Zitat von
Majonese
"Und, bist du bereit?"
"Ähm..." Eigentlich musste Rebecca die Frage bejahen. Immerhin war es ihre Idee gewesen und sie hatte Amaia explizit darum gebeten ihr dabei zu helfen. Und trotzdem hatte sie ein flaues Gefühl im Magen und knetete unruhig die Hände zusammen.
"Ach, komm schon, es ist doch nichts Schlimmes!", lachte Amaia, die das Zögern ihrer Freundin sofort bemerkt hatte. Sie hielt ein kleines Gerät in ihrer Hand hoch und richtete es demonstrativ auf Rebecca. "Die Kamera wird dich schon nicht beißen. Und ich auch nicht."
"Glaub ich dir nicht...Ich glaube dir gar nichts! Ich liebe dich! Fuck off! Hey!" Rebecca warf sich mit Schwung nach hinten auf ihr Bett. Fast stieß sie dabei mit dem Kopf gegen die Wand. "Na gut...dann leg los...", seufzte sie, während sie sich von ihrer Bettdecke wieder hervorkämpfte.
Amaia presste einen Knopf an der Kamera. "Alles klar...und jetzt?"
Beim Anblick des kleinen roten Lichtes, das neben der Kameralinse aufleuchtete, spürte Rebecca sofort eine gewisse Anspannung in sich aufsteigen. Sie fühlte sich irgendwie beobachtet und das obwohl sie außer Amaia eigentlich niemand sehen konnte, wie sie in ihrem ärmellosen Oberteil und einer weiten Jogginghose auf ihrem Bett hockte und mit leicht eingezogenem Kopf in die Kamera starrte. "Naja...jetzt muss ich nur noch ticcen..."
"Sollte ja nicht allzu schwer sein, nicht?", grinste Amaia.
"Jaah...das Problem ist halt, ich kann's nicht auf Kommando machen..."
Rebecca kam sich unheimlich dämlich vor, wie sie eine Weile in die Kamera starrte und darauf wartete, dass der Sturm in ihrem Kopf aufzog. Ganz bewusst warf sie alle mentalen Barrieren von sich ab, die sie normalerweise versuchte aufrecht zu halten. Schon nach wenigen Augenblick schwirrten ihre Gedanken wild durcheinander und ihr Blick wanderte ein wenig ziellos in ihrem Zimmer umher. Sie versuchte so wenig wie möglich nachzudenken, sich so wenig wie möglich auf irgendetwas zu konzentrieren. Es war ein sonderbares Gefühl, als würde sie ihrem Tourette die Erlaubnis geben, zu tun was auch immer es wollte.
Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis die Tics kamen.
Als ihr Blick auf den halb bemalten Holzvogel fiel, der noch immer auf ihrem Schreibtisch lag, reckte sie ruckartig den Kopf nach vorne. "Flieg! Flieg so schnell du kannst! Buuuieeehh!" Die junge Frau kniff die Augen zusammen und klatschte in die Hände. "Sonst esse ich dich!"
"Das will ich sehen, wie du ein Stück Holz isst", grinste Amaia, die sich wie so oft auf dem Schreibtischstuhl niedergelassen und hatte und die Kamera hielt.
"Kann gut sein, dass meine Tics dir den Wunsch erfüllen", meinte Rebecca mit einer Spur Galgenhumor, bevor sie wieder den Kopf in den Nacken legte. "Hey! Schau mich an! Schön zart und knusprig!" Sie lachte gequält auf und kauerte sich unbewusst ein wenig zusammen. Mit einer Hand bedeckte sie ihr Gesicht, als ob sie es vor der Kameralinse verbergen wollte, die weiterhin schonungslos auf sie gerichtet war und sie spürte wie ihr die Hitze in den Kopf schoss. "Oh Mann..."
So ging es einige Zeit weiter. Da sie sich ganz bewusst nicht gegen die Tics wehrte, kamen diese so oft, dass Rebecca teilweise kaum die Kontrolle über ihre Muskeln zurückbekam, bevor der nächste Impuls durch ihren Kopf jagte und sie wahllos Dinge tun ließ. Zwischendurch fachte Amaia mit ihren Kommentaren und Reaktionen weitere Tics an, mal gewollt, mal ungewollt.
"I-i-ihh-ich glaube das reicht jetzt! Hey! Fuck off!", sagte Rebecca irgendwann und versuchte verzweifelt die nächste Welle von Tics zu unterdrücken so gut sie eben konnte. Nun da sie das Tor zur Hölle erstmal geöffnet hatte, war es aber nur noch schwer möglich, die Blitze in ihrem Kopf zu kontrollieren. Die Tics waren anstrengend, sowohl für ihren Körper, als auch ihren Verstand und je mehr Tics sie zuließ, desto aufgedrehter wurde sie. Die Attacken kamen in immer kürzeren Intervallen.
Kneife die Augen zusammen! Klatsche in die Hände! Werfe deinen Kopf zurück und gib laute, sinnlose Geräusche von dir! Schlage dir gegen die Schulter! Sag Amaia, dass sie hässlich ist...nein, dass du sie liebst! Und dann hopst du auf deinem Bett herum.
"Alles klar..." Amaia beendete die Aufnahme und setzte sich zu ihrer besten Freundin auf ihr Bett. "Also, willst du's sehen?"
"Ja, natürlich! Na-na-natürlich! Natüüüüürlich! Hey! Fuck off! Fuck! Off!" Rebecca schüttelte ihren Kopf wild umher, bis sie schließlich mit einem leichten Ächzen ihren Körper wieder unter Kontrolle bekam. Ihre Nackenmuskeln waren mittlerweile total verspannt und tatsächlich ging ihr Atem nach dem ganzen Herumgehampel deutlich schwerer. "Ja, zeig her!"
Das schnelle Pochen in ihrer Brust kam nicht allein von der körperlichen Anstrengung ihrer Tics.
Amaia aktivierte das Holo-Display der Kamera und vergrößerte es, sodass sie beide die Aufnahme gut sehen konnten. Dann startete sie das Video.
Sofort spürte Rebecca den starken Drang, ihren Blick abzuwenden. Alleine schon sich selbst in der Aufnahme zu sehen, wie sie zusammengekauert auf ihrem Bett saß und in die Kamera starrte, war total unangenehm. Und dann begannen die ersten Tics.
Es war furchtbar anzuschauen.
Unzählige Male schon hatte sie sich anhören müssen, wie 'komisch' ihre Tics seien, wie 'seltsam', 'gruselig' oder gleich 'abartig'. Und sie hatte sich bei ihren Extranet-Recherchen auch schon unzählige Videos aus dem vergangenen Jahrhundert angeschaut, in denen Leute mit Tourette-Syndrom mit ihren Tics zu sehen gewesen waren. Darüber hinaus kannte sie ihre Tics ja größtenteils eh, schließlich war sie es ja, die all diese verrückten Dinge tat. Trotzdem war es eine richtige Tortur, sich selbst nun so zu sehen.
Denn es war nicht nur total bizarr und befremdlich, die junge Frau in diesem Video zu beobachten, wie sie völlig absurde Dinge von sich gab und äußerst grotesk anmutende Bewegungen vollführte. Darüber hinaus waren die Tics aus der Aufnahme nämlich auch ansteckend. Als Rebecca aus dem Video den Kopf in den Nacken legte und wild in die Hände klatschte, tat es ihr Rebecca im Hier und Jetzt nach einem kurzen Moment gleich und imitierte den Tic.
Sie hatte von diesem Phänomen schon gelesen und es in Extranet-Videos über Tourette bereits am eigenen Leib erfahren, doch es wirkte in diesem Fall irgendwie schizophren, immerhin war sie es in gewisser Weise selbst, die hier ihre eigenen Tics auslöste.
"Man merkt richtig, wie du anders ticcst, wenn du nicht versuchst dich zu konzentrieren", kommentierte Amaia mit einem aufmunternden Lächeln. Sie schien sehr gut zu merken, wie unwohl sich Rebecca beim Anschauen der Aufnahme fühlte. "Normalerweise ist es ja nicht so heftig..."
"Äh...jaah..." Natürlich meinte Amaia damit vor allem die Häufigkeit der Tics, die normalerweise tatsächlich nicht so schlimm war, doch beim Anblick des grotesken Schauspiels auf dem Holo-Display fiel es Rebecca schwer, irgendetwas Positives darin zu sehen.
Und es waren nicht nur die willkürlichen und teils völlig zusammenhanglosen Ausrufe aus ihrem Mund, es war vor allem auch die Art und Weise, wie sie sich dabei bewegte. Denn wenn sie sagte 'Willst du meinen Tumor sehen?' war das vermutlich schon verstörend genug, doch der leicht säuselnde Tonfall und die weit aufgerissenen Augen machten den Tic gleich um ein vielfaches unheimlicher. Auch ihre Motortics konnten recht erschreckend werden, etwa wenn sie aus dem Nichts plötzlich mit ihren Armen herumfuchtelte, nur um ein paar Sekunden später wieder völlig ruhig zu sein.
Zwar waren nicht alle Tics derart auffällig und grotesk, doch es reichte, um die Leute in ihrer Umgebung völlig zu verschrecken. Das war keine neue Erkenntnis, Rebecca hatte es ja schon oft genug erlebt, allerdings war ihr diese Perspektive hier neu. Und so unangenehm diese Perspektive nun auch war, so sehr hatte sie das Gefühl, es war gut, dass sie sich dem aussetzte. Irgendwie half es ihr ein wenig zu verstehen, wie die Menschen um sie herum auf ihre Krankheit reagierten. Es war letztlich genau das, was sie sich von dieser Aktion erhofft hatte und so miserabel sie sich dabei auch fühlte, so erleichtert war sie auch, wirklich etwas Neues über ihre Krankheit lernen zu können.
Video-Rebecca kniff die Augen zusammen und legte den Kopf leicht zurück. Sie erinnerte ein wenig an ein Tier, das in der Luft herumschnupperte, während sie hohe Töne aus ihrem geschlossenen Mund ausstieß.
"Oh mein Gott..." Rebecca zog den Kragensaum ihres T-Shirts bis unter ihre Augen, um einerseits ihren Scham, aber auch das gequälte Grinsen auf ihrem Gesicht zu verbergen. "Was ist das? Was mache ich da?"
Ihre beste Freundin lachte über die Reaktion. "Das machst du doch andauernd."
"Das ist total verrückt...das klingt ein bisschen wie ein winselnder Hund..."
"Oder ein Frettchen", meinte Amaia mit einem Augenzwinkern. "Aber der Hund von unseren Nachbarn klingt tatsächlich so. Wenn der sich richtig freut, dann macht der auch so Geräusche...fehlt nur noch, dass du dabei auch wild im Kreis herumspringst und mit dem Schwanz wedelst."
Rebecca schnaubte. "Danke, da fühle ich mich gleich besser..."
"Und?" Als das Video schließlich stoppte, beobachtete Amaia ihre Freundin aufmerksam. "Wie geht's dir jetzt?"
Die ehrliche Antwort war ein Schulterzucken. "Es ist schon irgendwie...komisch, wenn ich mich selbst so sehe..."
"Glaube mir, man gewöhnt sich daran. Nach einer Weile nimmt man deine Tics wirklich nicht mehr so sehr wahr."
"Aber es ist trotzdem unheimlich...ich meine, du hast ja selbst schon gesagt, dass man manchmal nicht mal bemerkt, ob ich jetzt ticce oder nicht..."
"Ach was, so schlimm ist das auch nun wieder nicht." Amaia schnaubte leicht. "Du hast doch gesehen in der Aufnahme, meistens verändert sich deine Stimme total, wenn du ticcst, dann hört man sofort, dass du das nicht bist..."
"Flamingo, oh oh oh-woah!" Wieder ein Tic, wieder eine groteske Verrenkung ihres Körpers, begleitet von den Lauten des aufgeregten Hundes. Rebecca konnte den Optimismus ihrer Freundin nur schwer teilen, trotzdem freute sie sich darüber, dass zumindest eine von ihnen einen zuversichtlichen Gedanken über ihre Krankheit fassen konnte. Sie lächelte der jungen Maori zu. "Danke, Mai! Für die Hilfe hiermit..."
"Klar doch!" Amaia wusste genau, was ihre beste Freundin meinte. Natürlich hätte Rebecca nicht ihre Hilfe gebraucht, um sich selbst und ihre Tics zu filmen. Sie hätte genauso gut auch ihre Eltern fragen können oder die Kamera einfach an der Stativdrohne montieren können. Trotzdem war sie mehr als froh, nicht alleine mit dieser Aufnahme sein zu müssen.
"Dann kann das ja jetzt wieder weg", meinte Rebecca und nahm die Kamera entgegen, um das Video gleich wieder zu löschen. "Verschwinde! Und komm nie wieder! Fuck off! Buuuiieeeh!" Als die Datei restlos vom Speicher des Geräts verschwunden war, fühlte sie eine gewisse Erleichterung in sich aufsteigen. "Und, hast du noch Lust, irgendwas zu machen?"
Der Nachmittag war schon weit vorangeschritten und neigte sich dem Ende zu. Die beiden Frauen verbrachten noch ein wenig Zeit damit, über die verschiedensten Dinge zu quatschen und sich gegenseitig Videos auf InSync zu zeigen. Es war wenig aufregend aber trotzdem spaßig. Zu mehr fehlte Rebecca mittlerweile ohnehin die Energie. Sie fühlte sich total ausgelaugt und hätte sich am liebsten schon zum Schlafen fertiggemacht. Der Ausflug mit Madison am Vortag steckte ihr immer noch ein wenig in den Knochen und das nicht nur wegen des Blutergusses an ihrem Knie. Die nagelneue Gitarre hatte sie natürlich vor Amaia im Gästezimmer versteckt, sie wollte ihr ja nicht die Überraschung verderben.
Schließlich musste sich ihre beste Freundin aber verabschieden. Sie hatte nämlich einen wichtigen Termin.
"Um siebzehn Uhr muss ich da sein", antwortete Amaia auf die Frage, wann sie denn gehen müsse. "Ich denke, ich mache mich dann auch mal auf den Weg."
Rebecca hob eine Augenbraue. "Jetzt schon? Du hast doch locker noch eine halbe Stunde."
"Tjaah...macht halt einen besseren Eindruck, wenn man früh dran ist."
"Gib zu, du hast nur Angst mal wieder zu spät zu kommen. Fuck off! Hey!"
Amaia lachte ertappt. "Naja...schon ein bisschen. Es würde halt schon ein bisschen blöd kommen, wenn ich direkt zum Probearbeiten unpünktlich bin."
Die beiden Frauen gingen gemeinsam die Treppe hinunter und während sich Amaia ihre Schuhe anzog, blieb Rebecca am Durchgang zum Flur stehen und lehnte sich an den Türrahmen. "Weißt du, das wäre schon irgendwie ziemlich cool, wenn du...wenn du ein Vogel wärst! Ein Vogel! Ein...fuck off! Flamingo! Wäre schon ziemlich cool, wenn du die Stelle im Harmony kriegst."
"Allerdings", stimmte Amaia zu und griff nach ihrer Tasche. "Und ich meine...so schwer kann's eigentlich auch nicht sein, oder? Ein bisschen kellnern...Bestellungen aufnehmen, Getränke verteilen...wird schon werden, denke ich."
"Ich drücke dir auf jeden Fall die Daumen!" Plötzlich ruckte ihr Kopf zurück. "Alle drei! Buuuiieeeh!"
"Seit wann hast du drei Daumen?", wollte Amaia amüsiert wissen.
Rebecca rollte mit den Augen und grinste schwach. "Offenbar seit ich Tourette habe..."
"Gut zu wissen...aber auf jeden Fall danke! Ich lasse dich dann wissen, wie's gelaufen ist."
"Mach's gut, Mai!"
"Du auch! Achso, und übrigens...!" Auf der Türschwelle hielt Amaia nochmal inne und drehte sich um. "Hab ich fast vergessen, ich wollte dich auch noch fragen, ob du nächsten Freitag Lust hast, bei unserer DnD-Runde mitzumachen! Wir wollten uns jetzt wieder regelmäßiger treffen..." Das schiefe Grinsen, das sie ihrer Freundin zuwarf verriet, dass sie nicht mit einer Zusage rechnete, doch sie wollte ihr Glück offenbar trotzdem probieren.
Rebecca legte ihren Kopf leicht zur Seite und lächelte breit. "Mach's gut, Mai!", wiederholte sie betont.
Amaia lachte auf. "Okay, also wann anders vielleicht...wir sehen uns!"
Sie winkte ihrer besten Freundin noch einen Moment hinterher, bevor Rebecca die Haustür schloss und wieder nach oben auf ihr Zimmer ging. Kaum war Amaia weg, fühlte sie wieder diese erdrückende Schwere über sich legen. Obwohl sie mittlerweile sogar die letzten Kartons ausgepackt und ihr Zimmer aufgeräumt hatte, rückten die Wände jeden Tag enger zusammen. Sich das Video mit ihren Tics anzuschauen hatte ihr tatsächlich etwas gebracht, doch ihr war durchaus klar, dass es auf Dauer nicht ausreichen würde, um aus ihrem Gefängnis zu entkommen.
Mit einem Seufzen ließ sie sich auf ihr Bett fallen, nur um sich direkt zweimal heftig gegen die Schulter zu schlagen. Den restlichen Abend verbrachte sie damit, im Extranet zu surfen und ohne große Begeisterung durch InSync zu browsen. Zwischendurch drifteten ihre Gedanken zu Amaia, die jetzt vermutlich gerade im Harmony damit beschäftigt war Gäste zu bedienen. Wieder versuchte sie sich vorzustellen, wie sie selbst an der Bar stehen und Getränke ausgeben würde, doch natürlich war das keine Option mehr für sie. Aber auf ihrem Zimmer vergammeln war nun wirklich auch keine dauerhafte Alternative.
Nach einer Weile ertappte sie sich dabei, wie sie tatsächlich nach 'Dungeons and Dragons' im Extranet suchte.