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    [Story] Advent, Advent

    Advent, Advent

    Das makellose Blau des Himmels wurde nur durch einen Kratzer in der getönten Scheibe des Busses gestört. Darunter glitten die scharfkantigen Gipfel der Berge vorbei, sodass es fast schien, als seien diese für den Kratzer in der Scheibe verantwortlich. Mein Blick haftete gelangweilt am Kratzer. Eigentlich hatte ich mir ein Buch mitgenommen: Die völlig bekloppte Reise in die Vergangenheit. Es handelte von vier Freunden, einem Steuerberater, einem Wirtschaftsprüfer, einer Personalmanagerin und einem Marketing-Guru, die in die Zeit der Orkkriege zurückreisten, um König Rhobars Hof mal so richtig aufmischten, indem sie ihm die doppelte Buchführung und innovative Marketingkonzepte näherbrachten. Doch so sehr ich mich normalerweise für doppelte Buchführung begeistern konnte, so machte mir doch der Busfahrer ein Strich durch die Rechnung. Dessen Fahrstil nämlich war derart rücksichtslos, dass ich schon Schwierigkeiten hatte, das Buch auch nur in meinen Händen zu behalten, geschweige denn darin zu lesen. Ich umklammerte also das Buch, ohne aber darin zu lesen, und konzentrierte mich stattdessen darauf, mich nicht zu übergeben. Vor lauter Langeweile entschloss ich mich schließlich, das Buch wieder in meinen Rucksack zu packen, und holte stattdessen mein Handy heraus.
    „Hallo Micha! Hast du den Adventskalender vorbereitet?“, fragte ich meinen Lehrling Micha.
    „Ja, ganz schön schwer das Teil“, antwortete dieser. „Zu schwer, wenn du mich fragst. Hätten wir nicht auch einen Schokoadventskalender rausbringen können? So einen könnte man wenigstens tragen, ohne sich dabei den Rücken zu brechen.“
    „Naja, wir sind ja immerhin ein Waffenladen. Da liegt es nun einmal nahe, einen Adventskalender voller Waffen zu verkaufen. Da ist es irgendwie klar, dass der Adventskalender ein bisschen schwerer ist.“
    Micha seufzte. „Ich halte das nach wie vor für eine ziemliche Schnapsidee“, sagte er. „Wer kauft denn so etwas?“
    „Du kennst die Khoriner schlecht! Seit den Tagen Lord Hagens wird Wehrhaftigkeit bei uns großgeschrieben. Das Ansehen eines Bürgers steht bei uns im direkten Zusammenhang mit der Größe seines Waffenarsenals. Und selbst wenn den Kalender niemand kauft, können wir die Waffen ja immer noch einzeln verkaufen.“
    „Mmm, das mag sein“, sagte er. „Aber du hast trotzdem ein Rad ab, Sarah.“
    „Ja, deshalb wird es Zeit, dass ich mir mal eine Auszeit nehme. Haha, das wird hoffentlich wieder einiges gerade rücken. Tante Hilda ist damals ja auch für ein paar Wochen ins Kloster gegangen und als ein anderer Mensch wiedergekommen.“
    „Hilda? Das spricht ja nicht gerade für deinen Klosterurlaub. Die ist ja noch durchgeknallter als du.“
    Ich musste zugeben, dass Hilda mit einem Sprung in der Schüssel ins Kloster gegangen und als Scherbenhaufen zurückgekehrt war. Allerdings war sie nicht die einzige, die den Klosteraufenthalt, als spirituelle Erfahrung sondergleichen beschrieben hatte. Manch einer aus meinem Bekanntenkreis meinte, sich dort fern ab von allen Sorgen mal so richtig entspannt zu haben. Und Entspannung konnte ich angesichts meines Rechtsstreits mit Canthar gut gebrauchen.
    „Was ist eigentlich mit Canthar?“, fragte ich. „Hat er dir gesagt, wann er auszieht?“
    „Er meint, dass er eine Wohnung gefunden hat, die aber erst Anfang Dezember frei wird.“
    Das Handy fiel mir fast aus der Hand als der Bus ohne sonderliche Bremsbemühung durch die Serpentine bretterte. „Bäääh!“, schimpfte ich die Übelkeit mühsam unterdrückend. „Da fährt man in die Berge, um sich mal gründlich zu erholen und kriegt dabei erstmal die Innereien aus dem Leib geschüttelt. Der Busfahrer hat es offenbar eilig.“
    „Ja, die Busfahrer auf Khorinis sind wirklich gemeingefährlich. Ist ja auch nicht verwunderlich. Sind ja alles entlaufene Sträflinge“ Ich rollte die Augen. Im Minental arbeiteten schon seit hundert Jahren keine Sträflinge mehr, was Leute vom Festland aber nicht davon abhielt bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen Sträflingswitz fallen zu lassen. „Dafür ist man aber auch schnell am Ziel“, entgegnete ich schnippisch. „Auf dem Festland achten die Busfahrer vielleicht darauf, dass der Mageninhalt im Bauch bleibt, dafür dauert das dann aber auch ewig lange.“
    Micha antwortete irgendetwas, doch passierte der Bus da gerade die nächste Haarnadelkurve und ich war viel zu sehr darauf konzentriert, meine Eingeweide beieinander zu behalten, als dass ich irgendwas mitbekam. Und als der Bus die Kurve passiert hatte, war mir das dann auch egal, denn in der Ferne sah ich schon das Kloster majestätisch aufragen.

    Seit der Orden des Feuers sein Magiemonopol an den Staat abgegeben hatte, war die Zahl der Mönche rapide gesunken, sodass nur noch einige wenige Magier aus reinem Altersstarrsinn im Kloster geblieben waren. Diese wenigen hatten beschlossen, die freien Novizenkammern zu Gästezimmern umzubauen und an Touristen zu vermieten, die das besondere spirituelle Erlebnis suchten. Und tatsächlich fanden sich nicht wenige Gäste, welche ihren Urlaub abseits der üblichen Touristenhotspots in stiller Kontemplation verbringen wollten. Und so genoss das Khoriner Kloster gerade wegen seiner Abgeschiedenheit Weltruhm als Hort der unverfälschten Spiritualität. Menschen und Orks aus aller Welt reisten, an um hier ein paar Wochen aus dem Hamsterrad ihrer profanen Geschäftigkeit zu entkommen. Üblicherweise reisten diese im Frühling- und in den Sommermonaten an und nicht wie ich im Spätherbst. Und so traf es sich, dass außer mir nur eine handvoll Gäste anwesend waren. Da wir aber ein Schweigegelübde abgelegt hatten, kann ich von ihnen nur so viel berichten, wie ihnen anzusehen war. Da war etwa ein melancholisch dreinblickender Ork mit langem geflochtenen Bart, eine geheimnisvolle Assassinin und drei vier normale Leute. Die Tage verbrachten wir in stiller Andacht und Eingekehrtheit. Es begann alles mit der Morgenandacht, nach welcher wir Schafe molken, Novizenkammern fegten oder was immer sonst gerade auf dem schwarzen Brett stand. Die restliche Zeit (mit Ausnahme von zwei Stunden freier Verfügung, die uns täglich zustanden) verbrachten wir im gemeinsamen Gebet in der Kapelle. Das alles führte bei mir dazu, dass ich meinen Scheidungskrieg mit Canthar und all die anderen Unannehmlichkeiten des Lebens, so gründlich verdrängte, als hätte es sie nie gegeben. Erst am letzten Nachmittag meines Aufenthalts, dem dreißigsten November, war ich gezwungen, mein Gelübde zu brechen. Es traf sich nämlich, dass mein Onkel Karras, welcher am renommierten Lehrstuhl für Dämonologie der Universität Geldern lehrte, mich gebeten hatte, ein Buch aus der Klosterbibliothek mitzubringen, welches er, wenn er zu den Festtagen nach Khorinis zurückkehrte, abholen würde. Und so betrat ich am letzten Nachmittag meines Aufenthalts den Klosterkeller. Dort lag die Luft kühl und schwer und meine Schritte hallten laut durch die uralten Gewölbe. Es war als wären die feuchten Gemäuer von einem eigentümlichen Leben erfüllt, als hätte mein Kommen, die hier lebenden Geister aufgestöbert, die nun eiligen Schrittes zu ihrem Meister eilten, um diesem mein Kommen anzukündigen. In Wirklichkeit waren diese vermeintlichen Geisterschritte natürlich nur das Echo meiner eigenen Schritte, doch in meinem Herzen … in meinem Herzen, da herrschte eine andere Wirklichkeit, eine Wirklichkeit des Abgrunds und der Mysterien, gegen die die Wirklichkeit des Verstandes nur wie eine Fassade, wie ein Schleier schien, ein dünner Nebel, der uns von der Welt der Dunkelheit, dem Reiche Beliars trennte.

    Der Bibliothekar war ein alter dürrer Mann und stammte seinem Aussehen nach von den südlichen Inseln. Als er mich kommen hörte, runzelte er die von Altersflecken übersäte Stirn, blickte aber nicht von seinem Buch auf. Es handelte sich um eine alte, vergilbte Ausgabe von Xardas' Grundlagen einer allgemeinen Magietheorie. Erst als ich mich räusperte blickte er von seinem Buch auf. Er verengte die haselnussbraunen Augen und starrte geradewegs durch mich hindurch, geradeso als wollte er mir signalisieren, wie unwillkommen ich hier war.
    „Sind sie der Bibliothekar hier?“, fragte ich. Er blickte mich fragend an, als verstünde er meine Frage nicht. Dann nickte er und fokussierte seinen Blick wieder auf einen Punkt irgendwo rechts hinter mir.
    „Mein Onkel hat mich gebeten, ein Buch für ihn abzuholen. Karras heißt er. Er ist Professor für Dämonologie an der Geldener Universität.“
    Schlagartig hellte sich der Blick des Bibliothekars auf. „Professor Karras?“ Breit grinste er mich an und offenbarte dabei zwei Reihen tabakbrauner Zähne. „Ja, der hat hier ein Buch bestellt. Ein ganz seltenes Stück aus der Zeit des großen Xardas!“ Grinsend legte er sein Buch beiseite. „Komm mit“, sagte er und erhob sich. Mit einem Elan und einer Wendigkeit, die ich ihm ob seines hohen Alters gar nicht mehr zugetraut hätte, schritt er durch die Regalreihen, auf denen sich jahrhundertealter Staub angesammelt hatte. Dabei ergab er sich in Ausführungen über Magietheorie und dämonologische Forschungsthemen, denen ich nicht im geringsten folgen konnte. Ich stapfte ihm also nach, ohne ihm allzu sehr Gehör zu schenken. Am Ende des Saales stand eine Reihe spinnenumwobener Tresoren. Mit lautem Rasseln kramte der alte einen Schlüsselbund aus seiner Tasse und machte sich sogleich am Tresorschloss zu schaffen. Schließlich machte es „Klack“ und die Tür schwang auf, wobei er nicht vermeiden konnte, eine Wolke schweren Staubes aufzuwirbeln. Schließlich zog er daraus einen Folianten hervor, den er mir ehrfurchtsvoll überreichte. Es handelte sich um muffig riechendes Buch, in braunem, fleckigen Ledereinband, auf welchem weder Titel noch Autor noch sonst irgendetwas vermerkt war. Die vergilbten Seiten machten den Eindruck, als würden sie jederzeit herausfallen. An der dem Buchrücken entgegengesetzten Seite war es mit drei Streifen Kreppband versiegelt.
    „Weißt du was du gerade in der Hand hältst?“, fragte der Bibliothekar streng.
    „Keine Ahnung“, antwortete ich.
    „Das ist schade. Ich weiß es nämlich auch nicht“, sagte der Bibliothekar und wieherte vor lachen. „Aber Spaß beiseite: warum meinst du haben wir es im Tresor eingeschlossen?“
    „Weil es wertvoll ist“, sagte ich und zuckte mit den Schultern.
    „Alle Bücher hier sind wertvoll!“, sagte der Bibliothekar beinahe schon empört. „Nein, es wird weggesperrt, damit es niemand liest. Die Bücher in den Tresoren darf man ohne Genehmigung nicht einmal anfassen! Achte also darauf, dass es nicht in unbefugte Hände gerät. Und die Siegel, die sind auch nicht ohne Grund da. Aber das solltest du ja wissen: Dein Onkel ist Professor für Dämonologie, nicht für Varantische Lyrik. Dir ist doch wohl klar, was das bedeutet … Öffne es nicht, lese es nicht, schau es dir am besten gar nicht erst an. Verstecke es irgendwo, wo nicht einmal du selber es findest, bis Professor Karras es abholt.“

    Der Himmel kräuselte sich in konzentrischen Kreisen als ich das Wasser mit der Hand tastete. Mein Blick folgte den Wellen, die sich stetig ausbreiteten, die Seerosen schaukeln ließen und schließlich am Brückenpfeiler brachen. Leider war es schon zu kalt zum Schwimmen und so hob ich meine Hand aus dem Wasser und ließ meinen Blick über den spiegelglatten See fahren. Für einen Moment vergaß ich den Stress, das nahende Weihnachtsgeschäft, den Rechtsstreit mit Canthar, die Verwandtschaft … ich vergaß dies alles und war für einen Moment ganz Himmel und ganz Morgrad, ganz Berg und ganz See. Ein kühler Hauch wehte über das Wasser. Berg und Himmel verschwommen und verflossen und es begann mich zu frösteln. Das Buch … Es hatte so kalt auf der Kommode gelegen, also hatte ich es in die Kommode geräumt. Doch darin war es mir zu leise gewesen, deshalb hatte ich es im Rucksack verstaut … Der Rucksack … Was, wenn der Zimmerservice … Der Bibliothekar hatte mich doch gewarnt … Und plötzlich stand ich auf der Brücke, merkte wie meine Schritte mich zum Kloster hinauftrugen, mich bis zum Portal und hindurch führten. Der Pförtner Pedro nickte mir kurz beachtete mich aber nicht weiter. Ich betrat den Innenhof. Die Kapelle ragte groß und drohend in den Himmel. Ich wandte mich von ihr ab, wandte mich stattdessen der Novizenkammer zu, in der ich Quartier bezogen hatte. Ein schwerer, süßer klang lag in der Luft, wie klarer, gelber Honig floss langsam die Zeit. Das Buch, es war süß, aber es begann langsam bitter zu werden. Ich öffnete die Tür zu meiner Kammer, hastete zum Rucksack und nahm das Buch heraus. Ich wog es in der Hand und betastete seinen Einband. Weich und flauschig wie Snapperfell fühlte es sich an, bitter wie Goblin-Beeren. Ich wollte es niederlegen und ein zorniger Geruch stieg aus den Seiten hervor, wie bei einem Insekt das sich bedroht fühlte … oder drohte? Das Insekt – es war gar kein Insekt! Eher eine Art Spinne, eine Spinne mit neun Beinen – öffnete die Greifzangen, holte zum Biss aus … Ein Zucken ging durch meinen Körper, ich öffnete die Hände, ließ das Buch meinem Griff entgleiten. War ich dem Biss entkommen?

    Ich brauchte einige Minuten – oder waren es Stunden? –, um meine Gedanken wieder zu sammeln. In der Tat war nicht wenig Zeit vergangen, denn die Sonne hatte sich schon zum Abend gesenkt. Verwirrt betrachtete ich das Buch, das auf dem steinernen Boden der Novizenkammer lag. Ich hob es auf und sah, dass es eine angestoßene Ecke hatte. Auch eines der Klebebänder (das untere, um genau zu sein), die es versiegelten, hatte sich gelöst. Der Kleber war wohl schon alt und hatte an Kraft verloren. Ich verstaute das Buch, das eine zitronige Note angenommen hatte, unter dem Bett, weil es dort weniger süßlich roch – auch sein Klang wurde dadurch sanfter – und machte mich, nachdem mein Magen sich zu Wort gemeldet hatte, zum Speisesaal auf. Dort wurde deftige Klosterkost aufgetischt: Schafswürste mit Sauerkraut. Ich ordnete die beiden Würste links und rechts an, sodass sie das (Sauerkraut) einklammerten und schnitt sie in je sechs kleine Stücke, die ich wie die Zahlen auf der Uhr gleichmäßig um das Sauerkraut verteilte. Zuerst aß ich die Stücke auf 12 und 6 Uhr, dann ging ich Paar für Paar von oben nach unten, immer darauf bedacht, die Symmetrie zu erhalten. Zuletzt blieb noch das Sauerkraut übrig, von dem ich ein paar Bissen aß, wobei mir aber recht schnell der Appetit verging. Aus Langeweile und guter Erziehung aß ich es aber trotzdem auf. Ganz langsam stopfte ich es mir Bissen für Bissen in den Mund. Der wollte sich zwar nicht so recht an die Säure gewöhnen, aber manchmal musste man so was einfach aushalten. Schließlich lag noch ein letzter Bissen allein und traurig in der Mitte des Tellers. Ich betrachtete ihn voller Überdruss und konnte nur mit Mühe ein Rülpser unterdrücken. Jetzt passte wirklich nichts mehr. Und so entsorgte ich den letzten Rest Sauerkraut im dafür vorgesehenen Abfalleimer.

    Ochse und Krieger sahen auf mich herab, als ich die durch Laternen nur spärlich ausgeleuchtete Brücke hinabging. In meiner Phantasie zirpten die Grillen, aber in Wirklichkeit war es dafür schon zu kalt. Schemenhaft sah ich Berge und den blassen Schein der Gestirne im Himmel. Der See lag tiefschwarz unter der Brücke. Nur der Mond warf eine silberne Spur auf das Wasser. Vom Fuße der Brücke aus schritt ich zwischen Bäumen und Sträuchern den Pfad entlang und kam schließlich zum Schrein des Isgaroth, der dort in stiller Andacht verharrte. Aufrecht kniete er vor der Statue, die Kleider hingen ihm in Fetzen vom mageren Körper, die dürren weißen Hände hatte er zum Gebet gefaltet. Ich ging auf ihn zu, umrundete den Glaskasten, in welchem sein Körper eingeschlossen war, um ihn von vorne betrachten zu können. Und so betrachtete ich seine platte Nase, seine gelben Zähne und seine leeren, schwarzen Augenhöhlen. Darunter Wirbel um Wirbel Hals und Rücken. Im Becken war ein Riss zu sehen, wo man ihn behelfsmäßig zusammengeleimt hatte. Neben dem Glaskasten war eine Infotafel angebracht. Ich holte mein Handy heraus, um die Tafel zu beleuchten, und las die Worte: Hier ruht Meister Isgaroth, Asket im Namen unseres Herrn Innos. Im Jahre zweiunddreißig vor der Befreiung bezog er in diesen Schrein und rührte sich bis zu seinem Lebensende nicht vom diesem Fleck. Nichts konnte ihn davon abhalten unserem Herrn Innos die Ehre zu erweisen.Weder Wind noch Wetter konnten ihn verdrießen. Im Winter spendete Innos ihm Wärme, im Sommer spendete er ihm Licht. Erst im Jahre dreiundfünfzig, nachdem er einundzwanzig Jahre im Schrein gelebt hatte, konnte er sich der Kälte nicht mehr erwehren und erfror im frommen Gebet vertieft.
    Der Arme!, dachte ich, doch nicht ohne Kichern zu müssen. „Nein. Reich bin ich durch Innos Gnade“, antwortete Isgaroth. „Sein Licht leuchtet mir in tiefster Finsternis.“
    „Ist es schlimm?“, fragte ich. „Nein“, sagte er. „Es ist …“ „Zitronig!“, sagte ich triumphierend. Die Überraschung war dem alten Magier zwar nicht gerade ins Gesicht geschrieben, aber zu spüren war sie trotzdem. „Woher weißt du das?“, fragte er. Ich zögerte. Durfte ich ihm von dem Buch erzählen?
    „Ah, das Buch …“, sagte er. „Ja, das macht Sinn. Das Buch … Ja, es ist eine Pforte. Eine Pforte der Gerechtigkeit … Seiner Gerechtigkeit.“
    „Seine Gerechtigkeit?“
    „Seine Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit des Schwertes. Zu tilgen all die Ungerechten, das ist seine Gerechtigkeit. Bist du gerecht?“
    „Ich … weiß nicht.“
    „Bist du gerecht, so hast du nichts zu befürchten. Bist du aber ungerecht und führst Arges im Schilde …“ Isgaroth beendete seinen Satz nicht, was ihn nur noch unheimlicher wirken ließ. Ich versuchte ihm, weitere Fragen zu stellen, doch jede meiner Frage beantwortete er nur wieder mit der Gegenfrage: „Bist du gerecht?“ auf welche ich mir nicht zu antworten anmaßen wollte. Und so ging das Spiel noch einige Male hin und her, bis ich schließlich frustriert von dannen zog.

    Bibbernd rollte ich mich in meine Bettdecke. Die Kälte der Nacht war mir bis in die Knochen gedrungen. Und tiefer noch als die Kälte der Nacht hatten Isgaroths Worte mich frösteln machen. Zitronig … Ja, das Buch war zitronig. Und es war warm. Ich konnte spüren, wie es die Matratze unter meinem Rücken wärmte. Ich beugte mich, streckte mich griff nach dem Buch und legte es wie eine Wärmflasche auf den Bauch. Langsam wich die Kälte aus meinem Körper. Und wie die Kälte wich, überkam mich Müdigkeit. Doch immer, wenn kurz vorm Einschlafen war, sah ich durch den Spalt meiner Lider das Buch, an dem sich der untere Klebebandstreifen gelöst hatte, der obere aber nicht. Irgendetwas störte mich daran, die Asymmetrie war wie ein Jucken in meinem Herzen, ein Jucken, das jeden Moment stärker wurde und mich am Schlafen hinderte. Schließlich konnte ich es nicht mehr aushalten und löste auch den oberen Streifen. Damit war die Symmetrie wieder hergestellt. Das Jucken schwand und langsam sank ich in den Schlaf.

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    Sarah und Canthar - Fachgeschäft für Kriegsgerät und Kampfausstattung


    So stand es am Schaufenster des Waffenladens. Nun hatte ich Canthars Namen zwar mit Papier überklebt, doch wenn man genau hinguckte, sah man die Lettern immer noch durchscheinen. Beim Anblick von des Namens meines Exmannes rümpfte ich unwillkürlich die Nase. Zwölf Jahre waren wir verheiratet gewesen, Zwölf Jahre hatten wir gemeinsam den Laden geführt. Und nun … nun war alles vorbei. Am dreiundzwanzigsten Dezember würden wir uns vor Gericht treffen, was dem Wort Weihnachtsstress eine ganz neue Bedeutung gab. Unter dem Schriftzug prangte der Adventskalender. Meine Stimmung erlitt einen leichten Dämpfer. Anscheinend war meine Idee eines Waffenadventskalenders selbst für die waffenliebende khoriner Bevölkerung zu abgedreht gewesen. Ich sollte Micha wirklich mehr Gehör schenken!
    Das Schloss öffnete sich mit einem Klacken, als ich den Schlüssel herumdrehte. Ein Klingeln begrüßte mich, als ich in den Laden trat. Ich legte den Rucksack ab und ließ mich ächzend auf den Stuhl hinter der Kasse fallen. Die lange Busfahrt hatte mich ganz schön geschlaucht. Als ich mich ein wenig erholt hatte, nahm ich meinen Rucksack und schleppte ihn die Treppe hoch, wo sich meine Wohnung befand. Im Flur begegnete ich Canthar, der mich mürrisch grüßte. Ich antwortete mit einem gezwungenen Lächeln, schenkte ihm aber sonst keine Beachtung. Ich würde ihn nicht mehr lange ertragen müssen. Eigentlich war er schon gar nicht mehr da.
    Ich trug den Rucksack auf mein Zimmer und begann ihn auszuräumen. Ganz zuunterst war das Buch, das nun nicht mehr zitronig sondern karamellig war. Ich nahm es heraus und sah, dass der mittlere Streifen einen Riss bekommen hatte. Ich legte das Buch auf der Kommode ab und ging erst mal in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen. Mit dem Kaffee verzog ich mich in mein Zimmer, weil dort die Wahrscheinlichkeit, Canthar zu begegnen am geringsten war. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, wo ich gelangweilt meinen Kaffee hinunterschlürfte. Was fiel meinem Leben ein, dass es in letzter Zeit so öde war? Ich griff zu meinem Rucksack und holte Die völlig bekloppte Reise in die Vergangeheit hervor, doch bevor ich das Buch aufgeschlagen hatte, war mir bereits die Lust vergangen. Ich legte das Buch beiseite und überlegte, ob ich nicht den Knopf von meinem Mantel wiederannähen sollte, aber so ungeschickt wie ich war, würde ich mich eh nur stechen. Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl herum. Der Kaffee ließ mein Herz schneller pochen und ich kam nicht zur Ruhe. Gleichzeitig hatte ich auf gar nichts Lust. Und so tat ich, was ich immer tat, wenn ich auf gar nichts Lust hatte: Ich legte mich aufs Bett und wackelte mit den Zähnen. Derweil wartete ich darauf, dass die Wirkung des Kaffees nachließ (Warum trank ich Kaffee, wenn er mir ganz offensichtlich nicht gut tat?). Und wie ich da so lag, blieb mir nichts anderes übrig, als das Muster der Raufasertapete mal ganz genau unter die Lupe zu nehmen, denn zu mehr war ich in diesem Moment nicht zu gebrauchen. Trotz meiner intensiven Untersuchungen, kam ich zu keinem vorzeigbaren Ergebnis, weshalb ich denjenigen Teil der Leserschaft, der sich für Raufasertapeten interessiert, leider auf ein andermal vertrösten muss. Nur ein kleiner Riss, da wo die Wand die Decke berührte, fiel mir auf. Riss … Ich erhob mich aus dem Bett, griff nach dem Buch und riss es auf.

    Als ich das Buch beiseite legte, hatte sich im Osten bereits die Morgensonne erhoben. Die Sonne blendete mich und deshalb legte ich das Buch beiseite und wandte mich vom Fenster ab. Ich stand immer noch an der selben Stelle, an der ich gestern Nachmittag das Buch in die Hand genommen hatte. Sobald ich das Buch beiseite gelegt hatte, wurden die Lider mir schwer, denn ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Ebenso knurrte mir der Magen, denn ich hatte es versäumt zu essen. Ich nahm also die halbvolle Kaffeetasse von gestern und trank den kalten Kaffee in einem Zug aus. Darauf ging ich in die Küche, wo ich mir neuen Kaffee kochte und ein paar Cornflakes aus der hohlen Hand naschte, um den Hunger wenigstens teilweise zu stillen. Dazu ein paar Nüsse, damit ich auch was Gesundes aß, und ein zwei Äpfel gingen dann auch noch. Zu guter Letzt noch ein bisschen Knuspermüsli, das ich mit dem gerade fertig gewordenen Kaffee aß statt mit Milch, weil ich vergessen hatte, Milch einzukaufen. Zu guter Letzt schlief ich auf dem Küchenstuhl ein und erwachte irgendwann nachmittags, als Canthar sich gerade ein paar Scavenger-Würstchen briet, wobei er das Fett durch die ganze Küche spritzen ließ. Die heißen Fetttröpfchen auf meiner Haut ließen mich schließlich erwachen. Benommen richtete ich mich auf und schielte zu Canthar hin. Eigentlich wollte ich ihm böse sein, doch ich war zu benommen, um böse zu sein. Die Würstchen waren schon halb verkohlt, aber so mochte Canthar nun mal seine Würstchen. Oder vielleicht wusste er einfach nicht, dass man die Temperatur auch kleiner stellen konnte.
    „Morgen“, sagte ich und verdrückte mich sogleich in mein Zimmer. Sofort fiel mir das Buch ins Auge. Ich versuchte mich daran zu erinnern, was darin gestanden war, doch ich konnte mich nur noch an eine warme Dunkelheit – oder war es eine dunkle Wärme gewesen? – und den Duft von Jasminblüten erinnern. Aber was mich so sehr daran gefesselt hatte, daran konnte ich mich nicht erinnern. Trotzdem hatte ich das Gefühl – nein ich wusste! – dass es den Schlafentzug wert gewesen war.

    Micha grinste mich an, als ich die Treppe hinunterkam. „Wusste ich doch, dass der Adventskalender eine Schnapsidee war“, sagte er triumphierend. „Was krieg ich?“ Ich lachte, antwortete aber nichts auf seine Frage.
    „Kannst du die nächsten Tage auf den Laden aufpassen?“, fragte ich stattdessen. „Mir geht es nicht so gut.“
    „Was ist für mich drin?“, fragte er. Ich fluchte innerlich. Das war mal wieder typisch Micha. Immer auf der Spur nach Gelegenheiten, sich zu bereichern – im Guten wie im Schlechten. Ich versprach ihm also einen Bonus, woraufhin er breit grinsend einwilligte. Ich wollte schon wieder die Treppe hochgehen, da räusperte er sich. „Ach ja übrigens“, sagte er. „Hast du das Türchen vom Adventskalender geöffnet?“
    „Nein“, antwortete ich verwundert. „Warum sollte ich?“
    „Naja, ich frag ja nur. Irgendwer hat es auf jeden Fall geöffnet.“
    Ich ging vor den Laden um nachzugucken, und tatsächlich, das erste Türchen (das von gestern) war geöffnet. Der Zorn wallte in mir auf. Ich stürmte sogleich die Treppe hinauf und klopfte energisch an Canthars Tür. Was fiele ihm den ein, sich einfach am Ladeninventar zu vergreifen usw. usf. Canthar versuchte die Tirade gelangweilt an sich abprallen zu lassen. Der Schein trog aber. In Wirklichkeit war er ganz schön genervt. Natürlich leugnete er jegliches Fehlverhalten (typisch Canthar! verschlagen wie eh und je). Auch durch Androhung einer Strafanzeige war er nicht kleinzukriegen. Stattdessen machte er mir den Vorwürfe, von wegen ich hätte den Kalender selber geöffnet, was ich entschieden zurückwies. Unsere Unterredung endete schließlich damit, dass wir uns beide schlecht gelaunt auf unsere Zimmer verzogen. Dort angekommen ging ich wütend auf und ab und dachte daran, wie ich ihm alles heimzahlen würde. Ich malte mir tausend unterschiedliche Arten aus, wie ich mich an ihm rächen würde. Dies ging so lange bis sich mein Zorn gelegt hatte, woraufhin ich mich erschöpft auf mein Bett fallen ließ. Wie gestern legte sich ein Schleier der Trägheit über mich und ich wollte keinen Finger mehr krümmen. Normalerweise wäre ich um diese Zeit ins Fitnessstudio gegangen, aber heute hatte ich keine Lust. Bekannte riefen an, aber ich ließ sie klingeln und stellte mein Handy auf lautlos. Die Raufasertapete bot immer noch keinen besonders interessanten Anblick, weshalb ich mich dieses Mal nicht lange mit ihr aufhielt. Stattdessen griff ich gleich zum Buch tauchte ein in die warme Schwärze. Und so verbrachte ich die Nacht, indem ich von phrygischen Akkorden begleitet über vanillenen Wolken schwebte.

    Die nächsten Tage vergingen in grauem Einerlei. Ich hatte weder Lust noch Kraft irgendetwas zu tun. Ich sagte alle Verabredungen ab und verließ mein Zimmer nur, um auf Klo zu gehen und um mir etwas zu essen zu holen. Ich wusch mich nicht mehr, vergaß mir die Zähne zu putzen und trug tagelang die selben Klamotten, während sich in der Küche das schmutzige Geschirr sammelte. Canthar beobachtete dies alles missbilligend, während er mit seinem Auszug beschäftigt war. Am 5. Dezember schließlich pfefferte er mir frühmorgens seinen Schlüssel vor die Zimmertür und rauschte die Treppe hinunter. Erleichtert darüber, dass ich ihn endlich los war, fand ich zum ersten Mal seit Tagen die Motivation, die Küche aufzuräumen. Doch gleich am nächsten Tag begann wieder das graue Einerlei. Das Weihnachtsgeschäft hatte Micha fest im Griff und wie mir schien, machte er alles richtig. So ganz genau achtete ich aber nicht darauf. Im Adventskalender öffnete sich jeden Tag eine neue Tür, immer die des Vortags. Ich fragte Micha, ob er etwas darüber wusste, doch er zuckte nur mit den Schultern und fragte, ob er die Miliz rufen sollte. Einen Moment lang überlegte ich, antwortete dann aber schließlich nur: „Nee, passt schon“. Denn seit Canthar weg war, war mir die Sache mit dem Adventskalender eh egal.

    Die Tage verbrachte ich damit, gelangweilt im Bett zu liegen, während ich abends im Buch las. Dieses war manchmal laut und manchmal leise, duftete mal nach Rosen, mal nach Zimt oder Osmanthus; klang bald dorisch, bald lydisch, bald phrygisch, bald mixolydisch; war mal rau, mal glatt; mal zart, mal hart, und stimmte mich, um es kurz zu machen, jedes mal recht vergnüglich, wenn ich es las. Leider litt darunter mein Schlaf und am Schlafmangel litt wiederum mein ganzes Leben, in welchem ich mich kaum noch zur geringsten Anstrengung animieren konnte. Micha legte mir besorgt einen Hausarztbesuch nahe. Dieser nahm mir Blut ab und verschrieb mir Schlafmittel. Es stellte sich aber heraus, dass mit meinem Körper alles in Ordnung war. Auch zu meinem Anwaltstermin schleppte ich mich mühsam. Dort saß ich dann abwesend da, nickte hin und wieder, sagte artig ja und nein, wusste aber nie so genau, wozu ich gerade ja oder nein gesagt und was ich gerade abgenickt hatte. Meinen Anwalt schien das nicht zu stören. Vielmehr zeigte er sich erfreut, dass ich ihm nicht reinredete.
    Manchmal besuchten mich auch Freunde oder Verwandte, um ihre Teilnahme zu bekunden. So erfuhr ich dann vom Klatsch und Tratsch der Khorinis gerade bewegte: Grittas neuer Lover, ein Serienmörder, der seit jüngstem in der Stadt umging, Valentinos jüngste Eskapaden, Umweltschäden durch den Erzabbau im Minental usw. usf. Ich hörte dem allem mit einem halben Ohr zu und sagte wie beim Anwalt ja und nein und nickte. Meist verließ mich mein Besuch noch besorgter, als er gekommen war.

    Am zwanzigsten Dezember kam schließlich mein Onkel, um das Buch abzuholen. Ich sagte, die Papierstreifen hätten sich während der Busfahrt gelöst und als mir das Buch heruntergefallen sei (ich zeigte ihm die angestoßene Ecke zum Beweis). Auf sein Nachfragen hin beteuerte ich, dass ich mich nicht erinnern konnte, im Buch gelesen zu haben (was nicht einmal gelogen war). Er sah mich noch einmal misstrauisch an, sagte aber nichts mehr. Als er den Laden verlassen hatte, atmete ich erleichtert auf. Mir war nicht entgangen, dass das Buch für meinen schlechten Zustand verantwortlich war. Mehrmals hatte ich Micha gebeten es zu verstecken, doch bald hatte ich gemerkt, dass ich das Buch gar nicht in der Hand halten musste, um darin zu lesen. Es reichte daran zu denken und schon konnte ich den rauen Ledereinband in meinen Händen spüren, den Bergamottduft des Buches riechen, und es war ganz so, als hielte ich es wirklich in den Händen. Ich hatte versucht, das Buch nicht aufzuschlagen, doch was ich auch tat, um mich abzulenken, ob ich Filme schaute, Bücher las, mich mit Micha unterhielt, ob ich mich biss und kratzte, letztendlich kehrten meine Gedanken wieder zum Buch zurück und ich konnte nicht anders, als es erneut aufzuschlagen. Es war als wäre in meinem Kopf gar kein Platz mehr für Anderes. Das Buch hatte alles verdrängt. Insofern war meine Erleichterung grenzenlos, als das Buch endlich weg war. Ich plauderte ausgelassen mit meinen Freunden und lud Micha zum Abendessen ein. Doch als der Tag vorüber war und ich abends schlaflos im Bett lag, kehrten meine Gedanken zum Buch zurück und ehe ich mich versah, war ich wieder darin versunken.

    Schließlich war der große Tag gekommen. Am 23. Dezember schleppte ich mich völlig übermüdet, dafür aber frischgewaschen, im eleganten Businesskostüm vor Gericht. Die tiefgrauen Augenringe hatte ich mit einer gehörigen Portion Make Up überschminkt, hatte aber trotzdem panische Angst, dass man sie durch die Schminke hindurchschimmern sah. Als ich aber genauer darüber nachdachte, kam ich zu dem Schluss, dass bereits meine Körpersprache und Mimik untrüglich davon zeugen mussten, dass ich mit meinen Kräften völlig am Ende war. Ob die Schminke meine Augenringe ordentlich abdeckte, war da von geringerer Bedeutung. Eigentlich hätte ich genauso gut ungeschminkt und ungewaschen im Schlafanzug vor Gericht erscheinen können und hätte nicht elender ausgesehen, als ich sowieso schon aussah. So saß ich also vor Gericht und war mit einer unerträglichen Mischung aus Nervosität und bleierner Müdigkeit erfüllt. Während meine Augenlider drauf und dran waren zuzufallen, pochte mein Herz nur so, was das Zeug hielt, und ich, konnte es kaum erwarten, mich endlich in mein Bett zu legen. Wobei … ein Sofa hätte es auch getan … oder eine Parkbank … oder meinetwegen auch der nackte Boden. Hauptsache ich würde einschlafen und nie wieder aufwachen. Doch Leider – oder wie sich herausstellen sollte: zum Glück! – kam der Prozess nicht so recht in Gang. Dies lag vor allem an Canthar, der heute besonders lange auf sich warten ließ. Canthars Anwalt wurde von Minute zu Minute nervöser. Schließlich erbat er vom Richter die Erlaubnis, Canthar anzurufen. Die bekam er auch, woraufhin er den Gerichtssaal verließ. Nach einer Viertelstunde kam er sichtlich frustiert zurück. Offenbar war es ihm nicht gelungen, Canthar zu erreichen. Der Richter gab Canthar noch zehn Minuten. Als dieser nach Ablauf der Frist immer noch nicht erschienen war, erklärte er dessen Klage für nichtig und beendete den Prozess kurz und schmerzlos. Ich wollte es zunächst nicht wahrhaben, doch als mein Anwalt mir zu meinem Glück gratulierte – womit er allerdings auch die Mahnung verband mich nicht zu früh zu freuen, da Canthar vielleicht noch die Möglichkeit hatte, das Verfahren neu aufzurollen. Ich nahm die Gratulation gern entgegen und auch die mahnenden Worte des Anwalts vermochten nicht, meine Stimmung zu trüben. Denn Sieg war nun einmal Sieg und ein Sieg über Canthar war noch viel mehr als ein Sieg. Beschwingt ging ich nach hause und kaufte mir auf dem Heimweg eine Flasche varantischen Rotwein, eingelegte Fangheuschreckeneier, Snapperschnitzel und diverse andere Delikatessen. Zuhause angekommen öffnete ich ohne größere Umschweife die Flasche und stillte meinen Durst indem ich in großen Schlucken aus der Flasche trank. Daraufhin warf ich alle gekauften Delikatessen in einen Topf, goss Olivenöl herein, sodass der Inhalt fast bedeckt war und briet, was das Zeug hielt. Und obgleich der Fraß sicher keinem Gourmet gefallen konnte, genoss ich mein kulinarisch fragwürdiges und objektiv betrachtet abscheulich schmeckendes Mahl in vollen Zügen, denn es schmeckte nach Sieg. Ich spülte das ganze noch mit einem bisschen Rotwein hinunter und rief sogleich Micha an, um ihm von meinem Sieg zu berichten. Micha zeigte sich erfreut, denn auch er war kein besonderer Freund Canthars, doch konnte ich nicht umhin, aus seinem Tonfall auch eine gehörige Portion Sorge herauszuhören, wobei ich nicht ganz ausmachen konnte, ob die Sorge mir galt oder Canthar.

    Das Buch präsentierte mir an diesem Abend eine wahrhaft weihnachtliche Melange aus Kardamom und Sternanis, dazu ein Konzert aus hellen, heiteren Glockenklängen, die in festlichen Weihnachtsmelodien tönten. Zu dieser Lektüre tanzte ich wild, so wild dass ich in einem Fort gegen antike Möbelstück stieß und mir den ein oder anderen blauen Fleck holte. Auch die ein oder andere kostbare Vase – wahre Kunstschätze aus dem Tal der Erbauer – musste dran glauben. Ich zerschmetterte ein Designer-Teeservice und als der Besitzer protestierte, zog ich meinen Revolver und zielte auf seinen Kopf. „Für Canthar“, rief ich und drückte ab. Das heiße Blut färbte die Dunkelheit rot. Es schmeckte, roch und klang nach Sieg.

    Erst als ich das Buch beiseite legte, merkte ich, wie verkatert ich war. Sofort hastete ich ins Bad und kam gerade noch rechtzeitig, um mich die Kloschüssel zu übergeben. Danach hing ich noch ichweißnichtwielange über der Schüssel, bis ich auch noch den letzten Rest meines gestrigen Siegesmahles erbrochen hatte. Endlich erhob ich mich und erschrak mich beim Anblick meines Spiegelbildes fast zu Tode. Mein ganzer Körper, einschließlich des eleganten Businesskostüms waren mit Rotwein, Fett und Blut bespritzt. „Innos bewahre!“, rief ich aus und riss mir voller Ekel die Kleider vom Leib. Dabei fiel der Revolver aus der Jackentasche meines Kostüms und prallte mit einem lauten Klirren auf die Fliesen auf. Der Revolver … Mein Leib war wie vom Blitz getroffen. Es war unverkennbar der Revolver aus dem dreiundzwanzigsten Türchen des Adventskalenders. Eine zeitlang starrte ich die Waffe an, wie sie silbern glänzend auf dem schmutzig grauen Fliesenboden ruhte, dann entschied ich mich den Revolver fürs erste zu vergessen und lieber erst mal zu duschen.
    Als das warme Wasser meinen Körper hinunterrann, begannen sich meine Gedanken so langsam zu sortieren. Offenbar hatte ich die Waffen aus dem Adventskalender entwendet und, wie es schien, auch einigen Unfug damit getrieben. Nachdem ich einigermaßen mit der Situation arrangiert hatte, nahm ich meine Kleider, stopfte sie in die Waschmaschine und ließ diese alle Vernunft und Waschhinweise in den Wind schlagend auf sechzig Grad laufen. Mit dem Revolver ging ich ins Wohnzimmer und versteckte ihn in der Sofaritze. Darauf ging ich die Küche und machte mich ans Frühstücken. Da mir beim Anblick meines gestrigen Triumphmahles speiübel wurde, entsorgte ich kurzerhand dessen Überreste, und gab mich stattdessen mit einer Dose Halvor's Heringe zufrieden. Nachdem der Kater gefüttert war, begab ich mich in mein Zimmer, wo ich mir frische Kleidung anzog und zum ersten Mal seit Wochen an meinem Handy die Nachrichten las. Valentino tot in seiner Villa aufgefunden. Der Milliardärssohn starb letzte Nacht durch einen Schuss in seinen Kopf. Das nächste Opfer des Dezembermörders? Hieß es da. Am Ende des Artikels war eine Bilderserie Die Zweiundzwanzig Opfer des Dezembermörders verlinkt. Ich tippte darauf und sah: Erster Dezember: Der Irre Fellan, getötet durch einen Stich ins Herz. Ein Dolch! In der ersten Tür hatte sich ein Dolch befunden. Zweiter Dezember: Lehmar, dem Geldverleiher, wurde der Schädel durch einen stumpfen Gegenstand zertrümmert. Der Steinbreicher! Hinter der zweiten Tür hatte sich ein Steinbrecher befunden. Und so ging die Liste weiter bis zum Dreiundzwanzigster Dezember: Valentino, getötet durch einen Schuss in den Kopf. Jedes einzelne Mordopfer schien durch exakt die Waffe umgekommen zu sein, welche sich an diesem Tag in meinem Adventskalender befunden hatte, und ausnahmslos jedes der Opfer war ein zutiefst verachtenswürdiger Mensch. Lediglich am zweiundzwanzigsten Dezember war niemand ermordet worden. Ich überlegte. War vielleicht Canthar … Sofort wählte ich Canthars Nummer, doch niemand hob ab. Auch von seinen Freunden und Bekannten konnte niemand sagen, wo er war. Ob Canthar das zweiundzwanzigste Opfer war, blieb also fürs erste ungeklärt. Wichtiger war die Frage, wer das vierundzwanzigste Opfer werden würde?

    Der Korridor war in einem kränklichen Minzgrün gestrichen und sah dadurch derart karg und ungemütlich aus, dass die Zellen dagegen wie eine Hotelsuite wirken mussten. Und in der Tat: als sich die Zelltür vor meinen Augen öffnete, offenbarte sich mir ein lebendiges, jedoch auch nicht zu kräftiges Zitronengelb, welches mir sicher das Gemüt erhellt hätte, wäre ich nicht so todmüde gewesen. Drei Schritte nur dann stand ich in der Zelle, zwei Atemzüge und die Tür war hinter mir ins Schloss gefallen. Es hatte mich einiges an Überwindung gekostet, mich der Miliz zu stellen, doch letztlich war ich sehr zufrieden über meine Entscheidung. Denn lieber würde ich als Adventskalendermörderin verhasst sein, als noch einen weiteren Menschen zu töten. Auch wenn ich ehrlich gesagt auch ein bisschen neugierig war, wer denn das letzte Opfer gewesen wäre.
    Der Milizsoldat, der mich verhört hatte, hatte mir anfangs nicht glauben wollen, war ich doch immer eine angesehene Bürgerin gewesen, auch hatte der Umstand, dass ich mich an keine der Taten erinnern konnte, nicht gerade geholfen. Als ich aber von meinem blutbefleckten Kostüm und dem Revolver in der Sofaritze erzählte und sich herausstellte, dass darin die gleiche Munition geladen, war, die man auch in Valentinos Schädel gefunden hatte, fing man zwar nicht unbedingt an mir zu glauben, so doch den von mir erhobenen Verdacht zumindest für möglich zu halten. Auf meinen eigenen Wunsch hatte man mich an den Händen gefesselt und in eine Einzelzelle gesperrt. Davor hatte ich Micha angewiesen, die vierundzwanzigste Waffe, eine Nachbildung der Streitaxt des berühmten General Lee, an sich zu nehmen und an einem Ort zu verstecken, wo ich sie nicht finden würde. Somit war ich nun dreifach abgesichert und es musste schon ein Wunder geschehen, sollte ich heute noch einen weiteren Menschen töten.
    So saß ich also in meiner Zelle und so sehr man sich Mühe gegeben hatte, diese halbwegs wohnlich einzurichten, so konnte ich mich doch der Langeweile nicht erwehren, und so spürte ich schon bald die Versuchung, das Buch noch ein letztes Mal aufzuschlagen. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, doch wie bei einem Verdurstenden in der Wüste, kreisten alle meine Gedanken um das Buch. Ich hatte schon mehrmals den rauen Einband ertastet, den starken Schwefelgeruch gerochen, doch gelang es mir jedes Mal im letzten Moment, die Hand zurückzuziehen. Ich begann meinen Oberkörper rhythmisch vor und zurück zu wippen, um mich abzulenken, kniff und kratzte mich blutig, soweit die Handschellen das erlaubten, wälzte mich auf dem Boden, kreischte, schrie, schlug den Kopf gegen die Zellenwand. Die Schreie machten schließlich auch die Wächter auf mich aufmerksam. Bald schon standen drei von ihnen in meiner Zelle und versuchten meinen zappelnden, zuckenden, sich windenden Körper unter Kontrolle zu kriegen. Ich flehte sie an, mich auf dem Stuhl in meiner Zelle festzubinden, doch offenbar hatten sie Anderes mit mir vor. Mit Gewalt pressten sie mich in eine Zwangsjacke, bugsierten mich aus meiner Zelle und zerrten mich durch die minzgrünen Korridore bis auf den Gefängnishof. Von dort aus ging es über den Hof zum Lazarett. Der behandelnde Arzt hörte eine Weile meinen verworrenen Schilderungen zu und fackelte nicht lange, mich in eine Nervenheilanstalt zu überweisen.

    Ein dröhnen, als würden tausend Wahnsinnige gleichzeitig auf die Tasten einer Orgel einhämmern, begleitete mich auf der Fahrt zur Nervenheilanstalt. Ich hatte es schließlich nicht mehr ausgehalten und das Buch geöffnet. Doch statt dorischen Akkorden war nur noch Kakophonie zu hören, statt Vanille- oder Zitronenduft war es, als hätte jemand alle Parfums der Welt in einen Bottich geschüttet und dem widerwärtigen Cocktail noch eine ordentliche Portion Schwefel beigemischt. Ich musste husten, so abscheulich roch es. Die Wärme war einer sengenden Hitze gewichen, sodass mir der Schweiß in Strömen von der Stirn rann. Es war als schwämme ich durch einen Ozean aus Klingen. Jede Bewegung und jede Nicht-Bewegung wurde durch höllische Schmerzen gestraft. Zwischen all dem hörte ich ein Gewirr aus tausend Stimmen. Isgaroth war darunter und Canther und Uropa Ezekiel. Die Stimmen wisperten durcheinander, verflossen ineindander. Aus tausend Mündern und gleichzeitig aus einem einzigen Munde flüsterten sie mir beschwichtigend zu: Lass es geschehen! Wehre dich nicht! Es ist nicht so schlimm. Auch Beliar ist ein Gott der Gerechtigkeit und er hat dich zum Werkzeug seiner Gerechtigkeit erwählt. Seinen Schatten hat er dir gegeben und im Schutze seines Schattens hast du Gerechtigkeit geübt. Dir wird in seinem Reich nichts geschehen. Er hat dich erwählt. Du wirst eine Königin sein, und die Menschen werden vor dir niederknien, und wer unter ihnen böse ist, den wirst du strafen. Nicht gestraft werden, sondern strafen sollst du. Wir erwarten dich. Wir werden dir die Füße küssen und dich auf Händen tragen. Nur ein Opfer noch, dann ist all dein Klagen vorbei, nur noch dieses eine, kleine Opfer. Du hast Beliar gut gedient. So diene ihm auch jetzt noch. Vollende, was du begonnen. Mach alledem ein Ende, aufdass du endlos lebest. Du hast schon fast gewonnen. Dir fehlt noch ein Schritt und es ist Schluss! Fertig! Aus!
    Geändert von DieKleineKlugeFrau (17.01.2022 um 08:43 Uhr)

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