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    [Story]Spökenkieker

    Spökenkieker

    Ethan arbeitete gerade etwas über einen Monat im Gehlenborg-Kulturzentrum der alten Königsstadt Vengard, als er die Stiefel zum ersten Mal bemerkte. Das Kulturzentrum war in einem der pittoresken Palazzi untergebracht, die an die Zeiten der Herrschaft Rhobars II erinnerten, als Barthos von Laran seine legendären Lesungen hielt und Barden wie Lynard die gewaltigen Amphitheater und Auditorien Vengards füllten. In diesen Zeiten hätte man niemals ein paar weißer, abgetragener Segeltuchstiefel jenseits der Eingangshalle des Palazzo gesehen, es sei denn, an den Füßen eines Botenjungen. Aber die Zeiten waren vorbei, ebenso wie die großen Dichter und Sänger mit ihren spitzen Snapperlederschuhen und samtenen Gewändern. Segeltuchstiefel gehörten mittlerweile zur Uniform Kulturschaffenden und deren Anhängern und Zuarbeitern, und als Ethan sie zum ersten Mal sah, zog er daraus keine negativen Rückschlüsse auf ihren Besitzer. Zugegebenermaßen hätte ihr Träger ein paar neue Schuhe gebrauchen können. Diese hier waren einmal weiß gewesen, aber das lag schon eine ganze Weile zurück. Einer der Stiefel hatte einen bräunlichen Fleck, vielleicht verursacht von zu hastig und heiß eingenommenem Kaffee.
    Mehr fiel Ethan nicht auf, als er die Stiefel zum ersten Mal erblickte in dem kleinen Raum, in dem man seinen Nachbarn nach seinem Schuhwerk einschätzen musste, da man nicht mehr von ihm sah. Ethan erspähte sie unter der Tür der zweiten Kabine der Herrentoilette im dritten Stock des Gehlenborg-Palazzos, als er auf dem Weg zur dritten und letzten Kabine daran vorbeiging. Die Glocken der Innoskathedrale schlugen zwei Mal. Ein paar Augenblicke später trat Ethan wieder heraus, wusch sich die Hände, kämmte sich das Haar und unterzog seine Frisur einer kurzen, selbstkritischen Prüfung, bevor er wieder zurück in Sandrup-Saal ging, wo er half, die Auftritte für die bevorstehende Eröffnung des Vengarder Kulturherbstes zu arrangieren. Zusagen, dass er die Segeltuchstiefel bereits vergessen hatte, als er den Flur hinunterging, wäre eine Übertreibung gewesen, denn im Grunde waren sie gar nicht richtig zu Bewusstsein gekommen. Der Kulturreferent, ein hübscher Nordmarer um die Fünfzig mit stahlblauen Augen und unwirklich weißen Zähnen, der den Namen Stejnar trug, diskutierte gerade mit der Sängerin einer Gruppe namens Van Helsing, die auf dringenden Wunsch irgendeines Honoratioren der Stadt die Eröffnung musikalisch einleiten sollte. „Ich glaube nicht, dass man aus Schweinsleder Seidentücher machen kann“, hatte Stejnar gesagt, „aber wir können es zumindest versuchen.“

    Stejnar war selbst Musiker gewesen; vielleicht keine Berühmtheit wie Lynard oder Kai Hansen -nach Ethans Ansicht war das Bardentum einfach nicht mehr stark genug, um solche mythischen Adelsgestalten hervorzubringen -, aber er war gut gewesen und einigermaßen bekannt. Seine Karriere als Musiker hatte Stejnar aus gesundheitlichen Gründen beendet, was nach Ethans Meinung eine Chiffre für Alkohol- oder Drogenmissbrauch war, aber seine Bekanntheit hatte ihm schließlich einen gut bezahlten Posten als Leiter des Gehlenborg-Kulturzentrums eingebracht, mit dem er als Musiker eng zusammengearbeitet hatte. Offenbar hatte Stejnar seine gesundheitlichen Probleme überwunden; er hielt sich von Alkohol und anderen Substanzen fern.
    Ethan hatte Stejnar auf einer Vernissage kennengelernt; er hatte ihn tatsächlich von der anderen Seite der Kunsthalle aus erkannt. Stejnars Haar wurde an den Schläfen grau und sein hübsches Gesicht war ein wenig hager geworden, aber es war unmöglich, den Mann zu verwechseln, dessen Musik Ethan in seiner Jugend mit beinahe religiösem Eifer gehört hatte und dessen Verse und Melodien so eng mit nahezu allen bedeutsamen Erlebnissen in Ethans jungem Leben verknüpft waren – Ethans erster Kuss zu den Klängen von Stejnars samtiger Stimme, die Feier anlässlich seines Schulabschlusses und Zahlloses mehr.
    Ethans natürliche Zurückhaltung wurde von Bewunderung übermannt, und ohne bewusst den Entschluss gefasst zu haben, war er quer durch den ganzen Saal zu Stejnar hinübergegangen, der gerade alleine vor einem der rätselhaften Gemälde stand, die an diesem Abend präsentiert wurden. Er hatte sich unbeholfen vorgestellt, etwas von „großer Bewunderer“ gemurmelt und bestenfalls mit einem flüchtigen Handschlag und ein paar oberflächlichen Worten gerechnet. Stattdessen hatte Stejnar ihn in eine lange und interessante Unterhaltung verwickelt, die sich zum teil um Musik, zum Teil um Literatur drehte, da Stejnar offenbar dieselben Bücher las wie Ethan. Doch Ethan hatte gespürt, dass am Zauber dieser ersten Begegnung mehr dran war als das, denn Stejnar gehörte zu den seltenen Menschen, mit denen Ethan sich ohne Scheu zu sprechen traute, und es grenzte für ihn ohnehin fast an ein Wunder, überhaupt ohne Scheu mit jemandem sprechen zu können.
    Nach einer Weile hatte Stejnar ihn gefragt, ob Ethan vielleicht Arbeit suchte.
    „Gibt es jemanden in der Kulturbranche, der keine sucht?“, hatte Ethan gefragt.
    Stejnar hatte gelacht und ihn um seine Anschrift gebeten. Ethan gab sie ihm und rechnete nicht damit, jemals wieder etwas von Stejnar zu hören, aber er freute sich über die nette Geste des Nordmarers. Doch nur ein paar Tage später hatte ihm ein Bote des Gehlenborg-Zentrums eine Nachricht überbracht, dass Stejnar ihn, Ethan, für die Mitarbeit an der Planung des Vengarder Kulturherbstes anheuern wolle, als Mitglied einer dreiköpfigen Kommission. Ethan war hocherfreut, geradezu begeistert, und sagte sofort zu.

    Etwa eine Woche, nachdem er die Stiefel zum ersten Mal gesehen hatte, sah Ethan sie wieder. Es musste sich um denselben Mann handeln, der sie trug, denn er saß in derselben Kabine in der Toilette im dritten Stock, genau wie beim ersten Mal, und auch die Fußhaltung war dieselbe. Ethan erkannte auch den braunen Fleck auf dem ehemals weißen Segeltuch und war ein wenig irritiert darüber, dass der Besitzer sich nicht darum scherte. Er ging an der Kabine vorbei, um zur hintersten zu gelangen, die er als seine betrachtete. Er hatte schon immer eine Abneigung gegen das gemeinschaftliche Stehen an den Verrichtungsbecken empfunden und wusste die Abgeschiedenheit einer Kabine zu schätzen. Als er sie wieder verließ, fiel ihm der tote Käfer auf, der neben dem Segeltuchstiefel mit dem Fleck lag; auf dem Rücken, die winzigen Beinchen nach oben gestreckt.
    Als Ethan in den Sandrup-Saal zurückkehrte, saß Stejnar an seinem Schreibtisch und hatte den Kopf in den Händen vergraben. In einer Art riesigem Glaskasten hatten sich Van Helsing mit ihren Instrumenten aufgebaut, und die Sängerin, eine vulgäre Person mit rostiger Stimme, starrte grimmig durch die gläserne Wand zu ihnen hinüber. Ihre musikalischen Mitstreiter, allesamt menschlich abstoßend und beruflich Stümper, scharrten mit den Füßen und blickten betont unbeteiligt in die Luft.
    „Alles in Ordnung?“
    „Nein“, seufzte Stejnar.
    „Was ist denn los?“
    „Ich. Ich bin das Problem. Meine Karriere ist am Ende, ich bin ausgelaugt, im Eimer, gehöre zum alten Eisen…“
    Ethan sah sich nach Marcel-Andre um, dem dritten Mitglied der Kommission, konnte ihn aber nirgends entdecken. Das überraschte Ethan nicht, denn Stejnar hatte in gewissen Abständen solche Ausbrüche und Marcel-Andre verzog sich immer, wenn er einen kommen sah. Sein Gemüt erlaube ihm nicht, dass er sich auf solch heftige Aufwallungen einließ. „Ich weine doch schon bei einer Schiffstaufe“, sagte er.
    „Man kann aus Schweinsleder keine Seidentücher machen“, fuhr Stejnar Ethan an. „Jedenfalls nicht mit diesen Schweinen!“ Er deutete mit der Hand anklagend auf die Musiker im Glaskasten.
    Ethan wusste, dass Stejnar recht hatte, aber er legte ihm aufmunternd die Hand auf die Schulter.
    „Bleib locker, Mann“, sagte er in Anspielung auf einen von Stejnars alten Titel, woraufhin Stejnar kicherte. Kurz darauf lachten sie beide und keine fünf Minuten später waren sie wieder bei der Arbeit, während Van Helsing ihre unterirdische Vorstellung fortsetzten.
    Zwei Wochen stand das Rahmenprogramm des Vengarder Kulturherbstes, und wenn man von Van Helsing absah, war es außerordentlich gelungen, wie Ethan fand: Abwechslungsreich und kurzweilig, aber nie seicht. Ethan bat Stejnar um ein Empfehlungsschreiben, was dieser ihm zusagte.
    „Wenn es hier wieder etwas zu tun gibt, schicke ich dir einen Boten“, versprach Stejnar, reichte Ethan die Hand und zog ihn dann unvermittelt an sich. Ethan war gerührt über diese freundschaftliche Geste und erwiderte die Umarmung, dann verließ er den Palazzo und verschwendete keinen Gedanken mehr an die Stiefel unter der Tür von Kabine Zwei der Herrentoilette im dritten Stock.

    Beinahe zwei Monate hörte Ethan nichts mehr von Stejnar oder dem Gehlenborg-Kulturzentrum. Hier und da fand er Aushilfstätigkeiten, deren Vergütung als nichts anderes denn als Ohrfeige für einen Mann seiner Qualifikation betrachtet werden musste. Langsam wurde er nervös wegen der Miete. Er spielte ein- oder zweimal mit dem Gedanken, zu Stejnar zu gehen und um Arbeit zu bitten, aber seine innere Stimme sagte ihm, dass das ein Fehler wäre. Der Sommer wich nun dem Frühherbst, das Laub der Bäume in den Alleen der Königsstadt färbte sich rot und golden, und die ersten Vogelschwärme zogen sich über den Dächern zusammen, kreisten wie Wolken über den Gassen und Plätzen und erfüllten die Luft mit ihrem Geschrei. Dann kam mit Glanz und Gloria der Vengarder Kulturherbst, dessen exquisites Programm von sämtlichen Zeitungen bejubelt wurde, sogar der Auftritt von Van Helsing wurde allgemein wohlwollend aufgenommen – „Eine kühne vermischte kulturelle Botschaft!“, nannte es die Goth’sche Zeitung. Als Ethan diese Zeilen las, lachte er so sehr, dass seine Zimmerwirtin von unten mit dem Besenstiel gegen die Decke pochte.
    Bereits am nächsten Tag stand der Laufbursche des Gehlenborg-Kulturzentrums in der Tür und bat Ethan, ihm zu Stejnar zu folgen, am besten schon gestern.
    „Du hast dich aber rar gemacht, Junge“, sagte Stejnar und umarmte Ethan wie einen alten Freund. „Was machst du im Augenblick?“
    „Arbeit suchen“, grinste Ethan.
    „Das hatte ich gehofft.“ Stejnar legte ihm den Arm um die Schultern und zog ihn hinüber zu seinem Schreibtisch über den glänzenden Dächern der Königsstadt. Gleißende Helligkeit lag über den Straßen, und Ethan musste seine Augen abschirmen. „Du hast sicher die Berichterstattung in den Zeitungen verfolgt?“
    Ethan nickte.
    „Du warst wirklich phänomenal als mein Assistent“, sagte Stejnar und lächelte, so dass sich ein feines Netz winziger Fältchen um seine blauen Augen herum bildete. „Ich habe mich gefragt, ob du nicht mit Marcel-Andre und mir die Planungen für den Literaturfrühling und den Stückemarkt übernehmen möchtest? Wir brauchen noch ein paar frische Ideen.“
    „Adanos, natürlich!“, rief Ethan begeistert aus. Das klang nach Arbeit für mindestens ein Vierteljahr, vielleicht sogar sechs Monate. Und vor allem würde er mit Stejnar zusammenarbeiten, den er insgeheim als Freund betrachtete.

    Der Herbst neigte sich dem Ende zu, die Bäume verloren ihr Laub und der Wind von der Küste wurde kälter, doch Ethan war mit dem Leben zufrieden, zumindest bis zum frühen Nachmittag seines ersten Arbeitstages im Gehlenborg-Kulturzentrum. Dann meldete sich seine Blase, und er betrat die Herrentoilette im dritten Stock. Er sah die Stiefel unter der Tür von Kabine eins und seine gute Laune war dahin.
    „Es sind nicht dieselben“, murmelte er. „Es können nicht dieselben sein.“
    Aber sie waren es. Er erkannte den braunen Fleck auf dem ehemals weißen Segeltuch, und alles andere war gleich. Und zwar genau gleich, einschließlich der Stelle, an der die Stiefel standen. Ethan konnte einen Unterschied erkennen: Zu dem toten Käfer hatten sich andere Insekten gesellt, Fliegen, Käfer, braune Nachtfalter.
    Ethan ging langsam, sehr langsam, zu seiner Kabine hinüber, schloss die Tür und setzte sich. Der Drang, der ihn hergeführt hatte, war verschwunden. Er blieb sitzen und lauschte nach den Geräuschen des anderen. Atmen, das Rascheln einer Zeitung, Husten oder was auch immer. Doch da war nichts. Überhaupt nichts.
    Weil niemand hier ist, außer mir und dem Toten in Kabine Zwei, dachte er.
    Er räusperte sich und erschrak darüber, wie laut dieses Geräusch in der Stille der Herrentoilette klang. Dann wurde die Tür zum Toilettenbereich aufgestoßen, jemand ging summend zu den Becken und erleichterte sich plätschernd. Ethan entspannte sich etwas. Draußen schlug die Turmuhr der Kathedrale zweimal.
    Vielleicht war der Mann mit den Stiefeln jemand mit festen Gewohnheiten, dachte Ethan, und dieser Gedanke hatte etwas sehr Erleichterndes. Natürlich, das war die Erklärung. Der Besitzer der Segeltuchstiefel hatte die Angewohnheit, gegen zwei Uhr zur Toilette zu gehen, direkt nach dem Mittagessen, und warum auch nicht? Ethan lachte leise auf. Außerdem, wie lange konnte ein Toter auf der Toilette einer städtischen Einrichtung unentdeckt bleiben? Einen Tag? Über ein Wochenende vielleicht? Aber über Monate? Undenkbar. Die Toiletten wurden offensichtlich regelmäßig gereinigt, Papier wurde aufgefüllt und ebenso die Seife, und selbst, wenn man das alles unberücksichtigt ließ – irgendwann fingen Tote doch an zu riechen, oder? Auf der Herrentoilette roch es weiß Innos nicht wie auf einem Rosenfeld, und wenn der Dicke vom museumspädagogischen Referat diesen Räumlichkeiten einen Besuch abgestattet hatte, waren sie beinahe unbetretbar, aber der Geruch einer Leiche wäre doch viel auffälliger, dachte Ethan. Logik blieb Logik, so einfach war das. Vermutlich saß der Kerl mit den Stiefeln einfach nur zu seiner Lieblingszeit auf dem Klo und dichtete eine Grußkarte für Ethan. Seraphis ist blau, Feuerdorn rot, gib’s zu, du dachtest, ich wäre schon tot!
    Ethan stieß ein schrilles Lachen aus. Der Mann, der gerade das Urinal benutzt hatte, war zum Waschbecken gegangen. Das blubbernde Geräusch, als er sich die Hände wusch, hielt kurz inne. Vermutlich lauschte er und fragte sich, wer da in der Kabine so schrill lachte und vor allem worüber, ob er einen hingekritzelten Toilettenspruch gelesen oder an einen schweinischen Witz gedacht oder einfach den Verstand verloren hatte. Es gab schließlich eine Menge Verrückte hier in Vengard. Man sah sie auf den Straßen, wie sie vor sich hinmurmelten oder ohne ersichtlichen Grund lachten – so wie Ethan eben. Er stellte sich vor, wie der Mann mit den Segeltuchstiefeln ebenfalls lauschte, aber es gelang ihm nicht, sich ein Gesicht vorzustellen.
    Plötzlich war ihm gar nicht mehr nach Lachen zumute.
    Plötzlich wollte er nur noch hier raus.
    Das Einzige, was ihn davon abhielt, in kopfloser Flucht aus der Kabine zu stürmen, war der Gedanke daran, dass der Mann am Waschbecken ihn ansehen würde, mustern würde. Wer schrill hinter geschlossenen Toilettentüren lachte, musste mit Blicken rechnen. Also verhielt er sich still.
    Das Wasser wurde wieder eingeschaltet, ausgeschaltet, Schuhe klackten auf den Porzellanfliesen, die Tür wurde geöffnet und fiel dank ihres pneumatischen Armes ganz langsam wieder zu.
    Danach wieder Stille, schwer und glatt und allumfassend.
    Adanos, warum war der Kerl mit den Segeltuchstiefeln so leise? Warum bewegte er sich nicht wenigstens ein kleines bisschen?
    Plötzlich war Ethan überzeugt, dass sein Kabinennachbar tot war, Logik hin oder her, er war tot wie eine ersäufte Katze, seit wer weiß wie lange schon tot, er saß tot da drinnen, und wenn man die Tür öffnen würde, dann…
    Einen Moment lang war Ethan versucht, an die Trennwand zwischen den Kabinen und klopfen und zu rufen: Hallo da drüben, alles in Ordnung?
    Dann sprang er auf, stieß die Kabinentür auf, riss sich im Laufen die Hosen hoch und hastete auf den Flur, wohl wissend. dass er sich im nächsten Augenblick albern und kindisch vorkommen würde, aber das war ihm einerlei. Er schlug die Tür der Herrentoilette heftig hinter sich zu, doch der pneumatische Arm verhinderte den zu seiner Panik passenden Knall. Zügig ging er um eine Ecke, wo ihn eine Frau mit zwei dampfenden Tassen auf einem Tablett mit kühler Neugierde betrachtete.

    „Stejnar?“
    „Was?“, fragte Stejnar, ohne von dem überdimensionalen Papier aufzusehen, das vor ihm auf dem Boden lag. Das Papier war über und über mit Worten und Satzfetzen bekritzelt, mit kleinen Skizzen und Symbolen. Marcel-Andre stand daneben, betrachtete Stejnar und nagte an seiner Nagelhaut, denn mehr zum Nagen hatte er nicht, die Fingernägel endeten exakt an der Stelle, an der sie über das lebende Fleisch ihres Nagelbetts hinauswachsen wollten. Sein Blick flackerte immer wieder nervös zur Tür, damit er im Falle eines Ausbruchs Stejnars schnell die Flucht ergreifen konnte.
    „Ich glaube, etwas stimmt nicht in der…“, setzte Ethan an.
    „Noch was?“, stöhnte Stejnar und raufte sich das prachtvoll wallende Haar. Die silbernen Strähnen darin waren so kunstvoll arrangiert, dass Ethan in Betracht zog, dass Stejnar sie vielleicht nur gefärbt hatte.
    „Was meinst du?“, fragte Ethan.
    „Das ist alles total verkorkst“, rief Stejnar und wies anklagend auf das unübersichtliche Papier. „Das ganze Konzept ist total verkorkst, ich vertrage diesen Mist einfach nicht mehr!“
    Aus dem Augenwinkel sah Ethan, wie Marcel-Andre wie ein leises Lüftchen durch die Tür verschwand.
    „Wenn wir die Einzelteile ausschneiden und neu anordnen…“
    „Neu angeordneter Mist ist auch bloß Mist“, fuhr Stejnar auf, doch Ethan legte ihm beide Hände auf die Schultern und sagte: „Sei mal einen Moment still und hör zu.“
    Das hätte er zu keinem anderen Menschen auf der Welt sagen können, aber Stejnar war still und hörte zu, und Ethan nahm das kleine, höllisch scharfe Messer vom Schreibtisch – eine echte Antiquität, die Stejnar gerne an einer Kette bei sich trug, als sei sie nicht nur ein teurer Alltagsgegenstand, sondern ein persönlicher Glücksbringer – und zertrennte das Papier mit ein paar schnellen Schnitten. Die lange Nacht der Poesie würde nun den Literaturfrühling einleiten – soweit Ethan wusste, sollte in diesem Rahmen eine bekannte Lyrikerin aus Khorinis, deren Gedichte sich durch einen kühnen Umgang mit Metrik, Sprachregistern und Zitaten auszeichneten und deren Themen einen glühend-obesessiven Bogen von Einsamkeit hin zu Geschlechterkonstruktionen schlugen, auf Wiglaf von Gotha, den Grand Seigneur der epischen Dichtung treffen, der sich auf den Spuren Barthos von Larans wähnte und dessen achtundzwanzigbändiges Panegyrikon auf die goldenen Zeiten unter Rhobar II von konservativen Kreisen als jüngste der Heiligen Schriften verehrt wurde. Den umfangreichen Block Litera-Touren durch Myrtana teilte er mit gewagten Schnitten in Einheiten, die man grob mit Tradition, Reflexion und Vision hätte überschreiben können, wenn man dem kulturbeflissenen Vengarder solch banale Kategorien hätte vorgeben wollen; Latifah Urshak, die Stejnar aus Gründen ethnischer Gerechtigkeit geladen und im Vormittagsprogramm hatte versenken wollen, teilte Ethan einen Auftritt auf dem Höhepunkt des Literaturfrühlings zu, und zwar eine Freiluftlesung auf dem höchstgelegenen Punkt der Stadt, denn Urshaks Werke waren von zwei Grundmotive geprägt: der Vorrangstellung der Natur und der Visualisierung landschaftlicher Besonderheiten, eine Art Erkenntnissuche, die melodiöse Sprache, die Suche nach Schönheit, Glück und Aufrichtigkeit. miteinander verband. Es würde einen Tag der Illuminationsliteratur geben und zum Abschluss einen Wettstreit der Vengarder Lokalmatadoren, die in einer vorgegebenen Zeit gemeinsam eine stringente Geschichte verfassen sollten, der jeder der Teilnehmer seinen unverwechselbaren Stil aufprägen sollte. Dem gelungensten Beitrag würde das Vengarder Scharfrichterbeil zuerkannt werden, ein Kleinkunstpreis, dessen Name augenzwinkernd an das Schicksal allzu vorlauter Stadtpoeten unter Rhobar II erinnerte.
    Ethan schnitt und fügte zusammen, arrangierte und derangierte, bis ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Ihm war trotz des kühlen Wetters heiß geworden, sein Hemd klebte an seinem Oberkörper, und er war regelrecht außer Atem, als er endlich aufsah und zu Stejnar hinübersah, der ihn sprachlos anstarrte. In Stejnars Augen lag wieder der Glanz, den die Resignation verschleiert hatte, und um seine Mundwinkel spielte ein Lächeln. Stejnar fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, was Ethan einen Hauch von Verlegenheit spüren ließ. Marcel-Andres Kopf erschien im Türrahmen, und als er bemerkte, dass die Stimmung im Raum umgeschlagen war wie das Aprilwetter, glitt er beinahe lautlos zu ihnen hinüber und begann, Ethans Arrangements zu loben. Marcel-Andre mochte ein unsicherer und ängstlicher Mensch sein, doch Gefühle wie Neid und Missgunst schienen ihm fremd zu sein. Auf seinem runden rosigen Gesicht lag die reine Freude über Ethans gelungene Komposition. Die Segeltuchstiefel in der zweiten Kabine hatte Ethan völlig vergessen.
    Am nächsten Abend fielen sie ihm wieder ein. Er war heute nicht auf der Toilette im dritten Stock gewesen; am Morgen hatte er gleich beim Hereinkommen die Örtlichkeiten im Erdgeschoss genutzt, am Mittag die Einrichtung im Restaurant, in dem er mit Stejnar und Marcel-Andre die Mittagspause verbracht hatte, und am Nachmittag war er zweimal im ersten Stock gewesen, wo er mit der Leiterin des kulturpädagogischen Referats eine mögliche Beteiligung der Vengarder Schulen an einem Junge Dichter-Wettbewerb besprochen hatte. Kurz vor Feierabend hatte er einige Briefe in den Postkasten neben dem Hausmeisterbüro gebracht – die er ohne weiteres auch in die Ablage in Stejnars Arbeitszimmer hätte legen können – und noch einmal die Toilette im Erdgeschoss benutzt. War es möglich, dass er die Herrentoilette im dritten Stock mied? Den ganzen Tag über mied, ohne es zu bemerken? Ethan nickte in die Leere seines Zimmers hinein. Er hatte sie gemieden wie ein kleiner Junge, der lieber einen Umweg in Kauf nahm, als am örtlichen Spukhaus vorbeizugehen, gemieden wie die Pest.
    „Na und?“, sagte er laut in die abendliche Stille hinein. „Und wenn schon!“
    Aber selbst in einer großen Stadt wie Vengard hatte es etwas Übertriebenes, wenn man sich wegen eines Paares schmutziger Segeltuchstiefel nicht mehr auf die Toilette wagte, und Ethan wusste, dass das aufhören musste. Er musste etwas ändern.

    Geändert von El Toro (18.05.2021 um 10:00 Uhr)

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    Am nächsten Tag jedoch geschah etwas, das alles änderte. Die Tür zwischen ihm und Stejnar fiel ins Schloss.
    Ethan war ein zurückhaltender Mensch, der nicht leicht Freundschaften schloss. In Ardea, dem kleinen Städtchen, in dem er aufgewachsen war, hatte eine Laune der drei Götter ihn mit einer Gitarre in der Hand auf die Bühne verschlagen – womit er selbst zuallerletzt gerechnet hätte. Der Gitarrist der Molerats, einer Truppe ehemaliger Schüler der Ardeer Bildungsanstalt, hatte sich kurz vor einem gut bezahlten Auftritt Verbrennungen an den Fingern zugezogen, als er während einer Kontrolle versuchte, seinen Sumpfkrautstängel vor der Miliz in der hohlen Hand zu verstecken und fiel aus. Der Sänger der Molerats wohnte in der Nachbarschaft und wusste, dass Ethan Gitarre spielen konnte. Ethan war schmal und friedfertig, der Sänger hatte die Statur eines Nordmarorks und war potentiell gewalttätig. Er stellte Ethan mit dem rauen Charme, der den Bewohner Ardeas eigen war, vor die Wahl, entweder das Instrument des verletzten Gitarristen zu spielen oder es sich bis zum fünften Bund dorthin rammen zu lassen, wo die Sonne niemals schien. Diese glaubhaft vorgetragene Androhung trug erheblich dazu bei, dass Ethan seine natürliche Scheu vor großem Publikum ablegte. Nach dem dritten Stück begann es ihm sogar zu gefallen.
    Er war nicht nur bei der Feier, er machte die Feier, unsichtbar und gleichzeitig unentbehrlich. Ohne, dass darüber gesprochen wurde, blieb er Gitarrist der Molerats, und als sie sich eines Tages auflösten, nachdem der Sänger dem Schlagzeuger wegen eines Mädchens zwei Zähne ausgeschlagen hatte, siedelte Ethan nach Vengard um, um sich dort dem Studium der Kulturwissenschaften zu widmen. Er hatte hier und dort ein paar amüsante Bekanntschaften, aber in all der Zeit nur einen einzigen Menschen getroffen, den er wirklich als Freund betrachtete, und das war Stejnar.
    Stejnar und er gingen nach Feierabend hin und wieder in die Spitzhacke, unterhielten sich über Musik oder Leute, die sie nicht leiden konnten, und tranken ein dunkles, an Orkpisse erinnerndes Bier, das als Spezialität des Hauses galt.
    Als Ethan gerade fragte, ob es wahr sei, dass Stejnars Bassist bei dem legendären Auftritt in Khorinis eingeschlafen und von der Bühne gefallen sei und sich dabei das Schlüsselbein gebrochen habe, spürte er plötzlich Stejnars Hand, die unter dem Tisch zwischen seine Beine wanderte und sanft zudrückte. Ethan zuckte so heftig zurück, dass sein Glas ins Wanken kam und Bier aufs Tischtuch schwappte. Die Kerze kippte um und fiel ebenfalls auf das Tischtuch, wo sie im biergetränkten Stoff verlosch.
    „Adanos, Stejnar!“, war alles, was Ethan hervorbringen konnte. Es hörte sich hoffnungslos unzureichend an.
    „Tut mir leid“, lächelte Stejnar, und er sah tatsächlich so aus, als täte es ihm ein wenig leid, aber seine Augen funkelten auch belustigt. Sein kleines Glücksmesser baumelte an einer goldenen Kette um seinen Hals, die scharfe Klinge in eine zirkonbesetzte Hülle geschmiegt. Er umfasste es kurz mit einer Hand und sagte: „Ich dachte, du wärst jetzt bereit dafür.“
    „Bereit wofür?“ fragte Ethan irritiert.
    Stejnar lachte leise. „Du hast doch mich angesprochen auf der Vernissage, schon vergessen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass es dir nicht nur um meine Kunst ging.“
    Ethans Herz klopfte unangenehm gegen seine Rippen. „Ich habe kein Interesse“, murmelte er.
    „Vielleicht hätte ich etwas zartfühlender sein sollen“, sagte Stejnar, mehr zu sich als zu Ethan, doch Ethan missfiel die unumstößliche Gewissheit, die er in Stejnars stahlblauen Augen sah. „Tun wir einfach so, als sei nichts passiert“, fuhr Stejnar fort. Bis zum nächsten Versuch, fügten seine Augen hinzu.
    Es ist schon passiert, dachte Ethan unbehaglich, aber er sprach es nicht aus, das ließ die Stimme der Vernunft nicht zu, die nicht riskieren wollte, dass Stejnar hier, in einer schummrigen Ecke einer zweitklassigen Großstadtkneipe, einen seiner berüchtigten Ausbrüche bekam. Er dachte an die gute Arbeit, die Stejnar ihm verschafft hatte, daran, wie charmant er sein konnte, wenn er nicht gerade in einer seiner persönlichen Krisen steckte und wie angenehm es bisher gewesen war, mit ihm zusammenzuarbeiten. Die Freundschaft zwischen ihnen hatte Ethan viel bedeutet, das wog schwer in der Waagschale. Und außerdem, Stejnar hatte ihn ja nicht vergewaltigt, oder? Er konnte sich seinen Zorniger-junger-Mann-Auftritt getrost sparen, also nickte er nur und hielt den Mund. Nein, sein Mund schnappte zu wie ein Fangeisen, und sein ganzes Herz befand sich unter dem Bügel dieser Falle.
    „Gut, es ist nie passiert“, hörte er sich sagen.

    In der kommenden Nacht schlief Ethan schlecht und wachte um vier mit schmerzendem Kiefer auf, als er in sein Laken gewickelt auf den Boden fiel. Er zog sich an, trank eine Tasse Tee nach der anderen und wartete, bis es Zeit wurde, zur Arbeit zu gehen.

    Ethan und Marcel-Andre, offenbar Frühaufsteher, waren dabei, verschiedene Blitzlesungen für den Literaturfrühling auf einer Pinnwand zu arrangieren – das gewisse Etwas dieser Lesungen bestand darin, dass sich die Autoren und Autorinnen mit einer Handvoll Assistenten auf belebten Plätzen unter die Passanten mischten und in einer kleinen, überraschenden Inszenierung ihre Texte vortrugen, wobei sie von ihren Helfern teilweise musikalisch, teilweise pantomimisch oder auf andere Art künstlerisch unterstützt wurden -, als sich die ungewohnte Menge an Tee deutlich bemerkbar machte. Ethan verließ den Sandrup-Saal und wandte sich instinktiv der Treppe zu, um die Toiletten einen Stock höher oder tiefer aufzusuchen, aber das konnte er sich nicht durchgehen lassen. Er zwang sich, den Flur entlangzugehen, an dessen Ende seine Kabine – und der spezielle Freund – warteten. Gleich hinter der Tür blieb er stehen, rieb sich die Schläfen und spähte zu den Kabinen hinüber, doch er konnte nichts erkennen. Der Winkel stimmte nicht.
    Vergiss es, dachte er sich. Geh einfach pinkeln und hau wieder ab!
    Langsam schritt er zu den Urinalen hinüber, und da sonst niemand anwesend war, hielt sich sein Unwohlsein darüber in Grenzen. Es war normal, dass Männer Urinale benutzten, statt sich in Kabinen zurückzuziehen. Er verhielt sich also völlig normal, wenn er die Kabine mied, oder? Mit diesem beruhigenden Gedanken versuchte er sich zu entspannen, doch es dauerte lange, bis etwas kam.
    Auf dem Weg hinaus blieb er stehen, neigte den Kopf wie neugieriger kleiner Hund und lauschte. Absolute Stille. Dann drehte er sich um, ging ein paar Schritte zurück und stellte sich so, dass er gerade so die Tür der zweiten Kabine sehen konnte.
    Sie waren immer doch da.
    Schmutzigweiße Segeltuchstiefel mit einem braunen Fleck.
    Es war noch früh am Morgen, und das Gehlenborg-Kulturzentrum stand weitgehend leer, aber die Stiefel waren da. Ethans Blick fiel auf eine Fliege, die mit leerer Gier gegen die Kabinentür summte. Nach etlichen vergeblichen Versuchen, die Tür zur durchdringen, landete sie auf den Fliesen und krabbelte durch den Spalt auf die schmutzige Stiefelspitze zu. Dort verharrte sie und fiel einfach um, in die wachsende Ansammlung von toten Insekten hinein, die die Stiefel nun umgaben. Nachtfalter, Käfer, Fliegen und sogar eine große Küchenschabe, die wie eine Schildkröte auf dem Rücken lag.
    Mit tauben Beinen verließ Ethan die Toilette und ging mit großen Schritten – ohne irgendeine wahrnehmbare Erschütterung - durch den Flur. Ihm war, als ginge er nicht, sondern als schwebte das Gebäude an ihm vorbei wie Stromschnellen an einem Felsen. Er dachte daran, sich krankzumelden, noch bevor Stejnar ins Kulturzentrum kam, aber das schien ihm keine gute Idee zu sein. Stejnar würde es persönlich nehmen, und vielleicht war Ethan seine Arbeit im Gehlenborg-Palazzo dann schneller los, als er es sich erlauben konnte. Vor einer Woche hätte er über diese Vorstellung herzlich gelacht, aber vor einer Woche hatte er auch noch an die verrückten Dinge geglaubt, die man ihm in seiner Kindheit und Jugend beigebracht hatte: dass es Freunde wirklich gab und Gespenster nur Einbildung waren.
    Marcel-Andre lächelte, als Ethan den Saal betrat. „Ich dachte schon, du wärst da drin gestorben.“
    „Nein, ich nicht“, murmelte Ethan.

    Als er am Abend nach Hause ging, erschien ihm die Straße vor ihm geradezu sinnbildlich für seinen eigenen Weg in den Nervenzusammenbruch. Stejnar war den ganzen Tag über gereizt und unfreundlich gewesen, aber immerhin zu jedem, der es wagte, ihn anzusprechen, und Ethan hatte ständig an die Stiefel denken müssen. Anfangs hatte er gedacht, er könnte dem Problem einfach aus dem Wege gehen, indem er die Toilette im dritten Stock mied und der gedanklichen Beschäftigung mit den Stiefeln und ihrem Besitzer auswich. Aber das konnte er nicht. Die Stiefel fielen ihm in den unpassendsten Momenten ein.

    Auch in den nächsten Tagen verbesserte sich Ethans Zustand nicht. Der Gedanke an die Stiefel pochte in ihm wie ein alter Schmerz. Er musste auch an die Insekten denken und daran, was das Reinigungspersonal offenbar nicht sah, wenn es das Papier auffüllte oder Kabine Zwei reinigte. Dann sah er auf die Uhr und stellte fest, dass eine halbe Stunde vergangen war, manchmal auch mehr, ohne dass er hätte sagen können, was er in dieser Zeit anderes getan hatte als an die Stiefel zu denken. Ethans Arbeit litt darunter, und Stejnar nahm es persönlich. Marcel-Andre sah Ethan aus seinen kindlichen Kulleraugen traurig an, wenn Stejnar ihn abkanzelte, aber was sich angesichts dieser Behandlung an Scham, Wut und Ärger in Ethan hätte einstellen müssen, erlag der umfassenden Taubheit, die der Gedanke an die Stiefel verursachte.

    Eines Nachts erwachte Ethan in der Überzeugung, dass es sich um einen garstigen Streich handelte, den man ihm spielte. Stejnar hatte es eingefädelt, wahrscheinlich unterstützt von dem Dicken von der Museumspädagogik und dem unfreundlichen Pförtner. Vielleicht steckte auch die Leiterin des kulturpädagogischen Referats mit ihnen unter einer Decke. Er hatte neulich beobachtet, wie sie sich mit dem Dicken unterhielt. Sie hatte kurz zu Ethan hinübergesehen und ihm gewinkt, und dann mit dem Dicken gelacht. Möglicherweise steckte das ganze Gehlenborg-Kulturzentrum mit drin, außer Marcel-Andre, der kein Geheimnis bewahren konnte. Aber bei allen anderen war es denkbar. Ethan zog in Betracht, dass auch Van Helsing oder Latifah Urshak beteiligt sein könnten. Es gehörte nicht viel dazu, sich die Stiefel überzustreifen und in die Kabine im dritten Stock zu setzen, wenn Ethan gerade unterwegs zur Toilette war.
    Im Licht der Morgensonne erschienen ihm solche Gedanken als die verrückten Hirngespinste, die sie waren, nur verschwanden sie durch diese Erkenntnis nicht. Ethan befahl ihnen, zu verschwinden, er beharrte darauf, dass kein von Stejnar geführter geheimer Vernichtungskrieg gegen seinen Verstand stattfand. Und dann sah er sie wieder vor seinem geistigen Auge, die ganze Bande, wie sie in der Spitzhacke saßen, tranken und lachten, Stejnar, der Pförtner, der Dicke, die Kulturpädagogin, die Sängerin von Van Helsing, Latifah Urshak und sogar Wiglaf von Gotha, der Großmeister epischer Heldendichtung. Sie lachten, lachten über Ethan, während die schmutzigweißen Stiefel, die sie sich reihum anzogen, in einer Papiertüte auf dem Tisch standen, zusammen mit einer Dose toter Insekten, die sie als Streudekoration um ihre Füße verteilten, wenn sie auf der Toilette saßen und sich mühsam das Lachen verbissen.
    Ethan konnte die Tüte und die Dose sehen. So schlimm war es geworden.
    Und dennoch war dies nicht einmal das Schlimmste.
    Das Schlimmste war, dass die Toilette im dritten Stock eine dunkle Anziehungskraft auf ihn ausübte, so als wäre in Kabine Zwei ein starker Magnet verborgen und Ethans Taschen voller Eisenspäne. Hätte ihm jemand so etwas erzählt, hätte er sich zwar bemüht, ernst zu bleiben, um sein Gegenüber nicht zu kränken, aber er hätte innerlich gelacht. Aber das schreckliche Gefühl der Faszination war nicht zu leugnen. Er spürte den Sog den ganzen Tag, und es war, als würde er auf der Spitze eines Turmes über die Zinnen gezerrt werden. Er wollte sie sehen, musste sie sehen, obwohl ihm klar war, dass ein Blick ausreichen könnte, um den Verstand völlig zu verlieren. Aber das spielte keine Rolle. Er wollte sie noch einmal sehen. In seinen Träumen stand er vor Kabine Zwei und öffnete die Tür, nur um einen Blick hineinzuwerfen.
    Er wusste nicht, mit wem er darüber sprechen sollte, denn ihm war klar, dass er darüber sprechen musste. Wenn er jemandem sein Herz ausschüttete, würde die ganze Angelegenheit ihre Form verändern und einen Griff bekommen, an dem er sie packen konnte. Dennoch scheute er sich, seine Bekannten mit seinen scheinbaren Wahnvorstellungen zu behelligen. Er könnte es ihnen nicht verdenken, wenn sie ihn für verrückt hielten und nach der Unterhaltung mieden. Er begann, nach der Arbeit Hafenkneipen aufzusuchen, wo Getränke und Gespräche am billigsten waren. Zweimal gelang es ihm tatsächlich, mit anderen Männern ins Gespräch zu kommen – eine der wenigen Frauen anzusprechen, wagte Ethan nicht, und schon gar nicht mit einem Anliegen wie dem seinen im Gepäck. Beim ersten Mal hatte er kaum den Mund aufgemacht, als der Mann, den er sich ausgesucht hatte, eine Predigt über Natalia Dormiens y Berion begann, die Bürgermeisterin von Vengard, über ihre angeblichen Verwicklungen in den Skandal um die L. Brothers Stealth & Security und den engen Zusammenhang mit den orkischen Terroranschlägen auf der Insel Khorinis. Es war Ethan unmöglich, ein anderes Thema anzuschneiden, so dass er nach einer Stunde frustriert aufgab. Immerhin, das Tröstliche an dem Gespräch war, dass er selbst offenbar nicht der einzige Verrückte in Vengard war.
    Beim zweiten Mal gelang es ihm, ein vergleichsweise beiläufiges Gespräch mit einem Mann zu beginnen, der wie ein Schmied aussah. Sie sprachen über das Wetter, über den Weihnachtstrubel und darüber, wie schwierig es war, in Vengard anständig bezahlte Arbeit zu finden. Ethan schwitzte die ganze Zeit über, so als müsste er schwere körperliche Arbeit verrichten, aber er machte seine Sache gut, fand er. Er verhielt sich normal. Nachdem er dem Schmied ein paar Gläser ausgegeben hatte, fasste er den Mut, zum Thema zu kommen.
    „Darf ich dir etwas wirklich Seltsames erzählen?“, fragte er.
    „Hör mal, ich habe kein Interesse an Männern. Ich meine, mir ist es gleich, worauf du stehst, aber bei mir läuft da nichts. Nichts für ungut, aber ich sage immer: Klare Fronten.“
    „Ich wollte auf nichts dergleichen hinaus“, murmelte Ethan.
    „Gut. Was ist dann das Seltsame?“, erwiderte der Schmied.
    „Wie bitte?“
    „Du hast doch gerade gesagt, dass du mir etwas wirklich Seltsames erzählen wolltest“, sagte der Schmied.
    „Ach, so seltsam war es auch wieder nicht“, antwortete Ethan, blickte auf die Uhr und sagte, dass es langsam Zeit würde zu gehen.
    Gerade war er im Begriff, die Kneipe zu verlassen, als eine Frau von der Straße hereinkam. Sie schien Mitte dreißig zu sein, weder auffällig hübsch noch hässlich, hatte welliges, dunkles Haar, trug keine Schminke und war in ein reizloses Kleid gehüllt.
    „Guten Abend“, sagte sie mit melodiöser Stimme in den Schankraum hinein. Die anwesenden Männer betrachteten sie mit unverhohlenem Interesse „Wie geht es den Herren an diesem wunderschönen Winterabend?“
    „Alles in Ordnung“, sagte der Schankwirt.
    Die Frau lächelte, und der ganze Raum schien heller zu werden. Nun fand Ethan sie doch ausnehmend hübsch.
    „Hört mal her“, sagte die Frau mit ihrer tröstlichen Stimme. „Ich bin eine Barmherzige Schwester Innos'. Wir möchten einsamen Männern helfen. Ihr seid mir und dem Herrn Innos herzlich willkommen, mir zu einem Beisammensein mit Tee und Gebäck und guten Gesprächen in unserem Gemeindehaus zu folgen.“
    Der Schmied, mit dem Ethan sich unterhalten hatte, bekam glänzende Augen. Einige der Besucher scharrten unruhig mit den Füßen, aber keiner wagte es zu antworten.
    Die Frau räusperte sich, lächelte erneut, noch verlockender, und wiederholte ihre Einladung. Es wurde still im Schankraum.
    „Warum nicht?“, sagte der Schmied. „Ich komme mit. Immer noch besser, als in diesem Loch zu sitzen.“ Er leerte sein Glas und stand auf. Im Vorübergehen warf er Ethan einen vielsagenden Blick zu.
    „Ich komme auch mit“, sagte ein anderer.
    Ethan stand in dem heruntergekommen, nach Bier riechenden Raum, Hemd und Haar verschwitzt, mit einem Herzen voller Kummer - und schwieg. Die Barmherzige Schwester Innos' warf ihm ein sanftes Lächeln zu und verließ die Taverne zusammen mit den Männern, und Ethan blieb zurück.

    Wenige Tage vor Abschluss der Planungen für den Literaturfrühling verließ Ethan den Sandrup-Saal, um sich zu erleichtern. Seit einiger Zeit nutzte er die Toilette im sechsten Stock, denn die im vierten und fünften lagen direkt über der im dritten, und Ethan hatte durch das alte Mauerwerk hindurch gespürt, wie der Besitzer der Stiefel stumm zu ihm hinaufblickte. Die Örtlichkeiten im sechsten Stock lagen auf der anderen Seite, und das schien die beste Lösung für Ethans Problem zu sein. Er wähnte sich bereits auf dem Weg hinauf in den sechsten Stock, als er blinzelte und sich in der Herrentoilette im dritten wiederfand, wo sich hinter ihm die Tür mit leisem Keuchen schloss. Ethan hatte noch solche Angst gehabt, teils wegen der Stiefel, aber vor allem wegen der Tatsache, dass sein Bewusstsein völlig ausgesetzt zu haben schien. Er wusste nicht, wie er hierhergekommen war. Fassungslos stand er vor den Waschbecken und wäre dort bis in alle Ewigkeit stehengeblieben, wäre nicht plötzlich die Tür hinter ihm aufgegangen und schmerzhaft in seinen Rücken gestoßen.
    Es war Stejnar.
    „Entschuldige, ich hatte ja keine Ahnung, dass du zum Meditieren herkommst“, sagte er.
    Ohne Ethans Antwort abzuwarten ging er an ihm vorbei zu den Kabinen – er hätte auch keine Antwort bekommen, denn Ethans Zunge schien mit seinem Gaumen untrennbar verwachsen zu sein. Es gelang Ethan, seine Beine, die sich wie mit eiskaltem Wasser gefüllt anfühlten, irgendwie zu den Urinalen zu manövrieren, und das auch nur, weil er Stejnar nicht den Augenblick des Triumphs gönnen wollte, wenn er fluchtartig die Toilette verließ. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er Stejnar als seinen Freund betrachtet, vielleicht sogar seinen besten Freund, aber die Zeiten hatten sich eindeutig geändert.
    Ethan betätigte die Spülung, ohne zu wissen, ob es überhaupt nötig war. Er drehte sich um und schlich hinüber zu den Kabinen, wo er ein wenig in die Knie ging, um unter dem Türspalt von Kabine Zwei hindurchzuspähen. Die Stiefel standen dort, wo sie immer standen, die Käfer, Fliegen und die Kakerlake waren dort, und inmitten dieses abscheulichen Stilllebens standen Stejnars Schuhe. Nicht davor oder dahinter oder daneben, sondern mittendrin. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte sich Ethan ruhig.

    Am nächsten Tag tat er, was er von Anfang an hätte tun sollen: Er lud Marcel-Andre zum Essen ein, und nachdem sie eine Weile über die Arbeit geplaudert hatten, erzählte Ethan mit gespielter Beiläufigkeit, dass er anlässlich des Literaturfrühlings eine Anthologie mit Kurzgeschichten über unheimliche Begebenheiten in und um Vengard herum anstoßen wolle, weil sich die Leser nach solchen Erzählungen geradezu die Finger leckten. Ob Marcel-Andre nicht eine gute Geschichte kenne, vielleicht sogar etwas, das mit dem Gehlenborg-Palazzo zusammenhinge, um einen erzählerischen Rahmen zu schaffen? Immerhin arbeitete Marcel-Andre seit Jahren dort, ebenso wie Stejnar.
    „Ach, du spielst auf die Geschichte mit dem Gespenst an“, erwiderte Marcel-Andre und lachte. Er spießte eine Kartoffel auf, kaute, schluckte und trank etwas Wasser. „Wer hat dir davon erzählt, Ethan?“
    „Habe ich irgendwo aufgeschnappt“, sagte Ethan und seine Stimme klang vollkommen ruhig bei dieser Lüge.
    „Sicher, dass du es nicht irgendwo herumspuken gesehen hast?“, fragte Marcel-Andre augenzwinkernd. Das war das Äußerste an Spott, was Marcel-Andre zustande brachte.
    „Nein“, sagte Ethan ernst, und das war die reine Wahrheit. Er hatte nur seine Stiefel gesehen.
    „Ach, inzwischen hat sich die Aufregung um das Gespenst gelegt, aber vor zehn Jahren haben alle davon gesprochen“, fuhr Marcel-Andre mit wichtiger Miene fort. „Im dritten Stock, wo wir arbeiten, da soll der Geist des Burschen spuken, den es dort erwischt hat.“
    „Erwischt?“
    Marcel-Andre kicherte ein wenig. „Ja. Auf dem Klo.“ Nun prustete er los.
    Ethan stimmte in das Lachen ein. Zu verrückt, auf dem Klo!
    Marcel-Andre fing sich wieder und versuchte, geheimnisvoll auszusehen; ein Ausdruck, dessen er nicht fähig war.
    „So etwas habe ich auch gehört“, sagte Ethan.
    „Das ist schon passiert, bevor ich am Gehlenborg angefangen habe“, sagte Marcel-Andre. „Stejnar hat mir die Geschichte erzählt.“
    „Hat er das Gespenst selbst gesehen?“, fragte Ethan und lachte, als wäre der Gedanke, dass jemand ein Gespenst sehen könnte, schon für sich genommen ein Witz. Innerlich schauderte es ihn, wenn er daran dachte, dass Stejnar in dem Gespenst gesessen hatte.
    „Nein, er hat immer darüber gelacht. Und über die Leute, die… naja…“ Marcel-Andre legte das Besteck aus der Hand. „Du weißt ja, wie er manchmal sein kann.“
    „Bösartig.“
    Marcel-Andre zuckte zurück, als hätte Ethan ihm eine Ohrfeige verpasst, aber dann lächelte er matt und nickte.
    „Was ist denn mit dem Burschen passiert, der in der Toilette gestorben ist?“, fragte Ethan weiter.
    „Er soll ein stadtbekannter Verkäufer von Sumpfkraut und anderen verbotenen Substanzen gewesen sein. Die Jungs und Mädels im Palazzo ließen sich mit dem ganzen Zeug beliefern. Damals war es zwar schon verboten, aber die Strafen waren noch nicht so drakonisch wie heute, wo Natalia Bürgermeisterin ist. Dieses Gebäude war ein regelrechter Heuschober, wenn du verstehst, was ich meine.“
    Ethan nickte. „Wie hieß der Mann?“
    Marcel-Andre zuckte mit den Schultern. „Das hat Stejnar mir nie gesagt. Aber jeder kannte ihn, denn er kam zweimal die Woche mit seinem Koffer und verteilte seine Lieferung. Angeblich war es ein Koffer aus Snapperleder, den er sich mit Handschellen am Handgelenk befestigte. Wie in einem ganz schlechten Roman, nicht wahr?“
    „Im Erdgeschoss war der Koffer also voll mit Kraut, und im sechsten Stock mit Gold“, murmelte Ethan.
    „Ja, wie in diesem Märchen. Er hat Kraut zu Gold gesponnen. Aber an diesem Tag hat er es nur bis in den dritten Stock geschafft. Dann hat seine Zauberspindel versagt.“
    „Wie wurde er denn…?“
    „Erstochen. Ich habe gehört, dass ihm jemand ein Messer oder einen Brieföffner ins Auge gestoßen haben soll.“
    Ethan sagte nichts. Er konnte es nicht, denn er sah die Szene so klar und deutlich vor Augen, wie er die Papiertüte mit den Stiefeln auf dem Tisch der Verschwörer in der Spitzhacke gesehen hatte. Ein kleines Messer, eine höllisch scharfe Klinge, die durch die Luft zischte und in den verblüfften kreis einer Pupille eindrang. Er zuckte zusammen.
    „Schlimm, nicht wahr?“, sagte Marcel-Andre. „Aber wahrscheinlich ist das nur eine Legende. Wahrscheinlich hat ihn einfach jemand erstochen, ganz banal in die Brust mit irgendeinem billigen Taschenmesser.“
    Ethan nickte, obwohl er es besser wusste.
    „Der Mörder muss jedenfalls einen scharfen Gegenstand bei sich gehabt haben“, fuhr Marcel-Andre fort. „Als man den Toten fand, war sein Koffer nicht mehr da.“
    „Die Kette der Handschellen wurde mit einem Taschenmesser durchtrennt?“, fragte Ethan ungläubig.
    Marcel-Andre schüttelte unbehaglich den Kopf. „Nicht die Kette, nein. Als die Miliz den Toten von der Toilette holten, fand man in der Schüssel seine linke Hand.“

    Auf dem Rückweg zum Gehlenborg-Kulturzentrum fragte Ethan: „Also, wegen der Anthologie… Der Geist des Burschen spukt angeblich… wo genau? In der Toilette?“
    „Das haben zumindest einige behauptet. Aber du kennst ja die Leute.“ Marcel-Andre machte mit den Händen eine flatternde Bewegung links und rechts seiner Pfirsichwangen. „Sie haben gesagt, sie hätten seine Stiefel unter irgendeiner Kabinentür gesehen. Aber das beweist ja nur, dass die ganze Sache ein Hirngespinst ist. Man hörte es nur von Leuten, die ihn kannten und wussten, dass er solche Stiefel trug.“
    Ethan, der ein unschuldiges Kind in Ardea gewesen war, als der Mord geschah, nickte zustimmend.
    „Du weißt ja, was für ein Verschleiß in der Kulturbranche herrscht“, plauderte Marcel-Andre weiter. „Heute hier, morgen da. Ich weiß nicht, ob überhaupt noch jemand hier arbeitet, der schon damals hier war, außer Stejnar und einige der Putzkräfte, aber die haben bestimmt nichts bei dem Burschen gekauft.“
    „Wohl kaum“, stimmte Ethan zu.
    „Deshalb hört man die Geschichte von dem Toten in der Toilette auch kaum noch, und es sieht ihn keiner mehr.“
    „Warum bleibst du noch hier, bei Stejnar?“, fragte Ethan und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen.
    Marcel-Andre senkte den Kopf und errötete leicht. „Warum nicht?“, antwortete er. „Stejnar sorgt für mich.“
    Ethan fragte nicht weiter nach, weil ihm davor graute, dass Marcel-Andre ihm eine ehrliche Antwort geben würde. Er war einfach nicht imstande, jemandem ins Gesicht zu lügen. Stattdessen umarmte er zu seiner eigenen Überraschung Marcel-Andre und drückte ihn an sich, und Marcel-Andre erwiderte die Umarmung. Sie kehrten an die Pinnwand im Sandrup-Saal zurück und schlossen die Planungen ab, und nicht einmal Stejnar hatte etwas daran auszusetzen, obwohl er überdeutlich nicht in Ethans Richtung sah, als er seine Mitarbeiter für ihr Engagement lobte.

    Geändert von El Toro (18.05.2021 um 10:19 Uhr)

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    Am Abend, als die anderen bereits gegangen waren, betrat Ethan die Herrentoilette im dritten Stock. Diesmal hatte er keinen Aussetzer gehabt, keine Bewusstseinslücke. Er spürte ein tiefes Trommeln in seiner Brust, und seine Sinne waren geschärft wie die eines Tieres auf der Flucht. Er roch Chlor und Seife, konnte die winzigen Risse im Putz an den Wänden erkennen und die abgeblätterten Stellen an den Rohren. Er hörte das Klacken seiner Absätze auf den grauen Fliesen, als er zu den Kabinen ging. Die Stiefel waren inzwischen unter toten Fliegen und Spinnen begraben. Anfangs waren es nur eine oder zwei gewesen.
    Weil sie erst sterben mussten, als der Spuk wieder begann, dachte Ethan. Und er begann wieder, als ich hier anfing.
    „Warum ich?“, fragte er die geschlossene Tür von Kabine Zwei. Niemand antwortete.
    „Ich habe dich nicht gekannt, ich bin dir nie begegnet, ich habe noch nicht einmal Sumpfkraut gekauft, weder bei dir noch bei sonst jemandem.“
    Ein winziger Ruck ging durch die Stiefel, den Ethan mit bloßem Auge kaum hätte sehen können, doch die toten Insekten raschelten leise unter der Bewegung.
    Die Tür öffnete sich einen Spalt breit.
    Tritt ein, bring Glück herein, dachte Ethan und musste sich auf die Zunge beißen, um nicht hysterisch zu kichern.
    Er stieß gegen die Tür, die sich mit angemessen gruseligem Quietschen öffnete. Der Tote saß auf der geschlossenen Toilettenschüssel, eine Hand lag auf seinem Oberschenkel, der andere Arm endete in einem staubigen, rostbraunen Stumpf, dieselbe Farbe, die der Fleck auf dem Stiefelrücken hatte. Er hatte die Hosen nicht heruntergelassen, der Gürtel war zugeschnallt und die Knöpfe geschlossen. Über der Hose trug der Tote ein blaues Flanellwams mit Stickereien. Auf seinen eingesunkenen Schultern lagen tote Nachtfalter. Am Haken der Tür gegenüber hing ein Mantel aus Fell. Mit einem Knirschen hob der Tote den Kopf. Sein Haar war flachsblond und in der Mitte gescheitelt, und sogar auf dem Scheitel konnte Ethan tote Insekten erkennen.
    „Ich dachte, du wärst bereit dafür“, sagte der Tote mit einer Stimme, die schon lange nicht mehr benutzt worden war. Für einen Moment erinnerte ihn das Gesicht des Toten an Stejnar.
    „Bin ich nicht“, sagte Ethan. „Lass mich in Ruhe.“
    „Bereit, die Wahrheit zu erfahren“, sagte der Tote. Sein Atem in der engen Kabine roch nach schalem Sumpfkraut. Er hatte in dieser Kabine eine kleine Pause eingelegt, um selbst einen Stängel zu rauchen, bevor er seine Runde fortsetzte, doch dazu war es nie gekommen, denn jemand hatte die Tür aufgerissen und ihn umgebracht. Aber wer tat so etwas und aus welchem Grund?
    „Impulsivität“, sagte der Tote. „Vielleicht habe ich vergessen, die Tür zu verriegeln, vielleicht war der Riegel kaputt.“
    Ethan überlegte, ob der Mörder unachtsam in die besetzte Kabine gekommen war und dem Mann, der dort saß und rauchte, ihm mehr oder weniger aus Versehen einen spitzen Gegenstand ins Auge gestoßen hatte, und dass dieser Gegenstand das Leben des Mannes ausgelöscht hatte, noch bevor einer der beiden begriffen hatte, was geschah. Und als der Mörder bemerkte, wen er da vor sich hatte und was sich in dem Snapperlederkoffer befand, da… naja…
    Der Tote sah ihn interessiert an. Seine Haare sahen dunkler und staubiger aus, beinahe dunkelgrau.
    „So könnte es gewesen sein“, stimmte der Tote Ethan zu. „Erzähl weiter, du scheinst ja den Kopf dafür zu haben.“ Er lachte trocken, und ein paar tote Chitinhülsen rieselten von ihm herab.
    „Er konnte dich hier nicht einfach so sitzenlassen, nicht mit dem Koffer, und selbst wenn der Riegel nicht kaputt war, hätte er die Tür nicht von außen verschließen können.“
    „Jedenfalls hatte er nicht die Muße, gemütlich zu einem der Hufschmiede zu schlendern und sich eine Metallsäge oder einen Bolzenschneider zu besorgen“, fuhr der Tote fort.
    „Er hätte den Koffer einfach öffnen und sich die Taschen vollstopfen können.“
    „Mein Junge, du bist wirklich naiv! Der Koffer war mit einem Zahlenschloss gesichert. Keines, das man nicht aufbrechen könnte, aber…“
    „Er konnte es nicht hier in der Toilette aufbrechen“, vervollständigte Ethan. „Aber die Gelegenheit wollte er sich auch nicht entgehen lassen, also… hat er das getan.“ Er wies mit dem Finger auf den Stumpf am Ende des Arms des Toten. Dabei bemerkte er, dass er durch den Körper des Toten hindurch die Kacheln an der Wand sehen konnte. Er wurde zum Gespenst.
    „Jetzt weißt du es. Aber warum du?“, fragte es Ethan.
    „Du musstest es jemandem erzählen“, antwortete Ethan.
    „Ach was, erzählen ist doch Mist“, flüsterte das Gespenst und begann zu grinsen. „Aber wissen kann manchmal ganz nützlich sein, wenn man noch am Leben ist. Zu dumm, dass du vergessen hast, deinen kleinen rosigen Freund danach zu fragen, wer im dritten Stock mein bester Kunde war.“
    „Was?“
    „Wer mein gierigster Kunde war und wer bei mir mit einem Haufen Gold in der Kreide stand. Wer auf dem Trockenen saß, weil ich ihm nichts mehr geben wollte. Wer zwei Monate nach meinem Tod eine kostspielige Kur in Tjalfsbad machte und sich danach von Sumpfkraut fernhielt? Marcel-Andre war damals noch nicht hier, aber ich glaube, er kennt die Antworten auf alle diese Fragen. Du auch?“
    Das Haar des Toten veränderte sich wieder, es wurde wieder blond, mit feinen silbernen Strähnen darin. Seine Augen funkelten stahlblau in der dämmrigen Kabine.
    Ethan dachte an das schlanke antike Messer in der Zirkonhülle. Das höllisch scharfe Messer, mit dem er selbst das Papier durchtrennt hatte.
    „Er bekam so viel Gold für den Inhalt meines Koffers, dass er sich die Kur in Tjalfsbad leisten konnte, obwohl er längst nicht mehr auf der Höhe war. Und danach hatte er noch genügend Gold für seine anderen Laster übrig, die er nicht abgelegt hat.“ Das Gespenst stieß sich mit der Zunge auf unangenehme Weise dreimal schnell gegen die Innenseite der Wange.
    Als sich alle Teile des abscheulichen Mosaiks in Ethans Kopf zusammengefügt hatten, verblasste der Tote auf dem Toilettensitz, dann verschwand er, mitsamt den Käfern, Fliegen und Faltern.
    Ethan verließ die Toilette mit dem Gefühl einer Offenbarung. Die Idee mit der Geschichte über das Gespenst auf der Herrentoilette war keine schlechte, und Ethan dachte, dass das bestimmt keine Kurzgeschichte werden würde. Mit Sicherheit nicht.
    Geändert von El Toro (18.05.2021 um 10:19 Uhr)

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