Wieder auf Anfang
"I'll keep watch until you sleep,
I'll stay up until it leaa-aves,
it laughed to soon, thought it had won..."
Plötzlich hielt Amaia inne und schnaubte laut. Der verhunzte Akkord ihrer Gitarre klang noch einige Sekunden nach, ehe sie die Saiten dämpfte und wieder Stille in ihrem Zimmer herrschte.
Für einen kurzen Moment wollte sie sich noch ärgern, sich verspielt zu haben, doch dann kam wieder die ungebetene Erkenntnis, dass es eigentlich egal war. Es gab niemanden, der ihr zuhörte und niemanden, der sich daran stören könnte. Daran war ja auch nichts ungewöhnlich, denn sie hockte schließlich alleine auf ihrem Bett und spielte einfach nur ein wenig vor sich hin.
Und dennoch...irgendwo in den Tiefen ihres Kopfes regte sich jedes Mal etwas, wenn sie daran dachte. Ja, sie spielte einfach nur für sich selbst, weil sie Spaß daran hatte und wirklich hören konnte sie hier niemand. Wenn man mal von ihrer Mutter absah. Oder den Nachbarn. Aber immer wieder reizte sie diese Idee, andere ebenfalls daran teilhaben zu lassen. Aus keinem anderen Grund hatte sie auch angefangen, sich mit der alten Kamera ihrer Mutter selbst zu filmen und die Clips ihrer Song-Cover im Extranet hochzuladen. Und es kam tatsächlich gut an, mehrere hundert Leute hatten sich ihre Videos auf InSync angeschaut und hatten sogar kommentiert, wie schön sie die Musik fanden. Nie im Leben hätte sie mit so etwas gerechnet und das allein war schon fast zu schön, um wahr zu sein.
Seit dem Besuch im Tonstudio aber hatte sich etwas geändert. Amaia wollte mehr.
Es war eine Sache, alleine in ihrem Zimmer zu sitzen, Gittare zu spielen und sich dabei zu filmen. Oder im Tonstudio mit Tomas ein wenig herumzualbern. Aber wie wäre es bloß, vor einem richtigen Publikum zu spielen? Eines, das nicht bloß aus ihrer Familie oder aus gesichtlosen Leuten im Extranet bestand?
Bald war wieder Musikabend im Harmony, die Ankündigung war heute auf allen Social Media-Kanälen der Bar gepostet worden und Bands und Musiker konnten sich für die verschiedenen Slots anmelden. Es würde sicherlich nicht lange dauern, bis alle Plätze belegt sein würden. In ganz Tauranga und teilweise sogar darüber hinaus gab es genügend Interessenten dafür. Kleine Garagenbands, die sich vor einem richtigen Publikum beweisen wollten, Berufsmusiker, für die das Ganze einfach nur ein weiterer Gig war und Musikenthusiasten, die jede Gelegenheit nutzen wollten, um ihr Hobby mit ihren kleinen Bands ausleben zu können.
Wie gerne würde sie selbst irgendwann man auf dieser Bühne im Harmony stehen. Nicht einfach nur für einen Karaoke-Abend mit Freunden, sondern um ihre Musik zu spielen. Es mochten einfach nur billige Cover-Songs sein, doch es wäre ihre Performance und es wäre mit Sicherheit der absolute Wahnsinn.
Amaia seufzte schwer. Leider hatte Rebecca ihr klar gemacht, dass sie nichts dergleichen wollte und ohne ihre beste Freundin wäre es nicht dasselbe. So sehr sie sich seit ihrem Ausflug nach Wellington auch wünschte, mehr Musik machen zu können, es war leider wenig mehr als ein Hirngespinst.
Sie griff wieder an ihre Gitarre und setzte das Plektrum an, um den Song weiterzuspielen. Kurz rief sie sich in Erinnerung, an welcher Stelle sie aufgehört hatte und beschloss kurzerhand, denn ganzen Abschnitt von Vorne anzufangen. Trocken spielte sie zwei Takte, bevor sie einsetzte.
"I'll keep watch until you sleep,
I'll stay up until..."
Das Pochen an ihrer Tür unterbrach sie und Amaia schaute genervt auf. Sie wusste schon, wer es war.
"Ja?"
Ihre Mutter öffnete und trat in ihr Zimmer. Der müde, abgehärmte Blick auf ihrem Gesicht war mittlerweile ein Dauerzustand bei ihr geworden, ebenso wie die leicht geröteten Wangen.
"Mai, ich will jetzt ins Bett gehen", sagte sie mit krächzender Stimme.
Eine Welle des Zorns rollte über Amaia hinweg. Für einen Moment wollte Amaia ihr etwas entgegenschleudern, ihr sagen, wie egal ihr das war und dass es ihr Problem sei. Doch sie besann sich und der Ärger flaute schnell wieder ab.
"Okay..." Ein wenig widerwillig erhob sich Amaia und stellte ihre Gitarre auf dem Ständer neben ihrem Schreibtisch ab.
"Pō mārie, mama!"
Mit einem dankbaren Nicken zog sich ihre Mutter wieder zurück und schloss die Tür hinter sich.
Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es nicht einmal neun war. Und es war nicht so, als ob ihre Mutter besonders früh raus musste. Im Gegenteil, sie arbeitete von zuhause aus, denn sie war selbstständig. Sie betreute die Webseiten von einigen kleineren Läden und Unternehmen in Tauranga City, kümmerte sich um Wartung und Aktualisierung der Inhalte und Datenbanken. Eigentlich war sie keine große IT-Fachfrau, doch ihre Kunden hatten keine sonderlich umfangreichen und komplexen Systeme. Es waren einfache Aufträge, wie etwa der Internetauftritt eines Shuttleverleihs oder eines kleinen Restaurants.
Für gewöhnlich würde sich Amaia auch gar nicht so sehr daran stören, wenn der Grund für den unregelmäßigen Schlafrhythmus ihrer Mutter nicht der Alkohol wäre. Ihre Mutter wollte nicht etwa früh aufstehen, sie war einfach so betrunken, dass sie nicht mehr aufrecht bleiben wollte und sich lieber ins Bett warf, wo sie irgendwann einschlafen könnte.
Angewidert verzog Amaia das Gesicht, als sie die leichte Weinfahne wahrnahm, die ihre Mutter hinterlassen hatte.
Sie ließ sich wieder auf ihren Schreibtischstuhl fallen und starrte mit verschränkten Armen an die Decke. Eigentlich sollte sie froh sein, dass ihre Mutter ihr Bescheid gesagt hatte. Noch dazu in einer fast schon freundlichen Art. Keine Streiterei, keine Beschimpfungen, kein Geschrei. Sie wollte einfach nur, dass ihre Tochter für den Rest des Abends etwas leiser war. Eigentlich konnte sie ihrer Mutter keinen Vorwurf machen, es war sicherlich nicht leicht einzuschlafen, wenn sie einen Raum weiter ihre Musik spielte.
Nur bedeutete es, dass Amaia sich etwas anderes suchen musste, um den Abend zu verbringen.
Aus reiner Gewohnheit griff sie nach ihrem Smartpad und ging ihre Kontakte durch. Am liebsten würde sie jetzt mit irgendwem reden, über irgendwas Harmloses, irgendwas Belangloses. Die Versuchung Rebecca anzurufen war groß, doch sie wollte ihrer besten Freundin nicht pausenlos in den Ohren hängen. Tatsächlich hatten sie erst vor ein paar Stunden miteinander telefoniert. Und mittlerweile wusste sie wirklich nicht mehr, was sie Rebecca noch erzählen sollte.
Bis zu Madisons Ausraster hatte Amaia noch geglaubt, Rebecca sei wieder auf einem guten Weg gewesen. Sie hatte sich schon so viel sicherer gefühlt und es war toll gewesen, wieder so viele gemeinsame Ausflüge machen zu können. Irgendwie hatte Amaia geglaubt, Rebecca würde sich so langsam mit ihren neuen Umständen einleben. Und plötzlich war sie wieder dort, wo sie noch vor ein paar Monaten gewesen war, als Amaia gerade nach Neuseeland zurückgekommen war. Das Schlimmste daran war, dass sie keine Ahnung hatte, was sie jetzt noch tun sollte. Immer wieder regte sie an, irgendetwas gemeinsam zu unternehmen. Sie versuchte gar nicht erst, Rebecca so etwas wie Weltreise oder einen Ausflug auf die Citadel vorzuschlagen. Aber selbst so Kleinigkeiten, wie zusammen ins Kino gehen wehrte ihre beste Freundin mittlerweile vehement ab. Vor einigen Monaten noch hatte sie geglaubt, sie könne Rebecca helfen, doch mittlerweile machte sie sich ernsthaft Sorgen.
Es war nur das Ende einer endlos langen Liste an Dingen, die ihr zu schaffen machten. Doch es war das, was ihr am meisten zu denken gab.
Ein wenig gedankenverloren scrollte Amaia weiter durch ihre Kontaktliste. Natürlich hatte sie nichts mehr von Madison gehört, ihre Freundin ignorierte sie auf allen Kanälen und weigerte sich, nochmal mit ihr oder Rebecca zu reden. Eigentlich fehlte nur noch, dass sie Amaia auf InSync blockierte und vielleicht war das auch nur noch eine Frage der Zeit.
Ben war sicherlich im Prüfungsstress, sein Medizinstudium beanspruchte seine volle Aufmerksamkeit und sein Bruder Luca war im Moment mit seinen Kumpels in Australien, wo sie ihren Schulabschluss ordentlich feierten. Aber dann sah sie in ihren Kontakten einen weiteren Namen, der mit 'Online' markiert war.
Eigentlich kannte sie Craig nicht allzu gut. Vor gut zwei Jahren hatte sie angefangen, mit ihm zu schreiben. Damals hatte sie nach einer Online-Gruppe zum DnD-Spielen gesucht, weil ihre Gruppe rund um Luca, Andrew und Lily sich nicht mehr regelmäßig hatten treffen können. Wie so häufig bei solchen Online-Runden hatte das Ganze aber nicht lange gehalten, schon nach wenigen Sessions hatte sich niemand mehr blicken lassen und das Ganze war im Sand verlaufen.
Mit Craig aber war sie danach noch weiterhin in Kontakt geblieben. Nicht regelmäßig, aber doch immer mal wieder und sie hatten sich immer ganz gut verstanden, auch wenn sie sich noch nie in Person begegnet waren. Eigentlich war es längst an der Zeit, sich mal wieder bei ihm zu melden.
Einen Moment lang starrte Amaia auf den Kontakt, den sie sich mit 'CK' abgespeichert hatte. Dann wählte sie ihn kurzerhand an und startete einen Sprachanruf.
"Kia Ora, Craig!" Aufrichtige Freude befiel sie, als sie seine Stimme hörte und verdrängte einen Moment die trüben Gedanken.
"Hey...ich hoffe, ich störe dich gerade nicht bei was Wichtigem. Ich wollte mal fragen, wie's dir so geht!"