Ich war, nein, ich bin immer noch Kaufmann mit Sitz im Oberen Viertel von Khorinis. Über die Jahre habe ich einiges mitgemacht und miterlebt. Meine Karriere begann noch vor der Errichtung der magischen Barriere und dauert auch noch lange nach ihrem Fall an. Ich habe Könige kommen und gehen sehen, sah die Orks Städte belagern und Soldaten sich zum Kampf rüsten. Ich habe die goldenen Zeiten der Hafenstadt Khorinis miterlebt, den blühenden Handel und den regen Schiffsverkehr, aber ebenso habe ich auch den Niedergang der einst florierenden Märkte beobachten können, die Einstellung fast aller Handelsrouten und den Bankrott zahlreicher Konkurrenten und Kollegen. Ich habe mich durch alle Krisen immer irgendwie hindurch geschmuggelt, habe mich unter Schicksalsschlägen hinweg geduckt und bin durch jede offene Tür gegangen, die sich mir bot, und wenn ich mich dafür durch einen auch noch so kleinen Spalt zwängen musste. Diese Fähigkeiten haben mir unter Neidern wie Bewunderern einen nicht gerade schmeichelhaften Spitznamen eingebracht, den ich hier aber nicht erwähnen möchte, denn er tut nichts zur Sache. Was zählt, ist, dass mein Geschäft noch steht und ich noch hier bin. Noch.
Ich muss wohl zugeben, dass es in meinem Leben für lange Zeit stetig bergauf ging, aber das heißt nicht, dass es immer einfach war. Im Gegensatz zu den allermeisten meiner Bundsbrüder aus der Kaufmannsgilde Araxos musste ich mir alles, meinen gesamten Erfolg, selbst erarbeiten. Wenn ich das erzähle, ernte ich häufig Widerspruch aus den Reihen der Geschäftsleute, und jeder von ihnen fängt an zu betonen, wie sehr er sich doch auch abgearbeitet habe für seinen Wohlstand, und dass er nur aus diesem Grunde nun dort sei, wo er jetzt eben sei, ganz oben auf der Karriereleiter nämlich. Und das stimmt auch: Sie alle arbeiten viel, jedenfalls fast alle, und hätten sie nicht Fleiß und Geschäftssinn in formidabler Weise miteinander zu verbinden gewusst, sie hätten es in der Tat nie zu etwas gebracht. Es gibt aber einen Unterschied zwischen mir, der einst als Niemand gestartet ist, und den anderen Geschäftsleuten, die üblicherweise aus hohem und wohlhabendem Hause stammen: Sie wurden bereits weiter oben auf den Sprossen der Karriereleiter geboren und haben von da an weitergearbeitet, während ich die Stufen vom Boden an erklimmen musste. Das ist es, was sie oft vergessen, wenn sie über ihren Aufstieg in der Händlergilde fabulieren.
Meine ersten unternehmerischen Schritte tat ich im Hafenviertel von Khorinis. Damals war es zwar noch nicht so verrufen und heruntergekommen wie heute, aber gleichwohl waren die Sitten rau und der Lebensweg seiner Bewohner im Grunde vorgezeichnet. Wer hier davon erzählte, dass er mal etwas werden wollte, dem prügelten sie die Flausen gleich wieder aus dem Kopf. Denn alle waren der Meinung, dass das bloß Tagträume waren – geschaffen, um dem eigenen Elend mal für ein paar Momente zu entfliehen, aber doch nichts, was sich ernsthaft zu verfolgen lohnte. Im Prinzip teilte ich diese Haltung, sie war mir ja schon von Kindesbeinen an eingebläut worden. Ich wurde nicht Kaufmann, weil ich reich werden wollte, sondern ich wurde Kaufmann, weil ich nicht mehr arm sein wollte. Das ist ein Unterschied und auch etwas, was meine Gildengenossen häufig nicht verstehen. Wenn sie davon sprechen, für etwas kein Geld zu haben oder gar zu arm zu sein, dann tun sie das meist im Zusammenhang mit einer anstehenden Investition oder Umstrukturierung ihres Geschäfts. Der Satz „Ich habe kein Geld“ bedeutet dann, dass der unternehmenseigene Fuhrpark erst im nächsten Quartal um die angedachten zwei Kutschen erweitert werden kann oder dass der Anbau am eigenen Anwesen bis zum Neujahr warten muss. Im Hafenviertel hingegen, heutzutage vermutlich noch mehr als damals, bedeutet der Satz „Ich habe kein Geld“, dass man am Morgen nicht weiß, wie man sich am Abend etwas zu essen leisten soll.
So ging es einst auch mir als junger Mann, nein, eigentlich noch als Junge, muss man sagen. Kaufen und Verkaufen, Verleihen und Vermieten, Inpfandnahme und dergleichen: Das war für mich kein Spiel im Kaufmannsladen, keine Träumerei, sondern es war schlicht die aus der Not geborene Möglichkeit, mir genug Gold für etwas zu beißen zu verdienen. Ich hatte keine reichen Eltern, die mir aushalfen, die mich in die Geheimnisse des Geschäftslebens einweihten oder mich als ihren Nachfolger im familieneigenen Unternehmen platzierten. Zu dem Zeitpunkt, als ich meine Karriere begann, hatte ich nicht einmal arme Eltern, denn sie beide waren da schon tot, beide von unterschiedlichen, nicht näher bestimmten Krankheiten dahingerafft, meine Mutter noch dazu in einem langen, quälenden Siechtum. Einen richtigen Arzt hatten beide nie gesehen, so etwas gab es im Hafenviertel nicht, nur selbsternannte Heiler, die ihr Schlimmstes taten, und oft genug half es nicht oder versetzte den Kranken überhaupt erst den Todesstoß. Was sie im Hafenviertel allerdings hatten, heute nicht mehr, das war ein Waisenhaus, und in das steckte mich die Ordnungswacht hinein, die damals noch hauptamtlich tätig war und nicht nur aus ein paar zusammengewürfelten Milizionären bestand, die ihren Eintritt in die Stadtwache als Schnapsidee gefasst und mit Kater am nächsten Morgen offiziell erklärt hatten. Im Waisenhaus sollte ich geschützt vor den Versuchungen des Hafenviertels aufwachsen, aber in Wahrheit machte ich dort erst mit den vielen kleinen Teufeln und Taugenichtsen Bekanntschaft, die mir einen liederlichen Lebensstil schmackhaft machen wollten. Mich hielt es dort kein ganzes Jahr, bis ich mich mit dieser bestimmten Art von Souveränität, die man als kleiner Junge entwickelt und die bisher noch jedem Mann im Laufe seiner Adoleszenz irgendwann verlustig gegangen ist, selbst von dort entließ. Mit den Erfahrungen aus zehn Monaten inmitten wechselnder Gesellschaften voll komplizierter, aber auch talentierter Persönlichkeiten, wandelte ich wieder in Freiheit, ohne feste Behausung, mit nur drei Goldmünzen in der Tasche. Auf das Glück warten war keine Option, ich musste handeln, und bei Innos, das tat ich, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
Weil der Wunsch nach Wohlstand und Reichtum mir so fern wie fremd war, setzte ich mir kleine Ziele, die meist in Mahlzeiten umzurechnen waren: Eine Mahlzeit pro Woche, zwei Mahlzeiten pro Woche, drei Mahlzeiten pro Woche … und als meine kleinen Handelsgeschäfte so gut liefen, dass ich mir sogar jeden Tag eine kleine Mahlzeit leisten konnte, war das nächste Ziel, einen eigenen Marktstand zu kaufen oder wenigstens zu pachten. Auf eine eigene Hütte oder gar ein eigenes Haus sparte ich da noch lange nicht, denn es war Sommer, und das Klima in Khorinis war beständig genug, dass man die meisten Monate im Jahr problemlos im Freien schlafen konnte. Ich nächtigte jeden Abend an der gleichen Stelle am Kai, möglichst nah am Wasser, damit das Rauschen des Meeres das Gegröle der Trunkenbolde übertönte. Mein Hab und Gut hielt ich mir in einem kleinen Bündel, auf das ich zum Schlafen meinen Kopf bettete, nicht einmal aus Bequemlichkeit, sondern damit es mir keiner zu stehlen wagte. In all den Monaten, die ich am Hafen kampierte, hatte es niemand geschafft, mich zu beklauen, allein ein einziger Gesell war nah genug am Erfolg dran, dass es mich aus dem Schlaf und auf die Beine riss, doch ich verfolgte ihn, holte ihn ein und stellte ihn. Dieser Bursche wurde später mein erster fester Mitarbeiter, und noch heute schlägt es mir aufs Gemüt, wenn ich an ihn denke, denn vor bald einem Jahrzehnt war es, als mich die traurige Pflicht ereilte, ihn zu Grabe tragen zu müssen.
Es dauerte nicht lange, da hatte ich meinen ersten eigenen Marktstand gepachtet. Er bot ein Sammelsurium an Waren, zumeist haltbare Lebensmittel, dank guter Kontakte zu den Fischern am Hafen aber auch bald frischen Fisch, zudem eine kleine Auswahl an Messern, Löffeln und Gabeln, Essgeschirr aus Holz und außerdem allerei Kurzwaren, die mir die Khoriner Frauen geradezu aus den Händen rissen und die alsbald den größten und begehrtesten Posten in meinem Sortiment darstellen sollten. Der Einstieg in den Markt fiel mir nicht leicht, denn damals, es war die frühe Blütezeit des Khorinischen Handels, gab es Mitbewerber zuhauf, und niemand von ihnen hatte ein Interesse an noch mehr Konkurrenten. Es bedeutete viel Arbeit für mich, aber bald kannte ich jeden Händler von nah und fern beim Namen, inklusive seines Sortiments und seiner Preise, wusste wann die Schiffe ein- und ausliefen, spekulierte erfolgreich auch auf deren Warenangebot und die zugehörigen Preise und hatte am Ende einen Überblick über den Khorinischen Markt wie sonst kein Zweiter. Das erlaubte es mir, die Waren möglichst günstig einzukaufen und dann meine Konkurrenten stets um einen Hauch zu unterbieten. Ich schlief in dieser Zeit sehr wenig und machte so gut wie niemals Pause, denn früh morgens wartete ich als erster am Kai auf die Handelsschiffe, am Vormittag bediente ich die ersten Kunden, am Mittag machte ich Besorgungen auf den örtlichen Märkten, sodass vom Nachmittag an die Verkäufe weitergehen konnten, und abends nach Geschäftsschluss sortierte ich meine Bilanzen, analysierte die neuesten Preisschwankungen und machte Einkaufspläne für den nächsten Tag. Es waren Monate wie im Rausch, in denen ich mich selbst einspannte wie einen Ackergaul und mindestens ebenso hart und unnachgiebig schuftete, und diese Monate sollten sich auszahlen.

Es kam nämlich der Tag, an dem mich die Kunde darüber erreichte, dass am Rande der Unterstadt, im Grenzgebiet zum Hafenviertel, ein kleines Handelshaus frei geworden war. Der ehemalige Eigentümer, ein Schuster ohne Frau und Kinder, war plötzlich verstorben, und am Folgetag schon sollte die Auktion über sein Grundstück samt Geschäftsinventar stattfinden. Mit Preisen für unbewegliche Güter kannte ich mich nicht allzu gut aus, aber ich überschlug im Kopf, was ich wusste, und kam zu dem Schluss, dass es für mich ganz knapp reichen, aber auch ganz knapp nicht reichen könnte. Dennoch: Dabeisein ist alles, dieser Satz gilt bis heute, und deshalb ließ ich am nächsten Vormittag schweren Herzens mein Geschäft am Marktstand im Hafen ruhen, um an der Versteigerung teilzunehmen. Inmitten der alteingesessenen Pfeffersäcke und neureichen Emporkömmlinge, die sich ums Stehpodest am Galgenplatz versammelt hatten, musste ich wie ein ausgerissener Waisenjunge ausgesehen habe, und bei Innos, das war ich auch, und sie sollten ruhig weiter glauben, dass weiter nichts in mir steckte. Es gab Gelegenheiten, da war es häufig besser, unterschätzt zu werden, oder jedenfalls schadete es nichts, und eine Versteigerung war eine solche Gelegenheit, zumindest wenn man zu den Mitbietenden gehörte. Das Startgebot war viel niedriger angesetzt als von mir gedacht, und so witterte ich Morgenluft, die aber bald verflog, als klar wurde, dass einige der hier versammelten Geschäftsleute es durchaus ernst meinten mit ihrem Vorhaben, die alte Schusterklitsche zu erstehen. Gebot fiel um Gebot, der Preis kletterte erst rasch, dann langsamer in die Höhe. Am Ende waren es zwei der jüngeren Kaufmänner, die sich ein Duell lieferten, wobei dies immer schleppender voranging, denn vor und nach jedem Gebot berieten sie sich intensiv mit ihren Buchhaltern, wovon der eine von ihnen gleich zwei an der Zahl mit dabei hatte. Zu diesem Zeitpunkt war meine finanzielle Leistungsfähigkeit auch schon längst überschritten, nicht dramatisch zwar, aber dennoch deutlich, und selbst ein Gesamtverkauf meines gesamten Warensortiments hätte diese Lücke nicht schließen können. Indes: Irgendetwas sagte mir, dass ich jetzt, gerade jetzt nicht aufgeben durfte. Das freigewordene Ladengeschäft des Schusters war vielleicht keine einmalige, wohl aber eine günstige Gelegenheit, und bis dato hatte ich noch jede Gelegenheit zu nutzen gewusst. Damit das so blieb, musste ich jetzt schnell sein, denn nach dem letzten Gebot des einen Kaufmanns war nun wieder der Emporkömmling mit den zwei Buchhaltern am Zug, aber die Sorgenfalten der gelehrten Männer zeigten, dass sie nicht mehr allzu weit gehen konnten und dass das Ende der Fahnenstange bald erreicht sein würde. Ich wartete noch ein kleines bisschen ihr Getuschel ab, und es lohnte sich, denn ich schnappte beim Belauschen auf, was ihre absolute Ober- und Schmerzgrenze beim Bieten sein sollte. Mit dieser Information konnte ich nun runter ins Hafenviertel rennen, wobei mir einige der anwesenden Zuschauer verblüfft hinterherschauten.
Es dauerte nicht lange, da war ich bei Lehmar, dem Geldverleiher, angekommen, der sich am Rande des Hafenviertels eingenistet hatte. Draußen vor seinem Haus stand ein junger Glatzkopf, rauchend, er schien mir im Vorbeilaufen etwas sagen zu wollen, aber ich war zu schnell für ihn. Als ich in Lehmars Haus hineinpolterte, saß der Geldverleiher gerade in seinem Sessel und tat offensichtlich nichts, schaute dann aber trotzdem mit einer Miene auf, als habe man ihn gerade bei etwas sehr Wichtigem gestört.
„Was ist?“
„Ich brauche Geld“, sagte ich etwas atemlos.
„Das brauchen sie alle. Warum sollte ich es dir geben?“
„Weil du der Geldverleiher bist.“
„Gut erkannt. Wie viel willst du und wie gedenkst du mir die Summe zurückzuzahlen?“
„Ich habe nur wenig Zeit“, versuchte ich ihm zu vermitteln und erklärte dann in aller Kürze die Situation, und am Ende nannte ich ihm den Betrag. Lehmar machte große Augen, glaubte wohl, sich verhört zu haben, aber dann ging er darauf ein und nannte mir Kondition um Kondition, erklärte mir, dass das nur unter verschärften Bedingungen ginge, es sei immerhin ein Risikogeschäft, und in der Eile sagte ich zu allem Ja und Amen. Rückblickend gesehen hätte ich lieber kurz innegehalten, denn die Konditionen und vor allem die Zinsen waren geradezu unverschämt, aber in meinem Eifer gebot ich allen in meinem Bauch rumorenden Zweifeln Schweigen und unterzeichnete den Vertrag.
„Und glaub ja nicht, dass du es dir erlauben kannst, nicht zurückzuzahlen“, knurrte Lehmar, während ich die Schreibfeder über den Kontrakt flitzen ließ. „Meldor draußen hast du gesehen, ja?“
Ich setzte einen letzten Punkt und gab Lehmar Federkiel und Papier zurück. „Den Glatzkopf?“, fragte ich. „Ja.“
„Wenn du nicht zahlst, dann macht der Kleinholz aus dir. Verstanden?“
„Habe ich verstanden“, sagte ich und machte mich dann mit zwei prall gefüllten Lederbeuteln in den Händen auf den Rückweg. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, als ich mich Schritt für Schritt in die Unterstadt hochhetzte, dabei jede Menge Staub aufwirbelte und beinahe vor den Augen eines Stadtwächters eine ältere Frau umrannte, aber Innos sei Dank schaute die Wache im Moment des Zusammenstoßes zufällig weg. Noch bevor ich den Galgenplatz erreicht hatte, hörte ich schon die Stimme des Auktionators erschallen.
„Niemand mehr? Zum Ersten …“
Meine plattgelaufenen Füße knallten geradezu auf den Pflastersteinen.
„Zum Zweiten …“
Ich blieb an einem abgelegten Koffer hängen und verlor fast das Gleichgewicht, meine beiden Geldbeutel fest in den Händen stolperte ich auf das Zentrum des Platzes, ein paar der Leute wichen irritiert zur Seite.
„Zum Dritten …“
„Moment!“, rief ich nun und blieb keuchend vor dem Podest des Auktionators stehen. „Ich habe noch ein Gebot!“
Nun richteten sich alle Augen auf mich, und der Auktionator schaute auf mich herab wie auf einen lästigen Weinfleck, den er gerade in einem kostbaren Teppich entdeckt hatte.
Du?“, fragte er. „Du willst überbieten? Du bist doch fast noch ein Kind.“
Als ich ihm dann mein Gebot nannte, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. Kurzfristig kam mir der Gedanke, dass sich die Gebotssteigerungen während meiner Abwesenheit doch langsamer entwickelt hatten als von mir vermutet und ich somit mit meiner Summe deutlich über dem bisher letzten Gebot lag, aber das war mir jetzt auch egal. Ich hatte nur diesen einen Schuss – und der musste sitzen.
„Kann vielleicht jemand den Witzbold aus der Versammlung hier entfernen?“, erschallte es hinter mir. Es war der junge Kaufmann mit dem Buchhalter an seiner Seite, und er zog ein Gesicht, als hätte er gerade in eine unreife Waldbeere gebissen. Ich bedachte ihm mit einem nichtssagenden Blick und wandte mich dann wieder dem Auktionator zu. „Mein Gebot steht“, bekräftigte ich.
Der Auktionator hielt sich am Pult fest und beugte sich zu mir herunter.
„Junge, wenn du hier Unsinn machst und am Ende nicht zahlen kannst, dann Gnade dir Innos. Das hier ist eine ernsthafte Auktion und keine Spielerei.“
„Sehe ich auch so“, sagte ich und hob die Geldbeutel an meinen Händen hoch, so als präsentierte ich einem König zwei abgeschlagene Drachenköpfe. „Ich habe hier bares Gold dabei und habe außerdem noch weitere Vermögenswerte einzubringen. Hier in der Unterstadt mag das bisher niemanden interessiert haben, aber im Hafenviertel habe ich mir einen Namen gemacht. Ich bin kein Niemand. Und ich scherze nicht.“
Getuschel unter den Umstehenden, vereinzelt auch Gelächter. Der andere junge Kaufmann verließ nach kurzer Beratung mit seinen Angestellten den Platz, lediglich einer der beiden Buchhalter blieb zurück. Ich konnte nur hoffen, dass der Mitbieter nun nicht auch noch säckeweise Gold herankarrte um mich doch noch zu überbieten.
Dann spürte ich jemanden neben mir aus der Menge hervortreten. „Was der Junge sagt, stimmt. Ich kenne natürlich nicht seine Vermögensverhältnisse im Detail, aber es stimmt, dass er sich im Hafenviertel einen Namen gemacht hat. Und jeder, der mit offenen Augen über die Märkte geht, auch hier in der Unterstadt und auf dem Marktplatz, muss ihn schon einmal gesehen haben. Ich kenne keinen, der so hart arbeitet wie er. Und eine ehrliche Haut ist er auch.“
Nun waren alle Augenpaare, inklusive meines, auf den alten Mann gerichtet, der sich zu Wort gemeldet hatte. Natürlich kannte ich ihn. Er war ein alteingesessener Händler aus dem Hafenviertel, vermutlich der am längsten aktive. Zu meiner Anfangszeit, als ich mein Handelsgeschäft überhaupt erst auf Trab bringen musste, hatte er mir immer einige seiner überzähligen Waren verkauft, die ich dann weiterverkaufen konnte. Große Ambitionen hegte dieser Mann nicht mehr, er war mit seinem Handel nie reich geworden, aber eben auch nie arm, und das konnten längst nicht alle Kaufmannsleute von sich behaupten. Hier auf der Auktion präsentierte er sich wohl nur aus Gewohnheit und Neugier.
Aus der Menge der Umstehenden brach sich nun zustimmendes Gemurmel hervor. So wankelmütig ist die Gunst des Volkes – aber in diesem Moment war mir das nur recht. Der Auktionator überlegte einen Moment und stellte dem alten Händler noch ein paar Nachfragen, dann nickte er und wandte sich wieder an die Allgemeinheit.
„Gut, ich erkenne das Gebot an! Bietet jemand mehr?“
Stille kehrte auf dem Platz ein. Ich kann mich noch heute genau an diesen Moment erinnern. Die Anspannung riss mich förmlich auseinander, in meinem Bauch, der mir bisher immer so viele Entscheidungen diktiert hatte, brodelte es vor Aufregung wie Lava. Der junge Kaufmann links von mir redete zischelnd auf seinen Buchhalter ein, der sehr leise sprach und dabei immer wieder abwehrend die Hände hob. Der abgestellte Buchhalter der anderen Partei, rechts von mir, war hingegen ganz ruhig und schaute konzentriert zum Auktionator hinauf.
„Zum Ersten …“
Das Zischeln links neben mir wurde lauter.
„Zum Zweiten …“
Die Welt verschwamm für einen Augenblick vor meinen Augen.
„Zum Dritten …“
Meine Kehle fühlte sich ganz trocken an, ich hatte den ganzen Tag lang noch nichts getrunken, wie mir jetzt auffiel.
„Verkauft an den jungen Mann mit den zwei prall gefüllten Geldbeuteln!“
Ein einzelner Jubelschrei gellte über den gesamten Platz. Man erzählt sich, dass man das Echo bis heute noch immer leise hören kann, wenn man ganz still ist und aufmerksam lauscht.

Die folgende Zeit war sicherlich eine der anstrengendsten, aber auch aufregendsten meines gesamten Lebens. Mit dem Erwerb der alten Schusterklitsche eröffneten sich mir zahlreiche neue Möglichkeiten, aber auch viele neue kleinere und größere Baustellen, um die ich mich gleichzeitig zu kümmern hatte, und sie alle waren strikt geschäftlicher Natur. Die wenigen privaten Vorteile, die der Kauf mir bot – zum Beispiel eine feste Bleibe und in der Nacht ein Dach über dem Kopf – konnte ich kaum wahrnehmen, denn während ich vorher in meiner Zeit im Hafen schon wenig geschlafen hatte, tat ich es jetzt tageweise gar nicht mehr, weil es so viel zu organisieren gab. Dabei beschäftigte ich mich nicht einmal mit Nebensächlichkeiten wie dem Umbau des Verkaufsraums, denn für solche Äußerlichkeiten hatte ich bei all dem Trubel nun wirklich keine Zeit. Auch beim Ein- und Aussortieren meiner Waren verfolgte ich, eher aus der Not als bewusst zukunftsweisend, das heute in fast allen großen Lagerhäusern praktizierte Prinzip der chaotischen Lagerhaltung: Eingelagerte Waren lagen immer häufiger und eher wahllos bei mir auf dem Bett herum, welches ich ohnehin nicht mehr zum Schlafen benutzte, und allein mein leistungsfähiges Gedächtnis erlaubte es mir, in all dem Wust immer das richtige Teil zu finden. Auch ansonsten sparte ich Lagerungskosten radikal ein, so zum Beispiel durch möglichst schnelle Abverkäufe, notfalls auch zum oder sogar unter dem Einkaufspreis, zumal für mich das wichtigste Ziel Kundenakquise und dann Kundenbindung waren: Für jedes Goldstück, dass man für die Bindung von Stammkunden investierte, musste man schon fünf Goldstücke für die Neuwerbung von Kunden einplanen.
Kurzum: Mein neuer Geschäftsbetrieb konnte für den außenstehenden Beobachter unsortiert, unüberlegt und unsinnig aussehen – aber er rechnete sich. Zumindest bis zu einem gewissen Grad und Tag, oder genauer gesagt: Bis der erste Rückzahlungstermin bei Lehmar anstand. Der Geldverleiher, wohl nicht nur von Berufs wegen, sondern auch aus angeborenem Naturell heraus ein völlig humorloser Zeitgenosse, hatte nicht gescherzt. Er kam zwar nicht in eigener Person – natürlich nicht –, aber er schickte seinen glatzköpfigen Gesellen namens Meldor vor, der eines Tages rauchend bei mir auf der Matte stand. In seiner ehemals schicken, aber nur noch dürftig zusammengeflickten Bürgerkleidung wirkte er so weit außerhalb des Hafenviertels eher deplatziert, und offensichtlich fühlte er sich auch so, denn trotz seines betont polterigen Auftretens wanderten seine Augen beständig von links nach rechts, so als suchten sie die Umgebung hastig nach einem Fluchtweg ab. Nichtsdestotrotz gab er mir glaubhaft zu verstehen, dass es Saures geben würde, wenn ich jetzt nicht zurückzahlte, und ich hatte keinen Anlass dazu, diese Drohung bloß für halbvoll oder gar leer zu nehmen. Mit anderen Worten: Meldor meinte es ernst. Und das hätte mir unter gewöhnlichen Umständen auch gar keine Sorgen bereiten müssen, denn tatsächlich hatte ich das Geld zur Rückzahlung sogar bereits erwirtschaftet. Nicht nicht sofort flüssig und in bar, aber die Wertsumme als solche steckte in meinem Geschäft durchaus drin. Da die Umstände, zumindest in Relation zu meiner bisherigen Art des Wirtschaftens, sich aber ungewöhnlich geändert hatten, trieb mir das durch Meldor vorgebrachte Ansinnen des Geldverleihers nun doch einige der sonst so raren Sorgenfalten ins Gesicht. Denn in der Zwischenzeit hatte ich Mitarbeiter eingestellt, zwei an der Zahl. Sie übernahmen vor allem Botengänge für mich, vertraten mich aber auch im Laden, wenn ich eine Verhandlung in Person führen musste, und das musste ich eigentlich meistens – zumindest glaubte ich das. Auch sonst übertrug ich ihnen vorzugsweise Aufgaben, die schlicht gemacht werden mussten, in deren Bearbeitungszeit ich aber umso wichtigere Geschäftsgänge erledigen konnte. Einer der beiden Mitarbeiter konnte lesen und schreiben, er hatte es sich in jungen Jahren selbst beigebracht, und nicht nur imponierte mir das, weil ich es einst als Steppke ebenso gehandhabt hatte, sondern es war mir auch eine große Hilfe, denn so musste ich die vielen Preislisten und dergleichen nicht mehr alleine anfertigen. Der andere Mitarbeiter, mein erster Mitarbeiter – ich erwähnte unser erstes Zusammentreffen im Hafenviertel bereits –, konnte zwar weder Buchstaben lesen noch schreiben, war aber ein absolutes Ass im Kopfrechnen und machte jeden Rechenschieber überflüssig. Zudem war er auch insgesamt ein findiger Bursche und hatte die Fähigkeit, Gelegenheiten auch dort noch zu sehen, wo andere längst die Augen in Aufgabe verschlossen hatten.
Alles in allem waren die beiden Mitarbeiter eine große Hilfe, aber sie nahmen mir auch viel von meiner Liquidität, denn dass ich sie ordentlich bezahlte, war für mich nicht etwa eine Ehrensache, sondern schlicht die mir obliegende zuvörderste Pflicht. Seit meiner Zeit im Waisenhaus hatte ich mir geschworen, dass sich Talent in in einer gerechten Welt auszahlen musste. Da mir aber immer wieder vor Augen geführt worden war, dass das Sein in dieser Welt noch weit entfernt vom Sollen war, hatte ich es mir zur Aufgabe gemacht, diese Gerechtigkeit selbst herbeizuführen, wann immer es mir möglich war. Und nun, als Inhaber eines Handelsgeschäfts mit Mitarbeitern, war ich am Zug: Ich zahlte das Talent aus, das Talent und vor allem den Fleiß, den meine Mitarbeiter an den Tag legten. Und da ich keinesfalls vorhatte, die Gelder, die ihnen zugute kommen sollten, in Lehmars Taschen fließen zu lassen, musste ich mir etwas überlegen. Und ich hatte mir bereits etwas überlegt, denn der Zahltag und die damit verbundenen Schwierigkeiten waren ja vorhersehbar gewesen, und entsprechend war ich vorbereitet. Eine Kündigung eines oder gleich beider meiner Mitarbeiter kam nicht ernsthaft in Betracht, denn nicht nur hätte dies meinem Kaufmannsethos widersprochen, sondern auch meinen Geschäftsbetrieb vermutlich weitgehend lahmgelegt oder gar zu Bruch gehen lassen, zumal ich für das kommende Quartal sogar die Einstellung eines dritten, sehr qualifizierten Mitarbeiters avisiert hatte, bevor mir die Geschäfte erneut über den Kopf wuchsen. Und deshalb pochte ich vor Meldor auf eine Klausel im Schuldvertrag, die vermutlich seit Jahren nur noch pro forma in den Kontrakten stand, weil sie nie jemand ernsthaft gezogen hatte. Deshalb brauchte es auch eine geschlagene halbe Stunde meiner kostbaren Zeit, bis ich Meldor halbwegs vermittelt hatte, was er bei seiner Rückkehr vor seinem Chef aufzusagen hatte: Dass ich die Stundung wollte, bei gleichzeitiger Umwandlung der Rückzahlungspflicht in toto zu einer Rückzahlung in Raten, zu all jenen Konditionen und Bedingungen und insbesondere auch den Zinssätzen, die im Kontrakt festgelegt waren. Tatsächlich gelang es mir, Meldor so fortzuschicken. Für den nächsten Tag erwartete ich beinahe schon, dass Lehmar doch noch persönlich auftauchen würde, denn bei oberflächlicher Betrachtung war die Klausel, von der ich da Gebrauch machen wollte, nichts weniger als ruinös: Die Zinssätze waren horrend, sie stiegen überdies bei der von mir gewünschten Dauer beziehungsweise Stückelung der Raten fortlaufend an und konnten so sehr schnell zu einer völligen Überschuldung des Betriebs führen. Der Vergleich mit einer jahrelangen Schuldknechtschaft war hier nicht allzu pointiert. Aber ich begriff die Sache als Chance, denn zur Verkleinerung oder gar zur Aufgabe meines Geschäfts war es schlicht zu spät, es konnte hier nur noch eine Marschrichtung geben, und zwar die nach vorne: Wachsen oder beim Versuch mit wehenden Fahnen untergehen. Das enge finanzielle Korsett, in das mich die Ratenzahlungen schnüren würden, scheute ich nicht. Ich hatte mich buchstäblich von Kindesbeinen an in einem nur sehr engen Korridor an Möglichkeiten bewegt, aber solange dieser Korridor für mich noch breit genug zum Durchkommen war, würde ich ihn weiter beschreiten.
Am nächsten Tag kam zwar nicht Lehmar selbst, aber der Geldverleiher hatte die Notwendigkeit gesehen, ein eigenes Schreiben zu verfassen, das Meldor bloß zu überbringen hatte. Nachdem der Glatzkopf mir das Schriftstück ausgehändigt hatte, begann ich mit vor Nervosität brodelndem Magen an zu lesen. Die innere Unruhe war eigentlich völlig überflüssig, denn die Umwandlung der Rückzahlungspflicht in einen Ratenvertrag konnte von Lehmar de jure gar nicht abgewendet werden, sie stand mir als einseitiges Gestaltungsrecht zu. Aber es machte de facto eben doch einen Unterschied, wie wohlgesonnen einem der Gläubiger bei der Ausübung solcher Rechte war. Das Schreiben war allerdings in einem sehr sachlichen Ton gehalten worden, nur an einigen Ecken und Enden drang die dem Geldverleiher eigene Gehässigkeit Marke Wirst schon sehen, was du davon hast hindurch. Abgesehen davon aber erklärte sich Lehmar ganz ausdrücklich einverstanden mit dieser Lösung und wies im Schreiben zugleich darauf hin, dass jedwede Unpünktlichkeit bei der Ratenzahlung nicht nur mit weiteren Sonderzahlungen, sondern im Zweifel auch durch Meldor höchstpersönlich bestraft würde – aber das konnte mich nicht wirklich einschüchtern, insbesondere der Part mit Meldor nicht. Der Glatzkopf war das Abbild eines taumelnden Boxers, und ich hatte genug Erfahrung mit so exaltiert rauchenden Menschen wie ihm gesammelt, um zu wissen, dass man ihnen im Fall der Fälle kaum wirklich weglaufen brauchte, sondern dass ein zügiges Hinfortspazieren genügte, um sich ihrem Zugriff zu entziehen. Ich setzte also meine Unterschrift zum Zeichen der Kenntnisnahme auf das Schreiben Lehmars, gab es Meldor wieder zurück in die Hand und sagte ihm, er solle seinem Chef ausrichten, dass alles so gemacht werde wie von ihm angesonnen. Meldor verzog sich wortlos wie ein Bausch dunkler Wolken, die in Wahrheit längst kein Gewitter mehr in sich trugen. Es sollte denn auch eines der letzten Male gewesen sein, dass ich Meldor zu Gesicht bekommen hatte, und es war definitiv das letzte Mal, dass ich mit ihm gesprochen hatte.

Die Folgezeit war anstrengend, aber all die Mühen zahlten sich aus und mein Geschäft wuchs. Ich expandierte; nicht nur, was mein Geschäftsfeld anging, sondern auch in räumlicher Hinsicht, denn allzubald war selbst mein ausgeklügeltes dynamisches Lagerungssystem nicht mehr in der Lage, die Belastungsspitzen im stetigen Hin und Her meines Handelsgeschäfts aufzufangen, sodass ich ein kleines Lagerhaus anbaute und die ehemalige Schusterklitsche in einen ordentlichen Verkaufsraum umbaute. Die Kosten für diese Investition fing ich dadurch auf, dass ich zunächst auf einen Wachmann für mein Lagerhaus verzichtete, indem ich nachts schlicht vollständig wachblieb. Das hielt ich zwar nur einige Monate durch, aber das reichte aus, um den kleinen Finanzierungsengpass zu durchlaufen. Mit solchen und anderen Winkelzügen verschaffte ich mir im engen Korsett der Ratenzahlungen regelmäßig Luft, und auch meine Mitarbeiter – mittlerweile fünf an der Zahl – hatten immer wieder neue Ideen, wie und wo sich Kosten einsparen ließen, damit wir Lehmar rechtzeitig bedienen konnten. Ich will allerdings nicht bestreiten, dass das mit der Rechtzeitigkeit gelegentlich nicht nur auf Kante genäht war, sondern manchmal auch über die Kante hinausragte. Mit anderen Worten kam es immer mal wieder vor, dass zum Zahltag schlicht nicht genug Geld flüssig vorhanden war und ich die Zahlungszeiträume daher eigenmächtig ein klein wenig streckte. Möglich war dies nur, weil Lehmar zu diesen Anlässen immer wieder und wieder Meldor vorschickte, der mich aber einfach nicht zu fassen bekam. Häufig dachte ich mir irgendeinen Geschäftsgang aus, wenn einer meiner Mitarbeiter ihn von weitem kommen sah, verließ meinen Betrieb und hinterließ mehr oder wenige passende Ausreden, die meine Abwesenheit und den Zahlungsrückstand erklären sollten, immer verbunden mit Beschwichtigungen und Bekräftigungen, dass das Geld bald Lehmar erreichen würde. Meldor war schlicht zu träge, um dem Ganzen weiter nachzugehen und traute sich gegen meine Mitarbeiter keine körperlichen Zudringlichkeiten – insbesondere vor einem von ihnen schien er richtiggehend Angst zu haben, da fast zwei Köpfe größer als er. Und so zog der Geldeintreiber stets unverrichteter Dinge ab, um Lehmar unsere Vertröstungen zu überbringen, und da ich in der Regel zwei bis drei Tage später das Geld per Boten überbringen ließ, war die Sache dann auch wieder erledigt und zog kein weiteres Ungemach nach sich. Nichts befriedigte einen Gläubiger so sehr wie eine eingegangene Geldzahlung, da fiel die Frage nach dem Wann gar nicht mehr so sehr ins Gewicht, wenn das Gold denn dann erst einmal auf dem Tisch lag. Rückblickend gesehen könnte man mir dieses meinige Geschäftsgebaren zwar als Makel in meiner Laufbahn ansehen, aber damals betrachtete ich die Sache schlicht sportlich: Jeder Geschäftstreibende unterlag eben gewissen Risiken, und zu diesen Risiken gehörten auch säumige Schuldner – warum sollte sich dann ausgerechnet bei einem Geldverleiher dieses Risiko nicht ab und an verwirklichen? Letztlich blieb ich für Lehmar ja eine verlässliche Einnahmequelle. Und wenn ihm die gelegentlichen Verspätungen so gegen den Strich gelaufen wären, dann hätte er eben auch persönlich vorbeikommen können – so tat ich es im Fall der Fälle schließlich auch; meinem Geld lief ich in der Regel persönlich nach (manchmal allerdings in Begleitung des bereits erwähnten ungewöhnlich groß gewachsenen Mitarbeiters). Wenn Lehmars eigene Bequemlichkeit es aber nicht zuließ, dass er selbst vorbeikam oder aber wenigstens seinen noch bequemeren sogenannten Geldeintreiber gegen fähigeres Personal austauschte, dann fiel dies schlicht in seinen Verantwortungsbereich und nicht in meinen.

Es kam der Tag, da wurde Lehmar doch noch unbequem. Es war ein sonniger Morgen, an dem ich mich ins Hafenviertel wagte, auf dem Weg zu einem alten Fischer direkt am Hafen, über den mir berichtet worden war, er zöge in letzter Zeit regelmäßig Muscheln an Land, die schwarze Perlen in sich trugen. Da ich zu dieser Zeit ohnehin darüber nachdachte, meine Handelsgeschäfte um das weite Verkaufsfeld des Schmucks zu erweitern, konnte ich mir diese Gelegenheit natürlich nicht entgehen lassen, denn es hieß, der Fischer wollte die Perlen verkaufen. Nachdem ich einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang hektisch alle Informationen über Einkaufs- und Verkaufspreise schwarzer Perlen zusammengeklaubt hatte, die ich auftreiben konnte – und das waren nicht viele, denn schwarze Perlen waren sehr rar, und zu raren Gütern gab es kaum verlässliche Preistabellen –, marschierte ich in eigener Person zum Hafen, um mir die Perlen aus der Nähe anzusehen und am besten direkt ein paar davon zu einem möglichst niedrigen Einkaufspreis zu erstehen, bevor mir andere zuvor kamen. Dabei schlug ich sogar den Rat eines mir besonders lieben und teuren Mitarbeiters in den Wind, der meinte, die Sache mit den schwarzen Perlen würde als Goldgrab enden, denn auf Khorinis trüge man sowas nicht. Ich entgegnete, man müsse dies genau umgekehrt und als gute Nachricht sehen, denn so war ja noch gar kein Bedarf befriedigt, und wo es keinen Bedarf gab, konnte man ihn ja immer noch durch Werbung erschaffen. Und da Khorinis und der Handel rund um die Insel zu jener goldenen Zeit in voller Blüte standen, stieg ohnehin die Nachfrage nach Luxusgütern, denn wer einmal in Wohlstand lebte und wessen Bedürfnisse befriedigt waren, der hörte mit dem Konsum ja nicht auf, sondern suchte geradezu zwanghaft nach neuen Möglichkeiten, Geld auszugeben. Das Bedürfnis als ewiges Bedürfnis – das war zwar kein Naturgesetz, wohl aber eines des Marktes, und das war mir Grundlage genug, um bei den schwarzen Perlen ein wenig ins Risiko zu gehen.
Es kam jedoch alles anders als gedacht. Ich war gerade in einer Gasse zwischen den krummen Hütten des Hafenviertels unterwegs und schwelgte dabei unwillkürlich in Kindheitserinnerungen, als sich plötzlich ein Mann vor mir aufbaute. Er war groß, hatte eine hohe Stirn, trug graue Kurzhaarfrisur eines Reserveoffiziers und besaß einen ausgeprägten, krummen Nasenrücken, die dünnen Lippen hatte er zusammengepresst und die Augen zusammengekniffen. Gekleidet war er in ein rotes Gewand, das ihn deutlich von den anderen Bewohnern des Hafenviertels abhob, gleichzeitig aber auch nicht bürgerlich wirkte, sondern eher wie die Kluft eines Gauklers oder Schaustellers. Seine Miene und sein gesamtes Auftreten aber ließen deutlich erkennen, dass ihm nicht der Sinn nach Klamauk stand. Noch während ich mich umdrehte, hörte ich außerdem weitere Schritte hinter mir, und ich verfluchte mich innerlich, dass ich den Umweg durch die Gassen gegangen war, in zu großer Sicherheit, dass mir schon nichts passieren würde. Ich hatte mich ordentlich verkalkuliert: Ich war nicht mehr der kleine Junge, der durch die Gassen flitzen und jedem Nepper, Schlepper und Bauernfänger wendig ausweichen konnte. Der Stallgeruch des Hafenviertels haftete mir zwar noch immer an – das ließen mich meine gutsituierten Geschäftspartner ständig und gerne spüren –, doch die Fähigkeiten eines Hafenbewohners waren mir mangels Übung langsam aber sicher abhanden gekommen. Und so war ich gefangen zwischen dem Mann vor mir und einem Mann hinter mir, der deutlich kleiner, dafür aber ganz in Schwarz gekleidet war und mit seiner verkniffenen Miene und der schmalen Brille wie diejenige Sorte Folterknecht wirkte, der bei Bedarf die alten Bücher nach vielversprechenden und erprobten Varianten von Quälerei und Tortur durchstöberte.
„Und jetzt?“, fragte ich herausfordernd, während ich mich wieder zu dem großen Mann im roten Gewand umdrehte. Es war immer besser, seine Räuber zuerst anzusprechen, denn mit etwas Beharrlichkeit konnte man sie so vielleicht noch in ein längeres Gespräch verwickeln, währenddessen mit etwas Glück zufällig fremde Hilfe eintreffen konnte.
„Jetzt ist Zahltag“, sagte der große Mann in einem tiefen Bariton, der ganz trefflich zu seiner Statur und seiner markant eckigen Kopfform passte.
„Warum sollte das so sein?“, entgegnete ich.
„Frag nicht so unwissend“, sagte der Mann in Rot und kam noch einen Schritt näher. Mir war nicht entgangen, dass er einen Degen an seiner Seite trug, aber erst jetzt sah ich, wie scharf, wie unnatürlich spitz er war. „Ein Blick in deinen Vertrag mit Lehmar, und du weißt warum. Du bist schon wieder in Verzug.“
„Ich weiß nicht, warum ich euch glauben sollte, dass ihr was mit Lehmar zu schaffen habt. Meldor ist für mich zuständig.“
„Meldor ist für gar nichts mehr zuständig“, sagte der Rote geradeheraus. „Ab heute weht ein anderer Wind.“
Als die Stimme des Mannes hinter mir ertönte, zuckte ich beinahe unwillkürlich zusammen, denn sie durchschnitt die dicke Hafenluft wie ein heißes Messer. „Lehmar hat sich von Meldor getrennt“, sagte er ruhig und gelassen wie bei der Verkündung eines zufriedenstellenden Geschäftsabschlusses. „Ab jetzt übernehmen wir. Lehmar war nicht mehr zufrieden mit diesem … Schlendrian, der in letzter Zeit eingekehrt ist.“
Ich brauchte mich gar nicht umzudrehen, um zu wissen, was mit diesem Mann los war. Seinen Sadismus konnte man förmlich riechen.
„Und ihr wollt jetzt, dass ich euch das Geld für Lehmar gebe?“, fragte ich, das aufkommende Zittern in meiner Stimme nur gerade so unterdrückend. „Ich weiß doch nicht einmal, wer ihr seid. Ich kann bei solchen Geldsummen ja nicht auf bloßes Gerede vertrauen. Ich brauche einen Nachweis darüber, dass ihr zur Entgegennahme der Zahlung autorisiert seid. Könnt ihr euch ausweisen, habt ihr eine Bevollmächtigung dabei? Vorher zahle ich an euch nichts. Da könnte ja jeder kommen.“
Mir war bewusst, dass das ein ganz schön selbstsicheres Auftreten war, dafür, dass sich vor mir ein großer, bewaffneter Mann aufgebaut hatte und der Mann hinter mir vermutlich auch nicht nur mit bloßen Fäusten gekommen war. Aber in der Sache hatte ich ja schließlich recht. Ich schwitzte natürlich trotzdem gewaltig. Ich habe mir das damals nicht so eingestanden, aber heute in der Rückschau gebe ich es gerne zu: Ich war äußerst eingeschüchtert. Die beiden Männer strahlten etwas aus, das mir Angst machte. Es brauchte da kaum noch Worte, um zu wissen, dass mit ihnen nicht gut Kirschen essen war, dass das alles auch sehr schnell blutig ausgehen konnte. Ihr ganzer Auftritt verlieh dem Gesagten deutlichen Nachdruck: Der Schlendrian war vorbei, jetzt wehte ein anderer Wind. Vorbei die Zeiten, in denen man Lehmars Geldeintreibern einfach davonlief.
„Wir müssen uns nicht ausweisen“, wies mich der große, rote Mann zurecht. „Du sollst einfach nur die fällige Rate an Lehmar zahlen. Mehr nicht.“ Die Hand des Mannes umspielte den Griff seines Degens.
„Was, wenn ich gerade ohnehin auf dem Weg zu Lehmar war, um ihm das Geld zu bringen?“, log ich.
„Dann trifft sich das umso besser“, antwortete der Mann vor mir postwendend. „Dann können wir dich ja zu Lehmar begleiten. Dann kannst du auch gleich sehen, dass wir tatsächlich von ihm autorisiert worden sind.“
„Gut“, sagte ich nur sehr knapp und drehte mich um, um die Gasse in der Gegenrichtung zu verlassen. Der spontane Richtungswechsel – ich hatte ja bewusst einen Weg zum Hafen gewählt, der gerade nicht an Lehmars Haus vorbeiführte – machte meine Lüge natürlich nicht glaubhafter, aber das schien den beiden Männern ganz egal zu sein. Der in Schwarz gekleidete Brillenträger – er war sogar noch einen halben Kopf kleiner als ich – schritt voran, sein Kumpane marschierte dicht hinter mir her. Ich fühlte mich unangenehm in die Zange genommen, und selbst, wenn ich ernsthaft hätte fliehen wollen, hätte ich ab diesem Moment keine Möglichkeit mehr dazu gesehen. Für eine Flucht über die Dächer war ich längst nicht mehr jung genug, und mich befiel die Ahnung, dass mich der rote Mann mit dem Degen schneller von den Balken heruntergefegt hätte, als ich hätte blinzeln können. Immerhin erleichterte es mein pochendes Herz ein wenig, dass unser Tross, angeführt vom Mann in Schwarz, tatsächlich den Weg zu Lehmars Haus einschlug. Insofern hatten die beiden also nicht gelogen. Und einen Geschäftspartner und Schuldner, selbst einen säumigen, den ließ man nicht einfach in einer Gasse abstechen – insbesondere dann nicht, wenn man ihn noch auf Jahre hinweg zu melken gedachte.
Nichtsdestotrotz war es eine furchtbar unangenehme Situation, als wir endlich bei Lehmar aufschlugen.
„Der verloren geglaubte Schuldner kehrt endlich zurück!“, schnalzte Lehmar, der wie immer in seinem Sessel saß und sehr intensiv gar nichts tat. Obwohl es draußen ziemlich warm war, hatte er den Kamin an, einfach um zu zeigen, dass er es sich leisten konnte. Hätte er den Ofen direkt mit Schuldscheinen oder Wertpapieren angeschürt, ich wäre auch nicht überrascht gewesen: So gebärdeten sich eben Leute, die den ganzen Tag ihren Wohlstand verwalteten, der sich aus Geldern zusammensetzte, für die sie ihr ganzes Leben noch nicht einen Finger hatten krumm machen müssen.
„Und ich hoffe, er ist nicht mit leeren Händen gekommen“, setzte der Geldverleiher nach, nachdem er die beiden Männer hinter mir mit prüfenden Blicken bedacht und dann sogar jeweils ein anerkennendes Nicken spendiert hatte. Dazu hätte er bei Meldor nun wirklich niemals Anlass gehabt. Insofern war ich fast versucht, ihm zur Einstellung seines neuen Personals zu gratulieren.
„Ich bitte die Verspätung zu entschuldigen“, sagte ich sehr förmlich, während ich mir an den Gürtel griff und einen schweren Lederbeutel davon löste. „Ich weiß, ich bin in Verzug. Aber mir war es aufgrund verschiedenster Umstände unmöglich, pünktlich zu leisten.“
„Unmöglichkeit bei einer Ratenzahlung?“ Lehmar zog die Augenbrauen hoch. „Was sollen das denn für Sitten sein, die nun ins Khoriner Geschäftsleben einziehen? Hat man das jetzt auch schon von den Südlichen Inseln eingeschleppt? Was ist denn bloß aus ’Geld hat man zu haben’ geworden? Gilt das unter Kaufleuten nicht mehr?“
Zähneknirschend reichte ich ihm den Lederbeutel herüber. Das Gold war ein klein wenig mehr als die ausstehende Rate, aber das war mir gerade auch egal. Ich wollte einfach nur weg. Rückblickend gesehen lag das auch daran, dass mir die beiden Männer hinter mir immer noch Angst machten, auch wenn ich das in der Situation selbst gar nicht so wahrnahm. Ich spürte nur dieses unangenehme Brennen im Magen, aber das begleitete mich nun schon so lange, dass das gar nichts Neues mehr war. Mit den beiden Geldeintreibern brachte ich das damals nicht in Verbindung.
„Natürlich gilt das noch. Hier, sogar mit Verzugszinsen.“
„’Sogar’ sagt er“, lachte Lehmar verächtlich, als er den Beutel entgegennahm. Er zählte das Gold gar nicht nach, offenbar war er sich sehr sicher, dass er, oder besser gesagt seine beiden neuen Handlanger, mich ausreichend eingeschüchtert hatten. Und das stimmte ja auch.
„Das ist das eigentlich eine Selbstverständlichkeit.“ Lehmar legte den Beutel zu seinen Füßen auf einem dicken Teppich ab, wo bereits zwei andere Beutel lagen. „Ich hoffe mal, das ist jetzt der Auftakt zu einer neuen Politik der Pünktlichkeit“, belehrte er mich dann weiter. „Ab jetzt werden Mallory und Weiss hier darauf achten, dass die Raten am Zahltag kommen und nicht erst verspätet. Und zwar immer am Zahltag.“
„Freut mich, eure Bekanntschaft zu machen“, sagte ich, und nickte erst dem kleinen, Weiss, und dann dem großen, Mallory, zu. Sie beide blieben stumm und regungslos stehen wie zwei Zinnsoldaten, aber was bei jedem anderen Mann albern gewirkt hätte, schmälerte die gefährliche Aura, die beide umgab, kein bisschen, sondern wirkte eher noch bedrohlicher.
Ich wandte mich wieder Lehmar zu. „Ich verspreche hiermit Pünktlichkeit, will das aber nicht als Eingeständnis irgendwelcher Nachlässigkeiten in der Vergangenheit verstanden wissen. Der Verzug hatte immer Gründe.“
Gründe“, sagte Lehmar und verengte die Augen zu Schlitzen, „sind mir egal. Gründe machen mich nicht satt. Ich will einfach nur Geld, das mir zustehende Geld, und ab jetzt immer pünktlich. Haben wir uns verstanden?“
„Wir haben uns verstanden“, schloss ich das Gespräch und machte noch beim Sprechen kehrt. Mallory und Weiss standen direkt vor der Tür, sodass ich mich zwischen ihnen hindurchschleichen musste, um nach draußen zu gelangen. Als ich dabei das schwarze Hemd von Weiss berührte, wanderte ein unangenehmer Schauer über meinen gesamten Körper.
Der Rest des Tages war für die sprichwörtliche Katz: Völlig aufgewühlt ging ich schließlich doch noch zum Hafenkai und zur Bretterhütte des alten Fischers, nur um mir von ihm erzählen zu lassen, dass er die schwarzen Perlen längst an einen mir nur allzu gut bekannten Konkurrenten verkauft hatte. Ich könne aber nächste Woche wiederkommen, da habe er vielleicht wieder schwarze Perlen. Unter dem Vorwand, mir keine Gedanken über ungelegte Eier zu machen und diese erst recht nicht zu kaufen, brach ich die Verhandlungen aber schnell ab und ließ mir nur noch die Preise nennen, zu denen die schwarzen Perlen weggegangen waren. In Wahrheit zog es mich vor allem deshalb so schnell in mein Geschäftshaus zurück, weil sich das Brennen in meinem Magen zu einer nicht mehr zu ignorierenden Übelkeit ausgewachsen hatte und ich schlicht keinen klaren Kopf mehr bewahren konnte. Deshalb und weil sich in diesem Zustand jegliche Verhandlungen und Geschäftstätigkeiten von selbst verbaten, tat ich dann am Mittag etwas, was ich das letzte Mal vor vielen Jahren gemacht hatte: Nichts. Ich machte Pause. In der langen rastlosen Zwischenzeit hatte ich aber offenbar vergessen, wie man so eine Pause erfolgreich unternahm, denn anstatt der vielbeschworenen Entspannung machte sich in mir lediglich eine Unruhe breit, die immer größer wurde, je länger ich nichts tat. Deshalb widmete ich mich nach einer Stunde dann doch der ein oder anderen Aufgabe, brachte aber nichts davon richtig zu Ende und gerierte mich in meinem eigenen Betrieb wie ein aufgescheuchtes Huhn. Am Abend machte ich schließlich völlig ermattet gemeinsam mit meinen Mitarbeitern Feierabend, obwohl ich mir diesen sonst immer nur erst gegen Ende der Woche gönnte. Ich war allerdings froh, dass meine Mitarbeiter – ich beschäftigte mittlerweile an die zwanzig insgesamt, in verschiedenen Funktionen an verschiedenen Stellen meines Geschäftshauses, das im Vergleich zur ursprünglichen Schusterklitsche auf die dreifache Größe angewachsen war – mich nicht sehen konnten, wie ich aufgekratzt und nervös vor meinem Abendessen und den danebengelegten Preislisten des Tages saß und dabei weder einen Bissen herunterbekam noch mir auch nur einen der Listenposten wirklich merken konnte. Auch rückblickend glaube ich, dass meine Mitarbeiter nie etwas Auffälliges an mir bemerkt haben, denn äußerlich verhielt ich mich ihnen gegenüber ganz gewöhnlich. In meinem Inneren aber brodelte es. Die Begegnung mit Mallory und Weiss hatte mich nachhaltig verändert, wie auch die folgende Zeit beweisen sollte.

Beinahe drei volle Quartale lang fühlte ich mich wie in Ketten gelegt, und die eisernen Fesseln stammten fraglos von Mallory und Weiss. Obwohl sie nicht ein einziges Mal Hand an mich gelegt hatten, war die Begegnung mit ihnen heftig in mir eingeschlagen, und wenn ich nur an sie dachte oder sie von Weitem sah, konnte ich es beinahe schon fühlen, wie Mallory seinen gespitzten Degen und Weiss seine messerscharfe Stimme in meinen Wanst rammten, um mich daran zu erinnern, dass Zahltag war. Ich tat im Folgenden also fast alles, um jede neuerliche Begegnung mit ihnen zu vermeiden, und das bedeutete vor allem, dass ich seither jede Rate pünktlich zahlte und nicht einmal mehr den Versuch wagte, eine der Zahlungen auch nur einen Tag lang auszusetzen. Das gelang mir trotz angespannter finanzieller und wirtschaftlicher Lage in meinem Hause ganz gut, auch wenn das bedingte, dass ich Schulden umschichten und zuweilen andere Gläubiger vertrösten musste, weil ab jetzt die Zahlungen an Lehmar stets Vorrang hatten. Das alles brachte mir viele zusätzliche Verhandlungsgespräche ein, die ich weiterhin alle in Person führte, weil das die kaufmännischen Sitten so erforderten. Leicht fiel mir das nicht, denn meine inneren Zustände, von denen die Übelkeit der eine und die beständige Unruhe der andere war, machten mir die Arbeit mühsam, entkräfteten mich zusehends und ließen mich am Abend von so manchem Tage zweifeln, ob ich es am Tag danach überhaupt bis zur Mitte schaffen sollte. Ich schaffte es immer irgendwie, aber ich fühlte mich dauerhaft wie gerädert und ließ innerlich Feder um Feder. Einen Teil der Last konnte ich mir vom Leib halten, indem ich gewisse Aufgaben verstärkt an Mitarbeiter delegierte, sie zu diesem Zwecke beförderte, häufig unter dem – meist ja gar nicht erfundenen – Vorwand herausragender Leistungen. Mit den Beförderungen stiegen aber auch die berechtigten Gehaltsansprüche, und ich kam ihnen allen nach, was aber auch zur Folge hatte, dass das Wachstum meines Unternehmens drastisch gedämpft wurde und zuweilen sogar völlig stagnierte, auch weil ich immer mehr Gläubiger vertrösten musste und schließlich m Vorhinein bei vielen Geschäften sogar ganz auf deren Abschluss verzichtete. Das setzte mir seelisch schwer zu, ein ums andere Mal ärgerte ich mich schwarz um eine verpasste Gelegenheit, die ich, wäre ich doch nur bei vollen Kräften gewesen, sofort und erfolgreich beim Schopfe ergriffen hätte. Auch die Abgabe von Kontrolle an meine Mitarbeiter fiel mir gewohnheitsmäßig schwer, obwohl ich alle von ihnen für vertrauenswürdig hielt. Kurzum: Es war eine schwere Zeit, und bis heute frage ich mich, wie ich das alles eigentlich durchgestanden habe.

Nach diesem ersten Dreivierteljahr war zwar nicht wieder alles normal – das ist es bis heute nicht –, aber es wurde doch spürbar besser. Ich zahlte die Raten mittlerweile dauerhaft in den regelmäßigen, vereinbarten Abständen. Ich tat dies in aller Regel bereits in der Früh des Zahltermins, etwa eine halbe Stunde vor der ersten Mahlzeit des Tages, damit ich diese ganz ohne Last genießen konnte. Ich tat dies auch deshalb, um so möglichst von niemandem dabei gesehen zu werden, denn eine gewisse Scham ging mit der ganzen Sache ja doch einher, selbst wenn Schulden für so betriebsame Geschäftsleute wie mich eigentlich nichts Ungewöhnliches waren. Aber ich hatte schlichtweg keine Lust, jemandem in dieser Sache Rede und Antwort zu stehen, und so zog es mich zumeist auf die Straßen, wenn noch so gut wie kein anderer unterwegs war. Lehmar hatte an seinem Haus einen Schlitz angebracht, der Rückzahlungen zu jeder Zeit ermöglichte, ohne dass man einen Termin dazu mit ihm verabreden musste. Das war einfach, schnell und diskret, und ich machte schon seit einiger Zeit Gebrauch davon. Ich hatte in der Regel einen großen Lederbeutel dabei, beschriftet mit einem O als Initial meines Familiennamens und einem mg20, meiner Mitgliedskennung in der Überseehändler-Gilde Araxos. So konnte Lehmar meine Zahlung korrekt zuordnen, aber für den Fall der Fälle, dass der Beutel in die falschen Hände geriet, war meine Identität geschützt – jedenfalls, sofern diese falschen Hände nicht gerade dem Registrar der Händlergilde gehörten.
Es lief also alles einen eingespielten, festgelegten Gang, und das verschaffte mir die nötige Stabilität, um mich langsam wieder zu erholen und bei meinen Handelsgeschäften allmählich wieder Oberwasser zu gewinnen. Und in der Tat: Von kleineren Rückschlägen abgesehen, lief es ab da von Jahr zu Jahr wieder immer besser, und selbst durch die große Khoriner Erz- und Handelskrise hindurch konnte ich mein Unternehmen manövrieren. Ich kam dabei besser durch als so mancher meiner Kollegen, und schließlich konnte ich mir sogar ein Anwesen im Oberen Viertel leisten, das ich sogleich als meinen neuen offiziellen Geschäftssitz auserkor. Das tat ich nicht etwa, weil ich auf einmal dem Luxus frönte. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich mein Leben lang bodenständig geblieben bin, und jeder meiner Mitarbeiter würde dies anerkennend, jeder meiner Kollegen und Konkurrenten naserümpfend bestätigen. Den Sitz im Oberen Viertel wählte ich letztlich aus unternehmerischer Notwendigkeit, denn auf so manchen Geschäftsfeldern nahmen einem die Partner erst dann ernst, wenn man entsprechend großspurig tat und auftrat. Und auch wenn mir solches Gebaren bis heute zuwider ist, ordnete ich meine Befindlichkeiten den unternehmerischen Zwecken unter und war fortan ein waschechter Kaufmann im Oberen Viertel. Dass dabei auch zahlreiche Waschungen und Weihen meinen Stallgeruch als Junge aus dem Hafenviertel nie vollständig verschwinden ließen, betrachte ich heute als Glück und mit Stolz, mochte es mir damals auch dann und wann wie Steine im Weg gelegen haben. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass meine Karriere trotz des gewaltigen Knicks weitergelaufen war, trotz meiner großen Sorgen und Ängste, dass sie mir vollständig entgleiten könnte. Und auch, wenn ich so manches Mal mit meinem geschwächten Zustand und den dadurch verpassten Gelegenheiten der Vergangenheit haderte, war ich im Allgemeinen mit meiner Lage doch zufrieden. Und damit das so blieb, achtete ich peinlich genau darauf, immer pünktlich meine Raten zu zahlen, mochte es auch im Geldbeutel und ein wenig auch im persönlichen Ehrgefühl schmerzen.

Eines Tages jedoch suchten Mallory und Weiss mich auf, obwohl ich, wie ich meinte, meine Rate ordnungsgemäß und pünktlich gezahlt hatte. Sie waren wieder, wie eigentlich immer, in rot und schwarz gekleidet und fingen mich direkt hinter dem Tor zum Oberen Viertel ab, als ich gerade auf dem Weg zum Marktplatz war, wo angeblich ein neuer fahrender Händler mit exotischen Ölen hausieren sollte.
„Na, drückt jetzt doch das schlechte Gewissen?“, fragte mich Mallory, der im Vergleich zur letzten Begegnung um noch einen Kopf größer schien.
Beinahe war ich versucht, ihn und seinen schweigsamen Kumpanen zu ignorieren, einfach an ihnen vorbeizugehen, aber noch bevor ich mich aktiv dazu hätte entscheiden können, war mir von ihnen auch schon der Weg versperrt.
„Ich hoffe mal, du findest den Weg zu Lehmar doch noch alleine“, setzte Mallory nach.
Verwirrt blickte ich ihn an. „Was soll das heißen? Ich war gestern zum Zahltag schon da. Hat Lehmar den Beutel nicht bekommen? Ich habe eine Bringschuld, aber wenn ich das Gold so in den persönlichen Herrschaftsbereich meines Gläubigers bringe, dass er unter gewöhnlichen Umständen darauf Zugriff nehmen kann, ist diese meine Schuld getan. Sollte etwas schief gegangen sein, dann liegt das in seiner Verantwortung. Er hat die Empfangsvorrichtung aufgebaut, nicht ich.“
Ich war zufrieden mit mir, dass mein Auftritt so fest und bestimmend war, obwohl es schon wieder gewaltig in mir zu brodeln begann. Die Präsenz der beiden Geldeintreiber war nach wie vor furchterregend, mochte ich mir auch sicher sein, dass ich nichts vor ihnen zu befürchten hatte, wenn ich mich korrekt verhielt und meine Raten stets pünktlich zahlte.
„Ganz schön viele Worte, aber alle neben der Sache“, sagte Weiss mit leiser Stimme und lauter Bedauern. „Du hast gezahlt, aber eigentlich auch nicht.“
„Was soll das heißen?“, fragte ich und fand es nur recht so, dass ich mich dabei unwillkürlich sehr patzig verhielt.
„Alte Kaufmannsregel: Zu wenig geleistet ist genau so gut wie gar nicht geleistet“, rezitierte Weiss. „Nämlich schlecht.“
„Du solltest deine Nase lieber nochmal in den Schuldkontrakt stecken statt in immer neue Geschäfte“, blaffte Mallory. „Dann hättest du nämlich gesehen, dass der Zinssatz seit gestern angestiegen ist. Und wir gehen nur dir zuliebe davon aus, dass das ein Versehen war und du nicht etwa versucht hast, Lehmar zu übertölpeln. Wir haben für ihn nachgezählt. Dann hat er noch einmal selbst nachgezählt. Dann hat er gesagt: ’Wenn er den Rest nicht bis heute zahlt, schlitzt ihr ihm den Bauch auf.’“
Ob Lehmar das wirklich so angeordnet hatte, war mir schon damals sehr zweifelhaft vorgekommen, und heute in der Rückschau ist mir völlig klar, dass der Geldverleiher nichts dergleichen gesagt hatte, denn ansonsten zuverlässige Schuldner ließ man nicht gleich bei der ersten Nachlässigkeit über die Klinge springen. Jedenfalls wusste ich schon damals, dass die Drohung, je nach Perspektive, halbleer oder halbvoll war. Und trotzdem spürte ich bei Mallorys Worten den Degen an meiner Bauchdecke, obwohl die Waffe weiterhin unberührt an seinem Gürtel hing. Unberührt, aber sichtbar. Übelkeit stieg in mir auf. Hatte ich wirklich etwas falsch gemacht, etwas übersehen?
„Ich werde das prüfen“, sagte ich und wollte schon kehrtmachen, um zu meinem Anwesen ins Obere Viertel zurückzukehren, als Mallory mich allein mit der Kraft seiner Stimme an Ort und Stelle festhielt.
„Tu das“, sagte er. „Aber bedenke: Wenn das Ergebnis deiner Prüfung von dem unsrigen abweicht, hast du davon den Schaden, nicht wir. Lehmars Forderung ist klar: Du musst den Restbetrag noch heute zahlen.“
„Wenn die Forderung besteht, dann werde ich die Forderung begleichen“, sagte ich, so kühl, wie es mir bei der ansteigenden inneren Hitze möglich war. „Aber momentan bestreite ich eben noch, dass sie besteht. Vorsorglich. Wenn sie besteht, dann soll Lehmar sein Geld bekommen.“
„Daran gibt es im Prinzip nichts auszusetzen“, fistelte Weiss nun wieder zu mir herüber. Seine Brille verlieh ihm einen starren Blick, und mit ein bisschen Fantasie sah man Beliar höchstselbst durch seine Augengläser springen. „Aber deine Prüfungen hätten alle viel eher erfolgen sollen. Wenn dir das zu anspruchsvoll ist, mit deinen Zahlungsverpflichtungen Schritt zu halten, dann solltest du vielleicht über eine Geschäftsaufgabe nachdenken.“
„Wie … was? Wieso?“, stammelte ich nun. Ich wollte einfach nur noch weg, wollte mich nicht auf dieses Gespräch einlassen, aber ich konnte mich ihm einfach nicht entziehen. In meinem Magen brannte es mittlerweile wie in einem Kohleofen.
„Vielleicht solltest du aufhören, bevor es zu spät ist“, riet Mallory und wirkte mit einem Mal sehr großväterlich, wie ein alter General in einer Ansprache vor jungen Rekruten. Mir fiel auch jetzt zum ersten Mal auf, wie alt Mallory eigentlich war. Ein gutes Stück älter als ich. Das Alter von Weiss hingegen war kaum einschätzbar, keine einzige Falte zierte sein helles, glattes Gesicht. „Du könntest deinen Geschäftsbetrieb verkaufen und Lehmar dann mit einer Sondertilgung alle deine Schulden auf einen Schlag zurückzahlen. Das würde dir alle Lasten nehmen.“
„Aber dann habe ich doch nichts mehr! Dann ist doch alles weg, wofür ich immer gearbeitet habe! Ich will doch weitermachen! Man kann mir jetzt doch nicht alles wegnehmen!“
„Niemand will dir etwas wegnehmen“, hauchte Weiss. „Die Entscheidung, was du machst, triffst du ganz allein. Die Konsequenzen dieser Entscheidung treffen allerdings auch dich ganz allein. Vielleicht wäre jetzt ein guter Zeitpunkt für dich, noch einmal in dich zu gehen. Eine wirklich gründliche Prüfung vorzunehmen. Du hast vielleicht noch die Chance, die Sache ganz grundlegend zu bereinigen, statt sie immer weiter aufzuschieben. Ein Schuldkontrakt ist wie eine Lawine. Erst ist es nur ein kleiner Schneeball, aber gerät er erst einmal in Fahrt, frisst er alles um sich herum auf, und wenn er dich unten am Fuß des Berges erwischt, ist er riesengroß, und dann kannst du ihn weder stoppen noch ihm ausweichen.“
Von Weiss’ Worten schwirrte mir so sehr der Kopf, dass mir schwindelig wurde und ich mich an die Steinmauer hinter mir lehnen musste. Es war, als spähte er direkt in mich hinein, mit diesen furchtbaren Augengläsern, um dort irgendetwas in mir zu lokalisieren, was Mallory dann mit seinem spitzen Degen aufpicken und herausziehen konnte. Ich wollte das alles nicht. Ich musste weg. Ich würde das Geld holen und an Lehmar zahlen, und dann würden mich Mallory und Weiss wieder in Ruhe lassen. Und alles konnte wieder seinen gewohnten Gang gehen.
Ich riss mich von den beiden los und hastete die Stufen zum Oberen Viertel hinauf, geriet dabei ins Straucheln und musste mich kurzzeitig mit der Hand abstützen, was den beiden Wachen am Tor nicht entging, was mir wiederum nicht entging, aber von keinem von uns dreien kommentiert wurde. Ich rannte weiter, kam aber alsbald außer Puste und zügelte mich selbst zum eiligen Gehen. Mein Puls hämmerte wie sonst nur die Handwerker beim Umbau meiner Geschäftshäuser. Als ich mein Anwesen betrat, wuchs die Unruhe nur umso mehr an, denn ich erinnerte mich der vielen Aufgaben, die ich in der Früh zugunsten des angedachten Marktbesuchs samt und sonders vertagt hatte, und jetzt schienen sie sich alle gemeinsam aufzutürmen und nach mir zu rufen. Ich ignorierte ihr Flehen und wanderte rastlos treppauf in mein Schlafgemach, setzte mich auf das spartanische Bett und riss die Nachttischschublade auf. Unter einigen Mittelchen, Tinkturen, aufmunternden Sinnsprüchen und Glücksbringern vergraben lag er, der Schuldkontrakt, alt, abgegriffen und mit Eselsohren, aber noch immer gültig wie am ersten Tag. Ich durchblätterte die einzelnen Seiten mit ungestümer Hast und gelangte sehr schnell zu der Zinsliste im Anhang, die in den Vertrag einbezogen war und die Zinssätze im Verlauf der Schuldschaft diktierte. Mein Finger zitterte, als ich die Zeilen der Tabelle hinabfuhr. Bald fand ich die passende Stelle, und ebenso wie die blaue Tinte dort nicht log, hatten auch Mallory und Weiss nicht gelogen: Ich hatte nach falschem Zinssatz gezahlt. Ich hatte schlicht den Tag verpasst, an dem die Zinslast wieder gewachsen war und die Ratenzahlungen sich entsprechend erhöhten.
Ich faltete den Vertrag einmal um, sodass die Zinsliste obenauf lag, und legte sie neben mir auf dem Bett ab. Dann legte auch ich mich hin, auf den Rücken, und zog mir geradezu liederlich das Hemd aus der Hose, um meinen Bauch frei zu machen, der mir in diesem Moment so unerträglich heiß und glühend vorkam. Die Nerven in meinen Händen und Fingern schmerzten, ein dicker Kloß machte sich in meinem Hals breit, das Atmen fiel mir schwer. Ruhe und Unruhe führten einen aussichtslosen Kampf in meiner Brust. Einerseits beruhigte es mich, dass der Auftritt von Mallory und Weiss einen konkreten Anlass gehabt hatte. Sie waren nicht einfach so vorbeigekommen, sondern ich hatte etwas falsch gemacht. Das hieß, wenn ich fortan wieder alles richtig machte, dann ließen sie mich in Ruhe. Doch auf der anderen Seite dieser Medaille war es überdeutlich eingeprägt: Ich hatte einen Fehler gemacht, hatte eine der absoluten Grundaufgaben meines Geschäftsbetriebs vernachlässigt, nämlich die Regelung meiner Finanzen. Und ich hätte es nicht einmal bemerkt, wenn ich nicht darauf hingewiesen worden wäre. Ich konnte dieses Versagen darauf zurückführen, dass sich mein Verstand, mein ganzer Geist und auch der Körper, immer noch nicht wieder richtig erholt hatten, seit der allerersten Begegnung mit Mallory und Weiss. Offenbar waren Flinkheit und Finesse nicht die einzigen Eigenschaften, die mir seit meinem Dasein als Khoriner Hafenjunge abhanden gekommen waren. Was, wenn meine Fähigkeiten irgendwann wirklich nicht mehr ausreichten, um meinen Betrieb weiterzuführen? Das war mein letzter Gedanke, bevor ich vor lauter Verzweiflung einschlief.

Es dauerte noch einige Wochen, bis sich mein Zustand einigermaßen erholt hatte, sodass er wieder auf dem Niveau von vor der letzten Begegnung mit Mallory und Weiss angekommen war. In dieser Zwischenzeit war ich sehr nervös, prüfte ständig, ob die beiden Geldeintreiber nicht irgendwo auf der Lauer lagen, und ich musste geradezu zwanghaft kontrollieren, ob ich meine Rate zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Höhe an Lehmar gezahlt hatte. Durch die ständigen Nachkontrollen unterlief mir in dieser Hinsicht jedenfalls kein Fehler mehr, aber auch das hatte seinen Preis, denn es band einen gehörigen Teil meiner Arbeitskraft, die seit ihrem allmählichen Schwinden nur umso kostbarer geworden war und die ich deshalb möglichst sparsam und zielgenau einsetzen musste. Dabei half mir zwar mittlerweile ein riesiger Stab an Mitarbeitern – über fünfzig an der Zahl in verschiedenen Filialen und Geschäften, Marktständen und Handelskarawanen –, aber manche Dinge musste ich schlicht selber machen. Das galt insbesondere, weil ich aufgrund der mittlerweile versiegten Khorinischen Erzwirtschaft einen großen Teil meines Unternehmens und der zugehörigen Wirtschaftskreisläufe umstrukturieren musste und fast täglich damit beschäftigt war, neuartige Geschäftsfelder zu erschließen. Es war anstrengend, aber eine gewisse neu gewonnene Stabilität bei meinen Ratenzahlungen und das langfristige Ausbleiben von Besuchen der beiden ruchlosen Geldeintreiber verschafften mir zeitweise gewissermaßen eine zweite Luft, von der ich gar nicht mehr geglaubt hatte, dass sie noch in meinen Lungen steckte. Ich arbeitete wieder mehr und länger, und auch wenn ich dabei ein ums andere Mal das Gefühl hatte, ich könnte wieder gehörig ins Schwimmen geraten, brachte ich irgendwie doch alles unter einen Hut, und die allermeisten meiner Geschäftsideen gingen gut aus. Kurzum: Mein Geschäft wuchs und wuchs, und das sollte auch über viele folgende Jahre so weitergehen. Alles ging wieder seinen geregelten Gang, und darüber breitete sich erst eine vorsichtig tastende, dann aber schließlich sehr gefestigte Zufriedenheit in mir aus.
Bis sich eines Tages wieder eine Frage in mir hocharbeitete, die ich bis dato immer weggewischt hatte, als zeitverschwenderischen Unsinn, der meinetwegen auf unbestimmte Zeit vertagt werden konnte. Aber da war sie nun wieder, die Frage: Was, wenn Lehmar längst tot war? Ich hatte den Geldverleiher schon viele, viele Jahre nicht mehr persönlich gesehen, das letzte Mal tatsächlich an dem Tag, als ich zum allerersten Mal Mallory und Weiss begegnet war. Seitdem herrschte zwischen uns Funkstille. Ich hatte auch nie mehr sein Haus aufgesucht, außer in der Früh, wenn es noch geschlossen hatte und ich meine Rate durch den Empfangsschlitz gab. Es war eine gut geölte Nichtkorrespondenz, die ich mit ihm pflegte: Ich gab ihm, was er forderte, und dafür ließen er und Mallory und Weiss mich in Ruhe. Was aber also, wenn Lehmar längst verschieden war, mithin die Ursache meiner Schuldenbürde längst beseitigt war, die Folgen dieser Bürde aber in Form von Mallory und Weiss trotzdem noch überdauerten? Was, wenn sich die ganze Sache längst verselbstständigt hatte, und ich, ja, vielleicht, ganz eventuell, gar keine Raten mehr zahlen musste?
Dieser Gedanke kam mir zugegebenermaßen relativ spät in meiner Karriere, aber immerhin kam er mir eben noch, und ich fühlte mich mittlerweile wieder stark und sicher genug, um einen geradezu waghalsigen Versuch zu unternehmen: Einmal noch die Rate aussetzen, einfach nicht mehr zahlen. Die Idee als solche hatte ich zwar schon länger, aber das Leben gab mir einen kleinen Schubs, als ich einen Zahlungstermin wegen unaufschiebbarer Termine nicht direkt in der Früh hatte wahrnehmen können. Und dann ließ ich es für den Tag eben so, zahlte nicht und schaute, was passierte. Ich hatte Mallory und Weiss schon jahrelang nicht mehr gesehen. Meine leise Hoffnung war, dass sie vielleicht gar nicht mehr für Lehmar arbeiteten. Mit etwas Glück und ohne es zu wissen hatten mich Mallory und Weiss also vielleicht längst nicht mehr auf dem Kieker. Ich ließ es also auf einen Versuch ankommen. An jenem Tag, an dem ich diese Entscheidung traf, brodelte es ab Mittag bis Abend nervös in meinem Magen, aber weiter passierte nichts. Auch am nächsten Tag war von der Früh bis Mittag alles völlig normal. Am Nachmittag jedoch rief auf einmal ein Mann auf dem überfüllten Marktplatz meinen Namen. Als ich nicht reagierte und einfach durch den örtlichen Trubel hindurch weiterging, rief er mich noch einmal. Als ich dann immer noch nicht reagierte, rief eine zweite Stimme meinen Namen – und kurz darauf wäre ich fast in einen roten Turm gelaufen.
„Na, wohin des Weges?“, fragte Mallory mich. Wenig später hatte mich auch Weiss eingeholt. „Ist schon eine ganze Weile her“, kommentierte der Bebrillte nüchtern.
„Was wollt ihr?“, zischte ich, mit festem Vorsatz, mich nicht einschüchtern zu lassen. Die Magensäure, die mir den Hals heraufgestiegen war, schluckte ich trotzig wieder herunter.
„’Was wollt ihr?’ fragt er“, lachte Mallory auf. Er war alt geworden, wirkte aber immer noch sehr kräftig. Und sein Degen war immer noch der gleiche. Spitz, scharf, unerbittlich.
„Was sollen wir schon wollen?“, fragte Weiss ungerührt zurück. „Deine Ratenzahlung ist längst überfällig. Das haben wir gestern schon gemerkt, dir aber ein wenig Luft gelassen. Du hattest damit vielleicht deinen Spaß, aber jetzt wird es wieder ernst. Unsere Geduld hat Grenzen, das weißt du doch. Du kannst dich deiner Zahlungsverpflichtung nicht entziehen, auch nicht indem du wegläufst oder wegschaust.“
„Deinem Geschäft scheint es ja außerdem ganz gut zu gehen“, fuhr Mallory fort. „Man hört, du machst ordentlich Kasse. Da wirst du doch auf alle Fälle etwas Gold für deine Ratenzahlung abknapsen können. Auch, wenn es dir lästig fällt. Also bitte dreh dich nie wieder einfach so weg, wenn wir dich rufen. Du hast Geld geliehen, und jetzt musst du es zurückzahlen. Du kennst das Spielchen doch, und die Regeln haben sich seit jeher nicht geändert.“
Ich weiß noch bis heute genau, wie ich mich in dieser Situation damals gefühlt habe. Die Angst, die übergroße Angst, die mich sonst bei diesen Begegnungen befallen hatte, sie war nicht mehr da. Ich fühlte mich stärker als sonst – aber letztlich doch nicht stark genug. Ob ich wirklich Mittel und Wege gefunden hätte, mich Mallory und Weiss einfach so zu widersetzen, das Zurückhalten der Ratenzahlungen bis zum bitteren Ende durchzuziehen, bis die beiden vielleicht doch noch von mir abließen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich damals dann doch nicht getraut hatte, weniger aus Furcht vor den beiden Geldeintreibern, als vielmehr aus Scheu vor dem Kraftakt, der eine eigenmächtige Lossagung aus dem Schuldvertrag bedeutet hätte. Und die Kraft für diesen Akt, so glaubte ich, hatte ich schlicht nicht mehr übrigen neben den vielen anderen Baustellen meines Geschäftsbetriebs, die ich zu bearbeiten hatte. Und so schwand mein mühsam aufgebauter Trotz innerhalb weniger Minuten dahin. Wortlos marschierte ich direkt zu Lehmar, um dort meine fällige Rate einzuzahlen. Letztlich wollte ich doch nur, dass alles irgendwie weiterging, und dafür nahm ich auch in Kauf, dass ich weiterhin im Schuldenkorsett eingeschnürt blieb. Ich verfolgte dabei die vage Hoffnung, dass alles irgendwie so weitergehen würde.

Und heute? Heute habe ich noch mein Anwesen, ausreichend Geld, Kontakte und Ansehen in der Stadt. Aber es dauert keine ganze Ewigkeit mehr, dann wird mir alles genommen werden. Weil ich die Raten nicht mehr zahlen können werde, weil sie vielleicht erhöht werden, oder weil sie schlicht keine Tilgungswirkung mehr haben werden. Völlig überschuldet werde ich dann wieder in der Gosse landen. Die vage Hoffnung, meine Geschäftereien unbehelligt bis ans Ende meiner Tage weiterführen zu können, die in Luft geritzte Kalkulation, dass ich die Raten bis an mein Lebensende immer werde zahlen können – sie geht am Ende doch nicht auf. Das ist mir bei meinem jüngsten Kassensturz bitterlich klar geworden. Es gibt diesen Punkt, ich weiß nicht, wie nah oder fern er ist, aber es gibt ihn, da wird die Last der Raten derart angewachsen sein, dass ich sie nicht mehr stemmen kann und meine Schuld bei Lehmar nicht mehr bedienen können werde. Dieser Tag wird vor meinem Ableben sein, da bin ich mir ganz sicher, denn entgegen aller Befürchtungen haben mir sämtliche Heiler, Schwätzer und Doktoren, bei denen ich die letzten Jahre über notgedrungen ein und ausgegangen bin, eine außerordentliche Langlebigkeit bescheinigt. Gegen diese Prognose brauche ich nur die Zinstabelle aus dem Schuldkontrakt und einen Rechenschieber anlegen, um zu wissen, dass ich die Überschuldung meines Geschäftsbetriebs und meinen eigenen Bankrott sehr sicher noch erleben werde, wenn nicht ein Wunder geschieht. Und Wunder, das weiß ich entgegen aller Wüstenrufer und Wanderprediger Worte, die gibt es schlicht nicht. Gott würfelt nicht – er rechnet. Und für mich liegt die Rechnung nun offen zutage, die mir beweist, dass ich mich verspekuliert habe und dass irgendwann alles, was ich mir aufgebaut habe, zusammenbrechen wird. Bis dahin werden noch einige Jahre vergehen, da bin ich guten Mutes. Das lange Rückzugsgefecht hat gerade erst begonnen. Aber es wird der Tag kommen, an dem ich ein letztes Mal Mallory und Weiss begegnen werde und sie mir endgültig den Bauch aufschlitzen. Dabei müsste ich ihnen eigentlich sogar dankbar sein. Bei Lichte betrachtet wollten sie von Anfang an nichts anderes, als mich auf etwas hinzuweisen. Nämlich, dass man bestimmte Angelegenheiten in Ordnung bringen muss, ganz grundlegend in Ordnung, radikal, das heißt an der Wurzel gepackt, und das alles, bevor es zu spät ist. Mit oberflächlichem Herumdoktern verschafft man sich höchstens Zeit, aber nie ist das wirklich eine Lösung des Problems. Wenn man Glück hat, dann friert man das Problem ein, vielleicht für eine lange Zeit sogar, aber irgendwann taut das Problem ja doch wieder auf. Mallory und Weiss wussten das, und es wäre besser gewesen, ich hätte ihnen zugehört. Am besten aber wäre natürlich gewesen, ich hätte niemals bei Lehmar Schulden aufgenommen. Aber ich will hier ja niemanden mit Geschichten über vergossene Milch langweilen.