Zitat von
Majonese
"Eyyy! Da seid ihr ja schon!" Tatsächlich wirkte Luca eine Spur überrascht, als er die Tür öffnete und die beiden Frauen erblickte. Trotzdem zeigte sich auf seinem Gesicht ein aufrichtiges Lächeln.
"Hi!" Amaia begrüßte ihren Kumpel mit einer Umarmung.
Auch Rebecca winkte ihm mit einem Grinsen zu.
"Die anderen sind noch nicht da?", wollte Amaia wissen und spähte über Lucas Schulter, als ob sie erwartete, jemanden im Inneren des Hauses zu sehen.
Er schüttelte den Kopf und schnaubte. "Natürlich nicht! Als ob irgendjemand von euch jemals pünktlich ist!"
"Ich bin doch pünktlich!"
"Aber du bist ja auch mit Rebecca hier, das zählt nicht. Ansonsten wärst du nämlich als Letzte hier angekommen!"
"Hey!"
Während sich die beiden noch wegen Amaias berüchtigter Unpünktlichkeit kabbelten, traten sie ins Haus und schlossen die Tür hinter sich.
Zwar war Rebecca schon seit einigen Monaten nicht mehr hier gewesen, doch es war noch immer alles so, wie sie es in Erinnerung hatte. Luca lebte bei seinen Eltern in einem etwas altmodisch, doch keinesfalls heruntergekommenen Haus. Es war recht geräumig und mit sehr gemütlichen, recht rustikalen Möbeln bestückt. Dunkles Holz dominierte hier die Ästhetik, welche im großen Wohnzimmer mit Zimmerpflanzen und allerhand Kleinod an den Wänden, Regalen und Fensterbänken abgerundet wurde. Man konnte sehr genau sehen, was in diesem Raum von Lucas Eltern platziert worden war und was er zu verantworten hatte.
Der große Wohnzimmertisch war freigeräumt worden und offenbar hatte Luca noch zwei zusätzliche Stühle aus der Küche herangestellt. Auf dem Tisch selbst lagen eine Reihe von Datapads und eine kleine Kiste mit allerhand kleinen, bunten Figuren und Messutensilien aus Plastik, welche an den Mathematikunterricht erinnerten. Daneben waren auf einer Kommode die eigentlichen Dekorationsgegenstände achtlos zur Seite geschoben worden, um Platz für ein paar Schüsseln, tütenweiße Knabbereien und Flaschen mit Softdrinks und Bier zu machen. Es wirkte fast schon so, als würde Luca eine kleine Party schmeißen wollen.
"Echt cool, dass du auch mal mitmachen willst", sagte er an Rebecca gewandt und lehnte sich an einen der Stühle.
"Tjaah...ich weiß auch nicht, so recht, was mich da geritten hat", entgegnete sie mit einem schüchternen Grinsen, bevor sie ungewollt rief: "Ein Pferd! Schön zart und knusprig!"
"Und hast du schon einen Charakter überlegt?"
Rebecca konnte nicht antworten, da sie sich auf die Lippe biss, den Kopf zurückwarf und Hundelaute von sich gab.
"Wir haben uns eben noch zusammengesetzt und einen Kleriker gebaut", erklärte Amaia, zog das Datapad aus Rebeccas Tasche und reichte es Luca.
Er nahm es an sich und warf einen kurzen Blick auf Rebeccas Charakterbogen. "Cool! Trifft sich gut, dass du eine Heilerin spielst. Eigentlich hat mein Bruder immer den Heiler in der Gruppe gespielt aber seit er nicht mehr dabei ist, kriegt die Gruppe ständig aufs Maul."
"Du könntest ja auch einfach die Gegner leichter machen", merkte Amaia mit einem Schnauben an.
"Hey, bis jetzt habt ihr..."
"Hey! Heeeeey! Schau mich an! Hey, wie geht's? Fuck off!"
Einen Moment lang wirkte Luca sehr irritiert, als Rebecca ihn lautstark unterbrach, dann versuchte er es mit einem nervösen Lachen zu überspielen. "Äh...ja, ihr könnt euch schonmal hinsetzen, die anderen dürften auch gleich kommen."
Rebecca ließ sich direkt neben ihrer besten Freundin nieder und warf einen neugierigen Blick auf die Kiste vor ihr und griff nach einer der Plastikfiguren. Es war ein kleiner Mensch, der in eine altertümliche Metallrüstung gehüllt war und eine große Axt in der Hand hielt. "Spielt man DnD nicht eigentlich mit H...H...Hey! Mit Hey! Ich spiele mit Hey! Zehn von zehn. Würde ich wieder kaufen! Spielt man das nicht eigentlich mit Holo-Figuren?"
Luca lachte auf. "Ja, wenn man reich ist und hunderte Credits für ein komplettes Holo-Board ausgibt, dann vielleicht", prustete er und setzte sich ebenfalls an den Tisch. "Wenn du Bilder zu DnD im Extranet siehst, haben die alle solche Boards aber das ist echt scheiße teuer, also haben wir eben noch Minis. Finde ich aber eh besser, da hat man wenigstens was zum Anfassen." Wie um seine Aussage zu untermauern klopfte er gegen die Kiste, die bis zum Rand mit den bemalten Plastikfiguren gefüllt war und stellte sie neben sich auf den Boden. Er kramte eine kleine Plastiktüte hervor, in der weitere Miniaturen waren. Nach einem Moment des Abwägens zog er eine der Figuren heraus und reichte sie Rebecca. "Hier, für heute kannst du die hier erstmal benutzen. Die anderen haben alle mittlerweile eigene Minis, aber ich wusste ja nicht, was genau du für einen Charakter spielen willst. Ich kann dir zur Not ja irgendwann mal eine eigene Figur ausdrucken, wenn du willst."
"Äh...danke..." Rebecca nahm die kleine Plastikfigur und besah sie sich genauer. Für ihr Laienauge wirkte es wie eine recht gelungene Arbeit. Von der Ästhetik nicht unbedingt nach ihrem Geschmack, aber recht detailliert und nett anzuschauen war sie allemal.
Die Miniatur stellte eine stämmige Frau mit langen braunen Haaren dar, die einen recht grimmigen Gesichtsausdruck hatte. Sie war in eine schwer wirkende Metallrüstung gehüllt und trug einen großen Schild mit sich. Ihre rechte Hand, in der sie eine Art Hammer hielt, war triumphal nach oben gestreckt. Die Darstellung passte durchaus zu dem Charakter, den sich Rebecca ausgedacht hatte, welcher laut ihrem Charakterbogen auch eine schwere Rüstung und einen Schild trug, allerdings keinen Hammer, sondern eine Axt. Doch sie störte sich nicht an dieser belanglosen Abweichung. Tatsächlich mochte sie die Vorstellung, dass das hier ihre Adeleide of Londor darstellte und je länger sie sich die Figur besah, desto besser gefiel sie ihr.
"Eine Hintergrundgeschichte hast du dir nicht ausgedacht?", fragte Luca mit einem Blick auf das Datapad mit Rebeccas Charakterbogen.
"Nein...nicht wirklich", gab Rebecca zu. "Du...äh...du hast ja geschrieben, dass du dir zur Not schon was ausgedacht hast..."
"Jupp, habe ich!", bestätigte ihr Kumpel und seine Augen schienen vor Begeisterung aufzuleuchten. Er öffnete sein Omni-Tool und klickte sich durch verschiedene Ordner, bis er schließlich eine Datei fand, die er sogleich auf Rebeccas Datapad kopierte, bevor er ihr das Gerät zuschob.
Ein wenig skeptisch nahm Rebecca das Pad entgegen und öffnete die Datei. Seit sie vor ein paar Tagen in einem Anflug von verzweifelter Einsamkeit gefragt hatte, ob sie bei der DnD-Runde am Wochenende dabei sein konnte, hatten ihre Freunde ihr eine Vielzahl von Texten zugeschickt, durch die sie sich hatte hindurchbeißen müssen. Das Regelwerk, ein Anfänger-Guide mit Tipps und Tricks, verschiedene Ressourcen für die Charaktererstellung mit allerhand Klassen, Rassen, Fähigkeiten und mehr und nicht zuletzt auch eine Kurzzusammenfassung der Welt, in welcher die Geschichte stattfand. Gefühlt hatte Rebecca genug über das Pen & Paper-Rollenspiel gelesen, um mehrere Romane füllen zu können. Und tatsächlich hatte Luca die Hintergrundgeschichte ihrer Figur in umfassender Prosa niedergeschrieben.
"Ich kann dir auch kurz eine Zusammenfassung geben", meinte Luca mit einem Grinsen, denn er hatte offenbar den leicht erschlagenen Ausdruck auf ihrem Gesicht bemerkt.
"Das wäre...das wäre...das wäre...das wäre...hey! Das wäre Hey! Biene! Fuck off! Das wäre nett..."
"Also...du hast ja vielleicht schon von Amaia gehört, wo wir gerade in der Geschichte sind. Die Gruppe ist im Moment dabei, drei Dämonenfürsten zu jagen, die versuchen ein Höllenportal zu öffnen, um die Welt mit ihren Dämonen zu überrennen. Den Ersten haben sie schon vor eine Weile getötet und in unserer letzten Session haben sie einen weiteren Fürsten besiegt. Jetzt sind sie auf der Suche nach dem Dritten und Letzten, ein Dämon namens Balzagan. Ich habe mir überlegt, dass sie zunächst in der Stadt nach Hinweisen suchen. Und da kommt dein Charakter ins Spiel..."
Rebecca lehnte sich unbewusst und mit wachsender Neugier leicht nach vorne, dabei stützte sie sich mit dem Ellbogen auf den Tisch und schon einen Moment später biss sie in ihre Hand. Ein scharfer Schmerz durchzuckte das Gewebe, als sie ihre Zähne darin vergrub und sie verzog das Gesicht.
Luca fuhr fort. "Ich habe mir überlegt, dass du eine Priesterin eines alten Ordens von Dämonenjägern spielen könntest...Details dazu stehen in dem Dokument...auf jeden Fall will dein Charakter den Dämon ebenso bezwingen, aber aus einem anderen Grund. Und zwar...geht's dir gut?"
Das Ächzen aus ihrer Kehle hatte ihn unterbrochen. "Jaah...alles in Ordnung", gab Rebecca wenig überzeugend zurück und rieb sich den schmerzenden Handrücken.
"Ähm, also, ich habe mir gedacht, dass Adeleide Balzagan schon einmal getroffen hat, als sie zusammen mit Kriegern aus ihrem Orden versucht hat, ihn zu stellen. Dabei wurden ihre Mitstreiter von Balzagan alle getötet und sie selbst konnte nur gerade so selbst davonkommen. Und jetzt sinnt sie auf Rache."
"Klingt gut", kommentierte Amaia anerkennend. "Dann hat sie zumindest einen guten Grund um unserer Gruppe zu helfen."
Rebecca fand nichts an der Prämisse auszusetzen. Es war wohl besser als eine Figur zu spielen, die gar keine Geschichte hatte und sie vertraute dem Urteil ihrer Freunde, immerhin hatte sie selbst ja eh keine Erfahrung mit dem Spiel. "Das ist alles?", wollte sie wissen und klatschte mit ihrer flachen Hand auf den Tisch.
"Ja, nur noch eine Sache", sagte Luca. "Und das ist so ein bisschen ein Geheimnis, was dein Charakter haben könnte, also vielleicht sollte Amaia das nicht unbedingt wissen, außer es macht dir nichts aus."
"Ähm...ist schon in Ordnung...was ist es?"
"Also, ich habe mir überlegt...wir rollenspielen unsere Figuren meistens, also richtig mit Dialogen und allem und ich dachte mir...naja, wenn du mit deinem Tourette immer wahllos Sachen machst oder sagst, dann könnten wir das ja auch in deinen Charakter mit einbauen, nicht?" Der begeisterte Ton in seiner Stimme ließ Rebecca die Stirn runzeln. "Deswegen habe ich mir gedacht, dass dein Charakter einen Pakt mit einem anderen Dämon eingegangen ist, der ihr dabei hilft, Balzagan zu finden. Und im Gegenzug lässt sie ihn in ihren Körper leben, sodass er manchmal von ihr Besitz ergreift. Und deswegen ticct sie!" Er schaute erwartungsvoll in die Runde mit einem Blick, der verriet, dass er seine Idee ziemlich gut fand.
Rebecca starrte den jungen Mann vor ihr einen Moment mit großen Augen an, bevor sie ihren Blick auf auf den Tisch wandte, als ob dort irgendetwas wahnsinnig Spannendes wäre. Doch ihre Aufmerksamkeit galt nicht der Holzmaserung vor ihr. Luca wollte offenbar ihre Tics in seine Geschichte einbauen. Er wollte ihre echten, realen Tics in seine Fantasiewelt einbauen. Und dann auch noch auf diese Weise. Sie sollte so tun, als wäre sie von einem Dämonen besessen? Das war die Erklärung für ihre Tics; ein Dämon, der von ihr Besitz ergriff? Ihr wollte nichts einfallen, was sie darauf entgegnen sollte. Es war so...bizarr.
Eine eigenartige Stille hallte durch den Raum.
"Bist du dir sicher, dass das so eine gute Idee ist?", wollte Amaia von ihm mit skeptischer Miene wissen. Sie verstand offensichtlich sehr genau, wie sich ihre beste Freundin dabei fühlen musste.
Die Reaktion der beiden Frauen schien Luca zu verwirren. "Wieso...ähm...stimmt was nicht damit?"
Es stimmte so einiges nicht damit, doch wie genau sollte sie das sagen? Einen Moment rang Rebecca mit sich, eine Antwort zu geben, doch stattdessen rief sie einfach: "Flamingo! Buuiieeeh!" Und warf ihren Kopf hin und her.
"Ähh...naja, ich dachte, das würde halt ganz gut passen..."
Amaia lehnte sich vor. "Ich glaube, du solltest das nochmal überdenken..."
"Ich meine...man könnte ja noch was daran ändern, wenn du magst", schlug Luca ein wenig halbherzig vor, sichtlich verunsichert von den vorwurfsvollen Blicken der Maori.
Rebecca schaute auf das Datapad vor ihr und malte sich aus, wie ihr Kumpel Stunden damit verbracht hatte, eine Geschichte für ihren Charakter auszudenken und aufzuschreiben. Er hatte sich wirklich gefreut, ihr seine Arbeit präsentieren zu können und dachte wohl aufrichtig, sein Kniff mit ihrem Tourette sei genial gewesen. Und irgendwie war er das auch, nur eben auf eine so...unangenehme Weise.
Mit einem Mal kam alles wieder hoch, ihre Zweifel über den Pen-and-Paper-Abend, ihre Sorge, mit all den Regelwerken und Materialien überfordert zu sein und letztlich auch die Strapazen der Strahlentherapie. Ihre Sicht verschwamm leicht und sie spürte ihren pochenden Herzschlag. Luca hatte ihr wirklich nur einen Gefallen tun wollen. Sie hatten noch nicht mal angefangen zu spielen und Rebecca machte ihren Freunden schon jetzt Probleme. Wie lange es wohl dauern würde, bis sie ihnen den Abend komplett versaute?
"Ach...ist schon in Ordnung", würgte Rebecca hervor und zwang sich zu einem Lächeln. "Meinetwegen können wir das so machen."
"Okay, super, dann...äh...passt das ja..." Ein lautes Klingeln aus dem Flur ertönte und unterbrach die drei Freunde. Sichtlich erleichtert sprang Luca von seinem Platz auf, um die Haustür zu öffnen. "Das sind die anderen, bin sofort wieder da..."
"Bist du dir sicher?", wandte sich Amaia leicht zweifelnd an ihre beste Freundin. "Wir können uns auch immer noch etwas anderes für deinen Charakter ausdenken. Das muss halt echt nicht sein!"
Ein schweres Seufzen entfuhr Rebecca und sie rieb sich die Augen. "Nee, lass gut sein...ich komm schon klar."
"Hmm..." So richtig überzeugte war sie zwar nicht, doch Amaia drängte nicht weiter, denn schon einen Moment später traten die Neuankömmlinge ins Wohnzimmer.
"Wunderschönen guten Abend", begrüßte Andrew gut gelaunt die beiden Frauen am Tisch. Offenbar war er in den vergangenen Tagen beim Friseur gewesen, denn seine lockigen Haare waren ziemlich kurz. Ansonsten trug er wie immer sportliche Kleidung, als ob er gerade einen Marathon gelaufen wäre.
"Hallöchen!" An seiner Seite erschien eine junge Frau etwa im gleichen Alter wie er und winkte ihnen mit einem breiten Lächeln zu. Ihr blasses Gesicht war mit Sommersprossen bedeckt, welche zu ihren langen, roten Haaren passten. Obwohl Rebecca sie noch nie in Person gesehen hatte, erkannte sie Andrews Freundin sofort, immerhin tauchte sie in jedem Zweiten seiner InSync-Posts auf.
"Schön dich auch mal hier zu sehen", meinte Andrew augenzwinkernd an Rebecca gewandt und reichte ihr zur Begrüßung die Hand.
Mit einem nervösen Grinsen griff sie nach der dargebotenen Hand und wie zu erwarten zerquetschte er ihre Finger. "Jaah...ich habe mich irgendwie von Mai breitschlagen lassen..."
"Das ist übrigens Lily", stellte er seine Begleiterin vor und trat einen Schritt zur Seite, um die beiden Frauen gegenseitig vorzustellen. "Lily, Rebecca."
"Hey, freut mich!" Auch sie reichte der jungen Frau die Hand.
Doch anstatt danach zu greifen ruckte Rebeccas Arm in einem seltsamen Winkel nach oben und sie ballte die Faust. "Hey! Heeey!", rief sie mit zusammengekniffenen Augen. "Schau mich an! Ich bin eine Biene! Fuck off!" Sich den irritierten Blicken bewusst, zog sie verlegen den Kopf ein wenig ein.
"Äh...ja, das sind die Tics, von denen ich dir erzählt habe. Es ist...halb so wild, man gewöhnt sich dran", wandte sich Andrew an Lily und versuchte so zu klingen, als ob ihm Rebeccas Tourette nicht ausmachte. Natürlich entsprach es nicht ganz der Wahrheit, denn auch er wirkte noch immer ein wenig verschreckt vom Gebaren der jungen Frau. Noch immer war Amaia die Einzige, welche bei den lautstarken Tics keine Miene verzog, dennoch war Rebecca dankbar, dass Andrew zumindest versuchte, es nicht allzu sehr an die große Glocke zu hängen.
Nachdem sie einen Moment recht erschrocken dreingeblickt hatte, lächelte Lily nun wieder, wenn auch ein wenig verunsichert. "Ahh...okay...naja, es ist auf jeden Fall immer schön, wenn neue Spieler DnD ausprobieren wollen."
Und obwohl sie sich eigentlich zum Pen-and-Paper-Spielen verabredet hatten, verbrachten sie zunächst eine Weile damit, ganz ungezwungen miteinander zu quatschen. Es hatte fast schon etwas von einem gemütlichen Treffen im Harmony, lediglich die Live-Musik fehlte noch. Andrew erzählte eine Anekdote aus seiner Polizeiausbildung, bei der einer seiner Mitbewerber unter großem Gelächter aus einer Vorlesung geworfen wurde, weil er offenbar betrunken erschienen war und sich zudem auch noch im Raum und der Uhrzeit der Veranstaltung geirrt hatte. Dann erzählte Amaia allen von ihrer ersten Woche als Kellnerin im Harmony und hatte in der kurzen Zeit schon ein paar kuriose Geschichten erlebt, die sie mit ihren Freunden teilen wollte. Anschließend musste sich Luca nicht zum ersten Mal Spott anhören, weil er eigentlich für seinen Level-3-Schulabschluss hätte lernen sollen, nun aber stattdessen mit seinen Freunden DnD spielte.
"Was würden deine Eltern nur sagen, wenn sie das wüssten?", feixte Amaia.
Luca zuckte mit den Schultern und grinste dreckig. "Tun sie ja nicht, sie sind das ganze Wochenende nicht da und kommen erst am Dienstag wieder. Außerdem...so schwer können die Prüfungen ja nicht sein..."
Andrew schnaubte belustigt. "Sehen wir ja dann, wenn du am Ende mit gerade mal achtzig Punkten darstehst. In unserem Jahrgang gab es tatsächlich einige, die nicht mal über die hundert gekommen sind."
"Als ob!"
Nach und nach setzten sie sich an den Tisch und Rebecca sah, wie ihre Freunde ihre Sachen auf dem Tisch ausbreiteten. Einmal hatten sie alle ein eigenes Datapad mit ihrem Charakterbogen und anderen Spielmaterialien, sowie eine kleine Miniaturfigur, welche den Charakter darstellte, mit dem sie spielen würden. Luca verteilte die Schalen mit den Snacks und stellte an seinem Platz einen Sichtschutz auf, hinter dem er seine Datapads und Notizen vor den Spielern verstecken konnte. Außerdem nahm sich jeder noch ein Getränk von der Kommode, allesamt alkoholisch. Rebecca war die einzige, die sich mit süßem Fruchtsaft zufrieden gab und wie seit einigen Monaten üblich hatte sie ihre spezielle Trinkflasche dabei, in welche ihr Amaia das Getränk umfüllte.
"Pass auf, dass du deine Flasche nicht in Rebeccas Nähe stellst", warnte Luca Lily mit einem breiten Grinsen. "Das gibt sonst Sauerei."
Die Angesprochene wirkte verdutzt. "Uhm...okay. Wieso?"
Andrew antwortete ihr mit einem Lachen. "Als wir letztes Mal im Harmony waren, hat sie mit einem Tic Lucas Bierglas quer über den Tisch geballert."
Obwohl sie darüber wie über einen harmlosen Spaß sprachen und in ihren Stimmen nicht die Spur eines Vorwurfs war, spürte Rebecca einen leichten Stich in ihrer Brust, als ihre Freunde das Missgeschick erwähnten. Wahrscheinlich sollte sie sich glücklich schätzen, dass sie es mit Humor nahmen und es ihr nicht vorhielten, doch gleichzeitig wäre es ihr lieber gewesen, wenn sie es gar nicht erst ansprechen würden.
"Wollen wir noch auf Simon warten?", fragte Amaia schließlich in die Runde.
Luca checkte seinen Messenger. "Hm...er hat nicht geschrieben, dass er später kommt. Er müsste eigentlich jeden Moment da sein..."
"Simon geht mit Luca zur Schule", erklärte Amaia, als sie den fragenden Ausdruck auf dem Gesicht ihrer besten Freundin bemerkte. "Ist'n Kumpel von ihm und er spielt mit uns."
"Ahh...okay..." Rebecca kaute etwas unruhig auf ihrer Lippe herum. Wenigstens kannte sie drei der fünf Leute, mit denen sie hier am Tisch saß. Das war immerhin mehr als die Hälfte, die ihre Krankheit bereits kannten...
"Er ist schon in Ordnung", meinte ihr Gastgeber mit einem Schulterzucken.
"Meistens", merkte Lily mit einem Grinsen an, doch Rebecca glaubte für einen winzigen Moment einen düsteren Schatten auf dem Gesicht der Rothaarigen zu bemerken.
"Tjaah...meistens...", seufzte Amaia zustimmend. Die beiden Frauen schienen einen kurzen Blick zu wechseln.
Es dauerte nicht lange und die Türklingel läutete erneut. Kaum hatte Luca seinem letzten Gast geöffnet, trat ein drahtiger junger Mann ins Wohnzimmer und begrüßte die Runde mit einem lauten "Heyyooo!" Er trug ein graues T-Shirt und dazu eine modische lange Hose. Seine kurzen schwarzen Haare waren leicht nach oben gegelt und er hatte einen dünnen Bart um sein Kinn, der bei seinem doch sehr jungenhaften Gesicht etwas unpassend wirkte. "Oh, ich wusste nicht, dass ich der Letzte bin! Normalerweise wüssen wir ja immer auf dich warten", grinste er in Amaias Richtung.
"Ha ha, sehr witzig", schnaubte die Maori.
Der Neuankömmling setzte sich auf den letzten freien Platz am Tisch, direkt zu Rebeccas Linken. "Ach, hi!", begrüßte er sie mit einem gewinnenden Lächeln, als er sie bemerkte. "Du bist Rebecca nicht? Amaia hatte ja schon in unserer Gruppe geschrieben, dass du heute auch mitmachen willst. Ich bin Simon..."
Ein Kribbeln in ihrem Nacken kündigte Tics an und Rebecca versuchte sich so sehr sie konnte auf den Mann vor ihr zu konzentrieren. "Ja...äh...hi!" Ihre Hand ballte sich zu einer Faust und sie kniff ihr rechtes Auge zusammen.
Simon musterte sie neugierig von oben bis unten. "Du hast dieses Tourette, richtig?", wollte er direkt wissen. "Also diese Tics, weil das hat Amaia auch erwähnt..."
"Traue ihr nicht! Sie lügt!", brach es aus ihr hervor. Sie senkte verschwörerisch die Stimme, ihre Augen weiteten sich. "Sie ist...sie ist...sie ist...sie ist ein...hey! Sie ist ein Hey!" Plötzlich kniff sie die Augen zusammen und stieß ein lautes "Buuuiieeh!" aus.
Der erschrockene Ausdruck auf Simons Gesicht war der, den sie schon so oft gesehen hatte und der sich noch immer jedes Mal in ihr Gemüt fraß. Einen Moment schien er völlig perplex.
"Tut mir leid", seufzte sie zum unzähligsten Mal. "Das wollte ich nicht. Das ist halt mein Tourette..."
"Ach, halb so wild, wirklich!" Tatsächlich entspannte ihr Gegenüber sich recht schnell und lächelte jetzt wieder. "Ich habe schon mal davon gehört, von deiner Krankheit. Mach dir da mal keine Gedanken, das ist schon okay!"
"Oh..." Mit diesen Worten hatte Rebecca überhaupt nicht gerechnet. Dass jemand schonmal vom Tourette-Syndrom gehört hatte, war bislang noch nie vorgekommen und sie wusste nicht so recht, wie sie reagieren sollte. Doch zu wissen, dass Simon offenbar zumindest eine grobe Vorstellung davon hatte, was in ihrem Körper vorging, hatte etwas eigenartig Befreiendes. "Äh...danke..." Unwillkürlich reckte sie den Kopf grotesk in seine Richtung und starrte ihn unverhohlen an.
"Alles okay?", wollte er bemüht lässig von ihr wissen.
"O-o-o-o...okay! Hey! Du bist hässlich! Du bist h-h-h...du bist...du bist ein Flamingo! Hey! Ich liebe dich!"
Seine Miene schien verschiedene Reaktionen gleichzeitig auszudrücken. Und nicht alle davon wirkten ablehnend. "Ich schätze mal, das heißt 'ja', oder?", meinte er mit einem ermutigenden Lächeln.
Ihr war sehr wohl bewusst, dass die Aufmerksamkeit der gesamten Runde bei ihr und ihren Tics war und Rebecca spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. "Tut es!", gab sie zurück und versuchte ihren Scham mit einem Lächeln zu überspielen. Es kam ihr wenig überzeugend vor.
Mit einem Räuspern machte Luca schließlich auf sich aufmerksam und blickte seine Freunde erwartungsvoll an. Eine kurze angespannte Stille trat ein, als jeder in seine Richtung blickte. "Also dann, wenn ihr alle soweit, können wir anfangen!"