Amaias Zimmer war zwar immer noch gefüllt mit diversem Kram, der einen Teil des Bodens ausfüllte, doch offenbar hatte die Bewohnerin damit angefangen, ein wenig zu entrümpeln. Ob Amaia die Sachen weggeworfen oder einfach in einen anderen Raum gestellt hatte, ließ sich auf den ersten Blick nicht sagen, doch es war auf jeden Fall schon deutlich gemütlicher als beim letzten Mal, dass Rebecca hier gewesen war.
An der Fensterbank und den Wänden fanden sich nun auch wieder ein paar Dekorationen, darunter auch ein paar Stücke, welche Rebecca ihrer Freundin über die Jahre hinweg geschenkt hatte und die nun wieder etwas Farbe in das Zimmer brachten.
Während sie das Durcheinander, das ihre Mutter und ihr Schwiegervater in den letzten Jahren hier hinterlassen hatten, nun nach und nach beseitigte, verbreitete Amaia nun ihrerseits ihre eigene Unordnung im Raum. Hinter der Tür lagen einige Paar Schuhe wild durcheinander, über der Bettkante hingen eine Jogginghose und einige Oberteile, auf dem Schreibtisch stand eine halbleere Wasserflasche und eine Schale mit Essensresten. Offenbar hatte Amaia auch angefangen, ihr Bücherregal wieder einzuräumen, war aber noch nicht fertig geworden und so türmten sich mehrere Bücherstapel im Raum verteilt auf.
Rebecca mochte das. Diese leichte Schmuddeligkeit, die das Gefühl gab, dass hier tatsächlich jemand wohnte, ohne aber in völliges Chaos auszuarten. Es schien, als ob sich Amaia zuhause nun etwas besser zurechtfand.
"Deine Mom war echt nett", stellte sie wie beiläufig fest, während ihre beste Freundin sich auf ihr Bett warf.
"Jaah...manchmal ist sie schon in Ordnung..." Doch die plötzlich Härte in Amaias Blick verriet, dass die Wahrheit deutlich komplizierter war.
"Und...glaubst du, dass ihr euch wieder...vertragen könnt?"
"Keine Ahnung!", gab Amaia ruppig zurück.
"Ich habe wirklich keine Lust jetzt darüber zu reden, okay?"
"Fuck off! Hey! Ich liebe dich!" Rebecca seufzte leicht, doch sie wollte Amaia nicht weiter mit dem Thema belästigen und ließ sich neben ihr auf dem Bett nieder. Um das Thema zu wechseln fragte sie schließlich:
"Also...DnD...wie genau läuft das jetzt ab?"
Amaias Laune besserte sich schlagartig.
"Hast du dir die Links durchgelesen, die ich dir zugeschickt habe?", wollte sie wissen.
Rebecca nickte langsam. Ihre beste Freundin hatte ihr das Regelwerk des Rollenspiels zugeschickt und es war, wie sie ursprünglich befürchtet hatte, ein kleines Buch gewesen. Gelesen hatte sie es, verinnerlicht...nicht unbedingt.
"Um ehrlich zu sein...das war echt ein bisschen viel..."
"Ach, das macht gar nichts!", meinte Amaia leichthin.
"Hier...!" Sie schnappte sich ein Datapad von ihrem Schreibtisch und hielt es Rebecca hin.
"Ich habe dir das Regelwerk nochmal hierdrauf kopiert. Dann kannst du zur Not auch immer was nachschauen. Oder du fragst uns einfach..."
"Okay..." Rebecca nahm das Pad entgegen, fühlte sich aber nicht weniger überfordert mit der Vielzahl an Klauseln und Besonderheiten, welche das Spiel offenbar bereithielt.
"Die meisten Regeln sind am Anfang auch nicht so wichtig und das meiste lernt man eh beim Spielen", versuchte Amaia sie zu beruhigen.
"Viel wichtiger ist ja, was für einen Charakter du spielen möchtest! Also, hast du dir schon was überlegt?"
Obwohl Rebecca noch nie in ihrem Leben Dungeons and Dragons oder irgendein vergleichbares Spiel gespielt hatte, wusste sie zumindest, dass die Figuren, die sich jeder Spieler ausdachte, Dreh- und Angelpunkt des Ganzen waren. Die Idee dahinter, dass man zusammen mit einer Gruppe an Freunden ein Abenteuer erlebte und dabei gegen Schurken und Monster kämpfte, klang ja ganz spannend. Nur fiel es ihr nicht leicht, sich einen Charakter auszudenken, den sie in so einem Abenteuer verkörpern sollte, denn sie war alles andere als vertraut mit klassischen High-Fantasy-Welten, in denen das Spiel stattfand.
"Noch nicht so richtig", gab sie zu.
"Halb so wild, wir können deinen Charakter ja zusammen machen." Voller Elan nahm Amaia ihrer Freundin das Datapad wieder aus den Händen und aktivierte es. Sie klickte ein paar mal hin und her und öffnete schließlich eine Datei, welche sich als sehr kompliziert anmutenden Steckbrief auf dem Holo-Display präsentierte.
"Das hier ist dein Charakterbogen, den wirst du nachher noch brauchen. Vielleicht fangen wir zuerst mit der Klasse an...was willst du spielen?"
"Ähm..." Zwar hatte Rebecca verstanden, dass es unterschiedliche Klassen mit jeweils einzigartigen Fähigkeiten gab, aber sie konnte sich trotzdem nur wenig unter den Bezeichnungen der unterschiedlichen Klassen vorstellen. Klar, ein Kämpfer war wahrscheinlich jemand, der mit Waffen kämpfen würde und Schaden austeilte, aber Wörter wie '
Paladin' oder '
Schurke' ließen sie in erster Linie mit Fragezeichen zurück.
"Vielleicht irgendwas, das...das...d-d-das. Das! Was? Das! Fuck off! Irgendwas, das...anderen hilft? Also, so was Unterstützendes..."
"Hm...du könntest auf jeden Fall Kleriker nehmen...oder Barde, wobei Barden als Klassen echt ziemlich scheiße sind! Waren sie wohl schon immer, seit den ersten Editionen..."
"Äh...ja, dann vielleicht Kleriker. Hey! Ich liebe Kleriker! Das sind meine liebsten...meine liebsten...meine liebsten Vögel!"
"Ist glaube ich auch ganz gut zum Einstieg", sagte Amaia ermutigend und trug auf dem Charakterbogen als Klasse '
Kleriker' ein.
"Okay...und deine Rasse?"
Rebeccas Kopf ruckte plötzlich nach vorne und sie kniff die Augen zusammen.
"Flamingo! Flamingo, oh oh oh-woah!"
"Ich glaube es gibt in dem Spiel keine Flamingo-Rasse", lachte Amaia.
"Oh...schade..." Grinsend rieb sich Rebecca den schmerzenden Nacken.
"Naja, ich hab mir die Liste mit den Rassen schonmal angeschaut, aber ich kann mit den meisten nichts anfangen...ich meine, was ist denn ein Ork?"
"Naja ein Ork eben. Du weißt doch, so richtig große Brutalos, total stark und zäh und so", erklärte Amaia und untermalte die Beschreibung mit ausladenden Bewegungen ihrer Arme.
"Ein bisschen wie Kroganer...nur etwas kleiner und hässlicher."
"Hm...okay..."
"Denk einfach an die Uruk-Hai aus Herr der Ringe!"
Rebecca blinzelte verwirrt.
"Die was aus was?"
"Na...Herr der Ringe?"
Sie konnte nicht anders, als den Blick ihrer Freundin ein wenig hilflos zu erwidern.
"Äh...ist das ein Film?"
Nun weiteten sich Amaias Augen und sie ließ entgeistert ihre Arme sinken.
"Sag bloß...du kennst nicht die Herr der Ringe-Filme?"
In Rebeccas Verstand regte sich etwas. Doch, den Titel hatte sie tatsächlich schon einmal gehört.
"Warte! Die kamen doch vor zehn Jahren raus, nicht?" Und noch ein Detail über die Filme kam ihr wieder ins Gedächtnis: Social-Media-Shitstorms.
"Aber die waren doch total schlecht, oder?"
"Oh ja, die waren wirklich schlecht", bestätigte Amaia nachdrücklich.
"Aber die meine ich gar nicht, das waren ja nur Remakes. Ich meine die Original-Filme. Sag mir nicht, dass du noch nie davon gehört hast!"
"Ähm...ne, nicht wirklich. Sorry!"
"Ich glaube das gerade nicht!" Es war gar nicht so leicht zu sagen, ob das Entsetzen in Amaias Stimme gespielt war oder echt. Vielleicht ein wenig von beidem.
"Wie kann das sein, dass wir uns seit über fünfzehn Jahren kennen und du noch nie Herr der Ringe geschaut hast?"
"Weiß ich doch nicht", lachte Rebecca über die Reaktion ihrer Freundin auf diese Enthüllung.
"Das ist doch Allgemeinbildung! Ich meine, die Filme sind Weltklasse. Auch heute noch!" Nun war deutlich zu erkennen, dass Amaia ihre beste Freundin ein wenig aufzog und auf ihrer Unkenntnis herumritt.
"Vor allem als Neuseeländerin musst du das doch kennen, die wurden immerhin hier bei uns gedreht!"
"Als ob du alle Filme kennst, die irgendwann mal in Neuseeland gedreht wurden."
"Tue ich gar nicht, nur die wirklich Guten", gab Amaia verschmitzt zurück.
"Mal im Ernst, das müssen wir unbedingt nachholen. Da wirst du dich nicht rausreden können!"
Rebecca grinste breit.
"Wusste gar nicht, dass dir das so wichtig ist. Wichtig! Wichtig! Das ist wichtig! Wirklich w-w-w...fuck off! Ich habe einen Tumor!"
Die Rasse für Rebeccas Charakter auszuwählen gestaltete sich schon etwas schwieriger, als die Klasse. Amaia erzählte ihr, dass sie mit ihrer Gruppe die aktuellste Version von Dungeons and Dragons spielte, die Galaxy-Edition, und ihr standen damit nicht nur eine ganz Reihe von exotischen Fantasy-Rassen zur Auswahl, Spieler konnten auch in die Rolle der verschiedenen Alien-Spezies schlüpfen, welche Teil der galaktischen Gemeinschaft waren. Einen Moment lang fand Rebecca die Vorstellung recht witzig, eine einfältige Kroganerin zu spielen, entschied sich dann aber doch schlicht für einen Menschen.
Als nächstes musste sie ihre Charakterwerte auswürfeln.
"Die bestimmen sozusagen, was dein Charakter gut kann und was nicht", erklärte Amaia.
"Wenn dein Wert bei Intelligenz zum Beispiel sehr niedrig ist, dann ist dein Charakter eben auch ziemlich dumm. Oder wenn du einen hohen Geschicklichkeitswert hast, bist du sehr flink und agil."
Rebecca war froh, dass ihre Freundin ihr mit all dem unter die Arme griff. Es war eigentlich nicht übermäßig kompliziert, aber ohne Hilfe hätte sie sicherlich die Hälfte aller Schritte vergessen. So musste sie etwa ihre Attributswerte auswürfeln und dann in ihren Charakterbogen eintragen, doch sie bekam noch Boni von ihrer Rasse dazu und konnte dann auch noch optionale Attributssteigerungen auswählen. Und an der Stelle hörte es nicht auf.
Sie bekam außerdem Fähigkeiten, Trefferwürfel, Ausrüstung, musste eine Unterklasse auswählen und konnte dann aus einer endlos langen Liste aus Zaubersprüchen auswählen, die ihr Charakter sprechen können würde. Ja, Rebecca hatte sich das Regelwerk durchgelesen, doch das half ihr bei ihrer Auswahl nur bedingt. Woher sollte sie denn wissen, ob
'Mit Toten sprechen' jetzt ein besserer Zauber war als
'Magie bannen'? Letztlich machte sie einfach das, was ihr Amaia riet und so nahm ihr Charakterbogen nach und nach Gestalt an.
Zuletzt musste sie sich auch noch einen Namen für ihre Figur überlegen. Zwar kamen von Amaia dafür auch ein paar Vorschläge, doch Rebecca wollte sich nicht mit doch eher willkürlich klingenden Fantasynamen wie
'Leora' oder
'Rhea' zufriedengeben. Bislang hatte sie bei der Erstellung ihres Charakters eigentlich nur abgenickt, was Amaia ihr geraten hatte, doch hier hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, wirklich eine eigene Entscheidung treffen zu können. Sie überlegte eine Weile hin und her und schaute sich Namenslisten im Extranet durch, bis ihr schließlich ein Name in den Sinn kam, der ihr gefiel.
"Ich glaube ich nehme...Adeleide of Londor. Findest du der geht?"
"Klingt fast schon adelig", grinste Amaia, doch ihr schien der Vorschlag zu gefallen.
"Passt eigentlich ganz gut zu unserer Gruppe."
"Wieso? Wie heißt denn dein Charakter?"
"Nix."
Die Zeit verging wie im Flug und ehe sich die beiden versahen, war schon eine halbe Stunde rum. Obwohl sich Rebecca die meiste Zeit über völlig überfordert fühlte und nicht genau wusste, was sie eigentlich machte, als sie Einträge wie
'Göttliche Macht fokussieren' in ihrem Bogen hinzufügte, hatte sie überraschend viel Spaß dabei. Das lag vor allem an der Begeisterung, mit der Amaia ihr versuchte das Spiel zu erklären und Fragen beantwortete. Die junge Maori war völlig aus dem Häuschen, dass ihre beste Freundin nach so vielen Jahren endlich auch mal das Hobby ausprobieren wollte, das ihr selbst so viel Freude bereitete. Und es war ansteckend.
Eigentlich konnte Rebecca nicht so viel mit Spielen anfangen, in denen man Unmengen an Zahlenwerten und Statuseffekten umherjonglieren musste und auch das Fantasy-Setting des Spiels sprach sie nicht sonderlich an. Trotzdem war sie ein wenig neugierig geworden. Wenn sie sich nicht die ganze Zeit total ausgezehrt und benebelt fühlen würde, hätte sie vermutlich auch dem Regelwerk mit etwas mehr Aufmerksamkeit folgen können.
Als der Charakterbogen letztlich ausgefüllt war, sagte Amaia:
"Eigentlich könntest du dir jetzt auch noch eine Hintergrundgeschichte für deinen Charakter ausdenken. Also, wer ist deine Figur und woher kommt sie und so weiter. Das ist immer ganz nützlich, weil sich der Spielleiter dann überlegen kann, wie er dich besser in die Geschichte involvieren kann."
Darauf konnte Rebecca nicht sofort reagieren, da sie damit beschäftigt war, mit zusammengekniffenen Augen die Laute eines aufgeregten Hundes nachzuahmen.
"Aber Luca hat ja schon geschrieben, dass er sich zur Not schon etwas überlegt hat, falls du dir da nicht sicher bist", fuhr Amaia mit einem Blick auf die Uhr fort.
"Wir könnten also schon los und den Rest dann noch mit Luca klären, wenn du willst."
Rebecca war dankbar für das Angebot. Sich ihren Charakter auszudenken und vor allem für das Spiel vorzubereiten hatte schon einiges an Zeit gebraucht und ihr Kopf rauchte mittlerweile doch etwas. Da die Gruppe sich bei Luca zuhause treffen wollte, mussten sie noch ein Stück laufen.
"Meinetwegen können wir schon los", stellte sie fest, steckte das Datapad ein und erhob sich von Amaias Bett. Augenblicklich begann das Zimmer um sie herum zu verschwimmen und wirre Farbschlieren erschienen vor ihren Augen. Reflexartig hielt sie sich an der Schreibtischplatte fest, als sie ins Wanken kam.
Auch Amaia bemerkte es.
"Alles okay bei dir?"
"Äh...jaah, schon gut", winkte Rebecca ab und der Schwindel ließ nach ein paar Sekunden schon wieder nach.
"Noch von der Strahlenbehandlung?"
Rebeccas Antwort war ein leichtes Nicken, welches plötzlich in ein unkontrolliertes Zucken ihres Halses überging.
Amaia erhob sich ebenfalls.
"Hey, wenn's dir zwischendurch mal nicht gut geht und du eine Pause brauchst, musst du nur Bescheid sagen, okay?"
"Alles klar..."
"Und wenn du irgendwann man nicht mehr mitkommst, weil wir nur noch wie Nerds reden, dann lass uns das auch wissen."
Bei diesen Worten lachte Rebecca auf.
"Werde ich mit Sicherheit machen."