Ergebnis 1 bis 5 von 5
  1. #1 Zitieren
    Legende Avatar von Ajanna
    Registriert seit
    Mar 2020
    Ort
    Hessen
    Beiträge
    7.821
    Rote Ernte


    Ich war so aufgewühlt an jenem Tag, und da war dieser Gewitterhimmel, dessen wild rasende Wolken und platschende Regenmassen so genau zu meinen Gefühlen passten. Ich wusste nicht, wohin mit mir, wohin mit meinem Zorn, wohin mit meiner Angst, und meine Seele fand keinen Punkt, an dem sie innehalten und zu sich finden konnte.
    Die Sonne brannte grellgelbe Flecken in die schmutzig graue Fetzenlandschaft am Himmel, aber sie drang nicht wirklich durch, und alles was durch sie erreicht wurde, waren blendende Pfützen und Wegstrecken, so hell, dass man nicht erkennen konnte, wo Schlamm und wo fester Grund war. Und alles rutschte.
    Ich weiß noch, dass ich rannte, und das war nicht nur wegen innerer Verzweiflung. Die Wahrheit war, dass ich um mein Leben rannte, selbst als ich noch nicht genau verstanden hatte, woher die Bedrohung kam. Ich lief bergab, so schnell ich konnte, ich lief durch Bäche oder Wege, die zu Bächen geworden waren, ich rutschte aus auf Dreck, auf Moos und auf Glibberigem, von dem ich nicht erkennen konnte, ob es Pilze oder irgendwelche schleimigen Lebewesen waren. Es war zu kalt für die Jahreszeit.
    Tatsächlich gab es wohl auch mehr Gefahren, als ich in meinem Lauf durch das veränderte Land sah. Dass ich sie nicht genauer kennenlernte, dass ich nicht den vollen Umfang meiner Existenz auf dieser Gefahrenklippe wahrnahm, sondern immer nur rannte, rannte, stolperte, mich hoch raffte, sprang und wieder rannte, das rettete mir wahrscheinlich das Leben.
    Das was mir heute am ehesten in Erinnerung geblieben ist, sind die Roten Bäume. Laub in der Farbe von getrocknetem Blut, zerfetzt vom Sturm, in den Schlamm gepeitscht von Wassermassen, wie ich sie noch nie vorher am Himmel und auf der Erde gesehen hatte. Knarrende Äste, stöhnende Stämme, bellende Abbrüche von Baumteilen, die größer waren, als das Haus meiner Eltern. Und dazu Tiere, genauso ziellos in Panik wie ich, um sich beißend, schnappend, tretend und aufgestachelt zum Äußersten.


    Ich war nie ein kraftloses Kind. Ich war es gewohnt, zu rennen, zu klettern, zu schwimmen – auch im Wald und weiter entfernt von Goliet. Meine Eltern hatten mir die alten Botenwege gezeigt und ich kannte sie auswendig und wusste, wie ich schnell und sicher in andere Gebiete kam, um dort Schrott und Erz zu sammeln – oder andere Dinge, die Menschen verloren. Einmal fand ich einen kompletten Arm. Er sah aus wie der eines Menschen, aber an der Schnittstelle waren Metallbänder, Drahtgeflechte und glänzende blaue Steine zu sehen. Ich wusste schon, dass dies etwas ganz Verbotenes war, ich versteckte ihn in einer Astkuhle unter Laub und ging ohne ihn nach Hause. Aber ich konnte nicht aufhören, an ihn zu denken. Fast war es, als sei mit seinem Bild von ihm noch etwas anderes in mein Auge eingedrungen, ein Splitter vielleicht oder ein Gedankenwurm, der sich immer weiter in mich hineinfraß. Ich wollte ihn immer wieder sehen, wollte ihn verstehen, wollte seine Glattheit und Kälte spüren, wollte, dass er seine perfekte Form wieder bewegte und lebendig würde. Ich war wie besessen von diesem Gedanken.
    Ich sah ihn manchmal schon bei Tage vor meinen Augen… aber immer nachts vor dem Einschlafen.

    Ajanna ist offline Geändert von Ajanna (23.08.2021 um 07:31 Uhr)

  2. #2 Zitieren
    Legende Avatar von Ajanna
    Registriert seit
    Mar 2020
    Ort
    Hessen
    Beiträge
    7.821
    Auf meinen wilden Lauf ins Tal der Verdammten folgte eine endlose Nacht, versteckt unter einem Felsvorsprung, durchnässt, die Füße im Schlamm, die Arme um meinen zitternden Leib geschlungen. Ich hatte nichts bei mir außer Hunger. Die Angst und die Kälte ließen mich nicht schlafen. Es war meine erste Nacht im Freien.
    Als ein trüber Schimmer den neuen Tag ankündigte, verließ ich den versteckten Ort und sah mich um. Mich schmerzte jeder Knochen und jeder Muskel in meinem Körper. Ich zitterte vor Erschöpfung und Müdigkeit. Außerdem bildete ich mir ein, ein merkwürdiges Singen zu hören, wie ein Eishauch, schrill und durchdringend, aber so leise, dass ich nicht sehen konnte, woher es kam. Neben meinem Kopf war eine Stelle im Fels vernarbt wie von geschmolzenem Gestein und bläulich verfärbt.
    Warum suchte ich mir nichts zu essen, keinen Schutz oder wenigstens einen kräftigen Ast, um mich verteidigen zu können? Warum galt mein erster Gedanke dem merkwürdigen künstlichen Arm, den ich immer noch verborgen hütete, wie einen Schatz? Mein kaltes Geheimnis. Ich hatte niemand davon erzählt. Ich schlich mich durch die zerstörten Pflanzenschichten, über ausgewaschene Wege, krabbelte unter gestürzten Bäumen hindurch, knietief im Schlamm, bis zu dem Ort, wo ich den Arm zuletzt versteckt hatte, doch er war fort. Der Ast war abgebrochen, der ihn gehalten hatte, eine Schleifspur im frischen Matsch führte mich zu einer Stelle, an der eine tote Ratte in ihrem eigenen Blut lag. Dort fand ich ihn, seltsam unbefleckt von dem Unrat und der Zerstörung um ihn herum.
    Ich hob ihn auf, wischte ihn an meinem Blusensaum trocken, legte ihn mir über die Schulter… und erst dann fand ich mir eine verlassene Hütte im Tal und ein paar Pilze für ein kaltes Mal.


    Ich hatte ihn neben mir abgelegt, als ich schließlich versuchte, ein paar Äste aufzuschichten und ein Feuer anzuzünden. Es ist etwas, was wir Mädchen lernten, fast bevor wir laufen konnten. Doch an diesem kalten Morgen gelang es mir nicht. Das Holz war nicht feucht, ich hatte es unter einem Hüttendach gefunden, ebenso wie eine Zunderbüchse und ein paar Feuersteine. Doch ich rieb und rieb, es bildeten sich Funken, doch der Zunder und das Holz blieben davon unberührt wie von einer Eisschicht überzogen. In einem bestimmten Moment glaubte ich, im Augenwinkel eine Bewegung zu wahrzunehmen, doch als ich genauer hinsah, war da nur der bläulich schimmernde Arm, von einem Hauch umgeben wie Nebel. Irgendwann gab ich das Feuermachen auf, irritiert und erschöpft.


    Ab wann weiß man, dass man verloren ist? Reicht es dazu aus, nicht weiter zu wissen, keinen Ausweg zu sehen, keine Kraft mehr zu haben? Oder gehört dazu noch etwas anderes, das bewusste Erkennen einer Zukunft, in der man keinen Platz mehr hat, in der der eigene Wille ausgelöscht ist? Ich wusste, dass ich verloren war, an dem Tag, an dem ich begann, das verfluchte Ding mit ELEX zu füttern.

    Ajanna ist offline

  3. #3 Zitieren
    Legende Avatar von Ajanna
    Registriert seit
    Mar 2020
    Ort
    Hessen
    Beiträge
    7.821
    Es begann schleichend wie die Strahlenkrankheit mit Kopfschmerzen und einer innerlichen Ruhelosigkeit. Ich konnte nicht mehr unter dem Dach der Hütte sitzen und genießen, dass meine Kleidung langsam trocknete. Es hielt mich nicht in der Sicherheit und dem Schutz, den die zusammengefügten Balken und die niedrige Bettstatt boten. Ich konnte mich noch nicht einmal daran erfreuen, dass die Sonne wieder schien und feuchter Dunst aufstieg, als der Boden begann, zu trocknen. In der Hütte blieb es kalt.
    Sobald ich morgens die ersten Konturen der Bäume erkennen konnte, rappelte ich mich auf, nahm den stählernen Arm, suchte mir einen Stein und lief zu der Stelle zurück, wo ich die erste Nacht verbracht hatte. Meine Faust fand wie von selbst ihre Bahn und ihren Rhythmus. Ich begann, auf den vernarbten bläulichen Felsen zu schlagen. Ich war wie im Fieber. Ich fühlte keinen Hunger, keinen Durst, keine Ermüdung. Ich hackte und schlug, ich kratzte und rieb, ich klopfte und zerrte, bis ein paar bläuliche Brösel zwischen dem grauen Abrieb lagen. Die nahm ich auf, mit zitternden Fingern, und streute sie in die Öffnung, wo der Arm einmal an einem Körper befestigt gewesen war. Dies wiederholte ich, bis die Sonne weit im Westen stand und die Schatten lang wurden. Erst als es so dunkel wurde, dass ich die blauen Körner nicht mehr von den groben Felssplittern unterscheiden konnte, ließen mein Wahn und mein hektisches Klopfen nach. Erst dann konnte ich zum Fluss gehen, etwas trinken, ein paar Pilze suchen und sie kalt verschlingen wie ein wildes Tier. Dann merkte ich, dass mir alles wehtat, dass die Pilze den Hunger nicht wirklich stillten, und dass ich den ganzen Tag etwas getan hatte, was nicht aus meinem eigenen Willen entsprungen war. Einen Moment saß ich am Ufer wie eine alte Frau, die aufs Wasser schaut und ihr Leben an ihrem inneren Auge noch einmal vorbei ziehen sieht, nur dass ich noch kaum ein Leben gehabt hatte. Dann überwältigte mich die Müdigkeit, und ich nahm den Arm wieder auf, schleppte mich in die kalte Hütte und fiel dort in einen unruhigen Schlaf, der keine Erholung brachte.


    Einmal hatte ich den Arm am Flussufer liegen gelassen. Da durchfuhr mich mitten in der Nacht ein grelles Zucken, das ich wie einen Blitz von meinem inneren Auge aufflackern sah. Schmerzen überwältigten mich, dass ich von der Pritsche rollte und zusammengekrümmt auf dem Boden liegen blieb. In dieser Nacht raste ich zum Fluss zurück, glitt aus, schlug mir böse das Knie auf und fiel schließlich von einem Felsen auf die rechte Seite, sodass ich eine Zeitlang im Tau-feuchten Farnkraut lag und keine Luft mehr bekam. Bis ich den Arm dann endlich fand, blassblau strahlend im kalten Sternenlicht, und ihn mühsam aufnahm und zu der dunklen Hütte trug. Seither habe ich den Arm nie wieder vergessen.


    Ich weiß nicht, wie viele Tage ich so verbrachte. Meine Arme wurden dünner, und braun von der Sonne und vom Schmutz. Meine Kleidung hing in Fetzen an mir herab. Meine Schuhe bekamen Löcher. Ich sah das alles, wusste, dass es mit mir zu Ende ging, und konnte doch nichts daran ändern. Warum war ich überhaupt in diese Lage geraten? Was war geschehen, dass ich in jener schicksalshaften Nacht mein Zuhause verlassen hatte, meine Eltern, Goliet, die anderen Menschen dort… es war mir fern wie ein Traum, es entglitt mir. Alles, was mein Denken beschäftige, war dieser Arm, der elegante Bogen der nachgebildeten Muskeln, der sanfte starke Schwung zwischen Handgelenk und Ellbogen, die perfekt gebildeten Finger in ihrer strahlenden bläulichen Perfektheit, der kalte Glanz auf den polierten Oberflächen. Wer dies geschaffen hatte, musste ein Gott sein. Ich verstand plötzlich die Kleriker, die zu einem beteten. Ich selbst hingegen, mein Schmutz, meine wunden Finger, inzwischen vernarbt und verhornt, war dagegen nichts als Asche und Staub, der unwichtige Schatten neben dem großartigen Abbild Gottes.
    An diesem Tag, an dem ich dies nicht nur irgendwie vor mich hindachte, sondern an dem ich dies realisierte, begriff, dass dies meine Lage war, und dass sie aussichtslos war, waren in der Dämmerung, als ich endlich los stolpern konnte, um meine übliche Pilzration zu suchen, in der ganzen Nähe keine Pilze mehr zu finden. Ich musste mich weit von der ELEX-Ader und meinem Unterschlupf entfernen. Und so kam ich an eine Stelle, wo die Luft seltsam faulig und stechend roch, und wo das Wasser des Flusses nicht mehr klar war. Als ich den Arm dort ablegte, um mich zum Ufer zu beugen, weil ich im letzten Licht des Abends eine runde Erhebung ausmachen konnte, die auf einen Pilz hindeutete, hätte ich geschworen, dass ein Zittern des Abscheus über die perfekte Oberfläche meines neuen Herrn lief. Ich bemerkte es, ohne mehr darauf zu geben, drehte meinen Pilz los und taumelte in die nächtliche Bewusstlosigkeit einer weiteren Nacht ohne Hoffnung.

    Ajanna ist offline Geändert von Ajanna (12.12.2021 um 20:03 Uhr)

  4. #4 Zitieren
    Legende Avatar von Ajanna
    Registriert seit
    Mar 2020
    Ort
    Hessen
    Beiträge
    7.821
    Es geschah ein paar Nächte später, dass ich plötzlich mitten in der Nacht erwachte. Die beiden Monde standen dicht beieinander, die Luft unter den roten Bäumen war klar und kühl. Deutlich hoben sich Bäume, Felsen und der Fluss im kalten Licht voneinander ab. Der Fluss erschien heller als das Gras nebenan. Mein Magen knurrte. Da stand ich leise auf und lief ans Wasser. Ich konnte bis auf den Grund sehen. Alles sah so sauber aus, dass ich weinen musste, weil ich mir so schmutzig vorkam. Ich zog meine zerfetzte Kleidung aus und stieg in das silbrig-glänzende Nass. Das Wasser erschütterte nicht nur meinen Körper, schüttelte mich nicht nur äußerlich vor Kälte, es schnitt mir auch in die Seele und ätzte ein Bild von mir in mich ein, in dem es das erste Mal seit langem mal wieder ein „Ich“ gab. Ich schrie auf vor Schmerz. Mich so zu sehen, war schwer zu ertragen. Und als ich wieder zitternd ans Ufer kletterte – abrutschte, mit dem Kinn aufschlug, unter die Oberfläche tauchte und Wasser in die Nase bekam, mich prustend und hustend wieder kämpfte und fast erstickt wäre – da sah ich in aller Klarheit, dass ich bald sterben würde. Meine Kraft war am Ende.
    Und in diesem Moment entstand ein Keim des Zorns in mir. Ich würde nicht gehen, ohne zu kämpfen. Die tote Ratte fiel mir wieder ein, in deren Blut ich den Arm nach dem Sturm wieder gefunden hatte. Was war wirklich geschehen während des Unwetters? War der Ast einfach gebrochen, hatte der Orkan einfach an ihm gezerrt und seine Last auf die Ratte geworfen… die vielleicht da schon tot war? Oder hatte diese Ratte, hatte vielleicht sogar der starre Ast, gekämpft, wie ich es bisher noch nicht vermocht hatte? War das Blut nicht nur ihr Leichentuch, sondern ihr Orden gewesen, Abzeichen ihres Mutes?
    In diesem Moment knurrte mein Magen zum zweiten Mal. Und ich beschloss, ihn zu füllen, auch wenn es zur Abwechslung mal wieder nur kalten Pilz geben sollte. Ich lief an die Stelle, wo ich den letzten runden Hut gesehen hatte, vor wenigen Stunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen. Und zum zweiten Mal fiel mir der seltsame Geruch dort auf. Ein zarter Schleier lag über den Bäumen an diesem Ort. Die Pflanzen erschienen oben wie von Eis umschlossen, doch unten wie verschmiert durch Rauch oder Staub. Das kalte Licht der Monde brach sich matt an der Oberfläche des Wassers, das dadurch aussah wie Öl. Das Plätschern des Flusses war leiser hier. Ich hörte wieder dieses seltsame Singen. Und dann organisierten sich plötzlich die Äste an meiner rechten Seite neu, und ich sah, dass es keine Äste waren. Mein Erschrecken war so tief, dass mir die Knie versagten und ich langsam in den kalten Schlamm am Ufer sank. Neben mir, keine drei Mannslängen entfernt, war eine Spinne, so groß wie ein Zimmer.


    Ich erstarrte, versuchte, mich selbst beim Atmen nicht zu bewegen. Ihre eckige Form zog meine Augen magisch an. Aber so viel hatte ich von den Jägern gelernt: sieh das Wild nicht direkt an, sieh knapp daneben. Es gibt Tiere, die den Blick fühlen können.
    Ich denke heute, dass die Spinne schlief. Sie schwankte ein bisschen, als seien ihre stacheligen und mit Borsten bewehrten Beine tatsächlich Zweige. Ich hörte ein leichtes Knarren… ob das von der Spinne kam oder vom nächsten Baum, konnte ich nicht unterscheiden. Wie sollte ich hier bloß wieder wegkommen? Und langsam fing ich auch an, mir Sorgen um den Arm zu machen. Was, wenn er merkte, dass ich nicht da war? Ich hatte ihn noch nie vorher verlassen. Und da wurde mir klar, wie ich mich bewegen musste, so kaum, Halmbreite um Halmbreite, Hand vor Fuß schlich ich auf allen Vieren rückwärts.

    Als ich etwas weiter entfernt war, sah ich mir die Spinne genauer an. Sie hatte viele Augen, die im Mondlicht glänzten. Ihre Borsten standen nie ganz still. Sie strudelten sanft, als wollten sie alle zufälligen begegneten Lebewesen in die Nähe der starken Kiefer bringen. An den vordersten beiden Klauenbeinen klebte ein schmieriger Film, der schwach gelblich glomm wie ein Glühwürmchen.
    Da entstand in meinem Kopf der Keim einer Idee.

    Ich fand dann doch noch zwei Pilze, aber ich aß nur einen und steckte den anderen in meine Gürteltasche. Einen Moment lang erwog ich zu diesem Zeitpunkt, das Tal in der Nacht zu verlassen und nicht zurück zu kehren. Aber ich war mir nicht sicher, ob ich das durchhalten würde. Ich war so merkwürdig kraftlos gewesen, als ich den Arm in mein Leben geholt hatte… Bevor ich in die dunkle Hütte zurückkehrte, riss ich einen breiten Streifen von meinem Blusensaum ab und flocht daraus eine Schlinge.

    Den Rest der Nacht schlief ich traumlos und fest.

    Ajanna ist offline Geändert von Ajanna (27.07.2021 um 20:58 Uhr)

  5. #5 Zitieren
    Legende Avatar von Ajanna
    Registriert seit
    Mar 2020
    Ort
    Hessen
    Beiträge
    7.821
    Ich denke, am nächsten Morgen schlief ich länger als sonst, aber vor allem erinnere ich mich daran, dass mich alles schmerzte. Meine Arme waren übersät von blauen Flecken. Als ich aufstand, floss Blut aus meiner Nase und von meiner Stirn und tropfte auf die karge Bettstatt. Und tatsächlich war sogar der Boden davor gesprenkelt mit dunkelroten Flecken. Konnte das tatsächlich alles von dem Abrutschen im Fluss letzte Nacht sein? Das Blut glänzte frisch. Und als ich den Arm aufnahm, waren Flecken im staubigen Grund unter ihm.
    Mir wurde so schwindelig vor Angst, dass ich das Gleichgewicht verlor und mich am Holzbalken der Hütte festhalten musste. Einen Moment lang blickte ich hinunter auf meine Bettstatt. Die Form, wo ich gelegen hatte, war von den Flecken ausgespart. Fast hätte ich mich vor Furcht übergeben, als mir klar wurde, was es bedeutete.


    Heute würde ich sterben. Es war fast, als ob der kalte Arm es mir gesagt hätte. Mein Herz klopfte wild, als ich verstand. Heute war der letzte Tag. Der Arm hatte gemerkt, dass etwas in der Nacht geschehen war, und würde mir nicht erlauben, mich noch einmal zu entfernen. Sobald ich zu schwach wäre, ihm jeden Tag ELEX zu besorgen, hätte ich keinerlei Wert mehr für ihn. Und wenn ich ginge, wäre mein Leben verwirkt. Als ich nun so stand und versuchte, die Energie für den Aufbruch zur ELEX-Ader zu finden, troff Blut aus meiner Nase auf das kalte Metall mit der perfekten menschlichen Form. Wenig später glänzte der Arm wieder makellos wie immer. Eine Gänsehaut überzog mich.


    Ich zitterte, als ich endlich loslief. Ich stolperte viel, humpelte, stellte mich etwas kraftloser, als ich war, doch so schwer fiel es mir nicht. Es war nah an der Wahrheit. Ich rutschte einen Felsen hinunter, knickte beim Hochrappeln auf die Knie, ließ den Arm ein paarmal fallen, stützte mich auf ihn beim Hochkommen, erlaubte, dass er meinen kraftlosen Händen entglitt. Aber immer spielte ich Besorgnis, kehrte sofort zu ihm zurück, hob ihn auf, wischte ihn sorgfältig ab. So erschien es irgendwann ganz logisch, dass ich, um das Tragen leichter zu machen, die Schlinge aus meiner Tasche zog und gut an seinem Handgelenk befestigte. Ich knüpfte einen Griff, der mir erlaubte, ihn leichter und fester zu halten. Danach achtete ich darauf, dass das Aufheben sehr viel schneller ging und es keine weiteren Verzögerungen bis zum Erreichen des ELEX-haltigen Felsens gab. Es war angenehm, dass ich ihn beim Tragen nicht mehr berühren musste.


    Wie alles andere ertrug ich auch das Klopfen und Schaben am Fels heute nur schwer. Als sähe ich sie zum ersten Mal, nahm ich den getrockneten Schorf und die frischen Kratzer und Risse an meinen Händen heute genau wahr. Diese Klarheit erlaubte mir auch, den Felsen genauer zu sehen. So fand ich an diesem Tag deutliche hellblaue Einschlüsse, und eigentlich hätte ich um die Mittagszeit schon eine größere Menge als an den Tagen vorher meinem Parasit übergeben können. Doch ich atmete härter, als nötig war, machte Pausen, trank etwas Wasser aus dem Fluss, aß schließlich meinen Pilz aus der Gürteltasche, den ich in der Nacht aufgespart hatte. Bei den letzten beiden Verrichtungen schmerzte mich mein Kopf plötzlich, als würde er platzen wollen. Als ich es nicht mehr aushielt, kniete ich mich neben den stahlgrauen Eindringling und streute wieder das abgebaute ELEX in die Öffnung an seiner Achsel. Diesmal wollte ich sie genau betrachten, aber vor meinen Augen erschienen plötzlich Schlieren, und ich fiel hart in einen rot blühenden Busch.
    Einen Moment erschien alles leichter, als sei die holzige Pflanze tatsächlich so etwas wie ein Schild.


    Früher als sonst brach ich mein hilfloses Gekratze an den grauen Felsen ab. Der Arm ließ es geschehen. Die heutige ELEX-Ausbeute hatte ihn wohl zufrieden gestellt. Vielleicht kannte er ja auch eine Art Verdauungsträgheit? Ich achtete darauf, wieder schwach und hilflos zu erscheinen, als ich mich auf meine abendliche Pilzsuche begab. Ich wuselte und taumelte hin und her, übersah sogar Pilze, bis ich schließlich in die Nähe des Ortes kam, wo ich in der Nacht die große Spinne gefunden hatte.


    Im letzten Tageslicht sah ich nun deutlich, dass der Wald an dieser Stelle wirklich unter einer Art grünlichem Schleier lag. Es waberte wie grüner Rauch aus rötlichen Blüten, ein stechender Gestank und unangenehm. Der Dunst war so dicht, dass die Sonne kaum noch hindurchdrang.
    Die riesige Spinne war mit etwas beschäftigt, an dem sie rupfte und zerrte. Sie wandte uns ihren großen, vernarbten Hinterleib zu. Ihre Kiefer zuckten, obwohl sie nur die Krallen einsetzte. Die ganzen Grashalme und Laubblätter um sie herum waren bedeckt von ihrem gelblichen Schleim.


    Da richtete ich mich auf, zerrte an der Schlaufe, in welcher der bläuliche Arm träge hing, drehte mich um meine Achse, schwang ihn mit aller Kraft und einem verzweifelten Stöhnen zweimal um meinen Kopf und schleuderte ihn mit aller Kraft auf den prallen braunen Hinterleib des riesigen Spinnenviehs. Als ich die Schlaufe losließ, warf mich der Drall ins hohe Gras.


    Was dann kam, hatte ich nicht erwartet. Natürlich fuhr die Spinne herum und stürzte sich auf das, was sie – wahrscheinlich schmerzhaft – getroffen hatte. Ihre riesigen Krallenarme stachen und pickten auf den Arm, sie hob den Hinterleib und ließ ihn auf das fremde Metallding herunterkrachen. Doch der Arm war alles andere als wehrlos. Ein Geflecht aus blauen Blitzen lief wie Adern über die Segmente der Spinne, sie rauchte, sie zuckte, sie kreischte regelrecht. Nur um noch mehr Gift auf den Arm zu schleudern, nun auch wie Geschosse aus ihren Zangen-bewehrten Kiefern. Eine mir endlos erscheinende Zeit wogte der Kampf zwischen diesen beiden Gegnern hin und her. Das Sekret der Spinne warf schaumige Blasen auf der metallenen Oberfläche. Der Stahl lief an, wurde matt grau, schien geradezu zu kochen und erstarrte in hässlichen brauen Schlieren. Die Borstenstrudel auf dem Körper der Spinne bildeten wirbelnde Muster, zeigten die Schauer, die ihren Körper unter den Funken schüttelte. Ihre Beine verloren den Rhythmus und zuckten. Ihre Augen bewegten sich unkoordiniert. Sie troff vor gelbem Schleim, nun auch aus ihren Wunden.
    Zuletzt bekam sie die Schaufe zu fassen und zerriss den Arm in viele kleine Stücke. Ein kleines Stück rauchenden Kabels fiel mir vor die Füße.


    Da hielt ich es nicht länger aus. Ich floh. Vor dem Arm und seiner gebrochenen Macht über mich – ich war inzwischen sicher, dass sie nicht mehr existierte. Aber auch vor diesem ganzen Tal, vor meiner Verzweiflung dort, vor dem Matsch, der feuchten Kälte, vor den ekelhaften Pilzen, der Spinne, meiner Schwäche, den unheimlichen Bäumen und ihrem blutroten Laub. Ich rannte und rannte und hielt mich für sicher. Ich würde in die Wüste gehen. Nach Tavar. Glühende Sonne, versengte Felsen. Freiheit. Wunderbar.

    Ajanna ist offline

Berechtigungen

  • Neue Themen erstellen: Nein
  • Themen beantworten: Nein
  • Anhänge hochladen: Nein
  • Beiträge bearbeiten: Nein
  •