"Freunde
Freunde kommen
Freunde kommen und
Freunde kommen und halten
Freunde kommen und halten zusammen
Für immer"
"Wahnsinn", stöhnte Amaia mit halb gespieltem Leid in der Stimme. "So was Kitschiges habe ich damals geschrieben?"
"Offensichtlich!", gab Rebecca amüsiert zurück und reichte das Datapad zurück an ihre beste Freundin. "Immerhin war es recht kurz, nicht? Nicht? N-n-nicht? Ni-ni-ni-niemand. Niemand liebt dich! Ich liebe dich! Fuck off!"
"So, jetzt bist du wieder dran..." Amaia tippte auf dem Pad herum, um das nächste Gedicht zu öffnen und vorzutragen. Sie lachte auf. "Du hast nicht ernsthaft ein Gedicht 'Pizza und Pasta' genannt!"
Rebecca entfuhr ein Kichern. "Das ist wahrscheinlich über unseren Familienurlaub damals auf Sardinien...muss schon ewig her sein..."
Abwechselnd lasen sie sich gegenseitig die alten Schulgedichte der jeweils anderen vor und amüsierten sich über die schlechten Reime und den oft sehr abgedroschenen oder schlichtweg lächerlichen Inhalt. Obwohl es für die Verfasserin des Gedichts recht unangenehm werden konnte mit der eigenen kindlichen Dichtkunst konfrontiert zu werden, war es ein unerwartet spaßiger Zeitvertreib. Und immerhin wurde die Qualität der Poesie besser, je weiter sie in der Zeit vorankamen. Man merkte deutlich, dass das Vokabular größer wurde, die Bildsprache ausdrucksstärker und die ausgedrückten Gedanken komplexer. Vor allem Amaia hatte viele Gedichte geschrieben, häufig mehr, als von den Lehrern gefordert worden war und so kitschig manche ihrer Texte auch waren, war es doch spürbar, wie viel Mühe sie sich beim Schreiben gegeben hatte.
Sie beide wurden zurückgeworfen in ihre Schulzeit, sahen sich zusammen im Unterricht sitzen und ihre Gedichte schreiben, während sie alle paar Sekunden auf das Datapad der jeweils anderen schielten und ihre Werke miteinander verglichen. Es war eine dieser gemeinsamen Leidenschaften gewesen, von denen sie so viele hatten.
Doch so spaßig dieses gemeinsame Rückerinnern an vergangene Zeiten auch war, nach einer Weile schien sich bei Rebecca in der Brust ein Knoten zu bilden und ihr Gelächter drang nicht mehr ganz so unbeschwert aus ihr heraus. Diese innere Unruhe von zuvor kehrte schleichend wieder zurück und legte sich über sie wie ein Schleier, durch den alles plötzlich so viel weniger farbenfroh und ausgelassen war. Die Gedichte zu hören war nur noch halb so lustig und die schönen Erinnerungen wurden bitter. Selbst der Regen draußen schien bedrohlich anzuschwellen, als wolle er eine Sturmflut heraufbeschwören.
Fast schon fühlte es sich falsch an, in diesen Erinnerungen zu schwelgen, wo es doch alles so lange her war und sich so viel seitdem geändert hatte.
"Becky? Ist was?"
Erst als sie Amaias Stimme hörte bemerkte Rebecca, dass sie mit leerem Blick aus dem Fenster gestarrt hatte. Doch obwohl sie mit ihrer Aufmerksamkeit wieder im Hier und Jetzt war, reagierte ihr Körper nicht. Sie wollte sich eigentlich zu ihrer besten Freundin umdrehen, doch sie schaffte es nicht, den Gedanken in eine Bewegung umzusetzen. Sie war wie gefangen in ihrer eigenen Haut. Einige sehr unangenehme Sekunden vergingen.
"Ähm...Rebecca?" Amaia klang nun etwas besorgt. "Alles okay?"
Und mit einem Mal ließ der Tic wieder von ihr ab. "Jaja, schon gut", meinte Rebecca mit einem müden Grinsen und rieb sich den Nacken. "Das Übliche..."
"Ah, okay. Falscher Alarm also", atmete ihre beste Freundin auf. "Aber mal im Ernst, ich frage mich manchmal...was ist eigentlich, wenn du dich verletzt oder...keine Ahnung, 'nen epileptischen Anfall hast oder sowas...woher wüsste ich denn, ob du nur einen Tic hast oder es doch was Schlimmeres ist?"
Etwas verblüfft erwiderte Rebecca ihren Blick. "Also...um ehrlich zu sein...keine Ahnung. Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht."
"Naja...weil manchmal weiß ich halt echt nicht, ob ich mir Sorgen machen muss. Das ist schon ein bisschen unheimlich." Amaia überlegte einen Moment. "Vielleicht brauchst du sowas, wie ein Codewort", schlug sie grinsend vor.
Rebecca stieß ein ungläubiges Lachen aus. "Ein...Codewort?"
"Ja! Sowas wie 'Sonnenfinsternis' oder 'Alligatorangriff' oder..."
"Meeresfrüchte! Hey!"
"Zum Beispiel", stimmte Amaia zu, während ihre beste Freundin mit ihren Händen unkontrolliert herumfuchtelte. "Irgendwas, was du halt normalerweise nicht sagen würdest. Dann weiß ich sofort, dass etwas nicht stimmt. Es könnte auch ein Satz sein...vielleicht 'Amaia, du bist die Beste!'"
"Stimmt, das würde ich nie sagen", behauptete Rebecca frech, bevor ihr Tourette gnadenlos fortfuhr. "Amaia du bist...du bist...hässlich! Du bist hässlich, Amaia! Hahaha! Haha! Amaia, du bist hässlich!" Das laute und doch spürbar künstliche Lachen aus ihrem eigenen Mund ließ ihr die Nackenhaare zu Berge stehen. "Okay, das würde ich aber wirklich nie zu dir sagen!"
"Du vielleicht nicht, aber dein Gehirn schon."
Zur Antwort lächelte Rebecca schwach, kommentierte es aber nicht weiter. Ihre Gedanken blieben an Amaias Worten zu ihrem Tic hängen. 'Ein bisschen unheimlich...' Es mochte als Scherz gemeint sein, doch es hatte einen wahren Kern, der Rebecca gar nicht behagte. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass ihr jemand erzählte, ihre Tics seien unheimlich. Sie selbst hatte nicht die geringste Ahnung wie es eigentlich aussah, wenn sie ticcte, doch wenn sie an die Reaktionen anderer Leute auf ihr Tourette dachte, musste es ziemlich grotesk und absonderlich wirken. Fast so, als würde man einem Monster gegenüberstehen. Wer wollte das schon über sich ergehen lassen müssen?
Um sich selbst von ihren düsteren Gedanken abzulenken, wandte Rebecca ihre Aufmerksamkeit wieder dem Datapad zu, das sie in der Hand hielt und scrollte durch den Inhalt des Ordners auf der Suche nach dem nächsten Gedicht von Amaia. "Das hier heißt 'Sommergewitter'."
"Huuh...daran kann ich mich ja gar nicht mehr erinnern...", meinte Amaia und überlegte angestrengt. "Von wann ist das?"
Rebecca prüfte das Datum der Datei. "Müsste vierte Klasse gewesen sein."
"Dann leg mal los!"
"Draußen regnet es mal wieder,
alles wird nass.
Ich sitze zuhause und schau aus dem Fenster,
den ganzen Tag.
Am liebsten wäre ich bei meinen Freunden,
doch keiner hat Zeit.
Alle sind unterwegs, haben Wichtiges zu tun,
nur nicht ich."
"Klingt ja fast so, als hätte ich das Reimen komplett aufgegeben", kicherte Amaia.
Rebecca hielt einen Moment inne. Die Zeilen klangen irgendwie düsterer als das, was ihre beste Freundin damals sonst so geschrieben hatte. Dunkel regte sich etwas in den Tiefen ihres Gedächtnisses, doch sie fuhr schon mit dem Gedicht fort:
"Letzte Woche war so viel schöner gewesen,
als die letzten Tage.
Doch jetzt ist plötzlich alles irgendwie
ganz anders.
Mein..."
Beim Anblick des restlichen Verses kehrte die Erinnerung an das Gedicht siedend heiß zurück und ließ Rebecca entsetzt verstummen. Jetzt fiel ihr auch wieder ein, was es mit dem Gedicht auf sich hatte. Warum es so deprimiert klang. Am liebsten hätte sie das Pad einfach ausgeschaltet und so getan, als wäre nichts, doch Amaia hatte schon längst bemerkt, dass etwas nicht stimmte.
"Was ist?", wollte sie mit hochgezogener Augenbraue von ihrer Freundin wissen.
"Ähm..." Rebecca saß auf glühenden Kohlen. Ihre Augen waren weiterhin auf den Vers gerichtet, so als erhoffte sie sich von der geöffneten Datei irgendeinen Hinweis für einen Ausweg aus dieser Situation. Das Atmen fiel ihr mit einem Mal überraschend schwer und ihr Herz pochte sehr viel schneller. In ihrem Kopf wirbelten die Möglichkeiten wild durcheinander. Sie konnte die Wahrheit sagen. Oder sich eine Ausrede einfallen lassen. Vielleicht den Vers einfach überspringen, oder sich etwas ausdenken. Ihr Tourette nutzte das Chaos in ihrem Kopf sofort aus. "Hey! Schau mich an! Schau mich aah-a-a-a-an! Ich zeige dir mein...mein...mein...Haus! Ich zeige dir meinen Tumor! Hahaha!"
Amaia ließ sich von dem Tic nicht beirren und beobachtete Rebecca aufmerksam. "Was ist los? Was habe ich denn geschrieben?"
Mit einem verzweifelten Seufzen gab sie sich geschlagen und räusperte sich, bevor sie mit belegter Stimme fortfuhr:
"Mein Dad ist ein schlechter Mensch,
ich darf ihn nicht mehr sehen.
Und niemand will mir wirklich sagen,
was los ist..."
Obwohl sie ihre Stimme senkte, in der Hoffnung, dass sie unter dem Prasseln des Regens einfach untergehen würden, schienen ihre Worte plötzlich einen eisigen Wind heraufzubeschwören, der durch das Zimmer fegte. Das Unwetter schwoll an und selbst das diesige Licht von draußen wurde auf einmal schwächer. Rebecca spürte diesen heftigen Stich in der Magengegend und hob besorgt den Blick. "Amaia..."
Ihre beste Freundin seufzte schwer und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, die Augen in Richtung Decke gerichtet. "Jaah...stimmt ja...hätte ich mir denken können, dass sowas kommt", murmelte sie. "Vierte Klasse...das war ja genau die Zeit..."
"Es tut mir so leid...ich hatte ganz vergessen, dass du über deinen Dad geschrieben hast..." Rebecca warf das Datapad an das Fußende ihres Betts, als ob es sie persönlich beleidigt hatte.
Amaia winkte ab. "Ach was, ist doch nicht deine Schuld. Ich habe doch selbst auch nicht mehr daran gedacht..."
Selten hatte Rebecca eine so unangenehme Stille zwischen ihnen beiden erlebt. Ihr lag alles Mögliche auf der Zunge, doch in ihrem Kopf klangen alle Worte, die ihr einfielen, hohl und unpassend.
Es dauerte eine Weile, bis Amaia die Stimme hob. "Wusste gar nicht mehr, dass ich ein Gedicht darüber geschrieben hatte", versuchte sie mit einem schwachen Grinsen zu scherzen, doch es schien ihre Laune nicht zu bessern. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und drehte den Stuhl leicht hin und her, während sie weiterhin nach oben starrte. Plötzlich lachte sie freudlos auf. "Weißt du...es ist schon irgendwie verrückt, wenn ich mich daran zurückerinnere...Ich bin halt irgendwann einfach von der Schule nachhause gekommen und Dad war weg. So...von jetzt auf gleich, einfach weg. Und mir wurde erklärt, dass er wohl etwas Schlimmes gemacht haben soll. Aber damals konnte niemand so richtig sagen, was eigentlich. Jahrelang hieß es immer nur: 'Er hat diesem Mädchen was ganz Schlimmes angetan' und das war halt der Grund, weshalb ich ihn nicht mehr sehen konnte. Aber ich wusste überhaupt nicht, was das heißen soll."
Rebecca blieb stumm und beobachtete weiterhin aufmerksam ihre Freundin. Noch nie hatte Amaia so direkt darüber gesprochen, hatte das Thema nach Möglichkeit immer vermieden und kaum mehr als nötig über ihre Gefühle preisgegeben. Also wollte sie das nicht unnötig unterbrechen. Ihr fiel ohnehin nichts ein, was sie sagen konnte.
"Es hat Jahre gedauert, bis mir Mom endlich sagen wollte, was genau passiert ist. Und dann...naja...ich hatte halt immer gedacht, dass es leichter werden würde, wenn ich erstmal verstehe, was Dad getan hat. Aber irgendwie war's das nicht..."
"Warum?", fragte Rebecca zaghaft.
"Hm...es war..." Amaia dachte angestrengt nach. Es fiel offensichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden. "Ich habe dann halt angefangen mich zu fragen, ob er schon immer so gewesen war...ob es denn nicht irgendwelche Anzeichen gegeben hatte und ob..." Sie spielte nervös mit einer ihrer nassen Haarsträhnen herum. "Naja...ob er...ob er uns nicht vielleicht auch..." Auch ohne dass sie es aussprach, war klar, was sie versuchte auszudrücken. "Ich meine...alle Erinnerungen, die ich an ihn hatte waren plötzlich...anders. In meiner Vorstellung hatte halt alles, was er je gesagt oder gemacht hatte plötzlich diese...Hintergedanken."
Rebecca konnte sich gut vorstellen, was ihre Freundin meinte. Dass dieser Mann, den sie selbst als etwas zurückhaltenden, aber gutmütigen Familienvater kennengelernt hatte, ein Kinderschänder sein sollte, war auch für sie damals ein ziemlicher Schock gewesen. Genau dieselben Gedanken hatten sie damals auch geplagt und es musste für die eigene Tochter ungleich schwerer gewesen sein. Vor allem, wenn sie sich daran zurückerinnerte, wie glücklich Amaia mit ihren Eltern einst zusammen gewesen war.
"Das war eigentlich das Schlimmste...", stellte Amaia mit starrem Blick fest. "Ich wusste halt plötzlich nicht mehr, was ich von ihm halten soll. Weil...naja...er war halt trotz allem noch immer mein Dad..."
"Hast du denn...noch irgendwas von ihm gehört?"
Amaia schüttelte den Kopf und seufzte schwer. "Nein, nichts. Ich habe ihn auch seit der Gerichtsverhandlung nicht mehr gesehen. Mittlerweile müsste er eigentlich schon wieder draußen sein. Keine Ahnung, wo er ist oder was er macht. Er hat sich nie wieder bei uns gemeldet. Ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, ob ich das wollte oder nicht..."
Obwohl ihre Stimme ruhig war, spürte Rebecca sehr genau, wie schmerzlich es für Amaia war, davon zu erzählen. Am liebsten hätte sie ihre beste Freundin in den Arm genommen, sie versucht zu trösten. Doch Rebecca war klar, dass sie hier nicht helfen konnte. Weder konnte sie die Vergangenheit ungeschehen machen, noch Amaia sagen, was sie am besten tun oder denken sollte.
Wieder herrschte ein Moment der Stille zwischen ihnen beiden, doch dann lachte Amaia plötzlich auf. "Tut mir leid!", sagte sie verlegen und sah ihre Freundin entschuldigend an. "Ich wollte uns wirklich nicht die Stimmung mit so was Heftigem versauen. Es...kam einfach irgendwie wieder hoch..."
"Schon in Ordnung, wirklich!", versicherte Rebecca ihr. Sie konnte Amaia wirklich keinen Vorwurf machen. Eigentlich war sie selbst es gewesen, die schon wieder alles versaut hatte. Hatten sie nicht vor ein paar Minuten noch Spaß gehabt und ausgelassen über ihre Dichtkunst gelacht? War es nicht schön gewesen, sich an die gemeinsame Schulzeit zurückzuerinnern? Sie hätte doch einfach ein anderes Gedicht von Amaia vorlesen können. Eines, das nicht wie ein Schlag ins Gesicht war und diese schlimmen Erinnerungen aufwärmte. Stattdessen war die Stimmung in ihrem Zimmer nun so unterkühlt wie das Wetter draußen und sie schwiegen sich schon wieder an.
Sichtbar bemüht, ein wenig von der Heiterkeit zurückzubringen, die sie verloren hatten, stand Amaia auf und griff nach Rebeccas Gitarre, die wie immer in der Ecke des Zimmers an der Wand lehnte. "Wie sieht's aus, Lust auf ein bisschen Musik?"
Die ehrliche Antwort wäre wahrscheinlich 'nein' gewesen. Doch Rebecca wusste ohnehin nicht, was sie im Augenblick überhaupt wollte und was nicht, also stimmte sie mit einem halbherzigen "Hmmm" zu.
Amaia setzte sich wieder auf den Stuhl und legte das Instrument auf ihrem Schoß ab. Um sich ein etwas warmzuspielen, schlug sie ein paar Akkorde und zupfte die Saiten ein wenig. "Ach ja...", seufzte sie zufrieden. "Das klingt einfach so viel besser!"
"Was meinst du?"
"Deine Gitarre. Ich habe ja noch diese blöde Klassische und die ist auch noch uralt und klingt nicht so gut. Ich finde Westerngitarren hören sich schöner an. Irgendwie...voller und nicht so dumpf..."
"Die klingen schon besser", stimmte Rebecca zu und warf einen Blick auf die dicken Stahlsaiten, "aber tun dafür auch mehr weh beim Spielen."
Amaia zuckte mit den Schultern. "Ist nur 'ne Sache der Gewöhnung, ein paar Wochen auf einer Westerngitarre und man hat genug Hornhaut an den Fingern. Ich werde auf jeden Fall mal bei Gelegenheit mein Konto plündern und mir auch so ein Stück zulegen. Die alte Gitarre kann dann meine Schwester haben, wenn sie möchte."
Zwar entgegnete Rebecca darauf nichts, machte sich aber bei Amaias Worten eine Notiz im Kopf.
"Also dann...was wollen wir spielen?", wollte Amaia wissen.
Es war wieder diese Art von Frage, mit der sie im Augenblick wirklich gar nichts anfangen konnte. Eigentlich gab es im Moment kein Lied, das sie wirklich hören wollte. Oder vielmehr war es ihr egal. Doch bevor sie das zum Ausdruck bringen konnte, sprang ihr plötzlich eine Melodie ins Gedächtnis. "Wie wäre es vielleicht mit...'Fit back in'?"
Ihre beste Freundin nickte begeistert. "Oh ja, gute Idee! Aber gib mir einen Moment, ich weiß die Akkorde nicht mehr..." Sie öffnete ihr Omni-Tool und suchte im Extranet nach einer Grifftabelle für das Lied. Es war nicht ganz so einfach, denn das Lied war bereits fast zweihundert Jahre alt und obwohl es noch recht umfassende Archive gab, in denen man Guides und Tutorials zum Spielen solch alter Musik fand, musste man sich in der Regel ein wenig durch verschiedene Seiten wühlen. Und Apps, die solche Tabellen automatisch anhand der Musik selbst generierten, waren alles andere als billig. Zumindest die, die auch was taugten.
"Weißt du, eigentlich sollte jemand mal diese Musik neu auflegen!", meinte Amaia nach einer Weile, noch immer auf der Suche nach den Akkorden.
"Wieso...wieso...wieso? WIESO? Eh-e-e-e-eeeeh...fuck off! Wieso das?"
"Naja, es gab halt wirklich coole Musik um 2000 rum, aber alles, was heute immer wieder neu gecovert wird, sind solche Sachen wie...keine Ahnung, Michael Jackson oder Queen..."
"Queen?"
Amaia schnaubte. "Das ist wohl 'ne Rock-Band, die damals total berühmt gewesen war. Angeblich...angeblich...eine der besten Bands aller Zeiten. Zumindest hat das mein Ex immer behauptet. Er war auch total beleidigt gewesen, dass ich noch nie von denen gehört hatte..."
Auch wenn sie den Kommentar mit einem Lächeln quittierte, spürte Rebecca einen weiteren Stich in ihrer Brust. Dass Amaia ihr geschrieben hatte, sie habe sich von ihrem Freund in Fairbanks getrennt, musste schon einige Monate her sein und trotzdem kam es ihr noch vor, wie letzte Woche. Es war schmerzlich daran zu denken, wie viel seitdem passiert war und wie wenig ihr davon wirklich noch etwas bedeutete. Alles, was ihr nun in Erinnerung blieb, waren die entmutigenden Erfahrungen mit ihrer Krankheit. Der Gedanke an Beziehungen und Ex-Freunde wirkte plötzlich wie aus einem ganz anderen Leben.
Schließlich wurde Amaia fündig und rief eine Seite auf, die die gesuchten Grifftabellen hatte. "Bin soweit. Du auch?"
Rebecca nickte zur Antwort. Den Text brauchte sie nicht noch einmal im Extranet nachschauen. Sie hatte diese Musik schon so oft gehört und selbst gesungen, sie konnte sich an jedes Wort und jede Note erinnern. Viel schwieriger als das Singen selbst würde es sein, ihren Fokus zu behalten, um die Tics zu unterdrücken.
"Okay, dann...1...2...3...4..."
"Feeling like a stranger in my city, and my skin
Nothing around here reminds me of anything
Evenings growing shorter, and the swallows spread their wings
Dislocate me, bend me, shake me,
Make me fit back in"
Das muntere Gitarrenspiel war ein seltsamer Kontrast zu dem eher schwermütigen Gesang, doch Rebecca mochte genau das. Die Musik schien genau den Widerspruch zum Ausdruck zu bringen, den sie selbst in sich spürte. Wie sie sich so unwohl und fehl am Platz fühlte, obwohl sie all das um sich herum hatte, was sie sonst immer so glücklich machen konnte. Über diese Dinge zu singen hatte etwas eigenartig Befreiendes, so als würde sie sich ihre Probleme bei einem Therapeuten von der Seele reden.
"And another half won't shine in half a light
I wish I could keep the days from passing by
Drift upstream, and travel back in time
Find your hand and hold it tight in mine"
Sie schaute auf und erwiderte Amaias Blick mit einem Lächeln.
"Moon-set, sunrise, time doesn't heal
It just goes by, it just goes by"
Und völlig aus dem Nichts rollte eine Welle über sie hinweg. Hoffnungslosigkeit, Angst, Frustration und die Erinnerungen an alles was in den letzten Wochen geschehen war brachen über sie hinein. Ihre Kehle schnürte sich zu, ihre Sicht verschwamm.
"Sunset, moon-rise, time doesn't heal
It just goes by, it just goes by"
Ihre brüchige Stimme riss ab und Rebecca kämpfte verzweifelt gegen die Flut an Eindrücken an. Es war vergeblich. Ohne, dass sie es verhindern konnte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie beugte sich nach vorne, unfähig, sich dem Sturm entgegenzustellen, die Zähne zusammengebissen und das Gesicht verzerrt, als ob sie Schmerzen hätte.
"Rebecca?"
So viele Erinnerungen, so viele Gefühle fielen über sie her, es war unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu formen. Bilder aus ihrer Vergangenheit, so klar wie Fotos, kamen hoch, sie sah sich auf Ausflügen mit ihren Freunden, sah Amaias Familie glücklich zusammen, sah sich selbst zufrieden mit ihrem Schulabschluss und einer ganzen Welt an offenen Möglichkeiten für ihre Zukunft. Gleichzeitig erinnerte sie sich daran, wie sorglos und unbeschwert alles noch vor ein paar Monaten gewesen war, als sie noch in Wellington mit ihren Kommilitonen herumgehangen hatte. Doch dann dachte sie an die schockierten und empörten Blicke, die nun so oft auf ihr lagen, dachte an den Streit mit ihrer Mutter, an die Strahlentherapie, die ihr bevorstand, um ihren Hirntumor zu behandeln. An die Schmerzen in ihrer Hand und ihrer Schulter, an Amaias Vater und ihren Stiefvater, an die aufgebrachte Mutter während der Busfahrt, an den Moment, als ihr der Neurologe im Krankenhaus sagte, ihr Tourette sei nicht mehr zu behandeln...
Rebecca bekam kein Wort mehr heraus. Stattdessen entfuhr ihr ein lautes Schluchzen. Und plötzlich schienen alle Dämme zu brechen. Von einem Moment auf den nächsten verlor sie jede Kontrolle über ihren Körper, doch dieses Mal war es kein Tic. Sie beugte sich vornüber und vergrub ihr Gesicht in den Händen, als wolle sie sich verstecken. Ein jämmerliches Heulen drang aus ihrer Kehle, das immer lauter wurde, unterbrochen von Schluchzern und den abgehackten Atemzügen, welche wie die einer Ertrinkenden klangen.
"Hey!" Verschwommen nahm sie wahr, wie Amaia die Gitarre zu Boden legte, aufstand und zu ihrem Bett kam. Sie setzte sich neben ihre beste Freundin. "Hey, was ist los? Hm?", fragte sie sanft.
"Es ist alles kaputt...!", heulte sie, doch sie schaffte es nicht sich weiter zu erklären, bevor sie ein weiterer Heulkrampf durchschüttelte. Speichel tropfte ihr aus dem Mund auf ihre Beine, gefolgt von dicken Tränen.
"Na komm her...!" Amaia legte ihr eine Hand an die Schulter und zog sie sachte zu sich. Sie schien nicht zu wissen, wie sie ihre Freundin trösten sollte und so schwieg sie und hielt die junge Frau in den Armen.
Noch nie in ihrem Leben hatte Rebecca dieses Gefühl so sehr verspürt, das Gefühl, niemals wieder glücklich sein zu können. Es schien keinen anderen Weg zu geben, ihren Schmerz auszudrücken und so weinte sie so hemmungslos und jämmerlich wie ein kleines Kind. Welle um Welle an Tränen rann heiß über ihre Wangen, während sich ihre Verzweiflung durch laute Schluchzer und bitterliches Heulen ausdrückte. Das einzige, das Rebecca abseits ihres eigenen Elends überhaupt wahrnahm, waren die Arme, die sich eng um sie gelegt hatten und die ruhigen Atemzüge über ihr.