Sein Herz hämmerte wie der unnachgiebige Bass in einem der riesigen Clubs auf der Station. Das letzte Mal hatte es ihm einen unglaublichen Rausch verschafft, besser noch als all die Drogen, die Stella mit ihm konsumiert hatte, ihm jemals hätte geben können. Er erinnerte sich an ihren Widerstand, wie sich ihr Körper wandte und schließlich in seinem Griff brach. „
Diese Gefühl von Macht könnte niemand verstehen, nicht einmal Vater“, dachte er. Heute Abend würde er es wieder fühlen.
Sie war hübsch. Vielleicht nicht ganz so hübsch wie seine Erste und auch nicht so jung. Er schätzte sie auf zwischen sechsundzwanzig und achtundzwanzig Jahre alt, Sportlerin oder zumindest etwas kräftiger als Stella, wenn auch nicht übergewichtig. Sie hatte schöne Brüste und einen großen Po, dachte er, während er sie aus dem Profil dabei beobachtete, wie sie gut geschauspielert ihr künstlich gelocktes Haar aus Braun mit blonden Strähnen auflockerte. Ihre Nase war ein wenig zu lang für ihr Gesicht, aber irgendwie passend zu den beiden sehr präsenten Schneidezähnen, wenn sie lächelte. Und sie lächelte oft, weil er hübsch war und sie sich darüber freute, dass sie ihr Geld diesmal mit einem angenehmen Klienten verdienen würde – wie sehr sie sich täuschte. Er lächelte sardonisch ob ihres Irrglaubens und sie interpretierte es als Vorfreude seinerseits.
„
Was machst du?“
„
Alles was du willst, Schätzchen. Du hast genug gezahlt, als dass ich wirklich alles mache. Die ganze Nacht“, schnurrte sie. Sein Blick fiel auf den Tisch, auf dem eine Handvoll Credit-Chips lag, alle mit jeweils zweihundert Credits beladen. Dann krümmte er auffordernd seinen Zeigefinger und rief sie so zu sich, sie die auf allen Vieren über den mit Samtteppich ausgelegten Flur auf ihn, der da im geschnitzten Eichenholzstuhl saß, zukroch, den Blick auf seinen Schritt gerichtet. Er schaute ihr in die blauen Augen und wusste, dass sie gar nichts begriff, während sie seinen Gürtel öffnete, seinen Reisverschluss aufzog und tat, wofür er sie bezahlt hatte, während er seinen Kopf so weit zurücklehnte, bis sein Hinterkopf die Stuhllehne berührte. Und er lächelte, weil er wusste, dass er alle Zeit der Welt hatte – und dass sie nichts begriff.
Sie begriff. Aber zu spät. Sie begriff, als er die Augenbinde von ihr zog, aber nicht über den Kopf fort, sondern über ihren Hals. Sie begriff, als er die Enden der Binde um seine Hände wickelte und mit einem heftigen, entschlossenen Kraftausdruck in den Augen die Schlinge, die sich um ihren Hals gelegt hatte, zuzog. Sie begriff, als er trotz ihrer geröchelten Proteste nicht lockerließ, als sein schwerer Körper den ihren unter sich begrub. Als er den Kiefer aufeinanderpresste vor Anstrengung. Sie kämpft mehr als Stella, dachte er mit einem Hauch von Ehrfurcht und Angst. Aber er konnte jetzt nicht lockerlassen. Wenn er verlor, würde er alles verlieren. Er konnte nicht! Er wollte es nicht! Es war so furchtbar wunderbar!
„
Spürst du es auch? Spürst du es?“, rief er voll verzückter Ekstase, die Augen ihm Wahn aufgerissen. Er schmeckte Salz auf den Lippen. Salz.
Er starrte in ihr verröchelndes Gesicht, kostete die letzten Atemzüge und die Panik in ihren Augen voll aus und blieb noch lange liegen hervorgetretenen Augen nur noch starr an die Decke gerichtet waren. Dann lachte er, weil sie nun gar nicht mehr hübsch aussah, sondern hässlich. Er lachte und schlug ihr auf den nackten Oberschenkel, dann machte er sich ans Werk. Diesmal war es sogar noch geplanter gewesen und er hatte mehr Zeit, sich mit der Leiche zu befassen…
*
Hanna öffnete die Liste mit den Passworten, die Stella Moreno für verschiedene Accounts und Konten benutzt hatte. Viele davon waren Kombinationen aus Worten und Zahlen, die für Stella eine Bedeutung gehabt haben mochten. Außerdem gab es komplexere Ketten aus Zahlen und Sonderzeichen, die ihr Zugriff aus Stellas Bankkonten ermöglichten. Die Cybercops hatten die relevanten Daten allesamt in Hochgeschwindigkeit in den allwissenden Zentralcomputer gespeist und ihr die Originale für die Ermittlungen überlassen.
Die Software duplizierte Stella Morenos privaten Holoschirm auf den von Hannas Arbeitscomputer. Sie erkannte das als Hintergrund gewählte Motiv als den schiefen Turm von Pisa sowie sich selbst und zwei Hanna unbekannte Personen im Fokus der Fotografie. Da die anderen beiden, ein Mann und eine Frau, mindestens doppelt so alt wie Stella waren, schloss sie, dass es sich hierbei um ihre Eltern handeln musste. Ein seelischer Schmerz durchzuckte Hanna kurz, als sie in die lächelnden Gesichter schaute. Ihre professionelle Abgrenzung brachte sie rasch wieder auf die Bahn, dennoch machte sie sich eine handschriftliche Notiz. Kruto hatte ihr zugesagt die Todesnachricht an die Verwandten zu überbringen, sie nahm sich vor ihn später nach der Erledigung dieser stets unangenehmen Aufgabe zu fragen.
Hanna klickte willkürlich einen Ordner an, scrollte durch ein paar zufällig zusammengewürfelte Bilder und schloss ihn wieder. Manche Dateien hatten computergenerierte Namen, andere kryptische Bezeichnungen und manche wie „Urlaub“ oder „party afterlife 12“ waren klar erkennbar.
Sie wählte einen Browser an und durchsuchte die Catches in der dafür vorgesehenen Leiste. Scheinbar trieb sich Stella Moreno viel auf Shopping- und Flirtportalen herum. Die Polizistin fand eine prall gefüllte „Wunschliste“ bei diversen Bestellplattformen sowie drei verschiedene Accounts auf Dating-Webseiten mit so einprägsamen Namen wie „Your_sweet_dream_19“ oder der sicherlich eine gewisses Klientel anlockende Nickname „spankmeharder“. Hanna vermutete, dass diese Plattformen mehr der Kundenakquise diente, als der ehrlichen Partnersuche. Diese Tätigkeit hatte sie wohl mehr auf Partys, die sie in großer Zahl besucht hatte, sowie rechtschreibschwache Chats und Bilderversendungen auf der auch bei Aliens zunehmend beliebten Plattform
InSync getan.
Hanna loggte sich mit Stellas Account „Stella Splendens“ ein und fand mehr als drei Dutzend ungelesene Nachrichten sowie eine vorerst unüberschaubare Menge an Erwähnungen in irgendwelchen Storys, Bildern und Videos vor. Sie tippte einige der Nachrichten an und lass dort typische Anfragen a la „Wo bist du?“ bis zu „Geht es dir gut“ und „Ich habe gehört, dass dir etwas passiert sei. Stimmt das etwa???? Melde dich bitte sofort!!!!!“
Sie scrollte weiter, als sie einen ihr nicht unbekannten Namen entdeckte: Varus Durant. Der Turianer hatte Stella mehrere Nachrichten geschrieben – und einige sehr freizügige Bilder. Irgendwann schien sie den Kontakt abgebrochen zu haben. Bessergesagt, sie hatte ihn geghostet, völlig ignoriert, worauf seine Nachrichten wütender geworden waren. Das kompromittierende: Varus Durant war ein Polizist bei C-Sicherheit. Soweit sie wusste, war er noch recht jung und ungestüm. Er gehörte als Officer zur Streifeneinheit und hatte dort den Ruf vorschnell zu urteilen und nicht selten zur Gewalt zu greifen. Seine Akte, die Hanna in der internen Datenbank aufrief, war mit einer Handvoll Anzeigen wegen Polizeigewalt garniert, die allesamt dank einer hervorgebrachten Entschuldigung unter den Tisch gekehrt worden waren. Sein Ausbilder hatte einen Vermerk in Akte geschrieben: „Reagiert bei emotionaler Anspannung schnell über“. Da der Ausbilder ebenfalls ein Turianer war, musste das grundsätzlich nicht viel heißen. Wahre Turianer sprachen auch bei aufkeimender Furcht ausgelöst durch in der Nähe explodierenden Minen von emotionaler Überreaktion. Trotzdem erhärtete das Verhalten von Durant gekoppelt mit den denunzierenden, beleidigenden Aussagen im Chat und der Aussage von Stellas Mitbewohnerin, dass sie von dem Turianer regelrecht gestalkt worden war, einen grundsätzlichen Verdacht gegen ihn.
Da sie sonst kaum Spuren hatte, nahm sie sich vor den Polizisten bei nächste Gelegenheit in Augenschein zu nehmen. Hanna notierte sich das und ging dann die weiteren Nachrichten durch, checkte das Profil und fand nichts. Sie schloss den Account und widmete sich den Ordnern.
Dabei entdeckte sie ein Sammelverzeichnis von Holo-Aufnahmen, die Stella scheinbar ihren Kunden also „Webcam-Service“ zur Verfügung gestellt hatte und die allerlei bekannte und unbekannte sexuelle Vorlieben enthielt. „
Klar, dass ihr Kleiderschrank voller Luxuskram war“, dachte die Polizistin. Viele dieser Webcam-Models verdienten in einem Monat so viel wie Hanna als Jahresgehalt einstrich – zumindest ungefähr. Dass Stella sich also als Drogenkurierin Geld dazuverdiente, wurde immer unwahrscheinlicher. Völlig wollte sie die These aber dennoch nicht aufgeben.
Hanna seufzte, rieb sich die Augen stand vom Stuhl auf. Sie streckte sich und beschloss den ersten Revier-Kaffee des Tages zu sich zu nehmen.