Die Story als PDF:
https://upload.worldofplayers.de/fil...fferkuchen.pdf



Es war einmal an einem klirrend kalten Tag vor der Wintersonnenwende im tief verschneiten Nordmar in einem kleinen Häuschen im Feuerclan. Das Holzhäuschen war nicht groß. Es bestand im Wesentlichen nur aus einem einzigen Raum, in dem sich das ganze Leben der Familie, die es bewohnte, abspielte. Nach dem Eintreten fiel der erste Blick sofort auf den alten Esstisch aus Tannenholz, der auch zum Zubereiten der Speisen benutzt wurde. Daneben stand ein massiver Ofen aus Eisen, der rettende Wärme spendete, aber auch fürs Kochen und Backen genutzt wurde. Aufgrund des Platzmangels standen die Schränke mit den Zutaten, dem Geschirr und Besteck im Eck. Ein Teil an der Wand, neben dem Ofen, der andere parallel zum Tisch. Das diente auch der Abgrenzung des Raumes, denn hinten rechts in der Ecke stand das Ehebett der Eltern. Zusätzlich zum Ofen, erhellten Kerzen aus Talg und Harz zusammen mit eine Feuerschale links vom Tisch den Raum. Daneben führte eine schmale Treppe hinauf unters Dach, wo die beiden Kinder der Familie schliefen. Im Moment war aber nur ein Kind im Haus, ein kleines sechsjähriges Mädchen mit braunen Locken, einem vorwitzigen Gesichtsausdruck und einer vorlauten Schnute. Sie hieß Kathleen und sprang quirlig um ihre großgewachsene Mutter Lara herum, die bereits die Ärmel hochgekrempelt hatte, um gleich mit dem Backen zu beginnen. Auch ihre Haare waren braun und lang, doch im Moment hatte sie diese zu einem festen Knoten gebunden, damit sie ihr bei der Küchenarbeit nicht ins Gesicht fielen und störten. Weil es durch den Ofen angenehm warm und gemütlich war, brauchten sie keine dicken Mäntel tragen. Stattdessen trug Lara einen hellbraunen Rock und ein rotes Oberteil, darüber eine lang genutzte fleckige Schürze. Auch ihrer Tochter hatte sie eine noch weiße kleine Schürze umgehängt, in der Hoffnung damit ihr braungrünes Kleidchen vor Flecken schützen zu können. Gerade hatten sie alles Nötige für die Pfefferkuchen herausgesucht und abgemessen und nun rührte Lara Mehl, Honig, Eier, Rübensirup und Butter in einer großen Schüssel zusammen. Der Teig war für sehr viele Mäuler bestimmt und so war das Rühren Schwerstarbeit.
„Gib jetzt das Hirschhornsalz hinzu, Kathi!“ befahl die Mutter.
Kathi holte das graue Gefäß und schüttete zögerlich das weißgraue Pulver in die Schüssel.
„Noch etwas mehr!“ forderte Lara.
Kathi kippte das Behältnis einfach.
„Halt!“ rief die Mutter sofort und nahm ihrer Tochter das Gefäß aus der Hand.
„Aber du hast gesagt: Mehr!“ wehrte sich ihre Tochter und schaute bockig.
„Ich habe nicht gesagt, dass du alles reinschütten sollst.“
„Hab ich ja auch gar nicht.“
„Schluss! Hol lieber die Gewürze!“
„Was denn für welche?“ fragte Kathi und machte große Augen.
„Zimt, Fenchel und Nelken.“
Kathi reichte ihr die Töpfe mit den Gewürzen und schwuppdiwupp hatte sie etwas Teig stibitzt.
„Du sollst keinen Teig klauen, der ist noch nicht gebacken, davon kriegst du nur Bauchweh“, sagte die Mutter und hob drohend einen Zeigefinger.
„Weiß ich nicht, müsste ich ausprobieren“, sagte Kathi verschmitzt.
„Nichts probierst du aus! Hilf mir lieber die Gewürze an den Teig zu geben. Schau, so wie ich es mache.“
Kathi schaute und gab dann viel mehr Gewürz rein, als die Mutter es vormachte.
„Es reicht, nun muss ich kneten.“
„Kann ich helfen?“ fragte Kathi und sprang aufgeregt auf und ab.
„Nein, dafür bist du noch nicht stark genug.“
Während ihre Mutter den Teig knetete, lief und hüpfte Kathi wild um den Tisch herum und sang aufgedreht: „In der Winterbäckerei, gibt es so manche Leckerei, ja in der Winterbäckerei, da ist für jeden was dabei. Da gibt’s für jeden Knilch `nen Liter Milch und Schwupps! Da ging es schon daneben, sag willst du dich denn nicht schämen? Ja was für eine riesengroße Schweinerei, in der Winterbäckerei, in der Winterbäckerei…“
„Hops hier nicht so rum, du Springinsfeld! Mach mal Platz“, versuchte die Mutter ihr Kind zur Ordnung zu rufen.
„Genau, so ging der Text“, krähte Kathi strahlend und sang dann weiter: „Mach mal Platz! Nur kein Gnatz! Einfach mal beiseitetreten, lass die Mutti doch mal kneten, sind die Finger rein? Du Schwein!“
Ihre Mutter verdrehte genervt die Augen, doch sie wusste, dass ihre Tochter gerade diese Textstelle so liebte.
„Fertig. Jetzt lassen wir das ordentlich ziehen“, sagte Lara stattdessen nur.
„Wohin ziehen wir es denn?“ wollte Kathi wissen.
Da musste ihre Mutter lachen.
„Das sagt man, wenn es ein bisschen stehen muss“, erklärte die Mutter.
„Wie lange ist ein bisschen? Reicht das denn dann bis morgen?“ fragte Kathi und ihr war deutlich anzusehen, dass sie schon befürchtete die Wintersonnenwende ohne Pfefferkuchen verbringen zu müssen.
„Keine Sorge, die hier sind für den Tag nach der Wintersonnenwende. Jetzt nehmen wir die Schüssel, die wir gestern vorbereitet haben.“
Lara stellte sich auf einen Stuhl und holte unter den wachsamen Augen ihrer Tochter eine abgedeckte Schüssel vom Schrank.
„So, jetzt portionieren wir den Teig und geben noch ein paar Nüsse oben drauf“, sagte Lara und war schon dabei den Teig auszurollen und zeigte Kathi wie sie ihn ausstechen sollte.
Das machte dem Kind großen Spaß und immer wieder versuchte es etwas von dem Teig zu mopsen, was ihre Mutter aber meist unterbinden konnte. Sie belegten drei Bleche voll.
„Jetzt kommt es aber in den Ofen, oder?“ fragte Kathi mit leuchtenden Augen.
„Richtig“, sagte Lara und musste grinsen, als ihre Tochter wieder mit dem Singen anfing.
„Kommt alle rasch heran und schmeißt den Ofen an! Die Pfefferkuchen sollen backen, damit wir alle welche können packen, in der Winterbäckerei, in der Winterbäckerei und jetzt warten wir gespannt, hoffentlich ist nichts verbrannt, in der Winterbäckerei, in der Winterbäckerei.“
Während ihre Mutter die Pfefferkuchen in den Ofen schob, hopste Kathi weiter am Tisch herum. Sie stützte sich immer wieder mit beiden Händen auf der Tischplatte ab und schnellte dann voller Elan nach oben. Lara richtete sich schließlich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie lächelte, glücklich, dass diese Arbeit erledigt war.
„Ach, du bist genauso ein kleines Rattengewitter wie dein älterer Bruder, als er so alt war wie du.“
Kathi hörte auf zu hopsen und dachte kurz nach.
„Wirklich? Aber er ist doch meist ruhig.“
Das Lächeln auf Laras Gesicht verschwand. Sie wandte sich zum Tisch und sagte: „Räumen wir das Chaos hier auf. Nachher kommt Asta vorbei, um mir bei den Vorbereitungen für das morgige Festessen zu helfen und dann soll es hier ordentlich aussehen.“
Schnell räumte Lara alles zusammen, stellte das genutzte Geschirr in die Waschschüssel und die Tongefäße mit den Gewürzen zurück ins Regal, während Kathi lautstark den Tisch wischte und das Mehl nur noch weiter herumschleuderte, anstatt es wegzuwischen. Als sich ihre Mutter umdrehte und das Schlamassel sah, seufzte sie tief und sagte leidend: „Aber doch nicht so, ich hab es dir doch schon tausendmal gezeigt. Hier, du nimmst den Lappen und dann nimmst du mit ihm den Schmutz auf. So! Siehst du?“
„Ja, Mama, aber so macht es nicht so viel Spaß.“
Geschafft atmete Lara aus. Sie überlegte gerade was sie noch zu ihrer Tochter sagen sollte, da öffnete sich die Tür und der eisige Wind, der von draußen hereinwehte, ließ die Flammen auf den Kerzen und in der Feuerschale flackern und Mutter und Tochter erzittern, denn weil es hier drin so wohlig warm war, brauchten sie keine dicke Kleidung. Herein traten ein in eine dicke Wolsfellrüstung gekleideter großer kräftiger Mann mit schwarzen Haaren, stechenden Augen und wettergegerbtem Gesicht und ein elfjähriger Junge, dessen Antlitz beschämt und irgendwie verkrampft aussah. Weil er eine dicke Felljacke trug, fiel nicht so sehr auf, dass er anders als sein Vater von drahtiger Gestalt war. Die Mutter sah gleich, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmte. Sie schnappte nach Luft, stemmte entschlossen die Hände in die Hüften und fragte anklagend: „Hast du etwa wieder mit ihm trainiert?“
„Lee muss endlich lernen mit Waffen umzugehen“, entgegnete der Vater.
Lara ging zuerst nicht darauf ein, sondern kam zu ihrem Sohn und schob die dicke Felljacke hoch, ohne auf die Proteste des Jungen zu achten.
„Hab ich‘s mir doch gleich gedacht, grün und blau hast du ihn geschlagen. Kannst du mir verraten was das soll, Lorn?“
Der Vater sah etwas verlegen aus, antwortete aber: „Er kann die Angriffe einfach noch nicht voraussehen und reagiert zu spät.“
„Du müsstest ja nicht gleich so hart zuschlagen“, hielt sie ihm vor.
„In einem richtigen Kampf hält sich der andere auch nicht zurück und wir kämpfen immerhin nur mit Holzschwertern.“
„Du musst ihn trotzdem nicht gleich halb tot prügeln“, fuhr die Frau ihren Mann an.
„Tu ich doch gar nicht. Außerdem kann er das schon ab. Immerhin ist er jetzt elf Jahre alt, da muss er wissen, wie man als Krieger kämpft“, sagte der Vater starrköpfig.
„Er ist noch viel zu jung“, meinte die Mutter.
„Es ist nie verkehrt, wenn man sich früh verteidigen kann. Außerdem leben wir hier in Nordmar, da kommt nichts Gutes dabei heraus, wenn man seine Kinder zu lange verhätschelt“, antwortete Lorn ruppig.
Lara sah vom missmutigen Blick ihres Sohnes zum verschreckten Gesichtsausdruck ihrer Tochter.
„Bring die Kinder ins Bett!“ wies Lara ihren Mann resolut an.
Ohne ein weiteres Wort geleitete der Vater ihre beiden Kinder die Treppe hinauf nach oben. Das Obergeschoss war so niedrig, dass ein erwachsener Mann selbst in der Mitte leicht gebückt gehen musste. Die Betten der Kinder standen am Rand bei den Dachschrägen, wo selbst sie darauf achten mussten sich nicht den Kopf zu stoßen, doch es war auch irgendwie gemütlich. Lees Bett stand im hinteren Teil neben einem Regal voller Krimskrams, Kathis Bett stand vorne am Eingang bei der Treppe, wo ein sanfter orangener Lichtschein von der Feuerschale unten heraufdrang.
„Mach dir keine Sorgen, mein Sohn. Du wirst schon noch besser“, sprach Lorn seinem Sohn Mut zu, der sich zu seinem Bett zurückzog.
„Erzählst du mir und Bambi noch eine Geschichte?“ fragte Kathi, die bereits in ihrem Bett lag und ihr Stofftier an die Brust drückte.
Es war ein braunes Reh mit weißen Punkten. Schwarze Knöpfe waren als Augen aufgenäht. Lorn seufzte und kniete sich vor ihrem Bett auf den Boden.
„Na gut. Es war einmal ein Mann, der hatte sieben Söhne. Die sieben Söhne sagten: Vater erzähl uns eine Geschichte! Da fing der Vater an: Es war einmal ein Mann, der hatte sieben Söhne. Die sieben Söhne sagten…“
„Nein, nicht die, eine andere!“ forderte seine Tochter quengelnd, denn sie wusste genau, dass ihr Vater diese Geschichte immer dann zum Besten gab, wenn er keine Lust hatte etwas zu erzählen.
Lorn seufzte.
„Bitte, bitte“, bettelte Kathi.
„Also schön“, ließ sich Lorn breitschlagen und setzte sich jetzt auf den Holzboden, denn das hier würde wohl länger dauern. „Es war einmal ein kleines Molerat namens Garup, das lief in der Stunde des Feuers über die Weide …“
Ganz gefesselt hörte Kathleen ihrem Vater zu, als er erzählte wie das kleine Molerat von einem Wolf über die Wiese gehetzt wurde. Sie fieberte richtig mit, als das kleine Molerat dachte sich im Wald verstecken zu können, aber ihm dort drei weitere Wölfe den Weg versperrten. Erschrocken stieß sie aus: „Oh, Ah! Nein!“ Erleichterung machte sich breit, als sie erfuhr, dass es nur ein Albtraum von Garup, dem kleinen Molerat war.
„Ich hab manchmal auch Albträume, aber nicht so was Schlimmes“, gab sie Auskunft. „Eher so was wie, dass ich Hausarrest bekomme, oder nicht beim Festessen dabei sein darf.“
„Albträume können schon lästig sein“, sagte Lorn und für einen kurzen Moment verzog sich sein Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse.
Er riss sich wohl aus seinen Gedanken, denn nun fragte er seine Tochter: „Soll ich weitererzählen?“
„Jaaah!“ kam es sofort laut und deutlich zurück.
Während der Vater die Geschichte fortsetzte, sah er zu seinem Sohn, der ebenfalls lauschte, auch wenn er sie schon kannte: „Er musste endlich lernen, sich erwachsen zu verhalten. Seine Mutter war zwar der Meinung, dass solche Dinge nur mit der Zeit kamen und nicht erzwungen werden konnten, aber Garup vermutete, dass sie das nur aus Milde und Güte zu ihm sagte. Für Milde und Güte war vielleicht aber gar nicht mehr so viel Platz, denn jetzt war Garup selbst dazu aufgerufen, Verantwortung zu tragen. Jetzt, wo sein Vater tot war, musste er dessen Aufgaben übernehmen. Nicht alle, natürlich. Aber die wichtigen schon. Dazu gehörte, die eigene Familie zu beschützen. Und dazu musste man wachsam sein …“
Lorn erzählte, wie der Vater des kleinen Molerats gestorben war und wie Garup und seine Mutter nun allein zurechtkommen mussten und sie schließlich auf zwei Jäger trafen. Es kam zu einem kurzen Kampf, bei dem die Mutter des kleinen Molerats starb.
„Hätte Garup nicht so viel Angst gehabt, dann hätte er seiner Mutter im Kampf helfen können…“, endete Lorn und sah noch einmal mit bedeutungsschwerem Blick zu seinem Sohn hinüber.
Sie hörten wie Lara die Treppe heraufkam und sie war noch gar nicht richtig zu sehen, da schimpfte sie schon los: „Du sollst ihr diese Geschichte doch nicht erzählen. Sie ängstigt sich doch sonst.“
„Ach Quatsch. Kathi ist doch schon ein großes Mädchen, nicht wahr Kathi?“ fragte der Vater und die Tochter nickte sofort zustimmend. Doch Lara sah das wohl nicht so.
„Komm jetzt mit runter! Wir müssen reden.“
Am scharfen Ton erkannte Lorn, dass es wohl kein angenehmes Gespräch werden würde. Die Kinder dachten natürlich nicht daran jetzt zu schlafen und lauschten stattdessen. Zuerst konnten sie ihre Eltern nur Flüstern hören, doch wie erwartet, blieb das Gespräch nicht lange bei dieser Lautstärke.
„Du weißt ganz genau warum ich nicht will, dass er mit dir zur Jagd loszieht!“ hörten sie ihre Mutter schließlich zischen.
„Er muss es aber lernen“, sagte ihr Vater entschlossen. „Er soll ein guter Jäger und ein kühner Krieger werden. Das wird er aber nicht, wenn er hier nur bei dir im Haus herumhängt.“
„Das tut er doch gar nicht. Er ist auch oft draußen im Dorf unterwegs.“
„Ja, weil im Dorf auch so viel Wild herumläuft“, höhnte Lorn.
„Fürs Jagen ist später immer noch genug Zeit“, versuchte Lara ihren Mann umzustimmen.
„Wer weiß wie viel Zeit ich noch habe, um all mein Wissen an ihn weiter zu geben. Besser er lernt es früher als später. Wenn ich mit einer Orkaxt im Schädel im blutigen Schnee liege, sollte er besser schon gelernt haben zu kämpfen und zu jagen.“
Sie hörten ihre Mutter schnauben.
„Hörst du dich überhaupt reden? Glaubst du das beruhigt mich jetzt? Was glaubst du passiert, wenn er mit dir geht und ihr beide auf eine Gruppe Orks trefft? Dann seid ihr beide tot.“
„Mit dir kann man nicht vernünftig reden“, meinte Lorn. „Ich geh was trinken.“
„Schön, dann geh doch!“ hörten sie ihre Mutter schreien und gleich darauf knallte die Haustür.
„Weißt du warum sie so streiten?“ fragte Kathi leise ihren Bruder.
Der wusste nicht wie er es sagen sollte, ohne seine kleine Schwester zu beunruhigen. Schließlich sagte er: „Vater will, dass ich mit ihm auf die Jagd gehe, doch Mutter meint, das könnte zu gefährlich sein.“
„Wegen der Wölfe?“ hörte er sie fragen.
Sie dachte wohl an die Geschichte mit dem kleinen Molerat. Lee überlegte, ob er das so stehen lassen sollte und sagte schließlich: „Genau.“
„Mit denen wird Vati schon fertig. Da muss sich Mami keine Sorgen machen“, sagte Kathi leise und sie kuschelte sich tiefer in ihr Bettchen.
Vielleicht wäre sie schon eingeschlafen, wenn die Tür nicht wenig später erneut aufgegangen wäre. Sie hörten eine vertraute Stimme sagen: „Hallo, wie geht’s?“
„Das ist Asta“, sagte Kathi leise.
„Was will sie hier?“ fragte Lee flüsternd, denn er vermutete, dass seine Schwester es von ihrer Mutter wusste.
„Sie will Mami beim Essen machen helfen, für morgen.“
Die Kinder verstummten wieder, um besser lauschen zu können.
„Was ist mit dir? Du siehst aus, als wäre eine Ladung Schnee auf deinen Kopf gefallen“, hörten sie Astas Stimme sagen.
„Es ist wegen Lorn. Er hat wieder mit Lee trainiert und als ich mit ihm darüber reden wollte, hat er gar nicht richtig zugehört. Er sieht einfach nur seine Sicht der Dinge, wie es mir dabei geht, wenn er wieder zum Jagen lehren loszieht, interessiert ihn wohl nicht die Bohne. Ich fürchte mich einfach vor dem Tag, an dem er nicht mehr zurückkommt und wenn dann auch noch Lee fort bleibt …“
Sie hörten unterdrückte Schluchzer der Mutter und Asta wie sie leise sagte: „Ich kann es dir nachfühlen, komm her, lass dich mal ganz fest drücken.“
Es war einen Moment still, dann sagte Asta beruhigend: „Du weißt, auf mich kannst du dich verlassen. Ich hab doch auch einen ganzen Stall voller Jungs zu Hause. Ernst mitgezählt. Er mag wie ein erwachsener Mann aussehen, aber im Kopf ist er oft wie ein kleiner Junge. Heute hat er Heinke und Kerth dazu angestiftet für Toralf eine Eisrutsche zu bauen. Vom Dach unseres Hauses aus. Wie bescheuert muss man eigentlich sein? Manchmal frage ich mich wirklich was in seinem Kopf vorgeht. Wenn Heinke und Kerth solchen Blödsinn mitmachen, gut, die sind mittlerweile alt genug, denen fällt nicht gleich ein Arm ab, aber Toralf ist erst sieben.“
Sie hörten wie Asta laut und angespannt Luft holte.
„Ernst sollte seine Söhne davon abhalten dummes Zeug zu machen und ihnen nicht auch noch Flausen in den Kopf setzen.“
Die Kinder hörten Schüsseln klirren und Geraschel, als die Frauen die Lebensmittel aus dem Schrank holten, um mit den Essensvorbereitungen zu beginnen.
„Männer“, stieß Lara genervt aus.
„Was würden die nur ohne uns machen?“ kam es von Asta zurück.
„Schätze nach nicht mal zwei Wochen würden sie stinkend durch die Gegend laufen und jedem aufs Maul hauen, der sie nur mal schief anguckt.“
„Oder sich gleich gegenseitig umbringen“, sagte Asta düster und die Kinder hörten wie ein Messer etwas auf einem Schneidebrett zerschnitt.
„Da sagst du was, ohne uns wären diese sturen groben Klotze doch nicht überlebensfähig“, sagte Lara mürrisch.
Eine Spur fröhlicher sagte Asta nun: „Ja, stell dir nur vor: Wahrscheinlich würden sie sich nur alle paar Monate zum Waschen trauen, weil das Wasser ist ja nass.“
Sie hörten Asta kichern.
„Oder sie würden es als waschen ansehen, wenn sie mal durch einen Fluss schwimmen“, hörten sie ihre Mutter nun mit belustigter Stimme sagen.
„Haha, ja und die Haare würden ihnen bis in die Augen hängen, weil wir sie ihnen nicht mehr schneiden“, lachte Asta.
„Ja, bestimmt würden sie sich nur noch einmal im Jahr die Haare scheren.“
„Mit dem Schwert“, scherzte Asta.
„Und kochen wäre bei ihnen Fleisch übers Feuer hängen“, schäkerte Lara.
„Ach, ich denke backen könnten sie auch“, meinte Asta. „Nur, dass das Brot dann so hart wäre, dass es schon Waffenfähig wäre.“
Lara prustete laut los. Die beiden Frauen hatten wohl eine gute Zeit dort unten.
Lee hörte ihnen nicht mehr zu. Er dachte an das heutige Training. Es war nicht nur, dass ihm gefühlt alles schmerzte, er wollte aus seinen Fehlern lernen und ging die Angriffe seines Vaters wieder und wieder durch. Auch wenn seine Mutter es als zu hart sah, Lee hielt zur Meinung seines Vaters. Er musste lernen zu kämpfen und er war jetzt alt genug dafür. Manchmal duellierte er sich mit Kerth. Der war schon dreizehn und neben seiner größeren Kraft, war er auch sehr flink und konnte schon einigermaßen mit dem Schwert umgehen. Und Heinke war schon sechzehn. Er sollte eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters treten und Oberhaupt des Feuerclans werden. Dafür musste er natürlich ein guter Kämpfer sein. Ernst nahm seine Söhne hart ran. Da war es Lee’s Meinung nach nicht verkehrt, wenn sie auch ein bisschen Spaß hatten.
Das laute Klappern von Geschirr riss ihn aus seinen Gedanken. Offenbar waren die Essensvorbereitungen abgeschlossen, denn nun wurde alles in den Schränken verstaut.
„So, das wäre geschafft. Du kommst doch noch mit zu mir, um mir auch zu helfen?“ war Astas Stimme zu hören.
„Ja, nun … natürlich. Die Kinder schlafen ja eh und ich werde bestimmt nicht lange fort sein“, sagte Lara.
Eine Tür ging auf, sie hörten den Wind pfeifen und dann klappte die Tür wieder zu.
„Sie sind weg“, sagte Kathi.
„Du schläfst ja immer noch nicht“, kam es von Lee zurück.
„Wie soll ich schlafen, wenn ich hungrig bin und von unten so ein leckerer Duft hoch weht?“ fragte Kathi bockig.
Tatsächlich hing der dicke, schwere Geruch nach frisch gebackenen Pfefferkuchen äußerst verführerisch in der Luft.
„Schleichst du für mich runter und stibitzt einen Pfefferkuchen für mich?“ fragte Kathi ihren Bruder keck.
„Sie sind bestimmt abgezählt“, wandte Lee ein.
„Ach komm! Bitte.“
„Nein.“
„Bitte, bitte, … büüüüüütteeee. Ich hab Mama die ganze Zeit dabei geholfen sie zu machen. Kannst du dir eigentlich vorstellen wie viel Arbeit das war? Und dann hab ich gar nichts davon.“
„Du bekommst morgen was zur Wintersonnenwende, so wie alle“, gab ihr Bruder zurück.
„Ja eben!“, entgegnete sie naseweis. „Und was ist, wenn die Pfefferkuchen ganz grauenvoll schmecken, weil ich etwas falsch gemacht habe? Dann werden alle die Nasen rümpfen und die Zungen rausstrecken und sagen: Uäääääh, was ist das denn ekliges? Und Mama und ich, wir fühlen uns dann ganz schrecklich. Deswegen muss man doch Vorkosten.“
Lee lächelte leise in sein Kopfkissen hinein. Seine kleine Schwester konnte sich wirklich immer etwas einfallen lassen, damit es nach ihrem Willen ging. Er schwankte bereits, wollte sich aber noch nicht zu dieser Dummheit hinreißen lassen.
„Wenn Mutter auf einmal zurückkommt und mich erwischt, gibt es bestimmt einen riesen Ärger.“
„Hast du etwa Angst?“ fragte Kathi herausfordernd.
„Nein, natürlich nicht“, entgegnete Lee, der schon ahnte, dass sie nicht so schnell aufgeben würde.
„Doch hast du.“
„Nein, hab ich nicht.“
„Woooohl.“
„Gar nicht.“
„Angsthase, Pfeffernase“, spottete sie.
Lee seufzte und stand auf. Er wusste, sie würde keine Ruhe geben, bevor sie nicht bekam was sie wollte. Und wenn er es sich eingestand, wollte er auch gerne einen Pfefferkuchen essen.
„Na gut, aber dann musst du ganz leise sein“, sagte er.
„Werde ich sein“, flüsterte sie.
Lee ging an ihr vorbei und setzte den ersten Fuß auf die oberste Treppenstufe, die nun im Dunkeln lag. Sie knarrte.
„Bring auch einen für Bambi mit“, bat Kathi und hatte schon gleich wieder vergessen, dass sie leise sprechen sollte und streckte ihm ihr Stofftier entgegen.
„Du kannst mit ihm teilen“, meinte Lee.
„Wir haben aber beide großen Hunger“, sagte sie.
Lee seufzte noch einmal.
„Na schön…“
Lee schlich die Treppe hinunter und spähte umher. Es war wirklich niemand mehr hier. Die Feuerschale und die Kerzen waren gelöscht. Das Feuer im Ofen knackte angenehm und erhellte das Zimmer mit schummrigem Licht. Vorsichtig schlich Lee zum mit Eissternen verkrusteten Fenster und sah nach draußen, doch es war so dunkel, dass er nichts erkennen konnte. Rasch wandte er sich wieder ab und ging zu den Backblechen, die auf dem Tisch auslüfteten. Er nahm einen Pfefferkuchen von jedem Blech. Sie waren noch herrlich warm. Damit nicht so sehr auffiel, dass welche fehlten, rückte Lee die anderen auf den Blechen zurecht, um die Lücken zu schließen. Heimlich ging der Junge zur Treppe zurück und von dort ins Dachgeschoss. Lee ging zu seiner Schwester und reichte ihr wie versprochen die beiden Pfefferkuchen.
„Du bist der Beste“, flötete sie.
Lee lächelte sie breit an.
„Dein Lieblingsbruder?“
„Haha, du bist ja auch mein einziger Bruder“, kam es von ihr zurück.
Schnell wandte sich Lee von ihr ab, damit sie sein Gesicht nicht sah. Sie konnte sich wohl nicht mehr daran erinnern, weil sie damals noch zu jung gewesen war, doch früher gab es vier Kinder in der Familie: Bruce, Lee, Johann und Kathleen.
Johann war in seinem vierten Winter an einem schrecklichen Fieber gestorben. Der Vater hatte ihn zum Kloster der Feuermagier bringen wollen, denn dort hätten sie Johann bestimmt helfen können, doch der Junge hatte es nicht mehr lebend bis dorthin geschafft. Ein Jahr später starb Bruce. Er war zu der Zeit dreizehn Jahre alt und begleitete den Vater auf seinen Jagdzügen, um diesen Beruf zu lernen. Lee hatte nie genau erfahren, was geschehen war. Lorn hatte nur erzählt, dass ihn ein Säbelzahntiger getötet hatte, weil Bruce nicht auf den Vater hörte. Das war nun vier Jahre her. Bald würde Lee mit seinem Vater ziehen und er wollte bereit sein. Er gab sich die allergrößte Mühe nicht wie Bruce zu sein, sondern seinem Vater immer aufmerksam zuzuhören und schnell zu lernen.
„Hm… wenn sie warm sind, schmecken sie am besten“, hörte Lee seine Schwester sagen.
Sie schmatzte. Er setzte sich aufs Bett und begann ebenfalls zu essen. Es schmeckte wirklich sehr gut. Die warme Süße füllte den ganzen Mund und beim hinunterschlucken wärmten die Pfefferkuchen den ganzen Bauch. Zufrieden schliefen die Kinder ein.


Der nächste grauverhangene Morgen stand ganz im Sinne der Arbeit. Die Männer vom Feuerclan holten die Girlanden mit den zum Leuchten gebrachten magischen blauen Erzbrocken hervor und die Frauen und Kinder putzten sie. Grundlage für die schweren Girlanden waren Eisenketten, die das Gewicht des magischen Erzes tragen konnten. Frisch abgeschlagene Tannenzweige wurden herbeigeschafft und in die Girlanden eingeflochten und schließlich wurden diese Dekorationen im gesamten Dorf aufgehängt, immer von einem Dachfirst zum nächsten, so dass ein wunderschöner blauer Schimmer über dem Dorf lag. Diese Girlanden symbolisierten das Leben im kalten Nordmar, das ganz dem Abbau des magischen Erzes und der Jagd zwischen den Tannen gewidmet war.
Als diese Arbeit getan war, gab es ein schlichtes Mittagessen, Suppe und Schmalzschnitten. Einen Teil des Festessens würde es am Nachmittag geben, den zweiten Teil am späten Abend und dafür musste dann immer noch mehr vorbereitet werden, als gedacht. Obwohl es jedes Jahr das Gleiche war, wurden die unliebsamen Arbeiten eben doch immer erst ganz zuletzt verrichtet und darunter fiel auch der Aufbau der Festtafel im Haus des Clanführers. Ernst und Asta hatten alle Hände voll zu tun, doch weil jeder wollte, dass es ein schönes Fest wurde, packten alle Dorfbewohner mit an. Tische wurden aus den Häusern geholt und zu einem großen Viereck zusammengestellt, Stühle herbeigeholt und aus jeder Familie wurde ein in langer Handarbeit gesticktes Tischtuch für die Tafel beigesteuert. Die kleine Halle wurde mit flackernden Feuerschalen erhellt und es war angenehm warm. Auch hier drin wurde geschmückt. Vier Frauen standen auf Leitern und hängten eine schwere Girlande aus Tannenzweigen und magischem blauem leuchtenden Erz auf, die vom Eingang bis zur gegenüberliegenden Wand reichte und so die gesamte Festtafel überspannte.
„Alles muss tipptopp aussehen. Am Nachmittag trifft hoher Besuch ein. Der König, die Königin und der Prinz werden heute anwesend sein“, sagte Asta feierlich und strich sich durch ihr orangerotes langes Haar.
„Der König?“ krähte Kathi und bekam große Augen. „Was will der denn hier bei uns?“
„Na na Kathleen, sei nicht so vorlaut“, rief ihre Mutter sie zur Ordnung, während sie ihr hübsch gesticktes feuerrotes Tischtuch auf der Festtafel glattstrich und hoffte, dass es nicht zu sehr mit Bier und Soße vollgekleckert werden würde.
Kathi guckte skeptisch, denn sie wusste, wenn sie mit vollem Namen angesprochen wurde, dann wurde es ernst.
„Du weißt es vielleicht nicht, aber König Rhobar stammt selbst aus dem Feuerclan“, erklärte Asta dem Kind geduldig. „Er ist daher unser Ehrengast.“
Das reichte Kathi wohl als Erklärung, denn sie nickte und sauste dann davon, um zu überprüfen, ob sie schon zu groß war, um unter den Tischen hindurchzukrauchen. Hin und wieder rempelte sie gegen ein Tischbein, aber das konnte auch daran liegen, dass sie zu schnell unterwegs war. Lara seufzte schwer, als sie ihrer verspielten Tochter nachsah.
„Was soll ich nur mit ihr machen?“
„Ach das wächst sich schon noch aus“, meinte Asta abwehrend und sah lächelnd den erzitternden Tischen zu.
„Na Hauptsache sie krabbelt nicht unter den Tisch des Königs“, sagte Lara düster.
„Ich werde schon aufpassen“, meinte Asta grinsend.
Als Chefin des Klans, saßen sie und ihr Mann neben dem König, der ganz in der Mitte mit Sicht zum Eingang seinen Ehrenplatz bekommen würde, doch Lara fragte sich wer die andere Tischseite im Blick behalten sollte. Asta kannte ihre langjährige Freundin gut genug, um zu wissen was in ihr vorging.
„Auf der anderen Seite des Königs werden Erk als größter Krieger vom Feuerclan und Hilke als Dorfälteste Platz nehmen.“
„Na dann will ich mal für mein kleines Krümelmonster hoffen, dass Hilke sie vor Erk zu fassen kriegt“, sagte Lara immer noch beunruhigt.
Hilke war eine gutmütige alte Frau und nun schon beinahe siebzig Jahre alt. Ihre Finger waren mittlerweile steif und daher konnte sie kaum noch zupacken. Wie sollte sie da ihre agile Tochter zu fassen kriegen? Viel eher würde Erk einmal kräftig unter den Tisch treten und damit klar zu verstehen geben, was er von solchen Dummheiten hielt. Vielleicht lag es an den harten, grausamen Kämpfen mit den Orks, aber vielleicht war Erk auch einfach nur ein kaltherziger, brutaler Mann. Daher hielt es Lara für eine gute Idee, die Arbeit kurz beiseite zu legen und ihre Tochter zu suchen, die sich mittlerweile kichernd und leise tuschelnd mit anderen Kindern unter den Tischen versammelt hatte. Lara fand es gut, dass sie so gleich alle Unruhestifter beisammenhatte. Sie bückte sich und hob die wunderschöne blaue und mit weißen Schneeflocken bestickte Tischdecke von Swantje der Frau des Schmieds hoch und sah in die fünf kleinen spitzbübisch grinsenden Gesichter von Toralf, Gretchen, Kaelin, Thorald und Kathi.
„Na, was heckt ihr wieder aus, ihr kleinen Geister?“
„Verraten wir nicht“, krähte ihre Tochter nur und die anderen Kinder kicherten schelmisch.
„Hört bloß auf mit den Albernheiten und wehe ihr werdet beim König erwischt! Er sitzt neben Asta und Ernst und das letzte was er braucht ist irgendein Schabernack.“
„Danke, dass du uns das sagst“, sagte Kathi und ihr Grinsen wurde sogar noch breiter.
„Ja“, setzte Toralf, Astas jüngster Sohn noch hinzu. „Dann wissen wir jetzt wo unsere Zielperson sitzt.“
Die anderen Kinder wieherten los. Laras Gesicht verdüsterte sich. Sie hob mahnend einen Zeigefinger und ihre Stimme wurde sehr streng: „Aber! Macht euch bloß fort! Euer Jux wird euch nur Ärger einbringen. Wehe wenn euch Erk erwischt und grün und blau haut.“
Da wurden die Kinder kurz still, konnten das Grinsen aber nicht lassen und Toralf sagte zu den anderen: „Kommt, gehen wir spielen!“
Kreischend, lachend und quiekend wuselten die Kinder unter den Tischen hervor und rannten hinaus in die kalte Nordmarluft. Lara seufzte geplagt und hoffte, dass heute größere Katastrophen ausblieben. Sie ging zu Hilke, die langsam und gewissenhaft die herbeigeholten Holzstühle abputzte. Heute waren ihre langen weißen Haare sorgsam geflochten. Vermutlich hatte ihre Tochter Wibke sie ihr geflochten. Lara sah auf diese alten runzligen starren Hände, die das Putztuch nur noch mit Mühe halten konnten und fragte sich wie sie es fertig bringen sollten ihr Kind vor einer Dummheit zu bewahren.
„Die Kinder sind mal wieder nicht zu halten und ich befürchte, sie haben beim Festmahl irgendeinen Unsinn mit dem König vor. Könntest du darauf achten, dass sie sich nicht unter den Tischen heranschleichen?“
„Ohje, da steht uns ja was bevor“, sagte Hilke belustigt und ihr altes faltiges Gesicht erglühte in einem warmen Lächeln.
Sie hatte schon ganz andere Sachen erlebt, als ein paar Kinder, die Schabernack trieben.
„Natürlich werde ich achtsam sein, aber in meinem Alter ist es schwierig die kleinen Schneekraucher noch zu fassen zu kriegen.“
„Vielleicht reicht ja schon ein mahnendes Wort von dir“, hoffte Lara.
„Das glaubst du?“ fragte Hilke und lachte.
Es hörte sich zwar alt und vertrocknet an, aber es lag viel Freude darin.
„Na mal sehen was da auf uns zukommt. Immerhin wird es so kein langweiliger Nachmittag“, sagte die alte Frau und setzte dann ihre Arbeit fort.

Draußen war währenddessen eine wilde Schneeballschlacht entbrannt. Kathi und Toralf kämpften gegen Kaelin, Thorald und Gretchen. Sie hatten ihr Hauptquartier hinter der Eisrutsche, die Toralfs Vater gestern gebaut hatte. Das war sehr praktisch, denn so mussten ihre Gegner entweder über das glatte Eis, wo sie ausrutschen könnten, oder von der anderen Seite kommen, wo es kaum Versteckmöglichkeiten gab und sie schnell von Schneebällen getroffen werden würden. Sie waren noch mitten im Spiel, als sie merkten, dass Aufregung in der Luft lag. Mehrere Erwachsene rannten an ihnen vorbei, ohne auf sie zu achten.
„Da ist was los“, rief Kaelin, der kleinste Junge und hopste aufgeregt auf und ab.
„Das ist bestimmt der König“, sagte Kathi aufgeregt und schon war sie losgerannt, um sich das anzusehen.
Die anderen Kinder rannten ihr begeistert nach. Vorwitzig krabbelten sie durchs allgemeine Gedränge, wobei Kathi einmal einen Schmerzensschrei ausstieß, da ein Mann unbeabsichtigt auf sie getreten war. Davon ließ sie sich aber nicht lange aufhalten, denn sofort setzte sie ihr Unterfangen, möglichst nah ans Geschehen heranzukommen, fort. Endlich stand sie in der ersten Reihe und links und rechts neben ihr tauchten nun auch ihre Freunde auf, die sich ebenfalls durchs allgemeine Gewühl gekämpft hatten. Sie konnten jetzt sehen wie sich drei Menschen dem Dorf näherten. Es waren der König, die Königin und der Prinz. Kathi konnte hierbei nichts Verwunderliches finden, denn es war das erste Mal, dass sie die Königsfamilie sah. Sie konnte nicht wissen, dass es in anderen Ländern üblich war, dass eine riesige Delegation die Königsfamilie begleitete. Doch König Rhobar I. wollte wohl ein ruhiges besinnliches Fest und hatte daher entschieden nur mit der Familie anzureisen. Gefahren brauchte er nicht zu fürchten, denn er war ein entschlossener und fähiger Krieger, der den Beinamen, Verteidiger des Reiches mehr als verdient hatte. Die Königin schaute skeptisch und offenbar fror sie bitterlich, obwohl sie einen prächtigen eisblauen Fellmantel trug. Der hochgewachsene fünfzehnjährige Prinz schaute neugierig aus seinem warmen Mantel auf die Dorfgemeinschaft, die sie empfing.
„Es ist uns eine Ehre mit euch zusammen die Wintersonnenwende zu feiern“, begrüßte Ernst als Oberhaupt des Feuerclans feierlich die Königsfamilie.
„Schön wieder einmal hier zu sein“, sagte der König locker und lächelte die vielen altbekannten Gesichter offen an.
Er hatte eine kräftige, Ehrfurcht gebietende Stimme und bewegte sich mit selbstbewusster Zielstrebigkeit. Seine Frau wirkte dagegen offensichtlich erschöpft und so war es nicht weiter verwunderlich, als er nach einem leicht besorgten Blick auf sie sagte: „Es war eine weite Reise durch den Schnee und meine Frau möchte sich gerne ausruhen.“
Sie warf ihm einen kurzen scharfen Blick zu, denn offenbar schätzte sie es nicht, dass sie als angeblich schwaches Weib zur Begründung das Warme aufzusuchen vorgeschoben wurde. Er warf ihr einen kurzen entschuldigenden Blick zu und legte ihr dann liebevoll einen Arm um den Rücken.
„Natürlich, es ist schon alles vorbereitet“, sagte Ernst, wies mit der rechten Hand einladend den Berg hinauf auf sein Haus und hoffte inständig, dass mittlerweile wirklich bereits alles fertig vorbereitet war.
Munter schwatzend und voller Vorfreude gingen sie durch die festlich geschmückte Straße auf Ernsts Haus zu. Als sie die hölzernen Stufen zum Eingang des Hauses hochstiegen, fiel der Schnee von ihren Stiefeln. Als König Rhobar, umringt von den Dorfbewohnern und zusammen mit seiner Familie, eintrat und die festlich geschmückte Halle sah, erinnerte ihn das wohl an vergangene Wintersonnenwendfeiern, denn sein Gesicht leuchtete voller Glückseligkeit.
„Schön wie immer“, sagte er fröhlich.
Dieses knappe Lob erfreute die Menschen des Feuerclans und sie waren glücklich den starken König, der einer von ihnen war, in ihrer Mitte zu haben. Als die Frauen sahen, dass die Königsfamilie eingetreten war, brach geschäftiges Gewusel aus. Alle beeilten sich mit den letzten Handgriffen fertig zu werden und die Gäste zu begrüßen. Die dicken Mäntel wurden ausgezogen, denn in der behaglichen Wärme des Hauses waren sie unnötig. Plaudernd und lachend standen sie einen Moment da, bis Ernst die Stimme erhob und dann breit grinsend ausrief: „Na dann ran an die Tische! Der schönste Platz ist immer an der Futterkrippe!“
„Ernst! Kannst du das nicht etwas feierlicher sagen?“ fragte Asta pikiert und sah beklommen zur Königsfamilie.
Die Königin hatte sehr professionell keine Miene verzogen, der Prinz nur eine Augenbraue gehoben, doch Rhobar I. lächelte breit, offenbar erinnerte Ernst sogenannter Charme ihn an vergangene Zeiten im Feuerclan. Die vorbereitete Platzordnung wurde eingehalten. Ernst, Asta und ihre Kinder saßen neben der Königsfamilie gegenüber der Tür, so dass sie jeden sehen konnten, der eintreten würde. Links neben ihnen saßen Erk und Hilke, die sich offenbar sehr darüber freuten, dass König Rhobar sie gleich befragte was es denn für Neuigkeiten im Feuerclan gab. Kathi saß auch bereits hibbelig auf ihrem Platz und konnte es gar nicht mehr erwarten, dass sie sich endlich von den Pfefferkuchen, die auf einem Teller vor ihr lagen, einen runternehmen durfte. Jede Familie hatte ihren eigenen Tisch mit selbst bestickter Tischdecke beigesteuert, so dass auch wirklich jeder Platz fand. Natürlich lagen die vorbereiteten Pfefferkuchen auf allen Tischen bereit, aber auch Bierkuchen, Nusskuchen, Pudding, mit Zimt bestreute Schnapskekse und dampfende Waffeln. Zu trinken gab es Zimtbier, heißen Fichtennadel- und Hagebuttentee. In der Mitte glommen fünf große Feuerschalen und sorgten für Licht und Wärme. Von oben drang das festliche blaue Licht der magischen Erzgirlande. Als sich jeder gesetzt hatte und Ernst mit erhobenem Humpen allen einen gesegneten Appetit wünschte, langten viele ordentlich zu, doch ein paar, darunter auch Lorn, hielten sich zurück. Lara machte sich deswegen keine Sorgen. Sie wusste, dass ihr Mann kein Freund von süßen Speisen war und seinen Appetit lieber für das ausschweifende abendliche Gelage aufhob. Daran dachten Lee und Kathi nicht. Sie ließen es sich so richtig schmecken. Heute waren alle Sorgen und Probleme ganz weit weg und sie genossen einfach nur die schöne, festliche Stimmung, das gemütliche Beisammensein und das herrliche leckere Essen. Kathi schnatterte in einer Tour. Es war ganz erstaunlich wie sie es schaffte gleichzeitig zu Reden und zu Essen und kaum hatte sie ihren kleinen Magen mit Pfefferkuchen gefüllt, Schwupps, tauchte sie unter die Tische ab.
„Kathleen, komm sofort zurück und setz dich auf deinen Platz!“ forderte Lara streng, doch ihre Tochter hörte nicht.
Sie sah nur an den schwappenden Bierkrügen, dass sie ein Tischbein angerempelt hatte. Aufstehen wollte Lara aber nicht. Zum einen, gehörte es sich nicht aufzustehen, ohne, dass die Tafel vom Hausherr aufgehoben wurde und zum anderen war sie der Meinung auch mal einen schönen, ruhigen Nachmittag verdient zu haben. Wenn ihre Tochter erwischt wurde, dann hatte sie die folgenden blauen Flecken verdient.
Kathi dachte aber gar nicht an die Folgen ihres Tobens. Sie hatte sich bereits mit ihren Freunden zusammengefunden und nun versuchten sie zunächst von der rechten Seite der Festtafel zum König vorzudringen.
„Sch, verschwindet!“ zischte ihnen die wachsame Asta aber schon zu, kaum, dass sie sich genähert hatten.
Kerth und Heinke grinsten breit, während Ernst versuchte so zu tun, als wäre nichts.
„Dacht ichs mir doch. Mutti passt auf wie ein Bluthund“, sagte Toralf genervt.
Sie drehten um und tapsten auf allen vieren einmal unter allen Tischen durch bis sie sich endlich von der linken Seite näherten. Unter dem Tisch von Thoralds Eltern hielten sie kurz an und berieten sich flüsternd.
„Wir müssen aber aufpassen, dass uns Erk nicht erwischt. Hilke ist schon alt, die kriegt uns nicht, aber wenn Erk uns kriegt, dann wird das übel“, sagte Toralf und die anderen nickten ernst.
Vorsichtig schlichen sie weiter, doch obwohl keiner wusste wie, hatte Erk sie schon bemerkt. Er beugte sich zu ihnen herunter. Sein schwarzbärtiges Gesicht sah sehr grimmig aus, als er knurrte: „Verzieht euch ihr kleinen Plagen, sonst setzt es was!“
„Mist“, stieß Toralf aus und drängte seine Kumpane zurück. „Wir müssen uns was Anderes überlegen.“
Es war Kathi, die es wagte kurz das Köpfchen unter den Tischdecken hervorzustrecken und nach oben zu spähen.
„Wenn es von unten nicht geht, dann überlegen wir uns was Neues und kommen von oben.“
„Von oben?“ fragte Toralf verwundert.
„Da sind doch große Balken oben, da klettern wir hoch“, sagte Kathi verwegen.
Die anderen Kinder sahen sie staunend an, selbst Toralf, der sich eigentlich für sehr mutig hielt.
„Du bist doch bestimmt schon mal da hochgeklettert, oder? Immerhin wohnst du hier“, sagte Kathi herausfordernd.
„Ich … klar … das mach ich oft“, behauptete Toralf, sah aber gar nicht danach aus.
„Gut, dann wird das ja kein Problem. Wir müssen dann aber noch etwas vorbereiten. Ich hab schon einen Plan. Kommt mit!“ sagte Kathi breit grinsend und führte die anderen Kinder hinüber in eine Ecke, um sie in ihren Schabernack einzuweihen.
Alle ließen sich Zeit mit dem Essen, bis Hilke schließlich zu Ernst sagte: „Es ist soweit. Wenn ihr rechtzeitig ankommen wollt, solltet ihr jetzt losgehen.“
Der Clanchef fragte nicht woher sie das wusste. Er nahm das einfach so hin und hob die Tafel auf.
„Es ist Zeit zum Steinkreis zu gehen.“
Stühlerücken folgte und es gab ein kurzes Gedränge an der Tür, nachdem jeder seinen Mantel und seine Felle übergeworfen hatte und nun nach draußen in die beißende Kälte drängte. Wer zu alt war und daher den Weg zum Steinkreis nicht mehr schaffte, blieb, um die jüngsten Kinder zu beaufsichtigen, mit dem Kochen zu beginnen, oder das Feuer in der Mitte der Halle in Gang zu halten, denn es durfte zu Ehren des Feuergottes Innos nicht verlöschen, bis die Feier der Wintersonnenwende vorbei war. Geschlossen ging die Festgemeinschaft im schwindenden Licht die hübsch beleuchtete Straße hinunter, aus dem Dorf hinaus und über die knarzende Holzbrücke, die über die bereits im Schatten liegende Schlucht führte. Dadurch, dass sich das Dorf auf diesem großen Felsen befand, ließ es sich viel leichter verteidigen, denn Angreifer konnten nur von dieser Seite kommen. Niemand wäre so töricht von unten heraufzukletternd, denn die Felsen waren glatt und rutschig. Hier wurden drei Wachen abgestellt, die das Dorf und alle Bewohner beschützen sollten, während sie weg waren.
„Sollen wir noch auf die Feuermagier warten?“ fragte Erk den Clanchef.
Der spähte vor ihnen in den Schnee, wo er Spuren sah.
„Nein, sie sind schon vorausgegangen.“
Da das Kloster der Feuermagier südlich von ihnen lag und die Feuermagier an ihrem Dorf vorbeimussten, um zum Steinkreis zu gelangen, ging Ernst davon aus, dass es sich um ihre Spuren handelte.
„Na dann, was trödeln wir hier noch so herum? Vorwärts!“ sagte Erk ruppig und ging zusammen mit Lorn vor, um den Weg zu sichern.
Die Kinder merkten es kaum, doch selbst an diesem festlichen Spätnachmittag waren die Erwachsenen wachsam, während sie durch die verschneite Landschaft Nordmars schritten. Sie hielten die Kinder schützend in ihrer Mitte. Die versuchten immer mal wieder auszubrechen, um im Schnee zu toben, wurden dann aber zunächst sanft und bei erneutem Übermut grob zurück in die Mitte geschubst. In Nordmar lauerten viele Gefahren. Eiswölfe und Säbelzahntiger konnten überall lauern, doch an so eine große Gruppe von Menschen würden sie sich wohl kaum wagen. Ein größeres Problem waren die Orks. Sie hatten Glück. Heute trafen sie auf keine Probleme. Für Kathi war es ihr erster Ausflug zum Steinkreis und für Lorn würde es wohl das letzte Mal sein, dass er in der Mitte ging. Wer mit den Erwachsenen Außen ging, galt nicht mehr als Kind. Kerth und Heinke gingen bereits außen und spähten wachsam in die Gegend. Trotz der möglichen Gefahr ging die Gruppe leise schwatzend und lachend immer weiter den Weg entlang bis sie zu einer Kreuzung kam. Diese Kreuzung hatte eine große Bedeutung für die Menschen von Nordmar, denn sie verband die drei Clans des Landes. Daher war der Steinkreis hier in der Nähe errichtet wurden. Die neun Feuermagier waren schon da und begrüßten sie freundlich. Ihre tiefroten Roben hoben sich deutlich vom hellen Schnee ab. König Rhobar ging sofort auf den höchsten Feuermagier zu und grüßte respektvoll. Da der König als der Erwählte Innos galt, genoss er ganz besondere Achtung bei den Feuermagiern. Der alte Pyrofor besprach sich höflich mit dem König. Er leitete das Kloster und würde wohl auch heute die Zeremonie zur Wintersonnenwende durchführen. Da die Jäger aus dem Feuerclan ab und zu ins Kloster gingen, um den Magiern Jagdbeute zu bringen, kannten sie sich gut. Wer jedoch meist nur im Dorf blieb, sah die Magier nur selten.
„Wer ist denn der neue Magier?“ flüsterte Lara ihrem Mann ins Ohr.
„Wer das ist? Altus. Er hat vor drei Monaten die Prüfung bestanden und darf nun das erste Mal als Feuermagier mit zum Steinkreis“, erklärte Lorn.
Der junge Feuermagier mochte wohl Mitte zwanzig sein und konnte seine Nervosität nicht ganz verbergen. Es war Brauch, dass der jüngste anwesende Feuermagier dem höchsten bei der Zeremonie assistierte und da es sein erstes Mal war, fürchtete der junge Magier vielleicht sich zu blamieren. Sie hörten wie sich eine größere Gruppe durch den Schnee stapfend von Westen her näherte.
„Ah, der Wolfsclan ist noch nicht da. Gut, dann sind wir nicht zu spät“, sagte ein großer Mann breit grinsend.
Er hatte mindestens so viel Muskeln wie Speck auf den Rippen, trug eine wärmende Wollmütze und eine prächtige Rüstung, die mit Eiswolffell unterfüttert war. Es war Rayk, der Clanchef des Hammerclans. Auch er und seine Leute begrüßten die Königsfamilie und die Feuermagier ehrerbietig. Sie vertrieben sich mit seichten Gesprächen die Zeit.
„Wann geht es los? Wann geht es endlich los?“ fragte Kathi immer wieder und hopste aufgeregt auf und ab.
„Wenn der Wolfsclan da ist. Der lässt sich heute aber viel Zeit“, grummelte Lorn.
Endlich tauchten Menschen vom südlichen Weg auf.
„Wo wart ihr so lange? Wir stehen uns hier schon eine halbe Ewigkeit die Beine in den Bauch. Beinahe hätten wir ohne euch angefangen“, behauptete Rayk.
„Sind auf Orks gestoßen“, erklärte Karl, der Anführer des Wolsfclans, der ebenfalls eine dicke Rüstung trug, wobei diese jedoch mit Blut bespritzt war. „Gab ein kurzes Scharmützel, dann sind sie wieder abgehauen. Unsere Heiltränke haben leider nicht ausgereicht. Burkhard, Norman, Sören und Tatjana kippen uns bald aus den Stiefeln. Wenn’s Recht ist, möchte ich um den Segen der Feuermagier bitten, um ihre Wunden zu heilen.“
„Aber natürlich“, stimmte Pyrofor sofort zu und schickte vier seiner Magier los, damit, die sich um die Verletzten kümmerten.
Die Nachricht des gefährlichen Orkangriffs hatte die festliche Stimmung gedrückt. Einige Erwachsene schauten grimmig, andere wütend. Die Kinder sahen beklommen aus und waren nun unnatürlich still. Nachher würde wohl keines von ihnen mehr aus der Reihe tanzen. Die gute Nachricht war, dass die Feuermagier jeden Verletzten mit Heilzaubern versorgen konnten, doch es war der König, der die drückende Stimmung durchbrach in dem er laut und deutlich sagte: „Ich weiß, es ist ein harter und blutiger Weg, aber eines Tages werden wir die Orks aus Nordmar vertrieben haben.“
Die Krieger brüllten zustimmend, zückten ihre Waffen und streckten sie in einer nachdrücklichen Geste zum abendlichen Himmel hinauf. Dieses kurze Intermezzo hatte den Mut und die Laune der Menschen wieder gehoben und so wusste Pyrofor, dass er die Nordmarer nun zum Steinkreis führen konnte. Es war ein schmaler zugewehter Pfad, der im abnehmenden Licht kaum zu erkennen war. Doch Pyrofor war diesen Weg schon so oft gegangen, dass er den alten Steinkreis ohne Schwierigkeiten fand. Der Ort war sehr gewissenhaft ausgesucht wurden und die Steine waren genau so aufgestellt, dass die Sonne immer zur Wintersonnenwende zum Sonnenauf- und Untergang zwischen zwei bestimmte Steine schien. Genau auf diesen Augenblick warteten sie nun. Die Clans verteilten sich um den Steinkreis herum, wobei die begehrtesten Plätze gegenüber der Sonne lagen. Die Feuermagier stellten sich im Nordosten auf, also gegenüber den Megalithen, durch die an diesem kürzesten Tag des Jahres die letzten Sonnenstrahlen fallen würden. Die Menschen gaben der Sonne freies Geleit, denn niemand störte den Weg der Strahlen, die zwischen die Bergspitzen fiel. Wachsam beobachtete Pyrofor den Verlauf der Sonne, die wie ein heller, strahlender Schimmer zwischen den Bergen hing und trat dann schließlich vor, an einen Stein in der Mitte heran, in dem sich eine tiefe geschwärzte Mulde befand. Alle sahen gebannt dabei zu, wie die Sonne durch die Felsformation schien und ihre Strahlen wanderten, bis mit einem Mal jedes Licht verlosch. Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden.
„Es ist wieder so weit“, sagte der hohe Feuermagier ungeachtet seines Alters mit kräftiger Stimme. „Der kürzeste Tag des Jahres ist nun vorbei. Ab morgen werden die Tage wieder länger. Auch wenn es für manche im Moment schwer zu glauben ist, aber die dunkelsten Tage liegen hinter uns und egal welchen Gefahren wir uns stellen müssen, Innos wird uns mit seiner Wärme und seinem Licht unterstützen. Die Zeit der Dunkelheit und des Kummers wird vergehen und Wärme und Heiterkeit weichen. Möge Innos uns einen langen warmen Sommer bescheren, denn der wäre gut für uns alle. Myrtana würde er reiche Ernte bescheren, uns viel Wild und den Orks hoch im Norden ein erträgliches Dasein, damit sie nicht noch mehr ihresgleichen nach Nordmar schicken müssten.“
Der letzte Teil ließ einige Krieger grimmig schauen, denn sie hassten die Orks inbrünstig, doch Pyrofor hatte verstanden, dass die Orks nicht einfach böse waren. Sie taten was sie taten, um ihre eigenen Familien durch die harten Winter zu bringen. Während der hohe Magier redete, hatte der junge Feuermagier Altus etwas in einem Mörser zusammengemengt, legte nun Holz und getrocknete Kräuter in die Mulde des liegenden Felsens und träufelte zum Schluss die zerstoßene Masse aus dem Mörser darauf. Der alte Magier warf ihm einen kurzen strafenden Blick zu. Vielleicht hatte er etwas falsch angerichtet, oder vielleicht auch nur nicht mit der gebotenen Gottesfurcht durchgeführt. Allerdings sagte Pyrofor hier und jetzt nichts, das würde er wohl später erledigen, stattdessen fuhr er mit seiner Rede fort: „Mögen wir weiter zusammenrücken und uns auch künftig in Zeiten der Not gegenseitig unterstützen. Denn wichtiger als Reichtum und Macht sind Familie, Freunde und Glück. Feiern wir also in den nächsten drei Tagen Innos, der uns mit Wärme und Kraft segnet, aber auch unsere Familien und Freunde, die uns Zeit unseren Lebens durch gute, aber auch schwere Zeiten begleiten, für die wir sorgen, die uns beschützen, die wir wertschätzen und lieben. Möge Innos Feuer in uns auflodern uns Mut und Zuversicht schenken und uns wärmen und so gegen die Kälte des Winters schützen.“
Als Pyrofor endete, hob er die rechte Hand, in der er nun einen magischen Runenstein hielt und warf einen Feuerball in die gefüllte Mulde, aus der nun sehr effektvoll eine gut vier Meter hohe Stichflamme emporzüngelte und den Steinkreis und alle Umstehenden in plötzliches gleißendes Licht hüllte, bevor sie zu einem kleinen beschaulichen Feuerchen zusammenschrumpfte. Zuspruch kam aus der Menge. Nur Kathi hatte wohl etwas auszusetzen: „Das Feuer wird ja jetzt wieder ganz klein. Kann er nicht ein großes Feuer machen? Soooo groß.“
Sie machte eine ausholende Bewegung mit beiden Armen.
„Mit Feuer spielt man nicht“, wies Lara ihr Kind zurecht. „Es wärmt uns, aber es kann auch Zerstörung bringen, deswegen muss die Macht des Feuers wohl überlegt eingesetzt werden und daher gehört sie ganz bestimmt nicht in kleine vorwitzige Kinderhände.“
Kathi bockte. Sie war wohl anderer Meinung.
Nach Beendigung des Rituals standen die Nordmarer noch einige Zeit zusammen, um zu erzählen. Für manche waren die Sonnenwendfeiern die einzigen Tage des Jahres, wo sie Mitglieder der anderen Clans trafen und so gab es viel zu erzählen. Die Dunkelheit lag schon lange über ihnen und die eisige Kälte biss trotz der warmen Kleidung heftig, als sich die Menschen wieder zu Gruppen zusammenfanden und sich trennten. Die Feuermagier teilten sich auf die drei Clans auf, denn sie würden diesen ersten Abend der Wintersonnenwendfeier in den Dörfern begehen. Zu den Menschen aus dem Feuerclan stießen Pyrofor, Altus und ein Feuermagier, der Corristo hieß. Wie erwartet verlief der Rückweg zum Dorf ruhiger. Jeder hielt angespannt nach Orks Ausschau. Sie begegneten allerdings erneut weder Tier noch Ork und kamen wohlbehalten im Feuerclan an, wo sie von den Wächtern begrüßt wurden.
„Alles ruhig gewesen“, informierte Björn, der Schmied den Clanführer.
„Sehr gut, ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Der Wolfclan wurde auf dem Weg zum Steinkreis von Orks angegriffen.“
„Oh“, sagte Björn und machte ein betroffenes Gesicht.
„Ja, zum Glück waren wir Feuermagier da, um ihre Wunden zu heilen“, sagte Pyrofor und konnte nicht ganz den Hochmut aus seiner Stimme verbannen.
„Innos sei Dank“, sagte Ernst und hoffte, dass damit der Ehrerbietung genüge getan war.
Er wollte vermeiden, dass Pyrofor ihnen heute Abend lange Vorträge hielt. Im blauen Licht der magischen Erzgirlanden gingen sie die Straße zur Festhalle hinauf, wo sie bereits sehnsüchtig von den kleinen Kindern und Alten zurückerwartet wurden. Von den Kindern wegen der Ungeduld, von den Alten, weil sie genervt waren. Wie auch schon beim Nachmittag steuerte jede Familie ein Gericht für das Festmahl bei. Die Frauen verschwanden in ihre Häuser, um zu kochen, während der alte Feuermagier Pyrofor den Männern und Kindern eine alte Geschichte erzählte, in der es darum ging wie die ersten Menschen in Nordmar gelebt hatten.
Langsam wurden alle unruhig, denn leckere Düfte zogen in die Halle und endlich kamen die Frauen schwer beladen mit Tabletts und Schüsseln voller Leckereien herein und stellten alles auf die Festtafel. Endlich war es Zeit für den Festschmaus. Es gab große Töpfe voll würzigem Grünkohl und leckerem Rotkraut, braune duftende Bisonschwanzsuppe, cremige Frostpilzsuppe, gut durchgezogenes Gulasch, verschiedene Sorten Blutwürste, zarten Schneehasenbraten auf klein gehackten süßen Rüben, saftige dunkle Hirschsteaks garniert mit Schnappsnüssen, zart geschmorte Hirschrouladen in Frostpilzsoße, knusprig gebratene Hirschkeulen, deftigen Bisonbraten mit kräftiger dunkler Soße, Kohlrouladen aus Bisonfleisch und sogenannte Nordmarer Fichteln, was herrlich würzige Bisonwürste denen Fichtennadeln zugesetzt wurden waren. Zu trinken gab es wieder Zimtbier, herrlich dampfenden Fichtennadel- und Hagebuttentee.
Sie ließen sich viel Zeit beim Essen, es wurde erzählt und gelacht. Als die Meisten so vollgefuttert waren, dass sie nichts mehr hinunterbrachten, hob der König zu einer ausschweifenden Rede an. Kathi hörte nur kurz zu, denn sie erinnerte sich jetzt wieder an ihren Plan und ihr Blick wanderte vom König nach rechts zu Toralf. Der hatte ihren Blick bereits gefunden, grinste breit und tauchte dann unter den Tisch, wurde aber sofort von seiner Mutter mit fester Hand gepackt und hochgezogen. Toralf schaute missmutig drein. Offenbar mussten seine Freunde ihn aus seiner misslichen Lage befreien. Einen Moment hatte Lara nicht aufgepasst und schon war Kathi wieder unter dem Tisch abgetaucht.
„Verdammt! Nächstes Mal schnür ich dich am Stuhl fest!“ fluchte ihre Mutter hinter ihr her.
Kathi kümmerte sich nicht um ihre wütende und verzweifelte Mutter, sondern traf sich mit ihren Freunden unter dem Tisch von Gretchens Eltern, Björn und Swantje, um den Befreiungsschlag für Toralf zu besprechen. Dann trippelten sie unter den Tischen zu Toralfs Stuhl.
„Fertig?“ flüsterte Kathi.
Ihre Freunde nickten.
„Drei, zwei, eins!“ zählte sie und bei eins stürmten Kaelin und Thorald vor gegen den Stuhl ihres Freundes, der umgerissen wurde und alle drei purzelten über den Boden.
An dieser Tischseite und an der ihnen zugewandten Tischecke sahen alle zu den drei Kindern auf den Boden, die sich rasch aufrappelten und davonmachten. Asta und Ernst sahen genervt und beschämt aus. Heinke und Kerth kicherten hinter vorgehaltener Hand. Der gelangweilte Prinz sah nur mal kurz hin und verdrehte dann die Augen. Selbst der König schaute skeptisch kurz zur Seite, drehte sich aber dann wieder der Festgemeinschaft zu, um seine Rede fortzusetzen: „… deswegen ist es wichtig, dass Myrtana und Nordmar zusammenhalten. Wir brauchen einander.“
Kathi und die anderen Kinder hörten wieder nicht weiter zu, sondern krabbelten zur Ecke zurück und von da aus zu ihren Freunden. Die standen schon hinter dem hinteren rechten Balken bereit, wo jemand vergessen hatte eine Leiter wegzuräumen.
„Und wer geht?“ fragte Toralf und sah skeptisch die ihm riesig erscheinende Leiter hinauf.
„Na du!“ antwortete Kathi keck. „Wozu glaubst du haben wir dich gerade befreit? Du hast doch gesagt, dass du das schon öfter gemacht hast.“
„Ich … nun … ja, aber doch nicht vor so vielen Leuten. Was, wenn ich erwischt werde?“ fragte Toralf ängstlich.
„Geht dir etwa die Muffe?“ fragte Thorald und grinste.
„Angsthase, Pfeffernase“, fing Kathi leise an zu singen.
„Na gut, ich mach’s ja schon.“
„Gut, hier!“
Kathi streckte ihm das wichtigste für ihren Plan entgegen, einen irdenen kleinen Krug, in dem normalerweise Gewürze aufbewahrt wurde. Kathi hatte das Hirschhornsalz in den Krug mit dem getrockneten Fenchel gekippt. Immerhin war ja beides irgendwie Gewürz, also passte das schon und sie brauchte eben diesen Krug für ihren Plan.
„Und wie soll ich jetzt damit hochklettern?“ wollte Toralf wissen.
„Na mit einer Hand“, sagte Kathi, als wäre das selbstverständlich.
Der Sohn des Clanführers sah mehr als nur unglücklich aus. Einen Rückzieher wollte er aber trotzdem nicht machen. Das Gefäß in der linken Hand, kletterte er vorsichtig die Leiter hoch, während seine Freunde sie unten festhielten, damit sie nicht verrutschte und verräterische Geräusche von sich gab. Nun kam Toralf zu einer kritischen Passage, dem Übergang von der Leiter auf den Querbalken.
„Sieht aus, als wenn er sich gleich nass macht“, sagte Thorald wenig charmant.
„Wenn du es besser kannst, dann tauscht ihr die Platze!“ kam es resolut von Kathi zurück und da zog Thorald den Kopf ein und war still.
Bang sahen die Kinder dabei zu wie sich ihr furchtloser Anführer geradezu heldenhaft mit nur einer Hand über den Querbalken zog, den kleinen Krug an sich gepresst, als wäre er sein kostbares Stofftier.
„Ob einer was merkt?“ fragte Kathi auf einmal und spähte skeptisch zur Festtafel hinüber.
Auch Thorald schaute hin.
„Deine Eltern haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und Björn sieht aus, als würden ihm gleich die Augen rausfallen, jepp, ich glaube sie haben‘s gemerkt.“
Sie waren nicht die einzigen, die Toralf gesehen hatten, doch offenbar wagte es niemand die gewichtige Rede des Königs zu unterbrechen und hofften offenbar, es wäre schon nicht so schlimm, was der kleine Lausejunge da oben trieb.
„Wenn wir zusammenhalten, sehe ich zuversichtlich in eine gemeinsame strahlende Zukunft“, endete der König und euphorischer Beifall brandete auf.
Toralf nahm dies zum Anlass, um sich oben auf dem Balken aufzurichten. Er saß jetzt auf dem Querbalken und hielt sich nur mit den Beinen fest, um den irdenen Krug zu öffnen und den Inhalt nach unten zu schütten. Viele kleine bunte Stofffetzen segelten hinab. Die Kinder hatten sich wirklich sehr viel Mühe mit der Vorbereitung gegeben. Es war gar nicht so einfach gewesen dieses uralte bunte Tischtuch in klitzekleine Fetzen zu zerschneiden. Hoffentlich würde der König das zu schätzen wissen. Er schaute aber nur skeptisch auf, als sich das seltsame Konfetti über ihm ergoss und Toralf war so erschrocken, als der König ihm streng direkt ins Gesicht blickte, dass er das Gleichgewicht verlor und vom Querbalken fiel. Rasch stand Rhobar I. hoch und fing ihn auf. In der Halle herrschte peinliches Schweigen. Ernst räusperte sich und saugte sich schnell was aus den Fingern: „Das lief nicht ganz wie gedacht. Die Kinder hatten sich das mit dem Konfetti nämlich als Ehrung überlegt, um dich zu feiern.“
Er warf seinem Sohn einen mahnenden Blick zu und der beeilte sich schnell zustimmend zu nicken.
„Ganz schön mutig dein kleiner Bengel“, sagte Rhobar I. mit rauer Stimme und strengem Blick und ließ so durchblicken, dass er Ernst seine Erklärung nicht wirklich abnahm, aber hier und jetzt auch kein Drama daraus machen wollte.
Er übergab dem Vater seinen ungezogenen Sohn und sagte dann: „Wie ich sehe ist der Feuerclan immer noch für eine Überraschung gut.“
Diese Worte lösten die angespannte Stimmung. Die Feiernden lachten und hoben ihre Bierkrüge. um sich zuzuprosten. Jeder konnte sehen wie Ernst ein Stein vom Herzen fiel. Er flüsterte seinem Sohn etwas ins Ohr, setze ihn dann auf dem Boden ab und schickte ihn weg. Als wäre nichts weiter gewesen gingen die anderen Kinder auf ihren Platz zurück.
„Na, da habt ihr euch ja einen zum Himmel schreienden Blödsinn ausgedacht“, schimpfte die Mutter.
„Also ich fand‘s lustig“, sagte Kathi keck.
„Aber wir nicht“, sagte Lara streng und Lorn nickte zustimmend. „Toralf hätte sich den Hals brechen können.“
„Und der König wird über eure Konfettiaktion auch nicht erfreut gewesen sein“, redete Lorn seiner Tochter ins Gewissen.
„Was habt ihr für diesen Blödsinn eigentlich zerschnitten?“ fragte Lara streng.
„Ach … nichts Wichtiges“, meinte Kathi ausweichend.
Lara sah aus, als würde sie später zuhause noch mal ganz genau nachschauen was fehlte.
„Ich will doch schwer hoffen, dass nicht du es warst, die Toralf zu diesem Streich angestiftet hat.“
„Aber was denkst du von mir Mutti, ich doch nicht“, sagte Kathi, verriet sich aber, weil sie so lachen musste.
„Eine Woche Hausarrest!“ sagte ihre Mutter.
„Aber wieso denn …“, fragte Kathi traurig.
„Du weißt genau warum“, meinte ihre Mutter.
Lee war ruhig und lächelte nur still vor sich hin. Er fand die ganze Situation äußerst komisch. Manchmal wünschte er sich, er wäre mehr wie seine Schwester. Er war nie zu solchen Scherzen aufgelegt und vielleicht sah er das Leben einfach zu ernst.
Björn, Swantje und Heinke standen nun von der Festtafel auf, holten Musikinstrumente hervor und stellten sich an den Rand der Hütte wo Platz freigehalten wurde. Swantje spielte eine Flöte, Björn schlug eine große Trommel und Heinke zupfte an den Seiten einer Laute. Zusammen spielten sie eine fröhliche Melodie, die zum heutigen Fest passte. Die anderen Feiernden klatschten fröhlich und einige Dorfbewohner schwangen das Tanzbein. Auch Kathi und die meisten Kinder hielt es nicht lange auf ihren Stühlen und sie tobten ohne jedes Maß durch die Halle, so als wären sie nicht gerade von ihren Eltern für ihren Streich zusammengefaltet wurden. Lorn ließ sich von Lara zunächst nur zu zwei Tänzen überreden, dann zog es ihn wieder zu seinem Bierkrug an den Festtisch zurück. Lee war gar nicht aufgestanden um zu tanzen. Seiner Meinung machte man das entweder, wenn man noch die Narrenfreiheit eines kleinen Kindes hatte, oder als Mann, um eine Frau zu umwerben. Bei ihm passte beides nicht und daher sah er keinen Grund beim Tanz mitzumachen. Der Abend ging in die Nacht über, doch das hieß nicht, dass das Fest nun langsam enden würde. Jetzt wurden erstmal die stark alkoholischen Getränke auf den Tisch gestellt, Honigmet, Fichtelschnaps, Nordmarer Nebelgeist und Stollengrollen. Die ersten Trinklieder wurden angestimmt.
„Mama, ich bin müde“, sagte Kathi, kaum, dass sie zu ihrer Mutter an den Tisch gekommen war.
Die Mutter sah zu Lee und trug ihm auf Kathi ins Bett zu bringen, denn sie und Lorn würden wohl noch lange nicht nach Hause gehen, dafür hatten sie zu viel Freude am nächtlichen Gelage. Die Erwachsenen würden wohl noch lange feiern. Lee konnte sie noch grölen und lachen hören, als er seine kleine Schwester aus der behaglichen Wärme des Hauses trug. Die beißende Kälte erfrischte seine von den schweren, warmen Speisen trägen Sinne. Kathi wog schwer in seinen Armen, doch er murrte nicht. Er wusste, es war seine Aufgabe als älterer Bruder seine kleine Schwester zu beschützen und für sie zu sorgen, wenn seine Eltern gerade keine Zeit hatten. Sie hatte sich an seine Felljacke gekuschelt und konnte kaum noch die Augen offenhalten.
„Was für ein schönes Fest“, nuschelte sie und seufzte zufrieden.
„Oh ja, da wird man noch in Jahren drüber sprechen“, sagte er und musste beim Gedanken an den Streich der Kinder grinsen.
Er liebte die Sonnenwendfeiern. Es war nicht nur das Essen, sondern auch das gemütliche Beisammensein, das die Dorfgemeinschaft festigte.


Als der nächste Morgen kam, war es so still wie nur selten im Feuerclan. Weil die Erwachsenen bis in die Morgenstunden gefeiert hatten, war keiner von ihnen zu sehen. Stattdessen liefen überall Kinder herum, denn für sie war es natürlich viel zu langweilig einfach nur im Bett zu liegen. Kathi war nicht das einzige Kind, das gestern Hausarrest bekommen hatte, gleichwohl hielt sich keins von ihnen an die Vorgabe, denn im Moment war kein Erwachsener da, um sie an die Strafe zu erinnern. Es war noch dunkel gewesen, als die ersten von ihnen im Dorf herumstrolchten und sich eine heftige Schneeballschlacht lieferten. Im Schein der blauen Erzgirlanden hatte es noch mehr Spaß gemacht. Mittlerweile war es hell geworden und das gleißende Licht der Morgensonne ergoss sich wie flüssiges Gold über die Landschaft, die gestern noch so dunkel und trostlos dagelegen hatte. Nun erschien alles in ganz neuem Licht. Der frisch gefallene Schnee glitzerte herrlich. Das grün der Tannen wirkte intensiv und das helle Blau des Himmels weckte ein Gefühl für die unglaubliche Weite der Welt. Es war ein Morgen, der nach einem aufregenden Abenteuer schrie und die Kinder konnten sich diesem lauten Ruf nur schwer entziehen. Übermütig tollten sie herum. Selbst die Jugendlichen wirkten euphorisch und ruhelos angesichts des fröhlichen Gewusels um sie her. Nur der Prinz sah dem Treiben gelangweilt zu.
„Hast du Lust auf eine Schneeballschlacht?“ fragte Kerth ihn.
Prinz Rhobar II. sah ihn skeptisch an und sagte dann etwas herablassend: „Schneeballschlacht? Also aus dem Alter bin ich nun wirklich raus.“
„Oh, entschuldige Königliche Hoheit, dass ich gefragt habe“, spottete Kerth grinsend. „Wenn du dich zu nobel für so etwas fühlst, dann sag doch, wonach dir der Sinn steht.“
„Du hörst dich so bescheuert an, wenn du so aufgeblasen quatschst“, stichelte sein älterer Bruder Heinke.
„Wie wäre es mit einem Übungskampf?“ fragte Rhobar II. herausfordernd.
Kerth und Heinke schauten skeptisch. Auch Lee, der etwas entfernt stand, aber gelauscht hatte, sah den Prinzen jetzt direkt an. Lee wusste nicht, ob er erwünscht war. Mit Heinke hatte er kein Problem doch mit Kerth verband ihn eine tief sitzende Rivalität. Lee wollte sich immer mit dem älteren und stärkeren Kerth messen und um mit ihm mithalten zu können, trainierte er eifrig. Kerth merkte das natürlich und wollte sich keinesfalls von dem jüngeren Buben übertrumpfen lassen und trainierte seinerseits. Auch jetzt wollte er nicht zurückstehen und nahm die Herausforderung des Prinzen an.
„Na gut, ich hol nur schnell meine Übungswaffe.“
„Pah! Übungswaffe? Bist du ein Mann, oder eine Maus?“, fragte der Prinz großspurig. „Wir kämpfen natürlich mit richtigen Waffen.“
Heinke hob verwundert eine Augenbraue. Als Ältester von Ihnen hatte er wohl das Gefühl den jugendlichen Übermut bremsen zu müssen.
„Und wenn ihr euch verletzt, was dann?“
„Dann hat derjenige verloren. Wir kämpfen bis zum ersten Blut“, sagte Rhobar II. protzig. „Los, hol dein Schwert, oder deine Axt, oder mit was auch immer ihr hier oben in diesem Eisloch kämpft.“
Kerth schnaubte. Es war ihm anzusehen, dass der Prinz ihn mit seiner Provokation beleidigt hatte.
„Na schön du Angeber, dann kannst du ja gleich mal zeigen was du kannst.“
„Lass doch!“ versuchte sein älterer Bruder es ihm auszureden und legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter, doch Kerth schüttelte sie nur grummelnd ab.
Wenig später kam Kerth mit einem Kurzbogen und einem groben Schwert zurück, das er von seinem Vater erhalten hatte. Prinz Rhobar II. hatte sich schon vor dem Haus bereit zum Kampf aufgestellt. Sein Schwert sah sehr hübsch aus. Der Griff war mit Gold und Silber verziert und es hatte genau die richtige Größe für seine Statur, was hieß, dass Kerths grobes Schwert länger war, Rhobars Schwert aber immer noch länger als ein Kurzschwert war. Das war für den Prinzen nicht zum Nachteil, denn obwohl es gemeinhin gut war eine große Reichweite zu haben, so brauchte es auch das nötige Verständnis damit umzugehen. Ein kurzes Schwert war handlicher und für einen Anfänger leichter zu führen. Das musste auch Kerth feststellen, denn während er mit großen Schwüngen ausholte, wich Rhobar diesen langsamen Angriffen lieber aus und griff dann seinerseits mit kurzen stechenden Angriffen an und es dauerte nicht lange, bis er einen Treffer an Kerths linkem Oberschenkel landete. Durch den dicken Mantel war es zu keiner ernstzunehmenden Verletzung gekommen, doch damit war der Kampf entschieden.
„Gewonnen!“ sagte der Prinz triumphierend. „Wer will als Nächstes?“
Sein Blick suchte Heinke, doch der hatte dem Ende des Kampfes schon gar nicht mehr zugesehen. Die Kinder hatten beschlossen Ernst Eisrutsche auszuprobieren, nicht nur Toralf, sondern alle. Alleine, oder als Gruppe rutschten sie die glatte Rutsche hinunter und es kam zu kleineren Unfällen, weil das eine oder andere Kind seitlich abglitt oder drohte zu weit zu schlittern. Vermutlich hätten Ernst und seine Söhne die Rutsche besser planen müssen, denn manche kamen beängstigend nah an der Klippe, die hinter dem Haus in die Tiefe führte, zum Halten. Der verantwortungsbewusste Heinke sah es nun als seine Pflicht dafür zu sorgen, dass kein Kind verloren ging.
„Wie wär’s mit Lee?“ fragte Kerth und grinste, weil er sich dachte, wenn er gegen den Prinzen verloren hatte, dann würde es Lee erst recht nicht gelingen.
Rhobar II. rümpfte die Nase, als er zum elfjährigen Jungen sah.
„Der ist doch noch ein Kind.“
Der sonst so ruhige Lee fühlte sich herabgesetzt und trat mutig vor.
„Lass mich dir beweisen, dass ich schon viel gelernt habe.“
Der Prinz sah ihn abschätzig an und sagte dann nach betont langem Zögern: „In Ordnung, du sollst deine Chance kriegen.“
„Ich hab kein Schwert“, sagte Lee, sah betreten zu Boden und seine Wangen glühten rot.
„Kein Schwert?“ fragte der Prinz belustigt. „Und wie willst du dann gegen mich kämpfen? Sag, hast du überhaupt schon mal ein Schwert in der Hand gehalten?“
„Kein richtiges, nur ein Übungsschwert“, gab Lee nuschelnd zu.
„Na das kann ja was werden“, sagte Rhobar feixend.
„Hier, du kannst meines ausleihen“, bot Kerth scheinbar freundlich an und reichte Lee sein grobes Schwert.
„Danke.“
Lee und Rhobar II. stellten sich auf und schon ging es los. Lee konzentrierte sich auf das was er bei seinem Vater gelernt hatte, aber dieses Schwert fühlte sich so ganz anders an, als das Holzschwert, mit dem er übte. Es war viel schwerer, so schwer, dass er es kaum richtig halten konnte und als der erste Angriff des Prinzen kam und er blockte, wurde das grobe Schwert nutzlos weggestoßen.
„Oh je“, sagte der Prinz und lächelte breit.
Lee griff nun seinerseits an, doch Rhobar wehrte seinen Angriff spielerisch ab. Es war ganz offensichtlich, dass er Lee nicht ernst nahm. Er zögerte den Kampf absichtlich hinaus, ließ Lee ins Leere laufen und spielte mit ihm. Als es dem Prinzen zu langweilig wurde, setzte er eine Finte ein, auf die der Junge prompt hineinfiel und ritzte seine Jacke am Arm auf.
„Hast verloren“, sagte Rhobar mit Genugtuung in der Stimme. „Vielleicht solltest du später lieber mit den Weibern Klamotten nähen und Socken stopfen, anstatt mit den Männern in die Schlacht zu ziehen.“
Die Worte des Prinzen verletzten Lee in seinem Stolz und obwohl er sonst ruhig war, fühlte er nun heiße Wut in seinem Bauch aufsteigen.
„Eines Tages werde ich dich schlagen!“ drohte Lee verbissen.
Prinz Rhobar II. lachte höhnisch.
„Na das will ich sehen. Mein Vater trainiert jeden Tag mehrere Stunden mit mir und er ist der beste Krieger vom ganzen Kontinent. Bestimmt werde ich mal genauso gut wie er und da willst du mich schlagen? Das ich nicht lache. Bist doch noch grün hinter den Ohren.“
„He, er ist erst elf, lass ihn in Ruhe“, erhielt Lee unerwartet Rückendeckung von Kerth.
Offenbar hatte sein Rivale nun das Gefühl bekommen, dass der Prinz es überzog. Die Jungs vom Feuerclan hielten trotz einiger Streitereien eben doch zusammen. Prinz Rhobar II. schnaubte.
„Schön.“
Es war kurz still, dann fragte der Prinz: „Was kann man in diesem Kaff denn sonst noch machen?“
Jetzt war es Kerth, der wütend wurde.
„Wir könnten das Dorf ja auch verlassen und draußen auf die Jagd gehen. Ich bin schon öfter mit meinem Vater auf die Jagd gegangen“, prahlte Kerth, der vermutete, dass der Prinz meist in der sicheren Burg war und vor den Gefahren Nordmars kuschen würde.
Tatsächlich sah der Prinz nun nicht mehr ganz so großspurig aus.
„Oder hast du etwa Angst?“ setzte Kerth noch hinzu und grinste nun breit.
„Nein, natürlich nicht. Mit so ein paar Wölfen werde ich schon fertig“, antwortete er.
„Eiswölfe sind aber viel zäher als gewöhnliche Wölfe“, erklärte Kerth und sein Grinsen wurde breiter. „Und dann gibt es ja noch die Säbelzahntiger.“
Lee musste an seinen Bruder Bruce denken, der von einem Säbelzahntiger getötet wurde.
„Wollt ihr wirklich allein daraus? Es ist sehr gefährlich“, versuchte er die beiden älteren Jungen zurück zu halten.
„Pah! Kriech doch zurück unter die Bettdecke, wenn du Schiss hast!“ tönte Kerth, der es wohl gar nicht schätzte, dass Lee ihm nicht beistand, obwohl er sich eben für ihn eingesetzt hatte.
„Was ist wenn euch Orks angreifen?“ hielt Lee dagegen.
Kerths Stirn furchte sich und der Prinz sah nun wirklich beunruhigt aus.
„Ach was, die sehe ich doch schon von weitem kommen. Los! Gehen wir! Oder soll ich etwa allein auf die Jagd gehen?“
Die beiden anderen Jungen sagten nichts.
„Na ihr werdet Augen machen, wenn ich mit Beute zurück komme und ihr steht da wie die Memmen“, provozierte Kerth die anderen weiter.
Prinz Rhobar II. schnaubte wütend und trat dann zu Kerth.
„Ich bin bereit. Wir können los. Kommst du auch mit, oder willst du heim zu Mami?“ fragte der Prinz mit Blick auf Lee.
Der biss sich unsicher auf die Unterlippe und überlegte schnell. Er wusste, was sie vorhatten war unsäglich dumm, doch wie würde er vor den anderen dastehen, wenn er zurückblieb? Er hatte schon beim Kampf versagt, nun wollte er nicht auch noch als Feigling dastehen.
„Klar.“
Sie gingen vor bis zur Holzbrücke, wo ein alter Mann wache hielt.
„Und wie kommen wir jetzt an ihm vorbei?“ fragte der Prinz. „Der lässt uns bestimmt nicht einfach ziehen.“
„Lass mich nur machen“, sagte Kerth selbstbewusst und ging auf den alten Mann zu.
„He Tjorben, Vater sagt du sollst Björn wecken. Er ist jetzt mit der Schicht dran.“
„Björn? Aber ich dachte Lorn …“ fing der Alte an und kratzte sich am Kopf.
„Hat zu tief in den Krug geschaut“, spann Kerth seine Geschichte fort ohne rot zu werden.
Als Sohn des Clanführers hatte seine Stimme genug Gewicht, so dass Tjorben ihm glaubte und seinen Posten verließ.
„Seht ihr, piepeleinfach“, sagte Kerth, als Tjorben die Straße hochging und außer Hörweite war.
„Na dann zeig mir mal wie ihr hier so jagt“, forderte Rhobar II. die beiden Jungs aus Nordmar auf.
Lee wusste nicht wie sie das machen sollten. Er war noch nie mit auf einer Jagd gewesen und Kerth hatte vorhin bestimmt auch mächtig dick aufgetragen. Sicher, er war schon öfter mit seinem Vater losgezogen, doch ohne einen Erwachsenen hatte er den Feuerclan auch noch nie verlassen.
„Da lang!“ sagte er aber selbstbewusst und führte sie einen zugeschneiten Wildpfad entlang, auf dem er Schneehasenspuren entdeckt hatte.
Sie folgten den Spuren. Der Schnee wurde so tief, dass er ihnen in die Schuhe drang, wo er schmolz und ihre Socken durchnässte. Genervt verzog der Prinz das Gesicht, doch er sagte keinen Ton, wohl um vor den anderen beiden Jungen nicht als verzärtelt dazustehen. Kerth, der vorging, hob plötzlich eine Hand und blieb ruckartig stehen, doch Rhobar und Lee hatten keine Ahnung was er ihnen damit sagen wollte und kamen nicht sofort zum Stehen, so dass sie ihn anrempelten.
„Passt doch auf!“ fluchte Kerth unbedacht.
Sie sahen etwas weißes durch den Schnee flitzen.
„Jetzt hast du den Schneehasen verjagt“, sagte Lee anklagend.
„Ja, weil ihr zu blöd seid anzuhalten“, kam es sauer von Kerth zurück.
„Ach das sollte dieses doofe Handzeichen heißen“, stänkerte der Prinz.
„Das ist überhaupt nicht doof. Das wird schon seit vielen Generationen verwendet und jeder der mehr Hirnzellen hat, als eine Fleischwanze kann etwas damit anfangen“, keifte Kerth zurück.
„Du hättest ja auch einfach was sagen können“, maulte der Prinz.
„Hast du nen Tannenzapfen im Hintern? Das hätte der Hase doch gehört“, hielt Kerth dagegen.
„Jetzt hat er dich aber auch gehört“, entgegnete der Prinz.
„Eben!“ stimmte auch Lee zu.
„Du bist ruhig!“ knurrte Kerth und gab Lee eine Kopfnuss, denn er dachte mit ihm könne er das machen.
Doch er bekam eine kleine Faust ins Gesicht und als der Prinz die beiden auseinanderbringen wollte, bekam der auch eins übergezogen. Nun gab es gar kein Halten mehr. Sie rangelten und kugelten sich kämpfend durch den Schnee. In der Nacht hatte es geschneit und der Neuschnee war tückisch, denn er verbarg was unter ihm lag. So kam es, dass die Jungs rangelnd durch den Schnee kullerten und plötzlich sehr tief einsanken und in eine verborgene Felsspalte fielen. Kerth fiel zuerst auf den harten Boden und gleich darauf fielen Rhobar II. und Lee auf ihn. Kerth war übel auf spitze Felsen gefallen und hatte sich so nicht nur einige Prellungen und Schnittwunden zugezogen, sondern auch einen offenen Unterarmbruch. Die Elle hatte sein Fleisch durchstoßen und sein Arm blutete stark. Kerth heulte laut auf, so dass der Schnee von oben hereinrieselte. Tränen rannen ihm übers Gesicht und er war nicht in der Lage irgendetwas anderes zu tun, als seinen gebrochenen Arm mit der unverletzten Hand festzuhalten.
„Nicht so laut, sonst hören uns noch die Orks!“ sagte Rhobar II., dem nun doch die Angst anzusehen war.
„He, er hat sich immerhin seinen Arm gebrochen“, sagte Lee und zeigte auf ihren Kameraden, der weiter schrie und weinte.
„Und wenn er so weiter macht, kommen wir hier gar nicht mehr Lebend raus.“
„So wie der da?“ fragte Lee beklommen, denn er hatte etwas im Schnee entdeckt.
Es war ein Skelett. Der Prinz zuckte zusammen und setzte ein paar Schritte zurück.
„Was hat ihn wohl getötet?“ fragte Rhobar II. mit verschreckter Stimme.
„Vielleicht ist er hier unten erfroren“, mutmaßte Lee.
Er sah sich die Überreste genauer an.
„Bei uns wird niemand vermisst und seine Rüstung sieht aus, als wenn er aus dem Süden kommt. Er hat ein Kurzschwert bei sich.“
„Zeig mal her“, forderte Rhobar, nun wieder mit festerer Stimme.
Lee hob das Kurzschwert hoch und zeigte es dem Prinzen.
„Ein Lurkerbiss“, erkannte der Prinz.
Lee guckte verwirrt.
„Das Schwert heißt so“, erklärte der Prinz, der sich wohl auskannte.
„Na gut, aber wie kommen wir jetzt wieder hier raus?“ fragte Lee verunsichert.
„Woher soll ich das wissen? Ich wohne nicht hier, ich kenn mich mit solchen Eisspalten nicht aus“, gab Rhobar II. zornig zurück.
„Wir könnten versuchen hochzuklettern, aber Kerth wird es mit seinem gebrochenen Arm nicht schaffen“, sagte Lee und überlegte.
„Aber du könntest hochklettern und Hilfe holen“, schlug Rhobar vor.
Lee nickte und suchte nach einer Stelle wo er einen Versuch wagen wollte. Kerths Klagen hatte sich jetzt in leises Wimmern gewandelt, so dass sie noch etwas anderes hörten. Ein Knurren. Lee und Rhobar II. hatten gerade noch Zeit sich umzuwenden, da sahen sie wie ein furchtbar abgemagerter Eiswolf den verletzten Kerth ansprang.
„Weg von ihm!“ schrie Rhobar II., zog sein edles Kurzschwert und griff den Wolf mutig an.
Kerth hatte versucht auf dem Boden liegend den Eiswolf mit seinem gesunden Arm abzuwehren, doch nun ließ das Tier von seiner Beute ab und stellte sich Rhobar II. zum Kampf. Offenbar hatte dieses Tier bereits Erfahrungen mit Menschen gesammelt und wusste, dass er die tödlichen Waffen besser nicht ignorieren sollte. Grausig knurrend und drohend die Zähne fletschend stand er vor dem Prinzen. Rhobar II. hieb zu, doch der Wolf duckte sich unter den Schlag weg und mit einem grässlichen Knurren sprang der Eiswolf hoch und versenkte seine Zähne in Rhobars Schwerthand. Der Prinz schrie laut auf und ließ sein Schwert fallen, das ihn eigentlich vor dem Wolf schützen sollte. Mit vor Schreck geweiteten Augen hatte Lee zugesehen, doch jetzt löste er sich aus seiner Schreckstarre und rannte auf den Wolf, der Rhobars Arm nicht loslassen wollte, zu und versetzte ihm einen blutigen Striemen. Der Schlag war ungeschickt gewesen und jetzt stolperte Lee auch noch zurück, weil der Eiswolf nun von seinem Gegner abließ und sich ihm zuwandte. Rhobar hielt sich panisch seinen stark blutenden Arm und wich hastig einige Schritte zurück. Der dürre Eiswolf kam langsam auf den Jungen mit dem Schwert zu und leckte sich über seine spitzen, langen blutigen Zähne. Sein furchtbares Knurren hallte von den Wänden der Eisspalte wieder. Lees Atem ging schnell. Alle guten Ratschläge, die ihm sein Vater gegeben hatte, waren wie weggeblasen. Er konnte sich nicht beruhigen und nur in diese eisblauen Augen des sich ihm nähernden hungrigen Wolfs schauen. Weil er so panisch war, achtete er nicht mehr auf seine Umgebung und stolperte rückwärts über eine Felszacke, fiel der Länge nach hin und das war für den Wolf das Zeichen für den Angriff. Knurrend wollte der Eiswolf dem Jungen an die ungeschützte Kehle springen. Instinktiv streckte Lee den Lurkerbiss vor und durch die Kraft seines eigenen Sprungs erstach sich der Wolf. Fiepend brach er auf dem Jungen zusammen und regte sich nicht mehr. Lee fühlte wie heißes Blut über ihn lief und die erdrückende Schwere des Wolfs, die ihm die Luft wegnahm. Angestrengt versuchte er den Wolf von sich herunterzuschieben. Halb gelang es ihm, halb kroch er unter ihm hervor. Mühsam richtete er sich auf und sah auf seinen blutbesudelten Körper hinunter.
„Bist du verletzt?“ fragte der Prinz, der nun langsam näher kam, dabei seinen verwundeten Arm fest umklammert hielt.
Lee schüttelte den Kopf.
„Dann klettere schnell hier raus und hole Hilfe! Kerth und ich wir brauchen dringend Hilfe und können hier nicht mehr allein heraus kommen.“
Lees ängstlicher Blick wanderte zu Kerth, der mittlerweile sehr blass aussah. Er wusste, jetzt zählte jede Minute. Lees Finger zitterten vor Adrenalin und Anspannung. Er versuchte ruhig zu atmen, denn wenn er beim Hinaufklettern ausglitt, dann würde er sich vielleicht auch etwas brechen und für immer hier unten gefangen sein. Vielleicht war das dem vorherigen Besitzer des Lurkerbiss passiert. Nach rascher Prüfung fand Lee eine gute Stelle zum Klettern. Schon hatte er drei Meter überwunden. Die Wände waren eisig und rissen ihm trotz der Handschuhe die Haut an den Händen auf. Lee wusste, dass er darauf jetzt keine Rücksicht nehmen konnte. Die anderen verließen sich auf ihn. Sein Atem ging angestrengt und trotz der eisigen Kälte schwitzte er. Er hatte den Rand der Spalte erreicht und streckte den Kopf ins Freie und schwang eine Hand hinauf in den Schnee. Er versuchte Halt zu finden, doch seine Hand rutschte nur durch den losen Schnee. Erst beim zweiten Versuch bekam er einen großen Stein zu fassen, der im Schnee festgefroren war. Obwohl er sich die Hand weiter blutig riss, konnte er sich an diesem Stein hinausziehen und war endlich draußen. Eilig rannte er den Weg zurück, den sie gekommen waren. Dass sie sich wegen einem Schneehasen gerangelt hatten, kam ihm jetzt so unwichtig und lange her vor. So schnell wie noch nie rannte er durch den Schnee und als er vor Björn dem Schmied stand, der vor dem Dorf Wache hielt, sah dieser schon von weitem das etwas nicht stimmte.
„Was ist denn passiert Junge?“
„Kerth und der Prinz sind verletzt und in einer Eisspalte gefangen und jetzt kommen sie nicht mehr heraus.“
Ohne ein Wort zu sagen, drehte sich Björn um und rannte ins Dorf, Lee auf den Fersen. Auf dem Platz vor Ernsts Haus hatte sich eine Menschentraube gebildet, offenbar war das Verschwinden der Jungen nicht unbemerkt geblieben.
„Lee! Was ist denn mit deinen Händen?“ rief Lara erschrocken und sah erschrocken auf die blutigen Hände ihres Sohnes.
„Nur etwas Blut“, wehrte Lee ab, denn er hatte Wichtigeres zu sagen. „Aber Kerth und der Prinz sind in großen Schwierigkeiten. Sie sind verletzt und in einer Eisspalte gefangen.“
„Was sagst du da? Führ uns sofort zu ihnen!“ forderte der König alarmiert.
Die Königin schlug die Hände vors Gesicht und auch viele andere Dorfbewohner sahen erschrocken aus. Das halbe Dorf und die drei Feuermagier wurden von Lee zur Felsspalte geführt.
„Wie geht es dir, mein Sohn?“ rief Rhobar in die Eisspalte hinunter.
„Mein Arm ist verletzt“, hörten sie die Stimme von Rhobar II. heraufhallen. „Aber Kerth geht es noch schlechter. Er ist kaum noch bei Bewusstsein.“
„Wie kriegen wir die Jungen denn jetzt nur hinauf?“ fragte Asta voller Sorge um ihren Sohn.
„Macht Platz, ich hab da was, das uns helfen wird“, sagte Björn und drängte sich durch die gaffende Menge.
In den großen Pranken hielt er eine robuste Leine, an der sich am Ende eine Schlaufe mit Ledersitz befand. Er ließ die Leine über die überhängende Spalte hinunter und rief dann mit seiner tiefen Bassstimme hinunter: „Einer setzt sich drauf und wir ziehen ihn dann hoch.“
Sie sahen wie sich die Leine spannte und rasch packten viele Hände an und zogen. Eigentlich hatten sie erwartet den Prinzen zu sehen, doch der hatte offenbar Kerth zur Leine gebracht und festgebunden, damit er in seinem Zustand nicht hinunterfiel. Er war ganz bleich und konnte seine Augen nur schwer offen halten.
„Mein Junge!“ rief Asta und half ihm sofort sich aus der Leine zu befreien, die dann erneut in die Spalte hinunter gelassen wurde.
Der junge Feuermagier Altus kam sofort herbei, um sich um Kerths Verletzung zu kümmern. Auch Lees Abschürfungen und Schnitte wurden versorgt. Als schließlich auch der Prinz nach oben gezogen wurde, sahen sie erstaunt, dass er ein blutverschmiertes Kurzschwert in der unverletzten Hand hielt. Der Prinz befreite sich aus der Leine und stand nun beschämt vor seinem Vater, der nun streng sagte: „Sohn, was hast du dir nur dabei gedacht einfach das Dorf zu verlassen? Du und deine neuen Freunde, ihr hättet sterben können.“
Der Prinz ließ den Kopf hängen.
„Du hast Recht Vater, das war sehr dumm von uns. Wir haben nicht aufgepasst und sind in diese Felsspalte gefallen. Dabei hat sich Kerth den Arm gebrochen und dann war da auch noch ein Eiswolf, der uns angriff. Ich … habe ihn leider nicht erschlagen können und er hat mich verletzt. Lee war es, der ihn mit diesem Schwert zu Fall brachte.“
Immer noch verletzt, ging der Prinz zu Lee und überreichte ihm den Lurkerbiss.
„Du hast uns gerettet“, sagte der Prinz respektvoll. „Du hast den Eiswolf getötet und hast Hilfe geholt. Ohne dich wären wir wohl in der Eisspalte umgekommen. Danke.“
„Gern geschehen“, antwortete Lee und nahm das Schwert ergriffen an sich.
Erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, dass der Prinz Recht hatte. Er hatte die anderen beiden Jungen gerettet.
„Lass mich dir helfen, junger Prinz“, sagte der alte Feuermagier Pyrofor, der nun den Wolfsbiss verarztete.
„Ihr macht Sachen“, sagte Ernst kopfschüttelnd. „Müssen euch wohl besser im Auge behalten. Ich hoffe, ihr habt etwas daraus gelernt. Bleibt auf den Wegen!“
„Ernst!“ sagte Asta strengt.
„Ähm… ich meine … verlasst nicht unbeaufsichtigt das Dorf!“ setzte der Clanchef hinzu.
Erleichtert kehrten die Dorfbewohner und die Feuermagier zur Festhalle zurück. Auf dem Weg dorthin hatten sich die Jungen noch viel vorwerfen lassen müssen und sie mussten immer wieder beteuern, zukünftig besser auf ihre Umgebung zu achten und vorsichtiger zu sein. Auf den Schreck des Vormittags und zur Feier der Rettung der Jungen wurden die Feierlichkeiten fortgesetzt. Das Mittagessen bestand aus den zahlreichen Resten des Vorabends. Wieder saßen sie alle in der Halle an der großen Festtafel. Der König und die Königin sahen immer wieder beunruhigt zu ihrem Sohn, wohl um sicherzugehen, dass es ihm auch wirklich gut ging. Kerth sah sehr beschämt aus. Nach ein paar Krügen Bier hatte er wieder etwas Farbe bekommen, doch er wirkte immer noch verstockt. Auch der restlichen Festgemeinschaft saß noch der Schrecken in den Knochen. Dem Prinzen war es ein Bedürfnis etwas zu sagen und so stand er auf, hob seinen mit Honigmet gefüllten Krug und sagte laut und deutlich: „Auf Lee, der uns gerettet hat.“
„Auf Lee“, sagten da auch die Dorfbewohner und hoben feierlich ihre Krüge.
Alle Augen waren auf den elfjährigen Jungen gerichtet. Lee sah in die Runde der vertrauten Gesichter und fühlte Stolz, aber auch etwas Unbehagen, denn er fand, dass es zu viel der Ehre war. Wenn sie nicht ausgebüxt wären, dann wären sie gar nicht erst in diese missliche Lage geraten. Am meisten bewegten ihn aber die Blicke seiner Familie. Seine Mutter war so ergriffen, dass sie kein Wort sagte. Kathi sah breit grinsend zu ihm hoch und krähte: „Du warst nicht wie Garup, du hast den Wolf getötet!“
Sein Vater konnte nicht stolzer sein. Wohlwollend sah er auf seinen Sohn herab und sprach: „Ich bin so stolz auf dich. Du hast deinen ersten Eiswolf erlegt und sogar den Prinzen und Kerth beschützt. Damit hast du dich bewährt und bist jetzt kein Kind mehr. Aus dir wird mal ein geschickter Jäger und ein großer Krieger werden.“
Lee sah seinen Vater mit glücklich funkelnden Augen an. Endlich wusste er, dass er gut genug für die Ansprüche seines Vaters war. Lee wandte sich um und sah zum Kopfende der Tafel wo Ernst und der König ihm dankbar zuprosteten. Es wurde noch ein langes schönes Fest. Zum Nachtisch gab es Pudding, Waffeln und frisch gebackene Pfefferkuchen. Irgendwie hatte Lee das Gefühl, dass sie heute noch besser schmeckten.