Kapitel 1
Von Buddlern und Gardisten


“Warum haben sie dich eigentlich reingeworfen?”
Ich riss mir ein Stück Brot ab, hielt dann aber inne und überlegte. Dabei starrte ich in den knisternden Nachthimmel über mir.
“Diebstahl”, sagte ich schließlich. Es war besser, wenn niemand so genau wusste, wieso man mich wirklich in die Strafkolonie gebracht hatte.
Ohne den Blick aufzurichten gab ich den Brotlaib an den Typen neben mir weiter. Wir waren eine kleine Runde. Drei einfache Minenarbeiter, die zwischen schiefen Holzhütten im Dreck saßen und sich am Lagerfeuer ihr Essen teilten.
“Sag mal Jesse, wie stehts um deine Vertrauensprüfung?”
Die Worte kamen aus dem schmatzenden Mund eines bulligen Glatzkopfs. Seine hässliche Fratze sah dem Buddler neben mir dabei zu, wie diese mit nervösen Fingern an dem Brot zupfte.
“Es wird”, nuschelte Jesse. “Langsam, aber es wird.”
“Man, ich wüsste zu gerne, was für eine Prüfung du hast”, sagte der Glatzkopf, noch immer breit grinsend. “Wie lange sitzt du schon dran? Einen Monat? Zwei?”
Jesse warf ihm einen gekränkten Blick zu. “Wie weit bist du denn schon, Herek?”
“Im Gegensatz zu dir habe ich meine Aufgabe längst gelöst.”
“Ach ja?” Jesse schob sich ein Stück Brot in den Mund. “Und wieso bist du dann immer noch ein Buddler?”
“Das bin ich nicht mehr lange”, verkündete Herek. “Ich muss meinen Plan nur noch in die Tat umsetzen. Gib mir zwei Wochen, dann trag ich diese verdammte Schattenkluft. Wirst schon sehen.”
“Von welcher Prüfung sprecht ihr überhaupt?”, fragte ich und sofort waren alle Augen auf mich gerichtet. Jesse schenkte mir dabei ein verlegenes Lächeln, so als hätte ihm jemand verboten, auf meine Frage zu antworten.
Genervt seufzte ich. “Nun sagt schon.”
“Ist ja gut, nur keine Eile!” Herek nahm das Brot an sich, riss die Hälfte davon ab und reichte den Rest an mich weiter. “Jeder Neuling hier erhält die Chance, als Schatten in die Reihen von Gomez’ Leuten aufgenommen zu werden.”
“Und was bringt einem das?”
“Ganz einfach. Gomez’ Leute müssen sich nicht von diesem Dreck hier ernähren.” Herek wedelte mit seinem Stück Brot, ehe er herzhaft reinbiss.
“Die Schatten arbeiten auch nicht in der Mine”, ergänzte Jesse. “Sie führen einfach ein besseres Leben als wir. Ein viel besseres.”
“Und genau deshalb will jedes noch so große Weichei hier ein Schatten werden.” Herek sah wieder zu Jesse und grinste ihn dabei höhnisch an. “Jedenfalls muss sich jeder, der Schatten werden will, einen Fürsprecher unter Gomez’ Leuten suchen. Dieser gibt ihm eine Aufgabe, die seine Loyalität zum Lager unter Beweis stellen soll. Wir nennen sie die Prüfung des Vertrauens.”
“Niemand darf so genau über seine Prüfung reden”, sagte Jesse leise. Noch während er sprach, tauchte ein weiterer Kerl an unserem Lagerfeuer auf. Er trug eine scharlachrote Rüstung und eine scharfe Klinge am Gürtel.
“Ihr scheiß Buddler glaubt doch nicht wirklich, dass wir euch aufnehmen”, sagte der Fremde mit einem abfälligen Lachen in der Stimme.
“Ein Stück Brot gefällig?”, fragte ich ihn, hauptsächlich, um das Thema zu wechseln. Wenn niemand über diese Prüfungen sprechen durfte, dann war es wohl besser, es nicht vor einem Gardisten zu tun.
“Wie großzügig.” Der Fremde entriss mir den Brotlaib und warf ihn sofort neben sich auf den Boden.
Mistkerl.
Ich wollte gerade aufstehen, da traf Hereks Hand auf meine Brust. Sie drückte mich schwungvoll nach hinten, sodass mein Rücken gegen eine Holzhütte schlug.
Der Gardist wandte sich wieder von uns ab. Während er ging, trat auf den Brotlaib, so als wäre das keine große Sache. Wütend presste ich meine Zähne aufeinander.
Was für ein Arsch!
“Wir sollten langsam in unsere Hütten.” Jesse stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose. Obwohl er kein Wort über den Gardisten verlor, blickte er mit finsterer Miene auf das Brot.
“Ihr lasst den Scheißkerl nicht wirklich davon kommen, oder?”
“Wen meinst du?”, fragte Jesse.
Ich deutete mit dem Kopf in Richtung des Gardisten. Dieser war gerade dabei, einen weiteren Buddler zu schikanieren. Seine genauen Worte konnte ich zwar nicht verstehen, aber das selbstgefällige Lachen war nicht zu überhören.
“Dummer Neuling.” Herek schüttelte den Kopf. “Du hast keine Chance gegen Bloodwyn. Du hättest ja nicht mal eine Chance gegen mich! Da kannst du dich genauso gut am Austauschplatz von der Barriere grillen lassen.”
“Ich habe nicht vor zu sterben.”
“Aber das wirst du!”, unterbrach mich Jesse. “Die Gardisten sind die besten Kämpfer der gesamten Kolonie! Tu einfach, was sie dir sagen und geh ihnen so gut wie möglich aus dem Weg.”
“Wenn du dich wirklich mit Bloodwyn anlegen willst, dann solltest du mal mit Huno sprechen.” Herek stand nun ebenfalls auf. “Er kann dir eine Waffe besorgen.”
Die Buddler verschwanden in unterschiedlichen Richtungen und wenige Augenblicke später war ich alleine. Ich lehnte mich zurück, schmiegte mich mit dem Rücken an die Hütte hinter mir und starrte in den Nachthimmel. Er wirkte seltsam friedlich. Selbst die Blitze der Barriere waren leiser und weniger bedrohlich als am Abend zuvor. Oder hatte ich mich inzwischen an sie gewöhnt?
Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen, ohne, dass ich es überhaupt wollte. Ich war nun seit drei Tagen in der Strafkolonie von Khorinis und so langsam fühlte ich mich hier wie zuhause.

“Hey, du! Wieso lungerst du vor meiner Hütte rum?”
Die fremde Stimme riss mich aus dem Schlaf. Ich öffnete die Augen und blinzelte, weil das Sonnenlicht mich blendete. Den Kerl neben mir konnte ich kaum richtig erkennen.
“Was ist los?”, nuschelte ich.
“Du bist neu hier, oder? Ich bin Diego”
“Ich bin -”
“Mich interessiert nicht, wer du bist”, unterbrach er mich. “Du kannst von Glück reden, dass ich die ganze Nacht unterwegs war. Sonst hätte ich dich bestimmt nicht vor meiner Hütte pennen lassen.”
“Äh, was?”
Noch immer fühlte ich mich benommen, aber meine Augen gewöhnten sich langsam an das Tageslicht. Endlich konnte ich das Lagerfeuer erkennen, dass erloschen vor mir lag. Dort, wo gestern noch Leben geherrscht hatte, war es heute totenstill.
Ohne ein weiteres Wort verschwand Diego in seiner Hütte. Ich stand auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Meine Knochen waren müde und mein Magen hungrig. Kein Wunder, immerhin hatte ich am Vorabend nicht viel gegessen, dank diesem Scheißkerl. Bloodwyn.
Ich schluckte die aufkeimende Wut runter und bemühte mich, um einen stillen Atem. Was hatte Herek noch gesagt? Ich soll mit Huno sprechen, wenn ich eine Waffe brauche?
Mit trägen Schritten setzte ich mich in Bewegung. Ich folgte dem Trampelpfad, der sich durch den kompletten Außenring des Lagers zog, vorbei an all den schiefen Holzhütten.
Irgendwann stieß ich auf einen Kessel. Das schwere Metall war so groß wie ein Fass und ich lugte hinein, in der Hoffnung, dort noch ein wenig Suppe vom Vortag zu finden. Vergeblich. Natürlich war der Kessel leer. Mein Magen zog sich zusammen, während ich an nichts anderes mehr denken konnte, als an frische Äpfel und saftigen Schinken.
Gerade, als ich meinen Blick vom Kessel riss, schlenderte ein Mann von rundlicher Statur aus seiner Hütte hinaus. Er gähnte herzhaft und streckte sich, aber als er mich entdeckte, hielt er sofort inne.
“Suppe gibt’s erst mittags”, sagte er schroff.
“Und das wäre wann?”
“Sobald die Suppe fertig ist.”
Tolle Auskunft. Ich wusste nicht so recht, was ich darauf antworten sollte, also bemühte ich mich um ein Lächeln. Einen Moment lang sahen wir uns schweigend an, dann seufzte der Koch schließlich.
“Wenn du Suppe willst, dann besorg mir ein paar Pilze. Acht Stück sollten genügen.”
“Ich soll Pilze pflücken? Seh ich aus wie deine Küchenmagd?”
“Keine Pilze, keine Suppe”, sagte der Koch. “Und jetzt mach dich vom Acker.”
“Ist ja gut”, murmelte ich. Zwar hatte ich nicht wirklich vor, die Pilze zu besorgen, aber ich hatte auch keine Lust, noch mehr Zeit mit diesem Typen zu verschwenden.
Ich ging ein paar Schritte vorwärts, dann kam mir ein Gedanke.
“Sag mal”, rief ich dem Koch zu. “Wo finde ich Huno?”
“Den Schmied? Na, bei der Schmiede natürlich.”
“Und wo finde ich die?”
“Hinter der Arena.”
Ich nickte dem Koch zu und setzte meinen Weg fort. Die Arena war das große Loch mitten im Lager, so viel wusste ich bereits. Von dort aus würde ich Huno hoffentlich finden können.
Die Arena erschien mir unendlich weit entfernt. Eigentlich war ich mir nicht mal sicher, ob ich mich überhaupt auf dem richtigen Weg befand. Es war unmöglich, sich in diesem Lager zurecht zu finden, denn jede verdammte Holzhütte glich ihrer Nachbarin.
Erst, als ich ein Stück bergauf lief und an einem erloschenen Lagerfeuer vorbei kam, blieb ich stehen. Der Ort kam mir vertraut vor. Hier, irgendwo in der Nähe, musste die Arena sein. Ganz sicher.
Auf einer der Bänke, die sich um das Lagerfeuer herum befanden, saßen zwei Buddler. Einer von ihnen rasierte sich gerade den Bart. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass es sich dabei um Jesse handelte.
Meine Anspannung fiel schlagartig von mir ab. Ich ging direkt auf die beiden Männer zu.
“Hey, ein neues Gesicht!”, sagte Jesses Begleiter. “Mein Name ist Guy und der Typ neben mir -”
“AAAAARGH!!!”
Jesse war plötzlich aufgesprungen. In der einen Hand hielt er seine rasierten Barthaare fest, in der anderen lag die schmutzige Klinge.”
Guy und ich sahen ihn irritiert an, aber bevor einer von uns etwas sagen konnte, stürzte sich Jesse auf mich. Mit voller Wucht stieß er mich zu Boden. Ein Schmerzensschrei entfuhr mir und als ich die Augen öffnete, saß Jesse bereits auf einer Brust. Seine Beine hielten mich so fest umklammert, dass es mir die Luft abschnürte.
“Was zur Hölle?!”, presste ich hervor.
“Ich will dich nicht verletzen.”
“Dann geh runter von mir!”
Jesse zögerte, aber dann holte er aus. Sein Arm zielte auf mein Gesicht und ich kniff reflexartig die Augen zusammen. Die Klinge in seiner Hand verfehlte haarscharf meine Wange.
“Jesse, verdammte Scheiße!” Guy packte seinen Kumpel an den Schultern und zog ihn so von mir herunter. Die staubige Luft strömte wieder durch meine Lungen und brachte mich zum husten.
“Lass mich los!”, schrie Jesse verzweifelt, aber Guy ließ nicht von ihm ab. Mühelos nahm er ihm die Rasierklinge ab.
Ich rappelte mich auf, so schnell, dass mir schwindelig wurde. Schwarze Flecken tanzten in meinem Sichtfeld und noch bevor sie sich wieder verziehen konnten, ertönten Schritte hinter mir.
“Niemand vergreift sich an meinen Jungs!”
Hastig drehte ich mich zu der fremden Stimme um und sah im letzten Moment, wie ein Kerl mit erhobenem Schwert auf mich zustürmte. Ich warf mich zurück auf den Boden, um der Klinge zu entkommen. Dann schob sich ein zweites Schwert in mein Sichtfeld. Metall traf auf Metall und brachte die Luft zum klirren.
Plötzlich wurde es still um mich herum. Ich wälzte mich herum, sodass ich wieder rücklings auf dem Boden lag. Dadurch sah ich, dass die Schwerter von zwei Gardisten geführt wurden. Und einer davon war Bloodwyn.
“Was soll das, Henrik?”, fragte dieser verdammte Mistkerl.
“Witzig. Dasselbe wollte ich dich gerade fragen.”
Bloodwyn war der Erste, der sein Schwert zurückzog. Er trat einen Schritt nach hinten und deutete mit dem Kopf in meine Richtung, ohne mich dabei anzusehen.
“Der Neue hier hat sich mit meinen Leuten geprügelt”, erklärte er. “Ich weiß ja nicht, wie du das hier handhabst, aber ich passe auf die Buddler aus meinem Viertel auf.”
“Das hier ist nicht dein Viertel, Bloodwyn.”
“Na und?” Das Arschloch sah nun direkt zu Jesse. “Die Ratte dort hinten hat seine Hütte in meinem Viertel, also steht er unter meinem Schutz. Und der Neue? Der hat gar nichts! Er sollte erstmal Schutzgeld zahlen, bevor er sich mit jemandem prügelt.”
“Ich habe nicht vor, mich nochmal zu prügeln”, sagte ich. “Jedenfalls nicht mit einem Buddler.”
“Wie war das?”, fragte Bloodwyn mit gefährlich ruhiger Stimme. Sofort bereute ich, dass ich mich in das Gespräch der Gardisten eingemischt hatte.
“Ihm gehört die alte Hütte von Marlo!”, sagte Guy plötzlich. Verwundert sah ich zu ihm. Dabei presste ich meine Lippen zusammen. Jetzt bloß nichts Falsches sagen.
Bloodwyn drehte sich um. Vermutlich sah er zu der Hütte, die diesem Marlo gehörte.
“Das stimmt”, sagte Henrik.
Bitte was? Ich verkniff mir weiterhin jedes Wort, obwohl ich nicht so recht verstand, was gerade los war. Wieso half mir dieser Gardist überhaupt?
Schwerfällig schob Bloodwyn sein Schwert zurück in die Scheide. Irgendetwas an seiner Miene hatte sich verändert. Er wirkte seltsam ruhig. Nachdenklich.
“Bloodwyn?” Henrik sah ihn grinsend an. “Verpiss dich.”
Ich zuckte zusammen und befürchtete, dass die beiden Gardisten erneut aufeinander losgehen würden. Aber Bloodwyn schien das Interesse an einem Kampf verloren zu haben. Er setzte sich tatsächlich in Bewegung und ging.
Guy streckte mir seine Hand entgegen. Als ich sie ergriff, zog er mich mühelos wieder auf die Füße. Der Kerl hatte eine unglaubliche Kraft in seinen Armen.
“Danke, Mann.” Ich nickte dem Buddler zu, dann sah ich zu den Holzhütten rüber.
“Welche davon gehört diesem Marlo?”, fragte ich.
“Die mit dem Vordach.” Guy seufzte. “Ich fürchte allerdings, dass du sie doch nicht haben kannst. Vielleicht kannst du ein paar Nächte dort pennen, aber wenn Marlo zurückkommt, wird er dich dort wieder rausprügeln.”
Ich nickte. Ein paar Tage waren besser als nichts.
Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte ich, dass Jesse sich mir näherte. Sofort ging ich in Abwehrhaltung. Diese Arsch sollte mir bloß nicht zu nahe kommen.
Jesse hob seinen Arm - und klopfte mir auf die Schulter.
“Tschuldige, Mann!”, sagte er. “Ich wollte dich nicht angreifen, aber Bloodwyn hat es mir befohlen.”
“Was?” Ich starrte Jesse verdutzt an.
“Er hat uns ja gestern am Lagerfeuer gesehen und heute morgen ist ihm wohl aufgefallen, dass du noch kein Schutzgeld gezahlt hast. Er sagte, wenn ich dir nicht ordentlich Angst einjage, muss ich nächsten Monat deinen Anteil mitzahlen.”
“Meinen Anteil?”
“Die Gardisten erheben jeden Monat Schutzgeld von uns Buddlern”, sagte Guy. “Die meisten lassen uns zwar in Ruhe, wenn wir mal nicht zahlen können. Aber Bloodwyn ist ein richtiges Arschloch.”
“Das hab ich gemerkt.”
“Ach, übrigens.” Guy streckte mir erneut die Hand entgegen. “Du hast dich noch gar nicht richtig vorgestellt.”
“Stimmt.” Ich schlug ein. “Nenn mich einfach Nek.”