„Letzter Aufruf für Teleport 54“, hallte die angenehme, magische verstärkte Stimme einer Frau durch die gewaltige Steinpyramide. Jeronimo sah sich um. Die Architektur des Teleportterminals hatte sich in den letzten achtzig Jahren kaum verändert, soweit er wusste. Und dazu musste man noch die Jahrtausende zählen, die seit der Erbauung der Pyramiden verstrichen waren. Die uralten Steine waren dunkel, verwittert und feindselig, und Jeronimo hatte das Gefühl, dass sie seit Anbeginn ihrer Existenz nur darauf warteten, auf die Reisenden niederzustürzen. Aber sie stürzten nicht nieder.
„Reiseziel des Teleports 54 ist Ishtar Haven, Varant“, fuhr die Stimme fort. „Alle Reisenden mit gültigem Flugschein werden gebeten, sich zur Teleportationszone zu begeben und sich zu vergewissern, dass ihre Unterlagen das Prüfsiegel der Königlichen Behörde für Fernverkehr tragen. Vielen Dank.“
Die Teleportationszone war weder dunkel noch beklemmend; die Wände waren in freundlichen Tönen gestrichen und die Decke zeigte ein prächtiges, beruhigendes Farbenspiel, das in unendlicher, sanfter Bewegung zu immer neuen Formen erblühte. Etwa fünfzig Liegen befanden sich in dem Raum und fünf junge Frauen in wasserblauen Novizinnenroben gingen zwischen den Betten herum, unterhielten sich freundlich mit den Reisenden und boten ihnen Wasser und Milch an. Am Eingang standen zwei Novizen, die die Reisepapiere der Fluggäste kontrollierten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes fiel der Boden ab und bildete einen Schacht, aus dem blaues Licht wie Dampf aufstieg.
Jeronimo, seine Frau und seine Tochter Lucy hatten auf drei Liegen Platz genommen.
„Erzählst du mir jetzt bitte, wie der Teleport funktioniert? Du hast es mir versprochen!“ Lucys Stimme klang etwas schrill, wie immer, wenn sie aufgeregt war. Ein Mann mit dem groben Gesicht eines Khorinisbauern und Sonnenbrand im Nacken warf dem Mädchen einen strafenden Blick zu. Dann wandte er sich wieder dem Studium der Dokumente zu. Nun war nur noch das sanfte Flüstern der Novizinnen zu hören, die die Reisenden einwiesen, und das Rascheln der Kleider, wenn sich die Passagiere auf ihren Liegen niederließen.
Jeronimo warf seiner Frau einen ermunternden Blick zu. Sie war blass und nervös. Es war ihr erster Teleport. Sie hatten in den vergangenen Monaten immer wieder das Für und Wider eines Umzugs nach Ishtar Haven besprochen, seit sein Versetzungsbescheid der Königlichen Armee gekommen war. Schließlich waren sie übereingekommen, dass die ganze Familie umsiedeln würde. Zwei Jahre würden sie in der Wüste verbringen, fern von den grünen Auen rund um Khorinis, fern von der Küste, fern von all dem, was sie liebten. Jeronimo betrachtete ihr bleiches Gesicht. Ob sie ihren Entschluss bereits bereute?
Jeronimo sah auf die große Wasseruhr in der Mitte des Raumes, die die verbleibende Zeit bis zum Beginn ihrer Reise anzeigte. Träge quollen blau schimmernde Tropfen aus dem schmalen hals zwischen den beiden großen Glasglocken. Genügend Zeit, um Lucy die Geschichte zu erzählen. Das würde sie ablenken. Und auch seine Frau schien etwas Zerstreuung gebrauchen zu können.
„Also gut“, sagte er. „Aber ich weiß selbst nicht allzu viel über die Entstehung dieser Technik. Es ist, glaube ich, eine uralte…“
„…wassermagische Kunst, die auf den Kräften reiner Wassermaterie beruht“, vollendete eine dunkle, angenehme Stimme den Satz. Jeronimo sah auf, und auch Lucy starrte den Mann an, der an ihre Liegen getreten war. Es war ein hochgewachsener Magier in Hoher Wasserrobe, die im Spiel der Farben an der Decke schimmerte. Er war alt und die Zeit hatte tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben, aber seine Haltung war kraftvoll wie die eines jungen Mannes. In seinem Schatten stand ein junger Novize, der unsicher von einem Fuß auf den anderen trat. Der Magier fuhr fort:
„Gestattet, dass ich mich Euch vorstelle. Mein Name ist Nefarius. Bis vor einigen Jahren war ich der Leiter der Teleporthäfen von Khorinis und Jharkendar. Offiziell befinde ich mich im Ruhestand…“ – ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und Jeronimo beobachtete fasziniert das Netz unzähliger Fältchen um seine Augen. Wie alt mochte Nefarius sein? – „..aber wie Ihr seht, betreue ich weiterhin unsere Novizen und unterweise sie in der Kunst des Teleports.“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung des Jungen, dem die Novizenrobe beinahe noch zu groß war. „Das hier ist Victor, unser jüngster Novize. Er ist erst seit kurzem bei uns, aber ich bin sicher, dass er es mit seiner schnellen Auffassungsgabe, seinem Wissensdurst und seiner Neugierde weit bringen wird.“ Er nickte Victor aufmunternd zu. Jeronimo betrachtete den Jungen. Er mochte etwa sechzehn Jahre alt sein, schmächtig und unauffällig, mit verschlossenem Gesicht. Allein seine Augen verrieten, dass Nefarius mit seiner Einschätzung recht haben mochte. Dem Novizen schien nichts zu entgehen.
„Nun, und da ich zufällig die Bitte Eurer reizenden Tochter mitangehört habe…“ Nefarius lächelte dem Mädchen großväterlich zu …“möchte ich Euch einladen, an Victors Lehrstunde
teilzunehmen. Gerade wollte ich ihm die Geschichte und Technik des Teleportes erklären, und das kann ich genauso gut hier bei Euch tun, nicht wahr? Anschließend wird euch Victor beim Teleport begleiten, denn auch er soll nach all der grauen Theorie diese gute Gabe Adanos’ am eigenen Leibe erfahren.“
Jeronimo nickte erfreut. Nefarius strahlte Ruhe aus wie das Meer an einem windstillen, klaren Tag. Lucy hatte sich sichtlich entspannt, und sogar das Gesicht seiner Frau schien weniger angespannt. Nefarius und Victor nahmen auf einer freien Liege neben Jeronimo Platz.
„Die Kunst des Teleportierens ist uralt. Sie wurde bereits von den Erbauern der Heiligen Stätten Jharkendars eingesetzt, doch ihr Wissen ging verloren und blieb für lange Zeit im Dunkeln. Erst vor achtzig Jahren ist es uns“ – Nefarius betonte dieses Wort so sehr, dass Jeronimo sicher war, dass Nefarius direkt an dieser Wiederentdeckung beteiligt gewesen sein musste – „gelungen, es wieder ans Licht zu bringen. Saturas war der Name des Magiers, der die Forschungen leitete. Ihm war es gelungen, mithilfe der alten Schriften das Rätsel des Teleports zu entschlüsseln. Er experimentierte schon längere Zeit mit den Künsten der Erbauer, bevor er den König über die Resultate informierte. Nun, unser Saturas war ein Geheimniskrämer, und er hätte am liebsten überhaupt nichts verraten, aber der König drohte damit, die Zuschüsse, die er zur Erforschung der Alten Wissenschaften gewährt hatte, zurückzufordern.“ Über Nefarius’ zerfurchtes Gesicht glitt ein Lächeln, das beinahe zärtlich war.
Jeronimos Blick fiel auf eine Öffnung in der gegenüberliegenden Wand. Zwei junge Frauen erschienen in der Tür, beide in den wasserblauen schimmernden Roben der Novizinnen. Die beiden schoben einen Wagen vor sich her, auf dem mindestens vier Dutzend zierlicher Phiolen standen, deren Inhalt in tiefem Meerblau leuchtete. Lucy hing wie gebannt an Nefarius’ Lippen und hatte die beiden Frauen noch nicht bemerkt.
Nefarius hatte seine Erzählung fortgesetzt: „Beim Teleportieren handelt es sich, wissenschaftlich betrachtet, um einen telekinetischen Prozess. An der Universität zu Geldern spricht man auch vom Saturas-Effekt.“ Er schmunzelte. „Man könnte sagen, dass der Teleport eine Entdeckung war, die fünf vor zwölf gemacht wurde.“ Nefarius wandte sich an Lucy. “Hast du denn schon in der Schule gelernt, was für ein großes Unheil vor achtzig Jahren über Myrtana schwebte?“ Lucy nickte eifrig. „Es herrschte der Zweite Orkkrieg. König Rhobar II war von den Truppen der Orks überrannt worden, sie hatten sogar Vengard geschlagen.“ Nefarius lächelte. „So ist es. Die Truppen waren am Ende ihrer Kräfte, die Männer gingen aus, aber am schlimmsten traf die Menschen der Mangel an Rohstoffen. Einerseits ging das magische Erz zur Neige, andererseits fehlte es an einfachen Materialien wie Eisen und Holz, um Schiffe und Fahrzeuge herzustellen. Dem König lief die Zeit davon, denn sein Reich umfasste damals nicht nur Myrtana, sondern auch Nordmar und Varant, und es war beinahe unmöglich, diese Strecken zu Fuß zurückzulegen.“
Jeronimo sah wieder zu den beiden Novizinnen. Sie hatten damit begonnen, die Phiolen auszuteilen und die Einnahme des Trankes zu überwachen. Jeronimo beobachtete, wie eine Novizin eine Phiole entkorkte und einer älteren Frau reichte, die auf einer Liege am anderen Ende des Raumes lag. Bereits nach dem ersten Schluck sank sie in die Arme der zweiten Novizin, die ihren behutsam auf dem pastellblauen Kissen bettete. Der Rock der Frau war ein Stück nach oben gerutscht, so dass eine dicke Krampfader an der Wade sichtbar wurde. Mit einer sorgsamen Bewegung zog die erste Novizin den Rock wieder über die Blöße. Jeronimo betete zu Innos, dass Lucy sich nicht weigern würde, den Trank zu schlucken. Sie konnte sehr stur sein, wenn es um Medizin ging. Jeronimo tastete nach Lucy Hand, und ihr Griff schloss sich wie eine stählerne Spange um sein Handgelenk. Die Innenseite ihrer Hand fühlte sich kühl und feucht an. Sie sah nicht zu ihm auf, ihre Aufmerksamkeit galt Nefarius. Sie war wie bezaubert von der Stimme des alten Wassermagiers.
„Damals herrschte ein strenger Winter, und im dritten Jahr von Rhobars Orkkriegen erfroren Tausende von Myrtanern in ihren Hütten. Sie hatten nichts, womit sie hätten heizen können. Kap Dun hatte nach diesem Schicksalswinter nur mehr achtzehn Einwohner, die Felder lagen brach, die Äcker trugen im Sommer nur Dornen und Steine. Dabei gab es Wälder, riesige Wälder auf den südlichen Inseln, aber es gelang Rhobar nicht, das Holz nach Myrtana zu schaffen. Die Meeresstraße war zugefroren, und es sah aus, als sei das Ende der Menschen gekommen. Das Tier hatte gesiegt.“ Nefarius machte eine eindrucksvolle Pause, und Lucy flüsterte: „Das Ende!“
Jeronimo warf einen Blick zur Rechten. Eine der Novizinnen war im Gespräch mit einem Mann begriffen, dem die Furcht ins Gesicht geschrieben stand. Sie redete sanft auf ihn ein, nahm seine Hand in die ihre und lächelte. Schließlich nickte der Mann und nahm einen Schluck aus der kleinen Phiole, die sie ihm darbot. Im selben Augenblick sank er wie tot nieder, und die Novizin bettete seinen Kopf sacht auf dem Kissen. Wahrscheinlich ein Anfänger, dachte Jeronimo.
Nefarius hatte seine Geschichte fortgesetzt: „Saturas musste an seinen ersten Erfolg anknüpfen. Gleich zu Beginn der Entdeckung der Teleportation war es ihm gelungen, einen lebenden Mann zu teleportieren. Doch dieser Mann…sagen wir, er war sehr außergewöhnlich.“ Nefarius lächelte wieder. „Nun, nachdem sich die Wege von Saturas und seinem ersten Reisenden getrennt hatten, traten gewisse Schwierigkeiten auf. Es funktionierte mit Gegenständen aus Erz und Ton, doch als Saturas einen zahmen Scavanger teleportierte, gab es…“ Nefarius stockte und sah Jeronimo über Lucys Kopf hinweg in die Augen. „…ein kleines Problem.“

Saturas war hochgradig erregt, als er in sein Laboratorium zurückkehrte. Er ahnte, was große Männer wie Akasha empfunden haben mussten, als sie den Göttern nahe kamen. Doch diese Offenbarung Adanos’ war viel bedeutsamer als alles, was Menschen je von ihrem Schöpfer empfangen hatten. Er war gerade bei einem Bauern gewesen und hatte seine letzten Goldstücke für fünf junge Molerats ausgegeben. Rhobar hatte seine Forschungen mit zwanzigtausend Goldstücken im Jahr unterstützt, weil er die Bedeutung der Partikeltransmission erkannt hatte. Die Tür war aufgetan, er musste nur noch hindurchgehen. Diese Entdeckung würde der Menschheit den Weg in die Vierte Dimension eröffnen.
Saturas hatte den schlammigen Hof durchquert und umklammerte den Korb, den er trug, mit beiden Händen. Auf den Korb hatte eine ungeschickte Hand die Umrisse von Lämmern, Hühnern und Molerats gemalt sowie die Aufschrift ICH KOMME VON ONARS HOF. Er spürte, wie sich die Tiere darin unruhig bewegten.
Er stellte den Korb ab und begann, das Teleportationsmodul zu justieren. Saturas war erregt und zugleich erschöpft, seien Bewegungen waren fahrig und ungenau, so dass seine Hand an den Instrumentengalgen geriet. Ein Summen stieg auf, wie ein Lufthauch, der über Schilfgras weht, oder wie ein unterirdischer Chor, der einen einzigen, surrenden Ton ausstieß. In den Fingern seiner Hand verspürte er in leichtes Brennen, nicht schmerzhaft, eher ein Prickeln, wie wenn warmes Wasser über winterkalte Gliedmaßen fließt und sie zu neuem Leben erweckt. Saturas betrachtete seine Hand. Sein Zeigefinger war verschwunden - der Schnitt ging durch das mittlere Fingerglied - ebenso sein Mittelfinger. Einen Augenblick lang hatte er Blut zu sehen vermeint, aber seine Vorstellungskraft musste ihm einen Streich gespielt haben. Vor Schreck riss er die Hand zurück, so dass das Teleportationsmodul vom Labortisch fiel und auf den steinernen Fliesen zerschellte.
Saturas stand da, mit den Fingern im Mund, und starrte auf die Trümmer. Es fühlte sich an, als seien sie wieder da. Waren sie überhaupt weg gewesen? Ihm kam der Gedanke, dass er unter enormem Druck stand, überarbeitet war. Er sah am zweiten Instrumententisch nach, der das Ziel der Teleportexperimente war, ob dort vielleicht eine Spur seiner Finger zurückgeblieben war. Natürlich mündete diese Hoffnung in einer Enttäuschung. Der Tisch aus dem schwarzen Holz der Jharkendarbuche stand unverändert da. Dann kam ihm ein Gedanke, so hell und klar wie der anbrechende Tag. Er hatte nun keinen Zweifel mehr, dass das Experiment geglückt war.


„Wieso konnte er plötzlich so sicher sein?“
Es war der Junge, der die Frage gestellt hatte. Nefarius unterbrach seine Geschichte und lächelte Victor nachsichtig an.
„Eine kluge Frage.“
Unterdessen beobachtete Jeronimo die Novizinnen mit ihrem Wagen. Ein monotones Flüstern erfüllte den Raum. Es dauerte seine Zeit, die Teleportationspassagiere einzuschläfern. Es gab immer Reisende, die den Mut verloren, wenn sie aus der Phiole trinken sollten. Während Nefarius sprach, waren Jeronimo zwei Männer aufgefallen, die von ihren Liegen aufgestanden und sich den Weg zum Ausgang gebahnt hatten. Sie waren gegangen, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie hatten ihre Kontrollkarten dem Novizen am Eingang zurückgegeben. Das Teleportationspersonal hatte die strikte Anweisung, keine unangenehmen Fragen zu stellen, wenn es sich jemand im letzten Augenblick doch noch anders überlegte.
„Saturas fand keine Spuren seiner Finger am zweiten Teleportationstisch. Er fand Spuren des zweiten Teleportationstisches an seinen Fingern.“ fuhr Nefarius fort. „Unter dem Nagel seines Zeigefingers steckte ein Splitter aus schwarzem Buchenholz. Der vordere Tisch war aus rauem, behauenem Stein, und auch sonst hatte er seit Betreten des Labors keinen Gegenstand aus dunklem Holz berührt.“

Saturas zog den winzigen Splitter aus seinem Fleisch und ein Bild stieg in ihm auf: Er sah das unscheinbare Stückchen Holz in Glas eingeschlossen, auf rotem Samt liegen, und unzählige Augen, die es staunend betrachteten. Dann begann Saturas zu lachen. Er lachte, dass die schlafenden Schwalben aufwachten und in heller Aufregung davonflatterten. „Ich habe es geschafft!“
Saturas reparierte das zerbrochene Modul und beließ die Einstellungen so, wie sie waren. Er experimentierte mit einem Brieföffner mit vergoldetem Griff, einer kleinen, tönernen Innosstatue – wobei er einen Anflug von hämischer Freude nicht unterdrücken konnte, als er daran dachte, was der große und mächtige Pyrokar wohl dazu gesagt hätte – und schließlich mit den jungen Molerats.


„Was passierte mit den Molerats?“, wollte Lucy wissen. Man sah ihr an, dass sie sich um die Tiere sorgte.
Jeronimo nahm Nefarius’ leichtes Zögern wahr. Er hoffte, dass der Magier dem Mädchen so kurz vor dem Teleport keine Angst einjagte. Lucy sollte davon überzeugt sein, dass, wenn es je Probleme gegeben haben sollte, diese nun mit Stumpf und Stiel ausgemerzt seien.
„Nun“, fuhr Nefarius langsam fort, „Bei den Molerats gab es, wie ich anfangs schon sagte, einige kleinere Schwierigkeiten.“
Entsetzen, Wahnsinn, Tod, dachte Jeronimo. Das sind in der Tat einige kleinere Schwierigkeiten.

Saturas öffnete den Transportkorb und zog ein kleines Molerat heraus. Er hielt es im Genick gepackt und betrachtete es. Es quiekte leise. Seine Finger legten sich wie ein Schraubstock um die die weiche, faltige Haut im Nacken des Tieres. Mit der freien Hand verschloss er den Korb wieder. Er schob das zappelnde Molerat in die Öffnung des Teleportationsmoduls an Tisch eins und hörte es im selben Augenblick an Tisch zwei aufquieken. Saturas rannte, so schnell er konnte. Das Tier durfte nicht entkommen. Aber er hatte sich umsonst gesorgt. Das Molerat saß apathisch auf der Platte. Seine schwarzen Augen waren stumpf wie staubige Murmeln. Der kleine Brustkorb hob und senkte sich langsam. Er hatte nicht viel Erfahrung mit solchen Geschöpfen, aber er sah sofort, dass irgendetwas mit dem Molerat nicht stimmte. Dazu musste man kein Experte sein.

„Das Molerat fühlte sich… nicht besonders wohl, nachdem es teleportiert worden war.“ erzählte Nefarius, und Jeronimo sah, dass sein Lächeln dabei gezwungen war. Lucy schien es glücklicherweise nicht zu bemerken, und Victor, der Novize, starrte nur auf seine Hände.

Saturas berührte den kleinen Körper. Es war, als berührte er einen Beutel Sägespäne. Doch dieser Beutel atmete noch. Das Molerat sah Saturas nicht einmal an. Es saß einfach nur da und blickte aus leblosen Augen ins Dunkel. Saturas hatte ein lebendiges, zappelndes Tier in die Öffnung geschoben. Herausgekommen war ein Sack voll Sägespäne. Er schnippte mit den Fingern. Das Molerat blinzelte. Dann fiel es tot zur Seite.
Da beschloss Saturas, das zweite Molerat auszuprobieren.


„Saturas beschloss, das zweite Molerat auf die Reise zu schicken.“ sagte Nefarius.
„Was wurde aus dem ersten Molerat?“, fragte Victor und sah Nefarius durchdringend an. Der alte Wassermagier räusperte sich und zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht.
„Es wurde mit allen Ehren in Pension geschickt.“

Saturas nahm einen Leinenbeutel und steckte das tote Molerat hinein. Er würde den kleinen Kadaver zu Nefarius bringen, damit dieser ihn untersuchte und feststellte, ob die Eingeweide Schaden genommen hatten.
Dann konstruierte er eine behelfsmäßige schiefe Ebene, die zur Öffnung des Moduls auf Labortisch eins führte.


„Die Molerats durften vor ihrer Reise noch eine vergnügliche Rutschpartie unternehmen“, sagte Nefarius zu Lucy, die diese Vorstellung ungeheuer erheiternd fand und fröhlich kicherte. „Diese Rutsche war der Vorläufer der heute üblichen Teleportrutschen“ fuhr er fort und wies auf den Schacht am Ende des Raumes.

Saturas setzte das zweite Molerat auf die schiefe Ebene und blockierte das obere Ende mit einem Folianten. Jagd und Beute. Nachdem das Tier eine Weile auf der schiefen Ebene herumgeirrt war, glitt es in die Öffnung am unteren Ende.
Saturas lief zum Buchenholztisch.
Das Molerat war tot.
Es waren keine Verletzungen zu erkennen, kein Blut, keine Schwellungen. Ob es erstickt war? Kaum denkbar, in der kurzen Zeit. Die Zeit blieb eine Konstante, dessen war sich Saturas sicher.
Er steckte das tote Molerat zu dem ersten in den Beutel. Dann packte er das dritte Tier, das sich heftig unter seinen Fingern wand und durchdringend quiekte. Er hielt es mit festem Griff und schob es mit dem Hinterteil voran in die Öffnung. Er sah, wie sich drüben, auf dem schwarzen Buchenholztisch, die Hinterbeine und der kurze, zuckende Schwanz materialisierten. Saturas zog das Molerat zurück. Nein, Apathie war bei diesem Exemplar nicht zu verzeichnen. Im Gegenteil. Das Tier zappelte und strampelte und biss ihn in die weiche, empfindliche Haut zwischen Daumen und Zeigefinger. Ein Rinnsal Blut tröpfelte auf den rauen Stein von Tisch eins, und gierig sog der Untergrund das Blut auf. Saturas ließ das Tier in den Transportkorb mit der Aufschrift ICH KOMME VON ONARS HOF fallen und reinigte die Bisswunde. Dann suchte er in einer Truhe, bis er ein Paar grober Arbeitshandschuhe aus Snapperleder fand. Wieder griff er in den Korb, zog ein Molerat heraus und schob es mit dem Hinterteil voran durch die Mündung, bis es ganz auf Tisch zwei erschien.
Das Tier lebte noch beinahe zwei Minuten. Es machte noch einige unsichere Schritte, fiel zur Seite, rappelte sich wieder auf, fiel wieder um. Saturas schnippte mit den Fingern. Das Molerat brachte noch vier Schritte zustande und sackte dann in sich zusammen.
Es war tot.
Ein eisiger Finger strich über Saturas’ Rücken, liebkoste seine Schläfen und drückte dann zu. Er nahm ein weiteres Molerat – das vorletzte – und stieß das wild zappelnde Geschöpf mit dem Kopf voran durch die Öffnung. Er sah, wie sich das faltige Haupt aus der Mündung auf dem zweiten Tisch schob. Er lockerte seinen Griff. Das Tier blieb bewegungslos stehen, halb auf dem steinernen, halb auf dem hölzernen Tisch. Er löste seine Finger und lief zum anderen Ende. Das Molerat lebte. Der Anblick war atemberaubend. Wie zuvor seine Finger, so war auch das Molerat in der Mitte durchgeschnitten: Saturas sah die Schnittscheibe des Wirbelknochens, das Pulsieren der winzigen Blutgefäße. Doch das Pumpen wurde langsamer, immer langsamer, bis es sich ganz verlief wie eine kleine Welle im Sand.
Das Tier war tot.
Saturas packte es bei seiner hässlichen Schnauze und zog es ganz heraus. Angewidert stopfte er den schlaffen Körper in den Beutel.
Schluss damit, dachte er. Die Molerats sterben. Sie sterben, wenn man sie mit dem Hinterteil voran hindurchschiebt, sie sterben, wenn man sie mit dem Kopf voran hindurchschiebt.
Was, bei Beliar, geschah unterwegs?
Sinneswahrnehmungen, dachte Saturas. Die Tiere sehen oder hören irgendetwas, oder sie fühlen irgendetwas. Etwas, das sie tötet.
Saturas war fest entschlossen, das Rätsel zu lösen.


„Was wurde aus den anderen Molerats? Fühlten sie sich auch nicht wohl nach dem Teleport?“ fragte Lucy.
Nefarius lächelte. „Nicht so besonders, nein.“
„Wieso denn? Was war denn mit ihnen? Ich will wissen, was mit ihnen war!“

Im flackernden Fackelschein sah das gerinnende Blut des Molerats schwarz und glänzend wie Öl aus. Nefarius hatte das Tier in Saturas’ Beisein seziert, und es war völlig gesund gewesen – abgesehen davon, dass es tot war. Nichts deutete auf Ersticken, Tod durch Druckabfall oder Temperaturschwankungen hin.
Saturas hatte die Probleme Rhobars immerhin zur Hälfte gelöst: Er glaubte, dass er mit den Einstellungen, die er an den magischen Instrumenten vorgenommen hatte, gewaltige Mengen von Holz oder Eisenerz würde teleportieren können, wenn man sie auf einen entsprechenden Maßstab übertrug.


„Wie hat Saturas herausgefunden, was das Problem bei den Molerats war?“, fragte Victor und musterte Nefarius mit seinen hellen, wachen Augen.
„Diese Frage beschäftigte Saturas die ganze Nacht“, erwiderte Nefarius. „Ihm war klar geworden, dass man, wenn Rhobar den Krieg gewinnen wollte, auch Menschen, ja ganze Truppen würde teleportieren müssen. Saturas schien es, als könne er den Strom trockenen Fußes durchwaten. Man nimmt einen großen Stein und wirft ihn ins Wasser, nimmt dann einen zweiten und tritt auf den ersten. Und so kann man von Stein zu Stein hüpfen, bis der ganze Strom durchquert ist.“
„Verstehe ich nicht. Ich will wissen, was mit den Molerats passiert ist!“, sagte Lucy. Der Novize hingegen schien seinen Meister mit seinen Blicken beinahe zu durchbohren. „Das Stufensystem“, flüsterte er. „Das System, mit dem Adanos uns das Weltall erschließt.“
Jeronimo fand, dass es jetzt an der Zeit war, seine Tochter mit den Teleportationsassistentinnen vertraut zu machen. Die Novizinnen waren nur noch drei Reihen von ihnen entfernt. Er deutete auf eine Frau, die beherzt einen Schluck aus der ihr dargebotenen Phiole nahm und augenblicklich auf ihre Liege zurücksank.
„Man kann nicht teleportiert werden, wenn man wach ist, Kleines“, sagte er. „Auch das hat Saturas herausgefunden, nicht wahr?“ Er sah Nefarius fragend an, und der Magier stimmte zu.
„Wie denn?“, fragte Lucy.
„Er wusste Bescheid, als er die Molerats mit dem Hinterteil voran teleportiert hat, oder?“ fragte Victor.
Nefarius nickte bedächtig. „Ganz recht, Junge.“
Der Novize fuhr eifrig fort: „Denn die Tiere waren ja noch in Ordnung, wenn sie erst halb durch die Öffnung hindurch waren. Sie fühlten sich ja erst unwohl, wenn sie mit dem Kopf hindurch waren.“
„So ist es. Er brauchte nicht mehr viele Experimente, um sich dessen sicher zu sein.“
„Wann hat Saturas begonnen, mit Menschen zu experimentieren?“, wollte Victor wissen.
„Ich will wissen, was mit den Molerats passiert ist!“ sagte Lucy ungeduldig.
Die Novizinnen hatten den Bettenblock erreicht, zu dem Jeronimo und seine Familie gehörten. Das Vergessen schimmerte einladend blau in den Phiolen. Nefarius hatte wohl beschlossen, Lucys Frage zu überhören und stattdessen auf die Menschenexperimente einzugehen.
„Die ersten Reisenden waren Freiwillige und Abenteuerlustige. Man wählte sechs besonders wackere Männer aus, betäubte sie mit einem Schlafzauber und schickte sie auf eine kleine Expedition, etwa drei Meilen entfernt. Alle sechs erwachten fröhlich und quicklebendig an ihrem Ziel. Sie fühlten sich einfach großartig!“

Saturas sah den Mann an, der vor ihm stand. Sein Blick war so finster, dass der Wassermagier froh war, die schweren Eisenketten um die sehnigen Hand- und Fußgelenke zu sehen. Er überflog den Brief, den man ihm übergeben hatte, als die Milizen den Mann abgeliefert hatten.
Attila war sein Name, und er hatte mindestens vier angesehene Bürger von Khorinis grausam ermordet und nur Adanos wusste, wie viele weniger angesehene. Er war Saturas’ siebter Freiwilliger.
„Du weißt, worauf du dich einlässt, mein Sohn?“, fragte Saturas.
Attila schnaubte. „Entweder lande ich morgen am Galgen, oder ich lasse mich wach teleportieren. Wenn ich heil wieder herauskomme, begnadigt mich Larius, mit Unterschrift und Siegel. Wenn ich rauskomme und tot bin - mein Pech.“
Saturas nickte langsam.
„Wenn ich lebend wieder rauskomme, will ich ein großes Stück gebratenes Fleisch serviert bekommen, noch bevor ich mein Sumpfkraut zu Ende geraucht habe, klar?“
Saturas nickte noch langsamer.
„Gut, mein Sohn, so sei es. Adanos’ Wille geschehe.“
Attila kam lebend wieder heraus, aber er hatte keinen Appetit mehr auf gebratenes Fleisch, soweit Saturas das beurteilen konnte. Die Reise hatte keinen Wimpernschlag lang gedauert. In dieser Zeitspanne war Attilas Haar weiß geworden. Seine Mundwinkel zuckten, Speichel rann ihm über das Kinn. Die Magier, die sein Erscheinen erwartet hatten und im Halbkreis um ihn herumstanden, wichen voller Entsetzen zurück. Das Ding, das in der Öffnung erschienen war, streckte ihnen die Arme entgegen. Es stöhnte.
„Da drinnen ist die Ewigkeit“
Dann brach es zusammen.
Die sterblichen Überreste Attilas wurden auf geweihtem Boden beigesetzt. Saturas hatte das erwirkt.

„Ich will jetzt wissen, was mit den Molerats war!“, quengelte Lucy.
„Nun, das weiß niemand so genau“, antwortete Nefarius. „Experimente deuten darauf hin, dass der Teleport des Körpers sehr schnell geht, der Vorgang für die Seele aber lange, sehr lange dauert.“
„Verstehe ich nicht.“, sagte Lucy.
Victor warf atemlos ein: „Die Molerats haben einfach weitergedacht. Sie haben nicht aufgehört zu denken während des Teleports. Wir würden auch weiterdenken, wenn wir nicht schlafen würden, nicht wahr?“
„So ist es. Deshalb achten unsere Novizinnen sehr genau darauf, dass jeder Reisende aus seiner Phiole trinkt. Die Fläschchen enthalten einen starken Schlafzauber in flüssiger Form, und Menschen, die sich nicht zuvor magisch dagegen präpariert haben, sinken sofort in einen angenehmen, tiefen und erholsamen Schlummer.“
„Was heißt denn magisch präpariert?“ wollte Lucy wissen.
„Oh, es gibt natürlich Gegenzauber, die einen Menschen unempfänglich für den Schlafzauber machen.“ erwiderte Nefarius. „Aber wer würde so etwas Törichtes tun? In all den Jahren, in denen wir Menschen teleportiert haben, ist mir so etwas noch nie zu Ohren gekommen.“
„Man wird also nicht nur teleportiert, es findet auch eine Zeitverschiebung statt“, sagte Victor. Auf seinem Gesicht stand ein merkwürdiger Ausdruck. Angst? Erregung?
Nefarius atmete hörbar aus. „Mein Junge, dieser Ausdruck hört sich bedeutsam an, besagt aber nichts. Er stammt aus drittklassiger Literatur. Worum es beim Teleport geht, ist die Frage: Was ist menschliches Bewusstsein? Der Geist, die Seele – sie lassen sich nicht in Partikel zerlegen. Sie bilden eine Einheit. Wie bemisst die Seele die Zeit? Ist der Begriff der Zeit für die Seele noch von Bedeutung, wenn sie teleportiert wird? „
Lucy gähnte, aber Victor hielt dem Blick seines Meisters kühn stand. Neugierde spiegelte sich auf seinem Gesicht.
Was würde passieren, wenn man den Verstand sich selbst überlässt? fragte sich Jeronimo. Nicht für Stunden oder Tage oder Wochen, sondern für die Ewigkeit? Würde er sich selbst verzehren? Wie lange würde der Teleport für den Geist dauern? Tausend Jahre? Zehntausend Jahre? Wie lange schwammen die Seelen in einem Meer von Weiß, bevor sie zum Licht zurückkehrten? Er fand es ganz und gar nicht erstaunlich, dass die Molerats gestorben waren. Jeronimo fasste seine Tochter bei der Hand. Sie wandte ihm das Gesicht zu und lächelte voller Vertrauen.
„Victor…“ begann Nefarius, aber dann war die Novizin mit ihrem Wagen da.
„Seid Ihr bereit?“, fragte sie sanft.
Jeronimo nickte, seine Frau ebenso. Er ärgerte sich, dass sein Herz schneller schlug.
„Ich habe ein bisschen Angst“, flüsterte Lucy. „Tut es weh?“
„Es tut ganz sicher nicht weh“, sagten Nefarius und die Novizin wie aus einem Munde.
„Ich trinke als Erster“, sagte Jeronimo zu seiner Familie. „Dann seht ihr, wie leicht es ist.“
Er nahm die dargebotene Phiole und ließ das samtblaue Vergessen seine Kehle hinabrinnen. Die Dunkelheit nahm ihn in die Arme wie eine alte Freundin.
Das erste, was Jeronimo sah, war der schwarze Himmel, der sich durch die gläserne Kuppel über Ishtar Haven abzeichnete. Die Sterne leuchteten mit einer Klarheit, wie sie nur über der Wüste möglich war.
Diamanten auf schwarzem Samt, dachte er benommen.
Dann hörte er die Schreie.
Bei Innos, das ist Lucy, die da schreit!
Er versuchte, sich von seiner Liege zu erheben, doch er schaffte es nicht.
Wieder ein Schrei.
Novizinnen kamen angelaufen, deuteten panisch auf etwas, das außerhalb von Jeronimos Blickfeld lag. Er bot alle seine Kraft auf und erhob sich.
Lucy lag neben ihm und schlief fest.
Sie sah das Wesen nicht, das sich auf seiner Liege wand wie eine Schlange, sah das Ding in blauer Novizenrobe nicht, dem das schneeweiße Haar wie Spinnenweben in die Stirn hing, das aus gelben Augen ins Nichts starrte. Sie hörte nicht, wie die Kreatur kicherte und spuckte. Das Wesen auf der Liege neben Lucy war älter als die Zeit selbst, es hatte sich als Junge verkleidet. Die uralten, jungen Beine zitterten wie Stöcke, die aufeinander geschlagen wurden. Zu Klauen gekrümmte Hände peitschten durch die Luft und das Geschöpf, das vor Augenblicken noch Victor gewesen war, begann, sich das Gesicht zu zerkratzen.
Die Novizinnen taumelten zurück, obwohl sie in vielen Kursen auf diesen undenkbaren Fall vorbereitet worden waren.
„Es dauert länger, als ihr denkt“, kreischte das Wesen, „Es dauert viel länger, als ihr denkt!“
Das Kreischen ging in ein Lachen über, und dann gruben sich die Fingernägel des Wesens in seine Augen. Blut spritzte hervor. Die Schreie der Novizinnen übertönten nun das Lachen der Kreatur.
„Länger als ihr denkt! Ich habe es gesehen!“
Das Wesen sprach weiter, auch als zwei beherzte Novizinnen die fahrbare Liege, auf der es lag, den Gang hinunter schoben. Jeronimo sah, wie es sich immer wieder mit den Nägeln in die Augen fuhr, in die Augen, die die Ewigkeit gesehen hatten.
Er konnte nicht mehr hören, wie das Wesen zu weinen begann, so laut waren seine eigenen Schreie.