient hat, schrumpft seit Jahren und bald ist vielleicht nichts mehr von ihr übrig. Viele denken so wie du.“
    Frerk betrachtete den restlichen Wein in dem makellosen Glas in seiner Hand.
    Plötzlich hatte Laura nach seiner anderen Hand gegriffen und er sah ihr wieder in die Augen. „Du musst nicht perfekt sein, damit dein Vater stolz auf dich sein kann. Ich bin mir sicher, viele Eltern haben Vorstellungen von der Zukunft ihrer Kinder, die sich später als falsch herausstellen, und trotzdem halten sie zu ihnen und sind stolz auf alles, was sie erreichen. Ich glaube, das macht das Elternsein aus.“
    Der Knoten, den Frerk empfunden hatte, löste sich, als sie ihn so lieb anlächelte.
    „Ich hätte nicht so indiskret sein sollen, entschuldige.“
    „Nein, nein. Ich bin nicht verstimmt. Du hast mir nur einen ganz neuen Blickwinkel offenbart. Ich muss mich entschuldigen, dass ich so ernst reagiert habe. Mach dir keinen Kopf.“ Er stürzte den Rest seines Weins hinunter und erhob sich. „Ich geh nur mal kurz um die Ecke.“
    „Jetzt ist also der Zeitpunkt gekommen, da du mich mit der Rechnung allein zurücklässt?“, erwiderte sie frech und grinste spitzbübisch.
    Frerk wurde klar, dass ihr der Wein ein wenig zu Kopf gestiegen war – und dass es ihm nicht besser ging. So unsicher wie nun, als er aufstand, hatte er sich noch nie von Alkohol gefühlt.
    Und als er vom Abort zurückkehrte und den Blick durch den Raum schweifen ließ, dauerte es einen Moment, bis er ihren Tisch wiederfand. Was wohl weniger mit dem Wein zu tun hatte, sondern vielmehr mit der Tatsache, dass er nach einem Tisch für zwei Personen mit einem leeren Stuhl gesucht hatte, sein Platz gegenüber von Laura aber von einem anderen Mann eingenommen worden war.
    Mit einem unguten Gefühl steuerte er durch die anderen Tische hindurch auf seinen Platz zu und bemerkte bestürzt, dass Lauras Miene geradezu versteinert war. Er erkannte den Mann ihr gegenüber erst, als er den Tisch bereits erreicht hatte.
    „Ah, da ist Euer kleiner Verehrer ja schon wieder“, säuselte Valentino und blieb einfach sitzen. „Ich unterhielt mich gerade mit Eurer Freundin darüber, dass ich gedenke, einige der Tuchballen von den Südlichen Inseln zu erstehen, die bald auf Khorinis eintreffen müssten. Die Handelsgaleere ist schon vor einer Woche aufgebrochen, lang kann es nicht mehr dauern. Und die Stoffe von den südlichen Inseln sind nicht ohne Grund so teuer, wenn Ihr versteht, was ich meine.“
    „Könnte ich meinen Platz wieder einnehmen?“, fragte Frerk den Mann, der mindestens doppelt so alt war wie er selbst.
    „Ach, aber ich unterhalte mich doch gerade so vorzüglich mit Eurer kleinen Freundin“, erwiderte Valentino und zeigte bei einem strahlenden Lächeln seine unnatürlich weißen Zähne. „Eine wirklich reizende junge Dame, wenn Ihr mich fragt.“
    „Valentino, würdet Ihr Frerk nun bitte seinen Platz zurückgeben?“, erkundigte Laura sich.
    Valentino warf ihr einen allzu berechnenden Blick zu. Dann erhob er sich widerwillig. „Nun denn, junge Dame, junger Herr. Sollte einer von Euch jemals das Verlangen verspüren, echten Torgaanschen Seidenspinnersamt zu berühren, mein Tor steht Euch stets offen.“ Auch wenn er beide ansprach, galt sein Blick unentwegt Laura.
    Als er schließlich betont langsam zu seinem eigenen Tisch zurückkehrte, war Frerk halbwegs zufrieden. Valentino war in der ganzen Stadt dafür bekannt, alle Frauen anzugraben, die in sein Sichtfeld gerieten. Seine Mutter hatte ihm sogar mal erzählt, dass es zu ihrer Zeit zum geflügelten Wort geworden war, besonders unästhetischen Frauen nachzusagen, dass nicht einmal Valentino sie beachtete. Und Laura hatte, zumindest soweit er ihre Konversation verfolgt hatte, nicht ein einziges Mal gelächelt. Ein ungewöhnlich harscher Affront, wenn man bedachte, dass Valentino all seine Holzarbeiten von Thobens Schreinerei verrichten ließ, wie jeder Bürger von Khorinis mit einem gewissen Vermögen.
    Frerk setzte sich wieder Laura gegenüber und sie warfen sich einen unsicheren Blick zu. Er hätte den Moment gerne überspielt, indem er Wein nachschenkte, aber die Flasche war leer.
    „Soll ich uns noch eine Flasche kommen lassen?“, fragte er, obwohl das für Dessert eingeplante Budget eine weitere Flasche kaum stemmen konnte, aber nach Valentinos Gerede hatte er irgendwie das Bedürfnis, nicht knickrig dazustehen.
    „Nein, danke“, lehnte Laura Innos sei Dank ab und fand sogar wieder eine Spur ihres Lächelns zurück. „Wenn ich noch mehr trinke, ruiniere ich morgen früh noch die neue Truhe für den schlafenden Geldsack.“
    Danach fanden sie schnell wieder zurück zu unverfänglicheren Themen und schon bald ließen sie sich die Rechnung kommen und brachen auf.
    Die Sonne war untergegangen und eine kühle Brise pfiff durch das Obere Viertel. Pflichtbewusst legte er Laura sein Jacket um die Schultern.
    „Das wär doch nicht nötig gewesen. Drinnen war es sowieso viel zu warm, da tut die Nachtluft ganz gut“, sagte Laura und schmiegte – Frerk war sich nicht sicher, ob absichtlich oder nicht – ihren Arm an seinen. Unsicher legte er seinen Arm um ihre Schulter. Sein Mund wurde trocken, als er ihre Körperwärme durch den Stoff seines eigenen Jackets an seinen schwieligen Händen spürte.
    Sie sagten auf dem ganzen Rückweg durch das Obere Viertel kein Wort. Frerk konnte sie irgendwie nicht mehr ansehen und stellte fest, dass es eine sternenklare Nacht war und der Mond voll und schön über der Stadt hing. Er wies Laura aber nicht darauf hin, da er es als peinlich empfand, über das Wetter zu reden.
    Sie erreichten das Tor zur Unterstadt und passierten auch wieder die beiden Wachen, die früher am Abend so in ihr Kartenspiel versunken gewesen waren. Nun mühten sich beide damit ab, einen kahlköpfigen Mann auf den Beinen zu halten, der unverständliches Zeug in sich hineinbrabbelte. Frerk lief ein kalter Schauer über den Rücken, der nichts mit der kühlen Nachtluft zu tun hatte, als er sah, dass der Mann im Gesicht tätowiert war.
    „Nein, nur Bürgern der Stadt Khorinis ist der Zutritt zum Oberen Viertel gestattet. Das war schon immer so und wird sich niemals ändern! Wie oft soll ich das denn noch sagen?“, herrschte die eine Wache ihn ungeduldig an.
    „Diego… Muss ihn… Der Einzige in der Stadt, der… Es ist wichtig, ich muss Diego!“, stieß der tätowierte Mann unzusammenhängend hervor.
    Frerk kannte Diego, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass der sich mit solch finsteren Typen abgab. Sein Vater hatte einmal gesagt, dass Tätowierungen fast ausschließlich von den dunklen Kulten Beliars verwendet wurden.
    „Maaann, dass die auch immer so viel trinken müssen“, jammerte die andere Wache kopfschüttelnd.
    Frerk und Laura erreichten das untere Ende der Treppe und bogen in die Handwerkergasse ein. Die Rufe der Wachen verhallten und die Stille der Nacht legte sich über sie. Während im Oberen Viertel noch einige Bürger unterwegs waren, lagen die Handwerker schon längst in ihren Betten, um am nächsten Morgen in aller Frühe wieder ihrer Arbeit nachzugehen. Etwas, das den Herren im Oberen Viertel fremd war.
    „Die Sterne sind schön, nicht wahr?“, sagte Laura und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
    Frerk schluckte, doch ihm fiel nichts ein, was er sagen konnte.
    Als sie die Seitentür der Schreinerei erreichten, hinter der die Treppe in die Wohnräume lag, verfluchte Frerk sich dafür, dass ihm keine geistreiche Antwort eingefallen war. Laura löste sich von seinem Arm und lächelte ihn an. Sein Mund war immer noch so trocken. Er fürchtete schon, sich nicht einmal ordentlich von ihr verabschieden zu können.
    „Es war ein wundervoller Abend, Frerk. Vielen Dank für das tolle Essen“, sagte Laura und strahlte ihn wieder so überwältigend an.
    Dann küsste sie ihn mitten auf den Mund. Frerk wusste gar nicht, wie ihm geschah. Sie schien sich sofort wieder von ihm zu lösen, doch er hatte das Gefühl, dass ihre Lippen eine halbe Ewigkeit und doch viel zu kurz auf den seinen gelegen hatten.
    „Gute Nacht, Frerk“, sagte sie, wartete aber noch, bevor sie sich abwandte.
    Frerk wurde bewusst, dass er einfach nur dastand und sie schief angrinste, doch er konnte nichts dagegen tun. Am liebsten hätte er sie in die Arme geschlossen und noch einmal geküsst, aber er wusste, dass er das nicht durfte. Also riss er sich zusammen und lächelte. „Ich wünsch dir auch eine gute Nacht, Laura.“
    Sie schenkte ihm ein letztes Strahlen, wandte sich ab, öffnete die Tür. Und als die Tür wieder ins Schloss fiel, war er allein. Und noch nie hatte er sich mehr allein gefühlt.

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Als er die Tür seines Elternhauses erreichte, war Frerk immer noch ganz in Gedanken versunken. Er war sich nicht einmal sicher, ob er sich vielleicht zwischendurch verlaufen hatte, der Weg war ihm ungewöhnlich lang erschienen und erinnern konnte er sich auch an nichts. Doch es scherte ihn auch nicht wirklich. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, setzte er sich auf die niedrige Bank gleich hinter der Tür, um seine Schuhe auszuziehen. Das flackernde Licht von dem heruntergebrannten Kaminfeuer reichte kaum aus, um die Ecke des Raums ordentlich auszuleuchten.
    Er kämpfte noch mit seinem zweiten Schuh, da wurde ihm plötzlich bewusst, dass er beobachtet wurde. Irritiert hob er den Blick. Seine Eltern auf dem Sofa und Edna über der Lehne ihres Lieblingssessels hängend starrten ihn erwartungsvoll an. Einen Augenblick später sahen sie alle gleichzeitig weg und sein Vater brummte: „Was wolltest du gerade über Hanna sagen, Liebes?“
    „Ach, bloß dass der Jüngste von Zuris rumerzählt hat, sie bei Vollmond auf der Klippe über dem Nordtor gesehen zu haben. Gruselig, oder?“
    „Voll cool“, fiel Edna ihr ins Wort.
    Frerk stellte seine Schuhe an ihren angestammten Platz und näherte sich der kleinen Sitzgruppe. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum sie alle zu dieser späten Stunde noch hier saßen und plauderten. Morgen früh mussten sie doch alle wieder in Herrgottsfrühe raus.
    „Bestimmt hat sie nach Kräutern gesucht, die man nur bei Vollmond pflücken darf, damit ihre Wirkung nicht verloren gehen. Der alte Constantino hat früher immer sowas gebrabbelt“, sagte Ruga.
    „Oder sie ist ein Werwolf!“ Bei der Vorstellung hibbelte Edna auf und ab.
    „Was macht ihr denn noch hier?“, fragte Frerk perplex.
    Edna warf ihm nur einen kurzen Blick zu. „Oh, du bist schon wieder da? Hab dich gar nicht kommen hören!“ Sie grinste breit.
    Sein Vater setzte einen schuldbewussten Gesichtsausdruck auf und starrte auf den Boden.
    „Erzähl deiner Tochter, dass es keine Werwölfe gibt, Schatz“, wies seine Mutter ihn an und legte ungeduldig ihre Hand auf sein Bein. Frerk war, als würde sie als einzige ein Theaterspiel fortführen, das längst aufgeflogen war.
    „Mensch, jetzt erzähl schon!“ Mit einem Satz war Edna auf der Lehne ihres Sessels, was ihn bedenklich ins Schwanken brachte.
    Frerk dämmerte langsam, was hier los war.
    „Mit euch könnte man nicht mal ein Schaf stehlen“, bemerkte seine Mutter kopfschüttelnd.
    „Seid ihr alle wach geblieben, um meine Rückkehr abzuwarten?“ Frerk sah nacheinander in die Gesichter seiner Schwester, seiner Mutter und seines Vaters. Und in letzterem las er die Antwort überdeutlich ab. Er vergrub das Gesicht in den Händen.
    „Na, wie hat es ihr gefallen?“, fragte Edna und ihr Grinsen wurde noch breiter.
    „Was habt ihr gegessen?“, wollte seine Mutter wissen.
    „Hat ja ganz schön lange gedauert, dieses Abendessen“, bemerkte sein Vater, wollte noch etwas sagen, besann sich dann aber eines Besseren.
    Frerk musste jetzt selbst schmunzeln. „Ihr seid mir ja welche.“ Er überlegte, wie viel er ihnen erzählen sollte. Dann wirbelte er einfach auf dem Absatz herum und sprang drei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinauf.
    „Frerk, du missratener Bruder! Das kannst du uns doch nicht antun!“, rief Edna ihm empört hinterher.
    Frerk lauschte noch der sanften Zurechtweisung seiner Mutter und dem zufriedenen Glucksen seines Vaters, dann zog er die Tür seines Zimmers hinter sich zu.
    Nun hatte er die Erinnerungen an den wunderschönen Abend wieder ganz für sich allein. Ohne sich aus den guten Sachen zu schälen warf er sich aufs Bett und vergrub das Gesicht in seinem Kissen, bis Lauras Gesicht ganz klar vor sein inneres Auge trat. „Gute Nacht, Frerk“, sagte sie mit ihrer wohlklingenden Stimme und zwinkerte ihm sanft zu.

    Pünktlich wie jeden Morgen überquerte Frerk die Schwelle zu Bospers Bognerei.
    „Was’n mit dir los?“, fragte der in die Jahre gekommene Bogenschnitzer sofort.
    „Dir auch einen guten Morgen, Bosper“, erwiderte Frerk und bemühte sich vergeblich, wenigstens nicht mehr ganz so federnd zu gehen.
    Bosper grunzte nur zur Antwort und spannte den dunklen Langbogen, den er hielt.
    Bospers Laden bestand nur aus einem einzigen Raum. Vorn ein kleiner Ausstellbereich, in dem die verschiedenen Bögen und Pfeile sowie die angekauften Jagdtrophäen mehr schlecht als recht ausgestellt wurden, und im hinteren Teil, abgetrennt von dem neuen Tresen, die Werkstatt. An der rückwärtigen Wand, zwischen den beiden Fenstern, hing eine alte, zerlöcherte Zielscheibe, mit der der Meister jeden einzelnen seiner Bögen auf Herz und Nieren prüfte.
    Frerk hatte Monate gebraucht, bis er einen Bogen erschaffen hatte, der nicht bereits nach wenigen Schuss von seinem Meister für untauglich befunden und über dessen Knie zerbrochen wurde.
    Bosper hob den eingelegten Pfeil auf Augenhöhe, kniff ein Auge zusammen und verharrte beinah reglos. Er ließ den Pfeil von der Sehne schnellen und nur einen Augenblick später schlug er auch schon in der Zielscheibe ein, allerdings weit am Rand.
    „Ist der Bogen nichts geworden?“, fragte Frerk verwundert. Denn es war keiner von seinen und dem Meister war während seiner Lehre erst ein einziges Mal ein Bogen misslungen.
    „Nee, das isses nich“, brummte Bosper, stapfte rüber zur Zielscheibe und zog den Pfeil heraus.
    Die Tür öffnete sich erneut und ein Kunde betrat den Raum.
    „Morgen, Bosper“, grüßte er knapp.
    „Morgen, Diego“, erwiderte Bosper.
    Frerk nickte der Kunde nur zu. Vermutlich kannte er seinen Namen nicht.
    Diego schlenderte zu einem Fass in der Ecke hinüber, in dem einige Pfeile sich in losen Zehnerbündeln aneinanderreihten. Einen zog er heraus und hielt ihn prüfend gegens Licht.
    Frerk beobachtete immer wieder fasziniert, wie erfahrene Jäger selbst die kleinsten Unebenheiten im Schliff, selbst die am wenigsten zerzauste Feder mühelos erkannten. Diego zog Pfeil um Pfeil aus der Menge heraus, scheinbar ohne hinzusehen, doch Frerk erkannte schnell, dass er diejenigen mit zerknickten Schweiffedern gar nicht erst herauszog und genauer untersuchte.
    Es vergingen nur wenige Sekunden, bis Diego einen Pfeil entweder in seinen Köcher oder zurück in das Fass steckte.
    Frerk musste an den Fremden denken, der in der vergangenen Nacht zu Diego wollte, aber von den Wachen des Oberen Viertels aufgehalten worden war. Kurz überlegte er, Diego von ihm zu erzählen, doch dann ließ er es lieber bleiben. Er wollte Bosper nicht das Geschäft mit einer ohnehin inhaltslosen Plauderei verderben. Schließlich wusste Frerk weder, wer dieser Mann gewesen war, noch was er gewollt hatte.
    „Ich nehme die hier“, sagte Diego und legte seinen gefüllten Köcher auf den Tresen.
    „Die waren eigentlich schon gebündelt“, bemerkte Bosper.
    „Die besten Pfeile mit den weniger gelungenen zu einem Bündel schnüren und nur zusammen verkaufen, was?“, durchschaute Diego seinen Geschäftspartner sofort. „Für diese Pfeile könntest du locker das Doppelte nehmen, wenn du sie nicht unter den Trödel mischen würdest.“
    „Dafür würde dann jeder Pisser nur noch die guten kaufen und irgendwann hätte ich nur noch die schlechten“, entgegneten Bosper und begann die Pfeile im Köcher zu zählen.
    „Dann solltest du die Bündel in Zukunft fester schnüren.“
    „Damit sie auch noch verbiegen?“
    Darauf antwortete Diego nichts mehr. Frerk musste ihn etwas zu offensichtlich angestarrt haben, denn mit einem Mal fasste der Jäger ihn ins Auge. „Hast du auch ein paar von denen gemacht?“
    „Keinen von denen, die Ihr Euch herausgenommen habt“, gab Frerk zu, bevor er es sich recht überlegt hatte.
    Diego schmunzelte. Erst jetzt fiel Frerk auf, dass die Pupille seines linken Auges silbern schimmerte. Das musste sein blindes Auge sein, von dem Bosper ihm schon einmal erzählt hatte. “Obwohl er auf dem einen Auge nichts mehr sieht, gibt’s keinen besseren Bogenschützen in der Stadt, darauf verwette ich meinen Laden“, hatte er gesagt.
    „Mach dich nicht über ihn lustig, er meint es gut“, ermahnte Bosper seinen Stammkunden trocken. „Macht dreißig Goldmünzen.“
    Diego ließ die Münzen auf den Tresen klimpern, dann ging er ohne ein weiteres Wort.
    „Diego brauchste nich so förmlich anzureden“, erklärte Bosper. „Er wohnt zwar im Oberen Viertel, aber er trägt seine Nase nicht auf Augenhöhe, wie die anderen feinen Herrschaften von da.“
    Frerk war bestürzt. Er hatte Diegos Schmunzler ganz falsch gedeutet. „Aber wie soll ich denn erkennen, wie ich jemanden ansprechen soll, wenn ich nicht nach dem Viertel gehen kann?“
    „Das wirst du schon noch lernen mit der Zeit“, blieb Bosper vage.
    Er spannte erneut den Langbogen und schoss einen Pfeil auf die Zielscheibe. Dieses Mal prallte er klirrend an der Backsteinmauer ab und fiel klappernd zu Boden.

    Als Frerk später an diesem Tag Thorbens Schreinerei betrat, war er mehr als nur ein bisschen aufgeregt. Als er den Raum mit all seinen schmuckvollen Kommoden und wuchtigen Schränken absuchte, fand er nur Elvrich, der mit einem Jungen ungefähr in Frerks Alter diskutierte. Von Laura war keine Spur zu sehen, allerdings konnte es in diesem Haus gut sein, dass sie von einem Wandschrank verdeckt wurde oder gerade unter einen Tisch gekrochen war, um ein paar letzte Splitter wegzuschleifen.
    Langsam näherte er sich Elvrich und dem jungen Mann.
    „Meister Thorben besteht darauf seit Jahren. Für dich wird er keine Ausnahme machen“, erklärte Elvrich.
    „Das heißt, ich muss diesen Daron finden und dem Kloster eine Spende entrichten, bevor er mich nimmt?“, fragte der Jüngling mit konzentrierter Miene.
    Elvrich seufzte. „Die Spende entrichtest du der Kirche. Das Kloster verwaltet sie nur. Aber damit ist es noch nicht getan. Auch der Kirche Adanos wirst du deine Aufwartung machen müssen.“
    „Ich soll zu dem alten Vatras? Er predigt doch schon seit Jahren nicht mehr. Man munkelt, er verlasse kaum noch das Bett.“
    „Es ist allein deine Entscheidung. Aber selbst wenn du den Segen der Götter empfangen hast, ist das noch keine Garantie für eine Lehrstelle bei Meister Thorben. Er ist immerhin der angesehenste Vertreter der Schreinergilde auf Khorinis. Beinahe täglich kommen junge Männer wie du hierher und versuchen ihr Glück. Er nimmt nur die wirklich vielversprechenden.“
    „Das klingt ganz schön kompliziert“, murmelte der junge Mann und fuhr sich durch sein Haar. Dann setzte er ein freundliches Lächeln auf, verbeugte sich leicht und verabschiedete sich.
    Als er zur Tür hinaus war, schüttelte Elvrich müde den Kopf. „Diese Jugend von heute…“
    Frerk trat an Elvrich heran. „Auch ich war noch ganz klein, als Meister Vatras seine Predigten einstellte. Meine Eltern reden aber noch heute in den höchsten Tönen von ihm.“
    „Ach, du bist es. Hab dich gar nicht kommen hören. Laura ist oben. Die Lieferung für Bosper müsste fertig sein, aber ich weiß nicht, wo sie sie abgestellt hat.“
    Frerk bedankte sich für die Information und folgte der Treppe ins Obergeschoss. Früher hatte Lauras Familie hier gewohnt, direkt über dem Laden. Heute war die Nachfrage nach der Handwerkskunst des Familienbetriebs so groß und die angebotenen Holzwaren so vielfältig, dass die Ausstellungsstücke das ganze Erdgeschoss für sich beanspruchten. Die Werkstatt war in das Obergeschoss gezogen, von wo die fertigen Arbeiten durch ein großes Loch im Boden hinuntergelassen werden konnten.
    Als Frerk die letzte Treppenstufe erreichte, bot sich ihm das übliche Durcheinander der Werkstatt. Bretter aller Formate, Farben und Maserungen, Sägen mit feinen und besonders groben Zähnen, halbfertige Schränke, Nägel in allen Dicken und Längen, Hämmer mit wuchtigen und schlanken Köpfen, Klemmen, Holzstäbe, Pinsel, von denen keiner dem anderen glich, und Eimer voller Leim drängten sich in dem vollen Raum. Und obwohl hier täglich gefegt wurde, wie Laura ihm bereits mehrmals versichert hatte, lag auf allem eine dünne Schicht Holzspäne.
    „Für Kunden ist das Betreten des Obergeschosses verboten“, kam Laura um einen fast fertigen Wandschrank herum, als sie seine Schritte hörte. Als sie ihn erkannte, glitt ein Lächeln über ihre Lippen. „Ach, du bist es.“
    „Wenn das Betreten verboten ist, kann ich auch unten warten“, antwortete Frerk, ohne es ernst zu meinen.
    „Nein, nein, du benimmst dich ja nicht wie ein Troll in der Glasbläserei“, winkte Laura ab. Frerk fasste es als Lob auf und freute sich. „Aber sei trotzdem vorsichtig, wo du hintrittst. Oliver ist heute Morgen eine Kiste Nägel umgefallen und ich bin mir noch nicht sicher, ob wir alle wiedergefunden haben. Und die Kommode dort ist sehr wacklig, also…“
    „Ist schon klar, ich fass nichts an“, ersparte Frerk ihr den Rest ihrer Predigt und verschränkte artig die Hände hinter dem Rücken.
    Wieder lächelte Laura. Frerk hatte ihr Kleid vom Vorabend gefallen, doch auch in ihrer Arbeitskleidung, mit dem einfachen, weiten Hemd, der ledernen Tasche, die mit mehreren Gurten an ihrem Oberschenkel fixiert wurde und den zu einem einfachen Zopf zusammengebundenen Haaren sah er sie gern an.
    Etwas unschlüssig standen sie da, bis Laura schwungvoll einen Hammer aus ihrer Tasche und einen Nagel hinter ihrem Ohr hervorholte, und ihn in den Schrank schlug. „Weswegen bist du hier? Musst du nicht arbeiten?“
    Frerk bewunderte, wie schnell und gerade sie den Nagel ins Holz trieb. Als er selbst es mal bei seinem Bett versucht hatte, war der Nagel ihm auf halbem Wege verbogen. „Ich arbeite doch, genau deswegen bin ich hier.“
    „Ach richtig, die Pfeilschäfte und Bolzen.“ Sie verschwand hinter zwei wuchtigen Garderobenständern. Frerk blieb allein neben der komplizierten Konstruktion zurück, mit der Gegenstände durch das Loch in den Verkaufsraum hinuntergelassen werden konnten, und fragte sich, ob sie sich mit Absicht so geschäftlich benahm, oder ob ihr ihre Arbeit einfach so in Schweiß und Blut übergegangen war, dass sie gar nicht anders konnte.
    Frerk hörte Schritte die Treppe hochkommen.
    Laura kehrte zurück und wuchtete ihm eine kleine Kiste vor die Füße. Sie nahm kurz den Deckel hoch, um ihm den Inhalt zu zeigen: Sie war bis oben hin voll mit dünnen Pfeilschäften, perfekt gerade und fein säuberlich gestapelt. „Einhundert Stück, wie abgesprochen. Willst du sie nachzählen?“
    „Nein, nein. Du wirst dich schon nicht verzählt haben.“
    Laura warf ihm einen kritischen Blick zu. „Wie du meinst.“
    Elvrich steckte seinen Kopf durch das Treppenloch: „Laura? Ein Bote ist für dich gekommen.“
    „Ich hab gar keinen kommen lassen“, erwiderte sie stirnrunzelnd und legte den Deckel wieder auf die Kiste mit den Pfeilschäften.
    Elvrich schüttelte den Kopf. „Nein, ich meine, er hat eine Sendung für dich.“
    Laura seufzte vernehmlich, als könne sie es gar nicht gebrauchen, nun auch noch von einem Boten bei ihrer Arbeit gestört zu werden. „Ich komme. Lässt du währenddessen diese Kiste für Frerk runter? Dann muss er damit nicht die Treppe hinunter.“
    Frerk wollte gerade einwenden, dass das nicht nötig war. Schließlich fühlte er sich sehr wohl in der Lage, eine Kiste die Treppe hinunterzutragen, doch Laura verschwand schon die Stufen hinunter.
    Elvrich schien zu ahnen, was er sagen wollte und kam ihm zuvor: „Unser letzter Lehrling hat sich die Hälfte seiner Rippen gebrochen, als er zwei Leimeimer auf einmal die Treppe hinuntertragen wollte. Seitdem trägt hier niemand mehr was die Treppe hinab. Warte einfach unten auf die Kiste.“
    Frerk nickte. Er erinnerte sich an die Geschichte. Sie hatte sogar im Stadtrat Wellen geschlagen. Umsichtig stieg er die Stufen hinunter in den Verkaufsraum. Dort hatten sich die wenigen morgendlichen Kunden um Laura und den Boten geschart, der mit seiner grünen Amtstracht und der langen Feder an seinem schräg sitzenden Hut gleich als solcher zu erkennen war. Offenbar hatte seine Lieferung einiges Aufsehen erregt.
    Und als Frerk Laura erreicht hatte, wusste er auch sofort, warum. Sie hielt einen verboten riesigen Blumenstrauß in den Armen. Es waren zwar keine Rosen, doch die vielen unterschiedlichen Blumen hatten eines gemeinsam: Die kräftigen Farben der Blüten. Frerk kannte nicht einmal die Hälfte der beinahe exotisch wirkenden Blumen und er hatte schon viele Sträuße gesehen, die wahllos zusammengewürfelt aussahen, doch dieser musste von einem Meister der Floristik zusammengestellt worden sein: Er war einfach überwältigend schön und sein Duft erfüllte den ganzen Raum.
    „Außerdem ist folgender Brief für Euch abgegeben worden“, erklärte der Bote nun und zog einen roten Briefumschlag aus seinem Beutel hervor. Mit einer etwas altertümlichen Verbeugung streckte er ihn ihr hin. Laura wirkte total übertölpelt. Der Strauß war wohl zu schwer, um ihn mit einer Hand zu halten, also drückte sie ihn kurzerhand Frerk in die Hand, um den Brief entgegen zu nehmen. Achtlos riss sie den Umschlag auf und entfaltete das teuer wirkende Papier.
    Frerk war damit beschäftigt, den Strauß irgendwie so zu halten, dass er keine der zarten Blüten abknickte. Doch als sie den Brief entfaltete, konnte er nicht anders als über ihre Schulter mitzulesen. Nachdem er die wenigen Worte gelesen hatte, empfand er ein eigentümliches Ziehen in der Magengegend: Seid gegrüßt liebliche Laura, Ihr erinnert Euch doch noch an mich? Vielleicht liegt es ja in Eurem Interesse, Euch dieses Mal von einem Mann mit mehr Klasse ausführen zu lassen. Ich glaube, die Lokalität sagte Euch zu, warum also nicht noch mal ins Ritz? Ihr möchtet gewiss noch weitere der Köstlichkeiten probieren. Mit aufrichtigen Grüßen, Valentino.
    Frerk wusste nicht, was er sagen sollte. Er unterdrückte den Impuls, den Strauß zu Boden zu werfen und mit den Füßen auf ihm herumzustampfen. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass es noch andere Zeugen außer Laura gab. Und vielleicht war ja sogar Laura dagegen… Ihm schnürte sich die Brust zu.
    Laura selbst wirkte wie versteinert.
    „Darf ich dem Absender der Botschaft eine Antwort ausrichten?“, fragte der Bote. „Er hat die Kosten für die Überbringung der Antwort bereits aus eigener Tasche gezahlt.“
    Gespannt tuschelten die Umstehenden.
    Seine Worte schienen Laura wieder in die Wirklichkeit zurückzuholen. „Nein, ich habe dem Absender nichts auszurichten, vielen Dank“, sagte sie höflich. Sie wandte sich um, wobei ihr die Blumen ins Gesicht kamen.
    „Tschuldigung“, murmelte Frerk und wich zurück.
    „Kannst du mir die Blumen nach oben tragen?“, sagte sie zerstreut und verschwand zur Treppe.
    Frerk folgte ihr, den großen Strauß balancierend. Nun durfte er also plötzlich Sachen die Treppe hoch tragen. Für einen kurzen Moment war er froh über die Gelegenheit, ihr beweisen zu können, dass er sich dabei nicht gleich alle Knochen brach.
    Oben angekommen, nahm sie ihm den Strauß wieder ab und legte ihn achtlos auf einen der Tische. Dass die Blüten dabei von Sägemehl bestäubt wurden, schien sie nicht zu kümmern. Gedankenverloren starrte sie in eine Ecke des Raums.
    „Laura?“, fragte Frerk zaghaft.
    Sie zuckte kaum merklich zusammen. „Ach ja, die Pfeilschäfte. Elvrich müsste sie inzwischen runtergefahren haben.“
    „Wirst du Valentinos Einladung annehmen?“ Die Pfeile waren ihm zwischenzeitig vollkommen egal.
    Laura sah ihn einen Moment an, dann lachte sie. „Du machst dir wirklich Sorgen, was?“
    Als ihr klar wurde, dass Frerk nicht zum Lachen zumute war, ließ sie es rasch wieder. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich die Einladung dieses Aufreißers annehme, oder? Es ist doch offensichtlich, dass er nicht an mir als Person interessiert ist.“
    „Aber du könntest dir das gute Essen von ihm bezahlen lassen. Du müsstest seine Einladung nur ganz unverbindlich annehmen.“
    „Und wie bitte hätte ich das machen sollen? Bei den ganzen Kunden, die zugesehen haben, hätte es doch direkt die ganze Stadt gewusst“, witzelte sie. „Außerdem hab ich mit meinen Abenden wirklich was Besseres zu tun, als sie mit einem alten, reichen Sack aus dem oberen Viertel zu verbringen. Die haben doch noch nie in ihrem Leben auch nur eine Münze durch harte Arbeit verdient. Besonders dieser Valentino nicht.“
    Frerk war allmählich beruhigt. Er versuchte zu lächeln, obwohl ihm nicht danach war.
    Laura sah ihn mitleidig an. Dann tat sie etwas Unerwartetes: Sie küsste ihn auf die Wange. Nun war sie ihm ganz nah und sah ihm direkt in die Augen. „Ich werde mich mit keinem anderen Mann verabreden, hörst du? Und wenn doch, dann wärst du der erste, dem ich das erzähle. Alles andere wäre mehr als gemein, findest du nicht auch? Traust du mir so etwas zu?“
    „Nein“, musste Frerk zugeben. Nun musste er wirklich lächeln.
    „Siehst du“, sagte Laura. „Und nun husch zurück zu deinem Meister. Der wartet bestimmt schon ganz ungeduldig auf seine Pfeile.“

    Obwohl das gute Essen im Oberen Viertel gerade mal einen Tag her war, konnte Frerk sich nicht vorstellen, dass irgendetwas von der Karte des Ritz die Moleratrouladen seiner Mutter toppen konnte. Als sie die Pfanne vom Ofen nahm, war ihm das Wasser längst im Mund zusammengelaufen.
    „Das riecht ja köstlich“, bekundete auch Ruga und sog den Duft des noch brutzelnden Abendessens ein.
    „Mann, hab ich einen Kohldampf“, kam Edna zur Tür herein, während Sia jedem eine Roulade auftat.
    „Du kommst gerade rechtzeitig, um deinem Bruder die Chance auf einen Nachschlag zu rauben“, begrüßte ihre Mutter sie scherzend. Frerk gab sich nicht einmal die Mühe etwas zu erwidern, denn es war mehr als genug da. Seit Edna auf dem Markt aushalf und er selbst bei Bosper in die Lehre ging, war das Geld selten knapp.
    Mit Schwung ließ Edna sich auf ihren Stuhl fallen. „Frerk muss doch auf seine Linie achten. Ich glaube kaum, dass er mit doppelt so viel Gewicht auf den Rippen immer noch Chancen bei der begehrtesten Handwerkertochter der Stadt hätte.“
    „Hey!“, fuhr Frerk nun doch noch auf, doch Edna schnitt nur eine Grimasse und biss als erste in ihre Roulade.
    „Wie war es auf dem Markt, Liebes? Läuft das Geschäft des alten Baltram?“, lenkte Ruga das Tischgespräch in unverfänglichere Gewässer.
    „Wie oft soll ich dir denn noch sagen, dass längst Mortimer den Stand übernommen hat?“, schmatzte Edna und fuchtelte mit ihrer Gabel herum. „Baltram war heute nur einmal kurz am Laden und hat der alten Fenia direkt einen Sack Rüben zum halben Preis angeboten. Am Ohr hat Mortimer ihn zurückgezogen, das kannst du mir glauben! Und dann hat er ihm ganz schön die Leviten gelesen.“
    „Baltram hat eben ein gutes Herz“, sagte Ruga langsam. „Fenia plagt die Gicht, heißt es. Und seit Vatras das Bett hütet, gibt es niemanden mehr in der Stadt, der ihr Leiden lindern könnte.“
    „Mortimer bietet das Brot schon zu Spottpreisen an. Da muss man nun wirklich nicht mehr runtergehen“, entgegnete Edna mit vollem Mund.
    „Hat Mortimer eigentlich mal gesagt, ob er zufrieden ist mit deiner Arbeit?“, wollte Sia wissen. „Du hilfst ihm nun schließlich schon seit fast zwei Monaten aus.“
    „Ich hab schon zwei Wochen lang nichts mehr fallen gelassen, der wird schon zufrieden sein“, zuckte Edna mit den Achseln. „Es ging ihm doch hauptsächlich darum, dass eine junge Frau bei ihm am Stand arbeitet. Das scheint ja heutzutage der Renner zu sein, wenn man seinen Verkauf ankurbeln will.“ Sie rollte mit den Augen.
    Sia schürzte die Lippen.
    „Du bist so still, Bruderherz. Liegt dir was auf dem Herzen?“, fragte Edna und fasste ihn scharf ins Auge.
    „Mir? Nein“, antwortete Frerk vielleicht eine Spur zu schnell. „Ich esse einfach nur. Dabei spricht man nicht.“
    „Als hätte dich das sonst davon abgehalten“, fuhr ihm ausgerechnet seine Mutter über den Mund. „Mit Laura hast du dich gestern bestimmt auch viel angeschwiegen.“
    „Beim Essen schon“, gab Frerk zu und ihm stieg Hitze ins Gesicht. War das so ein schlechtes Zeichen?
    Danach wurde nicht mehr so viel geredet. Sie machten sich mit viel Hingabe über das Essen her, bis auch die letzte Roulade verputzt war. Irgendwann begann Ruga von einer Begegnung mit seinem ehemaligen Vorgesetzten zu erzählen, der ein bisschen erzählt hatte, was im Moment bei der Miliz vorging. Und wie es so war, wenn Ruga erstmal angefangen hatte, kam er auch nicht mehr so schnell zu einem Ende. So kam es, dass sie schon alle längst fertig gegessen hatten, als er damit endete, dass die Miliz wohl überlegte einen Teil der alten Kaserne unterzuvermieten.
    „Das Ding steht doch eh längst halb leer“, sagte Sia und lächelte aus irgendeinem Grund selig. Ruga schien dieses Lächeln zu belustigen.
    „Heute sind Frerk und ich mit dem Abwasch dran“, stellte Edna fest und begann die Teller zusammenzustellen.
    „Sehr gut! Dann kann ich heute endlich mal wieder etwas früher zu Bett gehen“, unterdrückte ihre Mutter ein Gähnen und streckte sich.
    Pflichtschuldig erhob Frerk sich und trug einen Stapel Geschirr zum Waschzuber in der Ecke. Aus einem Eimer daneben kippte er frisches Wasser hinein.
    Bald saßen er und seine Schwester neben dem Zuber auf dem Boden und schrubbten das Geschirr. Ihre Eltern waren schon zu Bett gegangen.
    „Nun erzähl mal. Wo drückt der Schuh?“, fragte Edna nun viel sanfter als während des Essens.
    „Der Schuh…? Was meinst du denn damit?“, tat Frerk unwissend.
    „Das sagt man heute so“, entgegnete sie ungeduldig.
    Er zog es vor zu schweigen. Er wusste ja selbst nicht, warum ihn Valentinos Einladung so beschäftigte. Und was hätte er schon sagen sollen, dass nicht albern klang?
    Edna wartete eine Weile, ob er von selbst anfangen würde, dann fügte sie hinzu: „Mir kannst du’s sagen. Sind doch Bruder und Schwester.“
    Sie hielt ihm den kleinen Finger hin, wie sie es als Kinder immer hatten tun müssen, wenn sie sich gestritten hatten. Frerk musste gegen seinen Willen grinsen.
    Dann war es raus, bevor er sich recht dafür entschieden hatte: „Laura hat heute Blumen von einem anderen Mann bekommen.“
    „Wie bitte? Von wem?“, staunte Edna. „Es weiß doch inzwischen wirklich jeder, dass ihr zusammen geht.“
    „Nun ja…“ Frerk wusste nicht, wie er es schonend formulieren sollte. Obwohl er sich sicher war, dass seine Schwester die letzte war, der etwas schonend beigebracht werden musste.
    „Ist es Dewak, der alte Prolet?“, begann Edna zu raten. „Der hat letzte Woche diese Mindy abgeschossen. Seitdem heult sie tagein, tagaus.“
    „Ne, noch älter“, erwiderte Frerk.
    „Das war doch nicht wörtlich gemeint. Dewak ist jünger als du.“
    „Es ist Valentino.“
    Platschend fiel der Teller ins trübe Wasser, den Edna gerade noch geschrubbt hatte. „Der Valentino?“ Sie starrte ihn entgeistert an. Als er nickte, schlug sie die Hände vor den Mund.
    Irgendwie löste ihm diese Reaktion die Zunge. „Er hat ihr einen riesigen Strauß Blumen geschickt und sie ins Ritz eingeladen. Dort hat er sie gestern Abend gesehen und wohl sofort ein Auge auf sie geworfen. Er hatte sich schon an unseren Tisch gesetzt, als ich nur mal kurz austreten war.“
    „Dieser alte Schürzenjäger“, murmelte Edna fassungslos. „Und dieses Mal meine ich das wörtlich. Der ist fast so alt wie unsere Mutter, wenn nicht gar älter! Laura hat die Einladung doch nicht angenommen, oder?“
    „Natürlich nicht“, gab Frerk brüsk zu. „Ich mach mir wahrscheinlich viel zu viele Gedanken. Laura ist eine selbstbewusste, anständige Frau. Valentino wird sich an ihr die Zähne ausbeißen.“
    „Valentino hat schon so manche Betschwester verführt“, konterte Edna altklug. „Weißt du noch, was er mit der guten Lollis gemacht hat?“
    Frerk nickte.
    „Auf ihrer eigenen Hochzeit entjungfert hat er sie, obwohl er nicht ihr Bräutigam war“, spulte Edna die alte Geschichte herunter, als hätte er mit dem Kopf geschüttelt. „Dabei war sie so glücklich mit ihrem Mika. Er hat ihr Leben zerstört und ihr obendrein einen Bastard verpasst, und was hat ihn das geschert? Überhaupt nichts. Und das ist ja nur eine der bekannteren Geschichten. Wenn man sich mal umhört, hat dieser Mann schon Hunderte Frauen beackert, er ist unersättlich und kennt keinerlei Scham. Wenn ich du wäre, würde ich mich vor ihm in Acht nehmen.“
    Nun hielt auch Frerk in seinen kreisenden Putzbewegungen inne. Er hatte nicht erwartet, dass Edna sich so in Rage reden würde. „Aber es waren doch nur Blumen…“
    „Nur Blumen“, wiederholte Laura, doch von ihr klangen die Worte gleich ganz anders.

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